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LS4 | GRAMMATIK I DAS PHONEM
S. HACKMACK| UNI HB | LINGUISTIK 1
Das Phonem
Einleitung
In unserer bisherigen Behandlung von Sprachlauten spielen ausschließlich Fragen nach deren Produktion und der
darauf basierenden Klassifikation eine Rolle. Wir verstehen Sprachlaute dabei als relativ konkrete und präzise zu
beschreibende, physische Instanzen. Damit liegt die bisherige Betrachtungsweise klar im Gebiet der Phonetik, die
sich im Falle der artikulatorischen Phonetik mit dem menschlichen Lautbildungspotential und den physiologischen
Mechanismen der Lauterzeugung beschäftigt und auf diese Weise anstrebt, ein umfassendes Bild aller in den
Sprachen der Welt vertretenen Laute zu erstellen – sozusagen eine Übersicht über das globale Sprachlaut-
inventar.
Fragen danach, wie die Einzelsprachen dieses globale Inventar individuell ausschöpfen, haben wir dabei nicht
weiter berücksichtigt, und um genau diese wird es in den nächsten Abschnitten gehen. Damit verlassen wir den
Bereich der Phonetik und betreten das Gebiet der Phonologie. Dabei werden wir eine Reihe von Konzepten
einführen, die für die phonologische Analyse von Sprachdaten eine zentrale Rolle spielen. Wir beginnen dabei mit
einem Phänomen, dass uns allen bekannt ist − dem fremdsprachlichen Akzent.
Abbildung 1: Deutscher Akzent in den Katzenjammer-Kids
Der hier dargestellte Cartoonausschnitt stammt aus einem der ältesten modernen Comicstrips, den
Katzenjammer Kids, die ab 1897 regelmäßig in einer Beilage des New York Journals erschienen sind.
Für uns interessant ist der in diesem Ausschnitt zutage tretende deutsche Akzent, der hier durch die Orthographie
wiedergegeben ist in Wörtern wie ve und vot (statt we und what), chust (statt just), dey're und dey (statt they're
und they). Auf die Schreibweise von look'ink (statt looking) kommen wir an späterer Stelle zurück. Was hier
passiert, ist klar: Sprachlaute, die nicht im muttersprachlichen Lautinventar vorhanden sind (wie die englischen
Konsonanten [w] oder [ð]), werden durch ähnliche Laute des eigenen Lautinventars ersetzt – ein wesentlicher
Faktor eines fremdsprachlichen Akzents. Im Kontrast Deutsch-Englisch sind u.a. folgende Ersetzung üblich:
[ð] wird als [d] oder [z] realisiert.
[w] wird als [v] realisiert.
[dʒ] wird als [tʃ] realisiert.
[θ] wird als [t] oder [s] realisiert.
[ɑ] wird als [a] realisiert.
[ɜ] wird [œ] realisiert usw.
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An diesem Beispiel sehen wir deutlich, was mit der Aussage gemeint ist, dass Sprachen das universale
Lautinventar unterschiedlich ausschöpfen: es wird eine jeweils individuelle Auswahl von Lauten getroffen, die die
fragliche Sprache dann einsetzt.
Betrachten wir dazu einige weitere Beispiele (Quelle: www.engrish.com):
Abbildung 2: Eric Clapton und Harry Potter
Auf diesen Bildern tritt ein bekanntes und häufig unangemessen belächeltes Phänomen auf: die Schwierigkeiten,
die beiden Approximanten [ɹ] und [l] voneinander zu unterscheiden, die bei Sprechern einiger asiatischer
Sprachen – im vorliegenden Fall Koreanisch und Japanisch – zu beobachten ist. Können wir die Argumentation aus
dem Kontext »deutscher Akzent« übertragen und aus diesem Beispiel schließen, dass in den fraglichen Sprachen
entweder kein [ɹ] oder [l] vertreten? Die Antwort lautet »nein«, da sowohl im Japanischen als auch im
Koreanischen zumindest vergleichbare Laut vertreten sind.
Um dieses Phänomen gründlich zu beschreiben, müssen wir uns das Konzept »Sprachlaut« genauer ansehen und
präzisieren. Erst dann können wir erklären, was ursächlich für die r-l-Problematik anzusehen ist.
