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–271 Das Wagnis der Individualisierung Von Winfried Schulze Wenn es um die Bestimmung von Epochengrenzen geht, dann werden sich die meisten Historiker gerne auf die Position Leopold von Rankes zurückziehen, der schon als junger Wissenschaftler zu Beginn seiner weltgeschichtlichen Vor- lesung im Wintersemester 1825/26 seine Meinung über die tradierte Einteilung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit deutlich erkennen ließ: "Indem man nun daran geht, die Fragmente zu ordnen, die uns überliefert sind, so wird man sich der herkömmlichen Art und Weise entäußern müssen. Die herkömmliche Manier ist, alles in drei große Fächer abzusondern, von denen man eins der alten, eins der mittlern und eins der neuern Geschichte gewidmet hat. Die erste rechnet man bis zum Jahre 416 nach Christus; die zweite bis 1492 oder 1517, die dritte bis jetzt. Man fährt fort, in jedem von diesen Teilen neue chronologische Perioden zu machen; und indem man die Geschichten der Völker nach diesen Perioden teilt, so bekommt man eine große Anzahl Fächer, in wel- che sich dann die Bruchstücke der Geschichte, die man weiß, ganz bequem ein- legen lassen. Diese Methode hat keinen Grund in sich und gewährt keinen Vor- teil."1 Doch mit einem Seitenblick auf Christoph Cellarius, den Erfinder dieser Me- thode - einen Schuldirektor - könnte man hinzufügen, daß für Zwecke der Lehre einiges für sie zu sprechen scheint.2 Seitdem der "Abbau der Mythisierung ge- schichtlicher Handlungen und Ereignisse" aus der Epoche "ein methodisches Ordnungsmittel von zweifelhafter Zulässigkeit" gemacht hat - wie uns Hans Blu- menberg versichert3 - ist eine Vielzahl von Periodisierungsvorschlägen über die historischen Wissenschaften hereingebrochen, die den Beginn der Neuzeit in ei- nem Zeitraum von nicht weniger als 500 Jahren Ausdehnung suchen, nämlich 1 Leopold von Ranke, Vorlesungseinleitungen, hg. v. V. Dotterweich und W.P. Fuchs. In: ders. und Th. Schieder (Hgg.), Aus Werk und Nachlaß Bd.4, München-Wien 1975, S. 36. 2 Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, 5. 305f. und Adalbert Klempt, Die Sakularisierung der universalhisto- rischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert. Göttin- gen-Berlin-Frankfurt a M. 1960, S. 78. 3 Hans Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner (Erw. und über- arbeitete Neuausgabe von "Die Legitimität der Neuzeit" Teil IV), Frankfurt a.M. 1982, 5. 13. zwischen 1300 und 1800. 4 Diese Überfülle von Periodisierungsversuchen ist ganz gewiß zunächst ein Reflex auf die fortwährende Suche nach dem Beginn unserer modernen Welt und damit ein Ergebnis des ständigen Fragens nach den Fakto- ren, die diese moderne Welt herbeigeführt haben und sie weiterhin bestimmen. Zugleich aber verbietet diese Vielzahl von Periodisierungsvorschlägen einen er- neuten Anlauf, eine allgemeingültige Epochenbestimmung der Neuzeit zu ent- wickeln. Hier soll nur ein begrenztes Ziel verfolgt werden, indem die Kumulie- rung von Veränderungen als ein möglicher Hinweis auf epochale Markierungen geprüft wird. Mein Beitrag zu unserer kollektiven Anstrengung, dem "Beginn der Mo- derne" auf die Spur zu kommen, geht deshalb von der Überzeugung aus, daß die methodologische Grundlage solcher Bemühungen in einem Verfahren liegen sollte, das Periodisierungsversuche konsequent "prozessualisiert".5 Darunter soll ein offenes Verfahren der historischen Analyse von vermuteten Wirkungsfak- toren und Prozessen verstanden werden, die in ihrer jeweils spezifischen Genese und Entwicklung verfolgt werden sollen, unabhängig von tradierten Epochen- grenzen. Das Verfahren bleibt damit offen für die sich wandelnden inhaltlichen Bestimmungen von "Neuzeit" oder "Moderne", es braucht sich dann nicht des Vorwurfs zu schämen, das Mittelalter unzulässig zu verkürzen.6 Das Ergebnis sol- cher Arbeit könnte eine umfassendere Bestimmung der Neuzeit durch Prozeß- begriffe sein, deren spezifische Überlagerungen, Phasierungen und Beeinflus- sungen ein vertieftes Verständnis der Eigenart unserer Epoche ermöglichen könnten. Ungleich klarer als frühere Generationen sehen wir heute die weitrei- chende und traditionelle Grenzlinien überschreitende historische Bedingtheit unserer Welt, erkennen wir die komplizierte Verschränkung unterschiedlicher Traditionslinien. Das hier vorgeschlagene Verfahren ermöglicht es uns, die ganze 4 Eine Ubersicht bieten Heinrich Lutz, Reformation und Gegenreformation, München-Wien 1979, 5. 117ff., und Stephan Skalweit, Der Beginn der Neuzeit, Epochengrenze und Epo- chenbegriff, Darmstadt 1982, der vor allem die Bedeutung von Renaissance, Entdeckungen, Reformation und moderner Staatsbildung erortert, wahrend die Schwerpunkte bei Reinhart Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, in der vom Heraus- geber definierten "Sattelzeit" 1750-1850 liegen 5 Anregungen boten Karl-Georg Faber - Christian Meier (Hgg ), Historische Prozesse (Theorie der Geschichte Bd.2), München 1978, sowie einzelne Beitrage in dem in der vorigen An- merkung genannten Sammelband Studien zum Beginn der modernen Welt, in dem Fragen gestellt werden, die - so Koselleck - "elastisch genug waren, um je nach den behandelten Sach- gebieten verschiedene Antworten freizugeben." (Vorwort) 6 Blumenberg (wie Anm.3), 5. 22, mit einer Fülle treffender Beobachtungen über die Eli- minierung des Mittelalters im Zuge einer immer weiter reichenden Explikation der Neuzeit.