Phone und Phoneme
Sprecher einer Einzelsprache ignorieren in vielen Fällen substantielle Eigenschaften von Sprachlauten, was dazu
führt, dass unterschiedliche Laute als derselbe Laut wahrgenommen werden: Physisch, also artikulatorisch und
akustisch betrachtet, mögen X und Y zwei verschiedene Laute sein, psychologisch betrachtet können sie aber für
Sprecher bestimmter Sprachen ein- und denselben Laut darstellen.
Betrachten wir dazu ein Beispiel aus dem Deutschen. Sprechen Sie die nachfolgenden Wörter aus und achten Sie
darauf, wie der k-Laut jeweils genau produziert wird:
1. Kiel, kahl, Oktan, Skat
Der k-Laut in Kiel ist aspiriert und wird im Vergleich zu den k-Lauten in Kehle, Akte und Skoda statt mit mittlerem
mit vorderem Zungenrücken gebildet. Dieses Merkmal, fachsprachlich fronting genannt, ist durch ein kleines
Pluszeichen unter dem frontierten Laut angezeigt. Der k-Laut in kahl ist aspiriert. Der nicht-aspirierte k-Laut in
Oktan zeichnet sich dadurch aus, dass der Verschluss des Lautes nicht unmittelbar gelöst wird sondern sich auf
den nächsten Laut, das [t], verlagert. Dies ist durch das Diakritikum '˺' markiert und bei Verschlusslauten häufig
der Fall, wenn sie einem Konsonanten vorausgehen. Der k-Laut in Skat weist keine zusätzlichen Merkmale auf.
Eine enge phonetische Transkription liefert uns die folgenden Formen und die folgenden Versionen des k-Lautes:
2. [ˈk̟ʰiːl] [ˈkʰaːl], [Ɂɔk˺ ˈtʰaːn], [ˈskaːt]
3. [k̟ʰ], [kʰ], [k˺ ], [k]
Trotz dieser Unterschiede sprechen wir aber in allen Fällen vom 'k-Laut'. Wir ignorieren bei diesem Laut also
substantielle Eigenschaften wie Aspiration, Frontierung und verzögerte Verschlusslösung und nehmen diese
verschiedenen Laute als ein- und denselben Sprachlaut wahr.
Um terminologisch zwischen einem Sprachlaut als tatsächlicher, physischer Einheit und einem Sprachlaut als eher
abstrakter, wahrgenommener Einheit zu differenzieren, unterscheiden wir zwischen Phonen auf der einen Seite
und Phonemen auf der anderen Seite. Während das phonetische Alphabet universal ist, variiert das phonemische
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Alphabet von Sprache zu Sprache. Was die Notation angeht, werden Phone in eckigen Klammern geführt ([p], [ɔ],
[ç] usw.), Phoneme dagegen zwischen Schrägstrichen (/p/, /ɔ/, /ç/ usw.).
Die Differenzierung zwischen Phon und Phonem geht zurück auf Daniel Jones (1881-1967), einem der
bekanntesten und einflussreichsten Phonologen des 20. Jahrhunderts, dem wir auch das System der
Kardinalvokale zu verdanken haben. Die erste Verwendung des Terminus »Phonem« findet sich in einem Artikel
zum Setswana, den Jones 1917 vor der britischen Philological Society in London vortrug:
The Sechuana language appears to contain twenty-eight phonemes, i.e. twenty-eight sounds or small
families of sounds which are capable of distinguishing one word from another. (Jones 1919)
In diesem Abschnitt sind für uns zwei Dinge relevant: zum einen erhalten wir einen Hinweis darauf, dass ein
Phonem einer Sprache X eine small family of sounds, also mehr als nur einen einzigen Laut umfassen kann. Das
haben wir im Falle des /k/ im Deutschen gerade an einem Beispiel gesehen. Zum anderen wird die Funktion des
Phonems benannt: es dient dazu, ein Wort von einem anderen zu unterscheiden. Dieser Punkt findet sich auch in
zahlreichen modernen Beschreibungen, in denen das Phonem als "kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit
der Sprache" beschrieben wird. Diese Funktion ist überhaupt essentiell dafür, zu ermitteln, ob bestimmte Laute in
einer Sprache ein Phonem repräsentieren oder nicht. Das Verfahren, das zu diesem Zweck eingesetzt wird, ist die
sogenannte Minimalpaaranalyse.