Das Wagnis der Individualisierung - · PDF file12 Ruggiero Romano, Renesans ekonomiczny y Ekonomica Renesansu. In: Kwartalnik Histo-ryczny 69, 1961, S. 3-14. 13 Werner Sombart, Der

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Das Wagnis der Individualisierung

Von Winfried Schulze

Wenn es um die Bestimmung von Epochengrenzen geht, dann werden sich

die meisten Historiker gerne auf die Position Leopold von Rankes zurückziehen,

der schon als junger Wissenschaftler zu Beginn seiner weltgeschichtlichen Vor-lesung im Wintersemester 1825/26 seine Meinung über die tradierte Einteilung

in Altertum, Mittelalter und Neuzeit deutlich erkennen ließ:

"Indem man nun daran geht, die Fragmente zu ordnen, die uns überliefert

sind, so wird man sich der herkömmlichen Art und Weise entäußern müssen. Die

herkömmliche Manier ist, alles in drei große Fächer abzusondern, von denen

man eins der alten, eins der mittlern und eins der neuern Geschichte gewidmethat. Die erste rechnet man bis zum Jahre 416 nach Christus; die zweite bis 1492

oder 1517, die dritte bis jetzt. Man fährt fort, in jedem von diesen Teilen neue

chronologische Perioden zu machen; und indem man die Geschichten der Völker

nach diesen Perioden teilt, so bekommt man eine große Anzahl Fächer, in wel-

che sich dann die Bruchstücke der Geschichte, die man weiß, ganz bequem ein-

legen lassen. Diese Methode hat keinen Grund in sich und gewährt keinen Vor-teil."1

Doch mit einem Seitenblick auf Christoph Cellarius, den Erfinder dieser Me-

thode - einen Schuldirektor - könnte man hinzufügen, daß für Zwecke der Lehre

einiges für sie zu sprechen scheint.2 Seitdem der "Abbau der Mythisierung ge-

schichtlicher Handlungen und Ereignisse" aus der Epoche "ein methodisches

Ordnungsmittel von zweifelhafter Zulässigkeit" gemacht hat - wie uns Hans Blu-menberg versichert3 - ist eine Vielzahl von Periodisierungsvorschlägen über die

historischen Wissenschaften hereingebrochen, die den Beginn der Neuzeit in ei-

nem Zeitraum von nicht weniger als 500 Jahren Ausdehnung suchen, nämlich

1 Leopold von Ranke, Vorlesungseinleitungen, hg. v. V. Dotterweich und W.P. Fuchs. In: ders.und Th. Schieder (Hgg.), Aus Werk und Nachlaß Bd.4, München-Wien 1975, S. 36.

2 Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten,Frankfurt a.M. 1979, 5. 305f. und Adalbert Klempt, Die Sakularisierung der universalhisto-rischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert. Göttin-gen-Berlin-Frankfurt a M. 1960, S. 78.

3 Hans Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner (Erw. und über-arbeitete Neuausgabe von "Die Legitimität der Neuzeit" Teil IV), Frankfurt a.M. 1982, 5. 13.

zwischen 1300 und 1800. 4 Diese Überfülle von Periodisierungsversuchen ist ganzgewiß zunächst ein Reflex auf die fortwährende Suche nach dem Beginn unserermodernen Welt und damit ein Ergebnis des ständigen Fragens nach den Fakto-

ren, die diese moderne Welt herbeigeführt haben und sie weiterhin bestimmen.Zugleich aber verbietet diese Vielzahl von Periodisierungsvorschlägen einen er-

neuten Anlauf, eine allgemeingültige Epochenbestimmung der Neuzeit zu ent-wickeln. Hier soll nur ein begrenztes Ziel verfolgt werden, indem die Kumulie-

rung von Veränderungen als ein möglicher Hinweis auf epochale Markierungen

geprüft wird.Mein Beitrag zu unserer kollektiven Anstrengung, dem "Beginn der Mo-

derne" auf die Spur zu kommen, geht deshalb von der Überzeugung aus, daß diemethodologische Grundlage solcher Bemühungen in einem Verfahren liegen

sollte, das Periodisierungsversuche konsequent "prozessualisiert".5 Darunter soll

ein offenes Verfahren der historischen Analyse von vermuteten Wirkungsfak-

toren und Prozessen verstanden werden, die in ihrer jeweils spezifischen Genese

und Entwicklung verfolgt werden sollen, unabhängig von tradierten Epochen-

grenzen. Das Verfahren bleibt damit offen für die sich wandelnden inhaltlichen

Bestimmungen von "Neuzeit" oder "Moderne", es braucht sich dann nicht desVorwurfs zu schämen, das Mittelalter unzulässig zu verkürzen.6 Das Ergebnis sol-cher Arbeit könnte eine umfassendere Bestimmung der Neuzeit durch Prozeß-

begriffe sein, deren spezifische Überlagerungen, Phasierungen und Beeinflus-

sungen ein vertieftes Verständnis der Eigenart unserer Epoche ermöglichen

könnten. Ungleich klarer als frühere Generationen sehen wir heute die weitrei-

chende und traditionelle Grenzlinien überschreitende historische Bedingtheit

unserer Welt, erkennen wir die komplizierte Verschränkung unterschiedlicher

Traditionslinien. Das hier vorgeschlagene Verfahren ermöglicht es uns, die ganze

4 Eine Ubersicht bieten Heinrich Lutz, Reformation und Gegenreformation, München-Wien1979, 5. 117ff., und Stephan Skalweit, Der Beginn der Neuzeit, Epochengrenze und Epo-chenbegriff, Darmstadt 1982, der vor allem die Bedeutung von Renaissance, Entdeckungen,Reformation und moderner Staatsbildung erortert, wahrend die Schwerpunkte bei ReinhartKoselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, in der vom Heraus-geber definierten "Sattelzeit" 1750-1850 liegen

5 Anregungen boten Karl-Georg Faber - Christian Meier (Hgg ), Historische Prozesse (Theorieder Geschichte Bd.2), München 1978, sowie einzelne Beitrage in dem in der vorigen An-merkung genannten Sammelband Studien zum Beginn der modernen Welt, in dem Fragengestellt werden, die - so Koselleck - "elastisch genug waren, um je nach den behandelten Sach-gebieten verschiedene Antworten freizugeben." (Vorwort)

6 Blumenberg (wie Anm.3), 5. 22, mit einer Fülle treffender Beobachtungen über die Eli-minierung des Mittelalters im Zuge einer immer weiter reichenden Explikation der Neuzeit.

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Geschichte zurückzugewinnen und unsere Fragen nicht durch die klassischen

Epochengrenzen beschränken zu lassen.

Im folgenden will ich versuchen, mit dem "Bewegungsbegriff" der Indivi-

dualisierung einen der Vorgänge zu isolieren, die zweifellos mit zur Entstehungder Moderne gehören. Dieser Begriff ist natürlich in diesem Kontext nicht neu, er

ist vielmehr in ganz verschiedenen Bedeutungen verwendet worden, sein An-

wendungsfeld reicht von der Renaissance bis zur Aufklärungsphilosophie. Gene-rell läßt sich feststellen, daß unter Individualisierung ein Oppositum zur Einbin-

dung des Menschen in umfassendere Sozialverbände gesehen worden ist,

gleichgültig, ob damit das "ganze Haus" (im Sinne Otto Brunners), die Kirche,

der Geburtsstand, die Stadt, die Zunft oder andere soziale Organisationsformen

verstanden werden.7 In diesem Zusammenhang bedeutet Individualisierung Be-

freiung von Bindungen, die dem jeweiligen Verband eigen sind, Abkehr von den

jeweiligen Normensystemen, Nutzung neuer Ausdrucksformen. Obwohl dieser

Begriff - wie gesagt - nicht neu ist, so fehlt es nach meinem Eindruck doch an

Analysen von konkret beobachteten Individualisierungsprozessen und denSchwierigkeiten ihrer Durchsetzung. Demgegenüber sehe ich sowohl von der La-

ge der Forschung wie von den potentiellen gesellschaftlichen Interesselagen hereinen erheblichen Bedarf für konkrete Studien zum "Wagnis der Individuali-

sierung" - wie ich es hier genannt habe, um den immensen Schwierigkeiten bei

der Durchsetzung der Ansprüche auf Individualität gerecht zu werden.

Den Hintergrund meiner Beobachtungen bildet dabei die europäische "so-ciete tripartite" (wie sie Georges Duby genannt hat), also jenes Idealmodell einer

statischen und korporativ organisierten Form von Gesellschaft, das auf der festenZuteilung von gesellschaftlichen Funktionen beruhte und das darauf eine feste

politische Hierarchisierung aufbaute.8 Es ist für unseren Zusammenhang von

direktem Interesse, daß das 16. Jahrhundert eigentlich das klassische Jahrhun-

dert dieser Ständeideologie ist - wie Duby selbst beobachtete - obwohl die

Gesellschaft dieser Zeit sich am weitesten von dem Idealbild ihrer Ordnung ent-

fernt hatte. Ja noch der einschlägige Stände-Artikel im Zedler'schen Lexikon ver-

sichert 1744, daß man die menschliche Gesellschaft gemeinhin in "drey Haupt-

7 Vgl. dazu Otto Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. Göt-tingen 1968, bes. S. 80ff. und S. 103ff.

8 Georges Duby, Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus, Frankfurt a.M. 1981. Ichverwende hier den Begriff der französischen Originalausgabe u.d.T. Les trois ordres ou l'ima-ginaire du feodalisme, Paris 1978.

stände" abteile.9 Soziales Handeln in dieser ständischen Gesellschaft war durch

ein hohes Maß an ständischen Verhaltensnormen bestimmt, die in ihrer Gesamt-heit als korporativ bezeichnet werden können. Gesellschaftliches Handeln hatte

sich nicht an Bedürfnis, Gewinnstreben oder Interesse des Individuums zu orien-

tieren, sondern an der existentiellen Sicherung übergeordneter Sozialverbändevon der Familie bis zur menschlichen Gesellschaft. Der Inbegriff dieses korpora-

tiven Sozialverhaltens war der Begriff des Gemeinen Nutzen. Dieser Begriff ist

gerade in letzter Zeit verstärkt untersucht worden, und man kann leicht feststel-

len, daß er die zentrale Verhaltensvorschrift dieser Phase der gesellschaftlichen

Entwicklung darstellte, der nicht nur in allen hoheitlichen Regierungsakten als

Legitimationsklausel fungierte, nicht nur in allen politischen Traktaten behan-

delt wurde. Er war darüber hinaus auch ein ambivalenter Begriff insofern, als ersowohl von der Seite der Regierenden wie von der Seite der Regierten verwen-

det werden konnte, wie Beispiele aus dem Bauernkrieg gut zeigen können.10Vor diesem Hintergrund eines ohne jeden Zweifel dominanten Sozialmo-

dells will ich nun versuchen, Ansätze für ein neues individualistisches Sozialver-

halten herauszuarbeiten, Bereiche also, in denen das "Wagnis der Individuali-

sierung" eingegangen wurde. Konzentrieren will ich mich dabei zunächst aufdas Problem eines individualistischen Wirtschaftsverhaltens und seiner Wider-

spiegelung in der Normendiskussion des 16. Jahrhunderts. Als zweiten Schwer-punkt will ich auf die Affektediskussion des 16. Jahrhunderts eingehen und hier

vor allem den Beitrag des Juan Luis Vives, aber auch den Philipp Melanchthons

untersuchen, und schließlich möchte ich der Frage nachgehen, ob und in wel-

chem Maße die konfessionspolitische Ordnung des Heiligen Römischen Reiches

9 Zedler's Grosses Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste Bd.39, 1744, Sp. 1093-1128, hier Sp. 1097.

10 Zum gesamten Komplex ist u.a. hinzuweisen auf Walter Merk, Der Gedanke desGemeinen Besten in der deutschen Staats- und Rechtsentwicklung, Weimar 1934; Adolf Diehl,Gemeiner Nutzen im Mittelalter nach süddeutschen Quellen. In: Zs. f. wurttemb. Lan-desgeschichte 1, 1937, S. 296-315; Brite Ecken, Der Gedanke des gemeinen Nutzen in derlutherischen Staatslehre des 16. und 17. Jahrhunderts, Phil. Diss. Frankfurt a.M. 1976; WinfriedEberhard, "Gemeiner Nutzen" als Oppositionelle Leitvorstellung im Spatmittelalter. In:Gerwing-Ruppert (Hgg), Renovatio et Reformatio. Fs. f. Ludwig Hödl zum 60. Geburtstag,Münster 1984, 5. 195-214. Neuerdings macht Peter Blickle den Begriff des Gemeinen Nutzenzum zentralen Wert in seiner Interpretation des Kommunalismus. Vgl. ders., Gemein-dereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1985,bes. 5. 196ff. Quellennahe Belege für die Bedeutung der Kategorie des Gemeinen Nutzens inder Stadt vor allem des 15. und 16. Jahhunderts bei Hans Christoph Rublack, Political and SocialNorms in Urban Communities in the Holy Roman Empire. In: K. v. Greyerz (ed.), Religion,Politics and Social Protest. Three Studies an Early Modern Germany, London 1984, S. 24-60.