Minimalpaaranalyse
Ein Minimalpaar besteht aus zwei sprachlichen Zeichen, die sich in genau einem Segment an gleicher Position
unterscheiden. Im Rahmen der Phonologie ist ein Minimalpaar ein Paar von Wörtern, das sich in einem Laut
unterscheidet. Die fraglichen Laute müssen an derselben Stelle im Syntagma stehen, sie müssen also in
identischer Umgebung auftreten. Nachstehend sehen wir eine Reihe von Minimalpaaren des Deutschen:
4. vier–wir
5. Ahle–Ahne
6. Bad–Bahn
7. Mutter–Butter
8. gebraut–getraut
9. Flug–Flut
Betrachten wir zunächst das Wortpaar in (4). Hier sehen wir, dass der Laut [f] vor der Segmentkette [iːɐ] auftritt.
Diese Aussage würde man in phonologischer Notation wie folgt wiedergeben:
10. [f] / __iːɐ
Ein solcher Ausdruck ist wie folgt zu lesen: links des Schrägstrichs steht das Segment, um das es geht. Der
Schrägstrich selbst ist zu lesen als »kommt vor in folgender Umgebung«. Der Unterstrich ist ein Platzhalter für das
Segment vor dem Schrägstrich. Das, was nach dem Schrägstrich steht, gibt also jeweils die genaue Umgebung des
Segments vor dem Schrägstrich an. Im konkreten Fall steht der Unterstrich vor der Kette [iːɐ], also geht das [f]
dieser Kette voraus. Gleiches trifft auch auf das zweite Wort in (4) zu:
11. [v] / __iːɐ
Zusammengefasst können wir (10) und (11) wie folgt notieren:
12. {[f][v]
} / __iːɐ
Hier sehen wir, dass das Wortpaar in (4) ein Minimalpaar darstellt: wir haben zwei sprachliche Zeichen (hier zwei
verschiedene Wörter mit verschiedener Bedeutung), die sich in genau einem Segment an identischer Position
unterscheiden. Somit haben wir etabliert, dass die Laute [f] und [v] im Deutschen verschiedene Phoneme
repräsentieren. Auf dieser Grundlage können wir auch die anderen Wortpaare analysieren:
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13. Ahle–Ahne [aːlə] [aːnə] {[l][n]
} / aː__ə [l] und [n] repräsentieren verschiedene Phoneme
14. Bad–Bahn [baːt] [baːn] {[t][n]
} / baː__ [t] und [n] repräsentieren verschiedene Phoneme
15. Mutter–Butter [mʊtɐ] [bʊtɐ] {[m][b]
} / __ʊtɐ [m] und [b] repräsentieren verschiedene Phoneme
16. gebraut–getraut [ɡebʁaʊt] [ɡetʁaʊt] {[b][t]
} / ɡə__ʁaʊt [b] und [t] repräsentieren verschiedene Phoneme
17. Flug–Flut [fluːk] [fluːt] {[k][t]
} / fluː__ [k] und [t] repräsentieren verschiedene Phoneme
Besonders interessant wird die Minimalpaaranalyse für uns dann, wenn wir uns mit fremdsprachlichen Daten
beschäftigen. Dazu kommen wir auf das /k/ in Beispiel (1) zurück, hier nochmal die vier Varianten:
18. [k̟ʰ], [kʰ], [k˺ ], [k]
Wir werden im Deutschen mit diesen Lauten keine Minimalpaare bilden können – der Austausch der k-Laute in
(18) würde nicht zu einem Bedeutungsunterschied führen. Wir können z.B. den k-Laut in kahl ohne Aspiration
sprechen oder den in Skat mit Aspiration, das würde vielleicht etwas schräg klingen, aber nicht in einem neuen
Zeichen resultieren: Es gibt im Deutschen weder ein Minimalpaar [kaːl] / [kʰaːl] noch eines [skaːt] / [skʰaːt]. Das ist
anders in einer Sprache wie beispielsweise dem oft zitierten Hindi, wo wir Minimalpaare finden wie z.B.
19. [kal] 'Ära' — [kʰal ] 'Haut'
Hier resultiert der Kontrast zwischen aspiriertem und nicht-aspiriertem /k/ in einem neuen Zeichen.
Damit kommen wir zurück zum Phonem. Einige Jahre nach seinem Artikel über das Setswana liefert Jones eine
etwas detailliertere Beschreibung für das Phonem (1932, reprint 1957:49):
In describing the sound-system of any language it is necessary to distinguish between speech-sounds
and what are called phonemes. A speech-sound is a sound of definite organic formation and definite
quality which is incapable of variation. A phoneme may be described roughly as a family of sounds
consisting of an important sound of the language (i.e. the most frequently used member of that family)
together with other related sounds which 'take its place' in particular sound-sequences or under
particular conditions of length or stress.