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durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555 Voraussetzungen für eineneue, individualistische Lösung des Konfessionsproblems bot.

Prüfen wir das uns zur Verfügung stehende Material über den Zusammen-hang zwischen Wirtschaftsentwicklung und Wirtschaftsgesinnung im spätenMittelalter, so ergibt sich das Bild einer ungefähren Parallelität eines wirtschaft-lichen Umbruchs um die Mitte des 14. Jahrhunderts und einer neuen Wirt-schaftsgesinnung, die durchaus verschieden benannt worden ist. Eine neue"mentalite des affaires" schien einem fränzösischen Forscher (A.E. Sayous,1936) 11 , eine "ökonomische Renaissance" (R. Romano, 1961) 12 oder der "mo-derne Wirtschaftsmensch", der "Bourgeois" (W. Sombart, 1913) als angemesseneBezeichnungen13, um eine deutlich bemerkbare Tendenzveränderung im wirt-schaftlichen Verhalten zu bezeichnen. Diese Debatte war eng verbunden mit derzentralen Frage der älteren wirtschaftshistorischen Forschung nach den Ursprün-gen des Kapitalismus, in die ja auch die von Max Weber ausgelöste Diskussionum den Zusammenhang von protestantischer Konfession und kapitalistischemWirtschaftsverhalten einzuordnen ist.14 Als 1970 der amerikanische HistorikerMcGovern den Versuch unternahm, die einschlägige Forschung auf diesem Ge-biet zusammenzufassen, unterschied er zwischen einem ökonomischen Huma-nismus seit dem 13. Jahrhundert als Ausdruck einer neuen Wertschätzung für dasWirtschaftsverhalten des Einzelnen und einem ökonomischen Nationalismus seitetwa 1550 als Ausdruck für die neue Einsicht in den Zusammenhang von indivi-duellem wirtschaftlichen Erfolg und gesamtstaatlichem VVohlergehen.15

Natürlich nehmen alle einschlägigen Studien ihren Ausgangspunkt sowohlvon den wirtschaftlichen Verhältnissen Italiens wie von der hier produziertenhumanistischen Literatur. Sombart fand hier in Leon Battista Alberti seinen er-

11 A.E. Sayous, hier zitiert nach Zorn (wie Anm. 16), S. 32.

12 Ruggiero Romano, Renesans ekonomiczny y Ekonomica Renesansu. In: Kwartalnik Histo-ryczny 69, 1961, S. 3-14.

13 Werner Sombart, Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmen-schen, Leipzig 1913.

14 Vgl. dazu Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 2 Bde. hg.J. Winckelmann, 2. Aufl. Hamburg 1972, und Seyfart, C. - Sprondel, W.M. (Hgg.), Seminar:Religion und gesellschaftliche Entwicklung. Studien zur Protestantismus-Kapitalismus-TheseMax Webers, Frankfurt a.M. 1973, und Jean-Frarxois Bergier, Renaissance, Reformation undwirtschaftliches Wachstum. In: Lutz (Hg.), Humanismus und Ökonomie, Weinheim 1983, S. 207-217.

15 John F. McGovern, The Rise of New Economic Attitudes > Economic - Humanism,Economic - Nationalism < During the Later Middle Ages and the Renaissance, A.D. 1200-1500.In: Tradition 26, 1970, 5. 217-253.

sten "Bourgeois", und noch immer ist von einem erheblichen Phasenunterschiedzwischen den entwickelten italienischen Verhältnissen und denen Deutschlandsauszugehen.16 Es bedarf gar nicht erst eines genaueren Blickes auf die berühmteMonopoldebatte im Reich während der ersten drei Jahrzehnte des 16. Jahr-hunderts, um den moralisch prekären Zustand des kaufmännischen Gewerbes zuerschließen. Alle Verhaltensvorschriften des 15. und 16. Jahrhunderts preisen einLeben ohne Geiz und Habsucht, verdammen Gewinnstreben und Eigennutz. Ge-rade die Polarisierung von Gemeinnutz und Eigennutz kann uns das Normen-system noch der Gesellschaft des 16. Jahrhunderts vor Augen führen. JohannFerrarius, ein Marburger Professor und Verfasser eines Traktats "De republicabene instituenda" definierte im Hinblick auf das ihm wohlvertraute zeitgenös-sische Wirtschaftsverhalten sein ideales Gemeinwesen folgendermaßen:

"Ist zu wissen, daß res publica oder Gemeinnutz nit anders ist dann eingemein gute Ordnung einer Stadt oder einer andern Kommun, dareinallein gesucht wird, daß einer neben dem andern bleiben kunde und sichdesto stattlicher mit aufrichtigem unverweislichem Wandel in Friedenerhalten. Und wurd darum der Gemeinnutz genannt, daß in dem Fallkeiner auf sein eigen Sache allein sehen soll. "17

In einer Stadt so ist seine Überzeugung - müssen alle Glieder zusammen-stimmen, dürfen sich gegenseitig nicht behindern, "daraus kompt ein harmoniaund schöner lieplicher thon, das wir nennen ein gemeiner nutz." Das Lob des Ge-meinnutzes ist so eindeutig wie die Verdammung des Eigennutzes, Beispiele wieMartin Bucers Schrift "Das ym selbs niemant, sonder anderen leben soll, und wieder mensch dahyn kummen mög" (1523) oder Hans Sachsens "Der Eygennutz,das greulich thier mit sein zwölf Eygenschafften" oder sein "Dialog vom Geiz"belegen dies beispielhaft, alle Laienspiegel folgen dieser zentralen Vorschrift.18

Widersprüche gegen diesen festgefügten Verhaltenskatalog müssen denHistoriker besonders interessieren. Sie haben dies auch in einem bemerkens-werten Fall getan, nämlich im Fall des Augsburger Patriziers Conrad Peutinger,dem wir eine Reihe rechtlicher und politischer Stellungnahmen zur schon er-wähnten Monopoldiskussion verdanken. Seine hier uns besonders interessieren-

16 Ein sehr guter Literaturbericht findet sich bei Wolfgang Zorn, Humanismus und Wirt-schaftsleben nördlich der Alpen. In: H. Lutz (Hg.), Humanismus und Ökonomie, Weinheim1983, S. 31-60, zu Alberti ebd., 5. 50.

17 J. Ferrarius, Tractatus de republica bene instituenda. Das ist ein sehr nützlicher Traktatvom gemeinen Nutzen, Frankfurt a.M. 1601 (erste lat. Ausgabe Marburg 1533), S. 19v.

18 Hans Sachs, Der Eygennutz (Werke Bd.3, Stuttgart 1870, 5. 491ff.). Bucers Schrift findetsich in Martin Bucers Deutsche Schriften Bd.1, Gütersloh 1960, S. 29ff.

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de Kernthese lautet: Es gibt kein Gesetz, das es den Menschen verbietet, ihreneigenen Nutzen zu verfolgen, Gewinne zu machen und sogar Reichtum anzu-häufen. Er geht über diese Meinung noch hinaus, wenn er feststellt, daß diesnicht nur legitim, sondern sogar gesellschaftlich nutzbringend sei, denn jederStaat habe ein Interesse an wohlhabenden Untertanen.19

Peutingers Position ist bislang auf der theoretischen Ebene ein Sonderfallgeblieben, wir haben keine vergleichbaren Aussagen, die in eine ähnliche Rich-tung gehen und die es uns erlaubten, die wirtschaftliche Praxis dieser Zeit alsethisch verteidigt zu betrachten. Um so überraschter war ich, als ich vor kurzemauf eine Schrift aus dem Jahre 1564 stieß, die gegen den Strich der Ethikliteraturdes 16. Jahrhunderts geschrieben ist und die unser besonderes Interesse erregenmuß, weil sie sich insgesamt als eine frühe Antizipation von Gedanken heraus-stellte, die gemeinhin mit Mandevilles Bienenfabel vom Beginn des 18. Jahrhun-derts in Verbindung gebracht werden. Die These des Büchleins, das den Eigen-nutz in Ichform auftreten läßt, greift bewußt in die damals aktuelle Debatte umGemeinnutz und Eigennutz ein und besagt, daß

"doch dargegen die Wahrheit ist und hernach mit bedeutlichen und be-grifflichen Argumenten soll bewiesen und dargetan werden, daß ich nichtallein nit so bös bin, als mir meine undankbare Kinder zulegen, sonderauch, daß die ganze Welt durch mich in gute Ordnung und Polizei, Frieden,Bestand und Wesen erhalten wird und von Anfang erhalten worden ist,ohne mich auch nicht bestehen könnt oder möchte. Die Wort lauten wohlhart und schwer und sind seltsam zu hören. "20

Die Verblüffung des Lesers nimmt zu, wenn er feststellt, daß der Verfasserseine Analyse zwar am "Lob der Torheit" des Erasmus orientiert, ihn auch er-wähnt und ihn dafür kritisiert, der Torheit Dinge zuzuschreiben, die eigentlichdem Eigennutz zu verdanken sind, daß das Buch aber keineswegs in die Reihe

19 Das Gutachten findet sich mit anderen einschlägigen Quellen bei Clemens Bauer, ConradPeutingers Gutachten zur Monopolfrage. Eine Untersuchung zur Wandlung der Wirtschaftsan-schauungen im Zeitalter der Reformation. In: Archiv f. Reformationsgeschichte 45, 1954, 5. 1-43und 5. 145-196, hier 5. 39.

20 Bei der Schrift handelt es sich um Leonhard Fronsperger, Von dem Lob des Eygen Nutzen,Frankfurt a.M. 1564. Wenn auch verschiedentlich kurz erwähnt, so ist diese Schrift bislangkeiner genaueren Analyse unterzogen worden. Eine ausfuhrlichere Einordnung der Schrift ha-be ich vorgenommen in Winfried Schulze, Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Nor-menwandel in der ständischen Gesellschaft der frühen Neuzeit. In: Historische Zeitschrift 243,1986. In diesem Zusammenhang will ich nur kurz darauf hinweisen, daß der im Titel genannteVerfasser - ein bekannter Verfasser mehrerer Werke über das Kriegswesen des 16. Jahrhunderts- nicht der Autor der Schrift ist. Vielmehr hat er ein von seinem Freund, dem badischen KanzlerDr. Oswald Gut, begonnenes und wohl weitgehend fertiggestelltes Manuskript, nach dessenTod 1554 übernommen und zum Druck gebracht.

der humanistischen Scherzbücher, also der loko-Seria eingereiht werden kann.Vielmehr wird der literarische Typ des Encomiums benutzt2 1 , um eine ernsthafte

Untersuchung sozialen Verhaltens vorzulegen. Der Verfasser belegt seineGrundthese von der alleinigen und fruchtbaren Existenz des Eigennutzes durcheinen Überblick über die Interessenlagen der Menschen in Ehe, Beruf oder Re-gierung_ Niemand heiratete um des Gemeinnutzes willen, sondern "aus natür-

licher Begiehrlichkeit, die von der Natur eingepflanzt ist, folgt nach seinem Ge-

lust und Willen, demselben ein Genüge zu tun." Auch alles wirtschaftliche Han-deln werde durch den Eigennutz veranlaßt. Kein Bauer bestelle sein Feld, keinKaufmann wage sein Leben auf hoher See, kein Handwerker arbeite wegen desgemeinen Nutzen, jeder folge nur seinen Bedürfnissen. Diese Beobachtung gelteauch für die Obrigkeiten selbst, aber auch die Geistlichen und die Gelehrten.

Dies wäre noch als überschießender Realismus unseres Autors zu deuten,gewissermaßen als massive Vorbereitung der dann folgenden Moralvorschriften.Doch die weitere Argumentation der Schrift verbietet diese Interpretation. Siefragt nämlich, wie es denn aber zur Existenz von Familien und Staaten kommenkönne, wenn es doch nur Eigennutz gebe? Den Grund sieht der Verfasser in derSchöpfung der Welt, in der kein Mensch ohne des anderen Hilfe, kein Land ohneden Austausch mit anderen Ländern leben könne, die Welt sei "ein einzige poli-cey und wesen". Diese Tatsache aber bewirke die notwendige Kooperation allerTeilglieder. Diese folge aber nicht aus der Gleichheit aller Menschen, die uto-pisch sei, sondern aus dem geraden Gegenteil: Alle Geschöpfe seien vielmehrnach dem Willen Gottes "in Ungleichheit" und "gegeneinander in Streit ge-setzt", aber - und dies ist die entscheidende Formulierung - durch die

"Ungleichheit und streitende Gegensatzung erscheint die allergrößtGleichheit und allerlieblichest Hermoney und Einigkeit ... gleichsam als ineiner Orgel viel und mancherley Pfeiffen sind, kurz und lang, groß undklein, deren keine auch in ihrem Getön einander gleich, aber aus solchenungleichen Stimmen die allersüßest Hörmoney der Musik entspringt."