In dieser Definition kommt ein weiterer Aspekt hinzu, der für die Etablierung des Phonems ganz essentiell ist,
nämlich der sprachliche Kontext, die Umgebung, in dem die fraglichen Laute auftreten. Auch auf die Funktion des
Phonems geht Jones ausführlicher ein (1932, reprint 1957:51 leicht modifiziert):
Phonemes are capable of distinguishing one word of language from other words of the same language.
There is an English word sin (sɪn) and another English word sing (sɪŋ). [...] The existence of such words is
a proof that the n and ŋ sounds belong to separate phonemes in English.
Wir halten fest: ein Phonem ist eine relativ abstrakte Einheit, die in bestimmten sprachlichen Umgebungen durch
einen oder mehrere verwandte Phone realisiert wird. Die Funktion eines Phonems besteht darin, Bedeutungen zu
unterscheiden. Diese Aussage zieht zwei Fragen nach sich, die es im Einzelnen zu klären gilt:
was ist mit »verwandt« gemeint?
was ist mit » bestimmten sprachlichen Umgebungen « gemeint?
Zum ersten Punkt können wir verkürzt sagen, dass die Verwandtschaft zweier Laute umso größer ist, je mehr
artikulatorische Merkmale sie teilen. Danach wären sich beispielsweise [p] und [b] relativ ähnlich, da sie den
Artikulationsort als auch die Artikulationsart teilen und sich nur im Merkmal der Stimmhaftigkeit unterscheiden.
[p] und [ʒ] wären sich relativ unähnlich, da sie sich sowohl bei Artikulationsort als auch -art und in der
Stimmhaftigkeit unterscheiden – hier steht ein stimmloser bilabialer Plosiv einem stimmhaften postalveolaren
Frikativ gegenüber. [p] und [b] sind sich also phonetisch ähnlicher als [p] und [ʒ].
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Distribution
Was den zweiten Punkt angeht, also der Kontext, in denen unterschiedliche Sprachlaute ein Phonem realisieren,
wollen wir ein wenig ausholen, da dieser Punkt nicht nur für die Phonologie, sondern auch für die Morphologie
und die Syntax von großer Bedeutung ist. Betrachten wir zum Einstieg die beiden nachstehenden Symbolsets:
a) e)
b) f)
c) g)
d) h)
In (a)–(d) haben wir vier Symbolketten, auf die bei allen Unterschieden immer folgende Aussage zutrifft: der Kreis
folgt immer einem Quadrat und geht immer einem Stern voraus. Wenn wir diese Aussage in der für die
Phonologie typischen Notation aufschrieben, sähe das so aus:
20. / __
Betrachten wir auf dieser Grundlage das Kreuzsymbol in den Symbolketten (e)–(f), stellen wir fest, dass dieses in
genau der gleichen Umgebung auftritt:
21. / __
Zusammengefasst können wir (20) und (21) wie folgt darstellen:
22. {
} / __
An dieser Darstellung wird deutlich, dass überall dort, wo der Kreis vorkommen kann, auch das Kreuz vorkommen
kann und umgekehrt. Kreis und Kreuz kommen also in derselben Menge von Umgebungen vor (hier nur eine...)
und haben somit dieselbe Verteilung bzw. Distribution. In der Phonologie spricht man hier von »freier Variation«.
Vergleichen wir dieses Ergebnis nun mit der Distribution der Raute in (a)–(h). Diese tritt immer nach einem Herz
und vor einem Quadrat auf:
23. / __
Wenn wir nun den Datensatz (a)–(h) genau ansehen, stellen wir fest, dass die Raute nie zwischen einem Quadrat
und einem Stern vorkommt, der Kreis und das Kreuz dagegen nie zwischen einem Herz und einem Quadrat.
Anders ausgedrückt: nirgends, wo die Raute vorkommt, kommen Kreuz oder Kreis vor, und nirgends, wo Kreuz
und Kreis vorkommen, kommt die Raute vor. Diese Art von Verteilung nennt man »komplementäre Verteilung«.1
Freie Variation Sehen wir uns dazu ein Standardbeispiel für das Deutsche an. Wir hatten in diversen Sitzungen bereits über die
verschiedenen Möglichkeiten gesprochen, den r-Laut im Deutschen zu artikulieren: zum einem durch das sog.