Wenn ich dies recht interpretiere, dann benutzt unser Verfasser hier eineArgumentation, die im allgemeinen Mandeville zugeschrieben wird und dieWalter Euchner als Auswirkung des entstehenden "Systems der Bedürfnisse" de-finiert hat22, das eigentlich erst Gesellschaft konstituiere. Der Autor erkennt den

21 Zu diesem Typ der Literatur des 16. Jahrhunderts die kleine Spezialstudie von AdolfHauffen, Zur Literatur der ironischen Enkomien. In: Vierteljahresschrift für Literaturgeschichte6, 1893, S. 161-185, ohne freilich auf unser "Lob des Eygen Nutzen" einzugehen.

22 Bernard Mandeville, Die Bienenfabel oder private Laster, öffentliche Vorteile, mit einerEinleitung von Walter Euchner, Frankfurt a.M. 1980, 5. 24.

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Zusammenhang, der aus der Befriedigung der verschiedensten menschlichen Be-dürfnisse heraus sich ergibt und gründet darauf sein Verständnis von Gesell-schaft: "die menschlichen sachen halten sich untereinander wie Ringe einer Ket-

ten". Er greift hierbei auf eine bislang zu wenig beachtete Diagnose desmenschlichen Sozialverhaltens zurück, die schon im 16. Jahrhundert den Grund

für die Vergesellschaftung der Menschen nicht in ihrer angeborenen Soziabilitätsieht, sondern vielmehr in ihrer "indigentia", der "Notdurft", letztlich in ihrergrundlegenden "cupiditasacquirendi". Ich brauche nicht zu betonen, daß die im"Lob des Eigennutzen" entwickelte Begründung von Gesellschaft ein radikalerBruch mit den tradierten Vorstellungen der korporativen Gesellschaft war, die

sich einen Ausgleich divergierender Interessen - wenn sie denn wegen der Sünd-haftigkeit der Menschen festzustellen waren - überhaupt nur durch den Herr-

scher denken konnte, während unser Verfasser hier schon neue Wirkungsme-

chanismen erkannte. Mir kam es nur darauf an, diesen modernen Sachverhalt

aus dieser Schrift herauszustellen, die ich hier aus naheliegenden Gründen nicht

weiter untersuchen kann. Wichtig für den Vergleich mit der Bienenfabel Mande-ville's scheint mir noch die Tatsache zu sein, daß sich beide Autoren auf das "Lob

der Torheit" des Erasmus beziehen und damit ihren gemeinsamen Ausgangs-punkt deutlich markieren.23

Die eben angeschnittene Frage der menschlichen Bedürfnisse, der "cupi-

ditas acquirendi", berührt nun zugleich ein anderes Bündel von Fragen, die

Motive menschlichen Handelns nämlich, die Lehre von den Affekten, so wie sie

im Lauf des 16. Jahrhunderts gesehen wurde. Versuchen wir einen Einblick in die

Lehre von den Affekten zu gewinnen, so drängt sich aus der ganz überwie-genden Mehrzahl der einschlägigen Ethiklehrbücher der Eindruck auf, daß die

Affekte allein Antriebe für das lasterhafte Leben des Menschen darstellen. Ichgreife hier den "Christlichen Laienspiegel" von Jodok Lorich, einem katholi-

schen Theologen heraus, der 1603 schreibt:

"Es soll einem jeden Menschen, sonderlich uns Christen vor allen anderndingen bewußt und angelegen seyn, warum er in dieser wett erschaffen.Ungezweifelt nicht darumb, daß wir Leib und Seel zu den natürlichen Af-

23 Der Autor des "Lob des Eygen Nutzen" verweist - wie schon erwähnt - selbst auf das "Lobder Torheit" des Erasmus und kritisiert den Verf. dafür, der Torheit Wirkungen zuzuschreiben,die eigentlich dem Eigennutz zu verdanken seien. Für Mandeville vgl. die Bienenfabelausgabevon F.B. Kaye, 2 Bde., 2. Aufl. Oxford 1957, hier Bd.1, 5. cvi ff.

fecten und Gelüsten, das ist zu wol essen, trinken, weltlichen Künsten,Reichthümern, zeitlicher Ehre, Hochzeit, Ruh und Müßiggang gebrauchen,sondern ... darumb, daß wir Gott suchen sollen. "24

Die in einer solchen Bestimmung des Menschen enthaltene Anthropologie

ist im wesentlichen durch Thomas von Aquin geprägt worden. Robert Spaemann

hat diese teleologisch genannt und sie durch das folgende Thomas-Zitat zugleich

verdeutlicht: "Totus homo est propter aliquem finem extrinsecum, puto ut frua-

tur Deo." Für Spaemann besteht nun ein ganz wesentlicher Unterschied zwi-

schen Mittelalter und Moderne in der von ihm so genannten "Inversion" dieser

Teleologie. Der Mensch handelt nicht mehr im Hinblick auf ein höheres Sein,sondern findet seine neue Bestimmung in der conservatio sui, der existentiellen

Selbsterhaltung. Dieser Gedanke der Selbsterhaltung als neue und schöpferisch

verstandene Kraft findet seinen treffenden Ausdruck in einer Formulierung

Francis Bacons, der im Hinblick auf das scholastische Weltbild sagt "Nam cau-

sarum finalium inquisitio sterilis est, et tanquam virgo Deo consecrata nihil pa-

rat." Diese zugleich auch kirchliche Denk- und Lebensformen diskreditierende

Aussage kann uns verdeutlichen, daß der Gedanke der conservatio in der Tat ein

bemerkenswerter Durchbruch zu einem neuen Individualismus ist, der das Ein-

fallstor für viele andere Bereiche des menschlichen Lebens darstellt. Selbster-

haltung wird gewissermaßen zum neuen Maßstab menschlichen Verhaltens und

der dieses Verhalten steuernden Tugendlehre. Am Ende des 16. Jahrhunderts

definiert Thomas Campanella schon die conservatio als Ersatz für das "höchste

Gute", wenn er sagt "Conservatio igitur summum bonum, est rerum om-

nium."25

Juan Luis Vives, der berühmte Zeitgenosse des Erasmus und vor allem durch

seine sozialpolitischen und didaktischen Schriften bekannt, kann uns schon denhier vermuteten Umschlag des Denkens belegen. Seine Abhandlung "De anima"

von 1543 unternimmt den Versuch, eine auf Beobachtung des Menschen, seiner

Fehler und Möglichkeiten, gegründete Psychologie zu entwickeln. Seine frühe-

ren Schriften kreisen alle um die Analyse menschlicher Leistung, etwa im Bereich

der Wissenschaft, oder die Beschreibung der Entartung der menschlichen Gesell-

24 Jodok Lorich, Christlicher Laienspiegel, das ist ein newer außführlicher Traktat von allenweltlichen Stenden ..., Freiburg i.B. 1603.

25 Ich folge hier den Ausführungen bei Robert Spaemann, Bürgerliche Ethik und nichtte-leologische Ontologie_ In: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zurDiagnose der Moderne, Frankfurt a.M. 1976, 5. 76ff. Alle Zitate, die hier verwendet werden,ebd. - über den weiterreichenden Kontext der Diskussion um die "Selbsterhaltung" als In-version der mittelalterlichen Teleologie informiert die Einleitung zu dem eben genanntenSammelband.

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schaft, etwa in seinem Buch "De concordia", in dem er eine Untersuchung all derVorbedingungen und Gefahren für soziale und politische Eintracht unternom-men hatte. "De anima" bildete gewissermaßen die Summe dieser empirischenArbeiten.26

Vives geht davon aus, daß das schwierige Thema der menschlichen Affektebislang nicht zureichend behandelt worden sei, weder von den Stoikern nochvon Aristoteles. Die dem Menschen von Natur eingegebenen Möglichkeiten, Gu-tes zu tun und Böses zu vermeiden, nennt er Affekte. Die Schwierigkeit zu be-stimmen, was Gut und Böse ist, sieht Vives erleichtert durch das Prinzip der con-servatio sui, den Ausgangspunkt aller Affekte, die durch körperliche und geistigeFaktoren beeinflußt werden. Die Affekte sind dem Menschen von Gott gegebenworden, um Impetus und Sporn zu sein einerseits, um Zügel für das Laster ande-rerseits zu sein. "Die den Affekten einwohnende Grundtendenz ist nützlich" hatWilhelm Dilthey in diesem Zusammenhang festgestellt und damit das neue Ele-ment dieser Lehre gewürdigt.27

Die Bedeutung des Vives'schen Konzepts der Affekte liegt nun nicht alleinein der Würdigung der Affekte als Anreger allen menschlichen Verhaltens, son-dern auch in der Bewertung der Funktion der Affekte gegeneinander_ Währenddie klassische Affektenlehre davon ausging, daß die Affekte durch die ratio desMenschen zu zügeln seien, entwirft Vives ein Wirkungsverhältnis der Affekteaufeinander. Er zeigt dies am Beispiel der cupiditates, die dem Erwerb dessengelten, was wir nicht besitzen, und der Bewahrung dessen, was wir schon besit-zen. Sie zielen sowohl auf die physische Existenz, sie richten sich aber auch aufdas, was dem bene esse dient. Cupiditates bringen den Menschen dazu, nachAdel, Ehre und Reichtum zu streben, hier sind Maß und Grenze kaum vorstellbar.Trotzdem sieht Vives den Grund und die Berechtigung für die cupiditates in ihrerWirkung, den Menschen auf das hin zu orientieren, was ihm gut erscheint. Erverfällt keineswegs der zeitüblichen Kritik an der Begierde. Vielmehr läßt er ausden grundlegenden cupiditates eine ganze Palette weiterer Affekte entstehen,

26 An neuerer Literatur sei hier nur genannt Carlos G. Norena, Juan Luis Vives, The Hague1970, und A. Buck (Hg.), Juan Luis Vives. Arbeitsgespräch in der Herzog-August-BibliothekWolfenbüttel, Hamburg 1981, und Karl Kohut, Humanismus und Gesellschaft im 16. Jahr-hundert? Das Verhältnis von Tradition und Reform in den gesellschaftspolitischen Schriften desJuan Luis Vives. In: Lutz (Hg.), Humanismus und Okonomie, Weinheim 1983, S. 183-205.Grundlegende Interpretation seiner Schrift "De Anima et vita" von 1543 bei Wilhelm Dilthey,Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, 9. Aufl. Göt-tingen 1970, 5. 422ff. Für die Affektenlehre des Vives ist vor allem das 3. Buch von "De anima"heranzuziehen, 5. 205ff.

27 Dilthey (siehe vorige Anmerkung), S. 424.

die selbst wiederum andere hervorrufen und sich gegenseitig kontrollieren. Ernimmt damit eine Einsicht der menschlichen Psychologie vorweg, die in der Kon-

kurrenz der menschlichen Affekte die eigentliche Möglichkeit sieht, ein gesell-schaftlich nützliches Verhalten herbeizuführen.

Freilich muß spätestens an diesem Punkt der Rekonstruktion erwähnt wer-den, daß Vives diesen gedanklichen Weg nicht alleine und nicht unvorbereitetgegangen ist. Es ist Philipp Melanchthon, der schon vor Vives die Beobachtungniederschrieb, daß die menschliche Natur durch Eigenliebe bestimmt sei. Er zogdaraus die Konsequenz, daß eine Kontrolle der menschlichen Affekte durch dieVerstandeskräfte - wie dies bislang angenommen wurde - nicht möglich sei.Vielmehr könne man sich eine Zähmung der Affekte nur durch andere Affektevorstellen: "affectus affectu vincitur."28 Wenn auch Melanchthon diese Beob-achtungen nicht im Kontext einer eigenen Affektenlehre entwickelt, die der desVives vergleichbar wäre, so zeigt uns seine Argumentation doch, in wie starkemMaße das reformatorische Denken auch die Diskussion der Natur des Menschenförderte. Insbesonders die Auseinandersetzung um den "freien Willen" desMenschen, dessen Widerlegung bei Melanchthon der entscheidende Ausgangs-punkt war, erwies sich hier als vorzüglicher Impuls für eine Neubestimmung derNatur des Menschen. Wilhelm Maurer hat versucht, die Affektenlehre Melanch-thons durch einen Vergleich mit den einschlägigen Äußerungen des Erasmus undFicinos klarer herauszustellen. Alle drei Humanisten haben im Zusammenhangihrer Aussagen zur Lehre von den Affekten das Bild vom himmlischen Wagen-lenker Phaeton verwendet. Während Erasmus diese Erzählung so deutet, daß eran den Rossen des Gespanns die Verschiedenheit der menschlichen Charakteremit ihren jeweils verschiedenen Affekten hervorhebt, die aber alle von der Ver-

nunft gezügelt werden, steht Melanchthons Deutung im Gegensatz dazu: Dieungezügelten Pferde sind nicht zu halten, die Vernunft wird durch die Affektebesiegt, der Sonnenwagen stürzt in den Abgrund. Bei Ficino aber erscheint der