Zungenspitzen-r [r], dann durch das uvular gerollte [ʀ] und schließlich die wohl häufigste Variante, den uvularen
Frikativ [ʁ]. Wir haben es hier mit drei distinkten Phonen zu tun, bei denen allerdings jeweils phonetische
Ähnlichkeit besteht: [r] und [ʀ] sind beides stimmhafte Trills, die sich nur im Artikulationsort unterscheiden, [ʀ]
und [ʁ] sind beides stimmhafte Uvulare, die sich nur in der Artikulationsart unterscheiden. Schauen wir uns nun
ein paar Minimalpaare mit diesen Lauten an:
24. roːzə–loːzə {[r][l]
} / __oːzə Der Austausch von [r] und [l] erzeugt ein neues Zeichen (Rose vs. Lose)
25. ʁoːzə–doːzə {[ʁ][d]
} / __oːzə Der Austausch von [ʁ] und [d] erzeugt ein neues Zeichen (Rose vs. Dose)
1 Ein weiterer Typ von Distribution ist der, in dem zwei Elemente in einigen, nicht aber in allen Umgebungen vorkommen können. Dies wäre die sog. partielle Verteilung. Dieser Fall ist für uns aber aktuell nicht relevant, uns geht es nur im gleiche bzw. komplementäre Verteilung.
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26. ʀoːzə–hoːzə {[ʀ][h]
} / __oːzə Der Austausch von [ʀ] und [h] erzeugt ein neues Zeichen (Rose vs. Hose)
Der kriegsentscheidende Punkt für unsere Argumentation ist darin zu sehen, dass es beim jeweils ersten Element
der Minimalpaare egal ist, ob dort ein [r], ein [ʁ] oder ein [ʀ] im Anlaut steht - die Bedeutung ist immer gleich:
27. roːzə– ʀoːzə {[r][ʀ]
} / __oːzə Der Austausch von [r] und [l] erzeugt kein neues Zeichen (Rose)
Dieses gilt für alle Paare mit [r], [ʀ] und [ʁ], hier gibt es keine Minimalpaare: überall dort, wo [r] auftreten kann,
können auch [ʀ] und [ʁ] aufreten. Hier sagen wir, dass die drei r-Laute des Deutschen in freier Variation auftreten.
Komplementäre Verteilung Ein Fall von komplementärer Verteilung liegt dagegen vor bei einem weiteren Standardbeispiel, den Lauten [ç]
('ich-Laut') und [x] ('ach-Laut'). Auch diese beiden Laute sind phonetisch ähnlich, beide sind stimmlose Frikative,
der eine palatal, der andere velar. Betrachten wir dazu die folgenden Wörter (die Verteilung ist hier verkürzt):
28. Licht, Buch, möchte, doch, siechen, echt, Wache, Früchte
Was wir hier sehen, ist, dass der ich-Laut auf die Vokale [ɪ], [œ], [iː], [ɛ] und [ʏ] folgt. Der ach-Laut folgt auf [u], [ɔ]
und [a]. Anderes geht nicht: im Deutschen verstoßen alle nachstehenden Formen gegen die Standardaussprache:
29. *lɪxt, *mœxtə, *ziːxn̩, *buç, *vɔçə, *dɔç
Wenn wir uns nun die Vokale ansehen, hinter denen jeweils [ç] und [x] auftreten, stellen wir fest, dass [ç] in allen
Fällen auf einen Vorderzungenvokal folgt, [x] dagegen auf einen Zentral- oder Hinterzungenvokal:
30. [ç] / V[VORNE]__
31. [x] / V[HINTEN/ZENTRAL]__
Damit sind [ç] und [x] im Deutschen komplementär verteilt und repräsentieren dasselbe Phonem /ç/.
Noch etwas zur Notation: ein Phonem wird i.a.R. durch dasjenige Allophon dargestellt, das die größte Distribution
aufweist. Um beim ich- und ach-Laut zu bleiben, ist es hier so, dass das [ç] im Deutschen in einer größeren Menge
von Umgebungen auftritt, als das [x] ([ç] kommt z.B. auch nach den Sonoranten /l, r, n/ vor – z.B. in Kelch, Lurch
und Männchen).
/r/ /ç/
[r] [ʀ] [ʁ] [ç] [x]
Abbildung 3: Zwei Phoneme und ihre Realisierungen im Deutschen
Was die Verteilung der Allophone eines Phonems angeht, so wird diese ebenfalls in einem spezifischen Format
notiert. Die Regel für das Phonem /ç/ im Deutschen sähe beispielsweise wie folgt aus:
/ç/
[x] / {V[ZENTRAL, HINTEN]___
[aʊ]___}
[ç] / {
V[VORNE]___
{[aɪ], [ɔɪ]}___
{[l], [r], [n]}___
}
Abbildung 4: Distributionsregel für /ç/ im Deutschen
Da Sie in der Lage sein müssen, solche Ausdrücke zumindest lesen zu können, sehen wir uns zunächst einmal das
Grundmuster an, in dem sie notiert werden, und betrachten dann Abbildung 4 etwas genauer.
[Allophon 1] / {___xy__}
/Phonem α/
[Allophon 2] / {
__cd__a__b
}
Abbildung 5: Grundmuster für phonologische Regeln
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Der Inhalt dieser Regel kann wir folgt im Fließtext erfasst werden:
Das Phonem /α/ ist realisiert als
[Allophon 1] in folgenden Umgebungen: vor x und hinter y.
[Allophon 2] in folgenden Umgebungen: vor c, hinter d und zwischen a und b.
[Allophon 1] / {___xy__}
/Phonem α/
[Allophon 2] / {
__cd__a__b
}
Abbildung 6: Annotiertes Grundmuster für phonologische Regeln
Jetzt können wir uns die Regel für das Phonem /ç/ im Deutschen in Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden
werden. wie folgt in Fließtext übersetzen:
Das Phonem /ç/ ist realisiert als
[x] in folgenden Umgebungen: hinter einem Zentral- oder Hinterzungenvokal und hinter dem Diphthong
[aʊ]
[ç] in folgenden Umgebungen: hinter einem Vorderzungenvokal, hinter [l], [r] und [n] und hinter den
Diphthongen [aɪ] und [ɔɪ]
Mit den Begiffen »freie Variation« und »komplementäre Verteilung« können wir uns nun einer präzisen Definition
des Phonemkonzeptes annähern:
Ein Phonem ist eine Menge (die ggf. auch nur aus einem Element besteht) von Phonen, die phonetisch
ähnlich sind und entweder in freier Variation stehen oder komplementär verteilt sind.2
Das Phonem als sprachspezifisches Konstrukt
Wenn Sie den Text bis hierher aufmerksam gelesen haben, ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass immer vom
»Phonem /ç/ im Deutschen« oder dem »Phonem /k/ im Deutschen« die Rede gewesen ist. Dies ist ein Hinweis
darauf, dass es sich beim Phonem stets um ein sprachspezifisches Konzept handelt. Dazu ein paar Beispiele.
Wie wir in der Veranstaltung schon angesprochen haben, weist das englische /l/-Phonem zwei Allophone auf: das
sog. clear-l [l] und das sog. dark-l [lˠ]. Bei letzterem handelt es sich um eine velarisierte Form des [l]: bei der
Artikulation wird der hintere Zungenrücken in Richtung Velum angehoben. Die Distribution von clear- und dark-l
ist im Englischen regelhaft komplementär: das clear-l wird innerhalb einer Silbe vor Vokalen, das dark-l vor
Konsonanten und am Silbenende verwendet. Also:
32. leaf [liːf], silence [saɪləns]
33. mild [maɪlˠd], feel [fiːlˠ]
Das standarddeutsche /l/-Phonem weist dagegen kein velarisiertes Allophon auf. Dies begründet, warum
Sprecher des Deutschen das engl. feel oft wie das deutsche viel aussprechen.
2 Diese Definition geht insofern über die von Daniel Jones hinaus, als dessen Versionen die freie Variation nicht umfassen. Das heißt nicht, dass er diesen Punkt nicht beachtet hätte – er spricht dann aber von Variphones (z.B. in Jones 1950 (21962):205).
Das Phonem α ist realisiert als
Allophon 1
Allophon 2
in folgender Umgebung
in folgender Umgebung
vor x oder hinter y
vor c oder hinter d oder zwischen a und b
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Das albanischen Lautinventar umfasst sowohl clear- wie auch dark-l, unterscheidet sich aber insofern vom
Englischen, als die Laute hier nicht dasselbe, sondern verschiedene Phoneme repräsentieren. Dies kann über die
folgenden Minimalpaare ge zeigt werden:
34. mal [mal] 'Berg' vs. mall [malˠ] 'Waren'
35. lak [lak] 'Schlaufe' vs. llak [lˠak] 'Spray'
Wenn wir von Phänomenen wie Lippenrundung absehen, können wir also feststellen, dass das deutsche /l/-
Phonem durch ein Allophon [l] repräsentiert ist, das englische durch zwei Allophone [l] und [lˠ], die ihrerseits im
Albanischen zwei verschiedene Phoneme repräsentierten.
Im Gang ihrer diachronen Entwicklung ist es auch durchaus möglich, dass Sprachen ihre phonologische Struktur
verändern und spezifische Laute ihren Status im Phonemsystem ändern. So gab es beispielsweise im Altenglichen
ein Phonem /f/, dass durch die beiden Allophone [f] und [v] repräsentiert wurde. Diese waren komplementär
verteilt: das [v] erschien zwischen Vokalen, in allen anderen Umgebungen das [f]. Dies erklärt die folgenden Paare
(die bis zu heutigen Tag einen Reflex in der Orthographie haben):
Nominativ Genitiv
Leben lif [liːf] lifes [liːvəs]
Buchstabe stæf [stæf] stæfes [stævəs]
Frau wif [wiːf] wifes [wiːvəs]
Dach hrof [hroːf] hrofes [hro:vəs]
Abbildung 7: [f] und [v] als Allophone von /f/ im Altenglischen
Im modernen Englisch dagegen repräsentieren [v] und [f] verschiedene Phoneme, wie die folgenden
Minimalpaare untermauern:
36. fat vs. vat
37. ferry vs. very
38. leave vs. leaf usw.
Was wir hier sehen, ist, dass sich Sprachen in ihrer phonologischen Struktur auf verschiedenen Ebenen
unterscheiden können:
in ihrem jeweiligen Phoneminventar (bestimmte Phoneme sind in Sprache X vertreten, nicht aber in
Sprache Y)
Beispiel: engl. [w], dt. [ç] usw.
in Anzahl und Art der Allophone, durch die ein Phonem repräsentiert sein kann,
Beispiel: engl. /l/— {[l], [lˠ]}, dt. /l/—{[l]}
im Status einzelner Sprachlaute hinsichtlich der Frage, ob diese Phonemstatus haben oder nicht.
Beispiel: engl. /l/ — {[l], [lˠ]}, albanisch /l/, /lˠ/
Zurück zum Anfang
Mit diesen Erkenntnissen im Hinterkopf können wir nun zurückkehren zu dem eingangs diskutierten Phänomen
der l-r-Verwechslung, die bei Sprechern des Japanischen und Koreanischen zu beobachten ist. Beginnen wir mit
dem Koreanischen und betrachten dazu die folgenden Tabellen, in deren linken Spalte die deutsche Übersetzung,
in der mittleren Spalte die Verschriftlichung im Hangul, dem koreanischen Alphabet und in der rechten Spalte die
für uns interessante Aussprache im IPA-Code notiert ist. Es geht darum, zu untersuchen, wie [l] und [ɾ]-Laut3 in
dieser Datensammlung jeweils verteilt ist. Gehen Sie davon aus, dass die Daten repräsentativ sind, d.h. dass alle
für die Generalisierung nötigen Fälle erfasst sind. Die Tabellen sind insofern vorsortiert, als Sie links Belege für [ɾ],
rechts für [l] finden:
3 [ɾ] ist der alveolare Tap.
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Hangul IPA Hangul IPA Wind 바람 [paɾam] Alkohol 알코올 [alkoːl]
Name 이름 [iɾɯm] Wasser 물 [mul]
Speise 요리 [joɾi] Sieben 일곱 [ilɡop]̚
Kopf 머리 [mʌ̹ɾi] Draht 철사 [tɕʌ̹lsa]
Wolke 구름 [kuɾɯm] Wespe 말벌 [malbʌ̹l]
Glas 유리 [juɾi] Biene 벌 [pəl]
Afrika 아프리카 [apɯɾika] Eisenbahn 철도 [tɕʌ̹lto]
Bein 다리 [taɾi] Gasse 골목 [kolmoɡ]
Straße 도로 [toːɾo] Tafel 칠판 [tɕilpan]
Tabelle 1: Daten aus dem Koreanischen
Wenn wir uns die Umgebungen ansehen, in denen [ɾ] auftritt, sehen diese wie folgt aus:
39. a__a, i__ɯ, o__i, ʌ̹__i, u__ɯ, u__i, ɯ__i, a__i, oː__i
Wenn wir uns die Umgebungen des [l] ansehen, stellen wir fest, dass dieses in folgenden Umgebungen auf:
40. a__k, i__ɡ, ʌ̹__s, a__b,ʌ̹__t, o__m, i__p.
Außerdem erscheint [l] auch am Wortende, also vor einer Wortgrenze. Das Zeichen für eine Wortgrenze ist die
Raute »#«, also können wir die Positionierung des [l] wie folgt darstellen: __#.
Die Umgebungen in (39) lassen sich leicht generalisieren: [ɾ] tritt immer zwischen zwei Vokalen (V) auf. An dieser
Position taucht das [l] nie auf. Auch die Verteilung des [l] in (40) ist eindeutig: es tritt immer zwischen einem Vokal
und einem Konsonanten (C) auf, außerdem vor der Wortgrenze. In diesen Umgebungen tritt dagegen das [ɾ] nie
auf. Damit haben wir etabliert, dass es sich bei [l] und [ɾ] im Koreanischen um zwei stellungsbedingte Variationen
handelt, sie also dasselbe Phonem repräsentieren.
/l/ [ɾ] / V
[l] / {V___C___#
}
Abbildung 8: Distributionsregel für /l/ im Koreanischen
Im Japanischen dagegen ist die Sachlage anders und keinesfalls so klar. Jones (1962:205-206) schreibt dazu
folgendes:
One of the most noteworthy cases of a variphone is "the Japanese r". In the pronunciation of many if
not most Japanese this sound is very variable; they sometimes use a sound resembling an English
fricative r (ɹ), sometimes a lingual flap ɾ, sometimes a kind of retroflex ɖ, sometimes a kind of l and
sometimes sounds intermediate between these.
Wie weiter oben in Fußnote 2 bereits gesagt wurde, benutzt Jones den Terminus »variphone« im Sinne von
»Allophon in freier Variation«, und das scheint auch die bis heute akzeptierte Analyse für die Reihe von Phonen zu
sein, die den japanischen r-Laut repräsentieren. Um welche Laute es sich dabei genau handelt, und ob es
möglicherweise nicht doch regelhafte Stellungsvariationen gibt, wird weiterhin untersucht, aber der aktuelle
Stand der Dinge ist, dass es sich bei [l], [ɹ] und [ɾ] im Japanischen um Allophone desselben Phonems handelt, die
in freier Variation auftreten.
Auf dieser Basis ist gut nachvollziehbar, wieso Sprecher des Japanischen oder Koreanischen Probleme mit der /r/-
/l/-Distinktion haben: In dem Maße, in denen die Sprecher einer Sprache das eigene phonologische System
verinnerlichen, kann die Wahrnehmung für andersartige Systeme leiden: man hört die Unterschiede gar nicht
mehr richtig, die für andere Sprachen phonemisch, in der eigenen Sprache aber allophonisch sind. Um diesen
Sachverhalt vernünftig zu erklären, ist der Terminus »Phonem« unabdingbar.
Zum Abschluss dieses Textes können wir jetzt noch kurz einen Punkt ansprechen, der sich auf die
Verschriftlichung der Sprache bezieht. Im Zusammenhang mit Alphabetschriften sehen wir, dass die Grapheme
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einer Sprache Phoneme repräsentieren, nicht Phone: basierend auf den Beispielen in diesem Text können wir
diese Aussage wie folgt präzisieren: es sind die Phoneme einer Sprache, die auf Buchstaben bzw.
Buchstabenkombinationen abgebildet werden, und nicht die Allophone: Das dt. /ç/ ist durch zwei Allophone [ç]
und [x] repräsentiert, aber immer durch ein Graphem <ch> verschriftlicht. Das eng. /l/ ist durch zwei Allophone [l]
und [lˠ] repräsentiert, aber nur durch ein Graphem <l> verschriftlicht. Im Albanischen repräsentieren /l/ und /lˠ/
zwei verschiedene Phoneme, entsprechend gibt es zwei Grapheme: <l> und <ll>. Das koreanische /l/ ist durch
zwei Allophone [l] und [ɾ] repräsentiert, aber immer durch ein Graphem <ㄹ> verschriftlicht. Das altenglische /f/
ist durch die Allophone [f] und [v] repräsentiert, aber nur durch ein Graphem, die Rune <ᚠ> bzw. <f>
verschriftlicht. Im modernen Englisch, in dem [f] und [v] zwei verschiedene Phoeme repräsentieren, gibt es
entsprechend zwei verschiedene Grapheme: <f> und <v>.