Sturz als göttlich gelenkt. Der Wagenlenker ist der Herr der Welten und die Pfer-de - die Affekte - kehren heim zum Stall und werden mit Nektar und Ambrosiaversorgt.29

28 Zur Affektenlehre Melanchthons ist vor allem auf Wilhelm Maurer, Der junge Melanch-thon zwischen Humanismus und Reformation Bd.2, Göttingen 1969, S. 244ff. (über die Anthro-pologie der Loci), und Heinrich Bornkamm, Humanismus und Reformation im MenschenbildeMelanchthons. In: Das Jahrhundert der Reformation. Gestalten und Kräfte, Frankfurt 1983 (Ta-schenbuchausgabe), S. 89-114, vor allem 5. 93ff., hinzuweisen.

29 Die unterschiedliche Interpretation des Bildes vom himmlischen Wagenlenker bei Maurer(wie vorige Anm.), 5. 260.

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Darüber hinaus, so ließe sich nun wiederum für Vives sagen, liefert er mitseiner komplexen Theorie der Affekte den Ansatz für eine charakteristisch neu-zeitliche Interpretation der voluptas. In dieser neuen Sicht ist voluptas nicht einLaster, sondern ist auch als "voluptas honesta" - wie es bei dem KameralistenJakob Bornitz 1622 heißt30 - denkbar, weil sie dem Wesen des Menschen ent-spricht, durch seine Arbeit sich die Natur nutzbar zu machen. So liefert diePsychologie eines Vives die Voraussetzungen einer Wirtschaftsgesinnung, die inder cupiditas acquirendi ein wichtiges neues Movens entdeckt, das in der Lagewar, die Grenzen der mittelalterlichen Wirtschaft zu überwinden.

In einem letzten Teil will ich auf das Problem der religiösen Individuali-sierung eingehen, einen Bereich, dem vermutlich am ehesten - wenn auch nichtunbestritten31 - das Prädikat einer modernisierenden Kraft zugemessen wird. Ichwill hier nicht die Problematik behandeln, die in der ambivalenten Interpre-tation "christlicher Freiheit" gesehen werden muß, will nicht auf die das Indivi-duum stärkende Funktion des Schriftprinzips hinweisen. Ich will vielmehr auf ei-ne spezifische Problematik in der Interpretation des Augsburger Religionsfrie-dens von 1555 eingehen, der ja üblicherweise in der Verfolgung seines konfes-sionellen Territorialismus als Absage an eine spezifisch individualistische Ausprä-gung von Religion gesehen wird.

Demgegenüber hat zuletzt noch Martin Hecket auf die Bedeutung des be-neficium emigrandi verwiesen, das im Frieden als Auswanderungsrecht der Un-tertanen "unter Garantie ihres Eigentums und eines Ablösungsrechts der Leib-eigenschaft" festgeschrieben wurde. Er hat dies - bei aller realen Begrenztheitdieses beneficiums - als "das erste allgemeine Grundrecht, das das Reich durchdas geschriebene Verfassungsrecht jedem Deutschen garantierte" gewertet.32Für unseren Zusammenhang scheint mir wichtig zu sein, daß im Kontext der Aus-einandersetzungen um den Augsburger Religionsfrieden auch im Reich Argu-mentationen entwickelt wurden, die mir jenem Prozeß vergleichbar erscheinen,der von Reinhart Koselleck für den westeuropäischen Absolutismus beobachtetwurde. Gemeint ist damit jene charakteristische Trennung zwischen dem gehor-

30 Das Zitat aus Jakob Bornitz, Tractatus politicus de rerum sufficientia in republica et civitateprocuranda, Frankfurt a_M. 1625, S. 57 und S. 189.

31 Vgl. vor allem Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung dermodernen Welt, 5. Aufl. 1928.

32 Martin Hecket, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, Göttingen 1983, 5. 47.

samen politischen Untertanen, der als solcher die Gesetze befolgt und seineSteuern zahlt, und dem religiösen Subjekt, das der dissentierenden Meinungfähig wird und sich so einen staatsfreien, "privaten" Innenraum schafft.33 Es wardies bekanntlich eine entwicklungsfähige Lösung der konfessionellen Konflikte,die Europa zwei Generationen lang erschüttert hatten.

Im Gegensatz zu der theoretischen Lösung, wie sie von Koselleck amBeispiel von Barclay und Hobbes analysiert wurde, bietet nun die Konfessions-geschichte des Reiches Möglichkeiten, um diesen Vorgang der "Aufspaltung desMenschen" in der historischen Praxis zu beobachten. Ausgehend von ihrer eige-nen und eigenwilligen Interpretation des Augsburger Religionsfriedens, die imjus emigrationis ein beneficium sah, das in das Belieben der Untertanen undnicht der Obrigkeiten gestellt war, beharrten die protestantischen Reichsständeauf der Auffassung, falls protestantische Untertanen "sich sonsten aller

schuldigen Gebühr in politischen Sachen gegen ihrer ordentlichen Obrigkeit ver-

halten", müsse man ihnen die Möglichkeit des Bleibens geben und auf die Aus-weisung verzichten, die ansonsten als die legitime Kehrseite des jus emigrationisbetrachtet wurde. In einer Supplikation der protestantischen Bürger der ka-tholisch gebliebenen Reichsstadt Köln läßt sich die Koselleck'sche Aufspaltungvorzüglich belegen, wenn diese Bürger "ihre häuslichen Beykünffte" - die manihnen als verbotene Versammlungen "zu empörung und aufhebung politischer

Ordnung" vorgeworfen hatte - als lediglich private Kultusausübung bezeichne-ten. Diese Bürger baten flehentlich um einen festen Ort zur Ausübung ihrer Re-ligion und versprachen dafür der städtischen Obrigkeit, wie bisher allen Gehor-sam leisten zu wollen, ja sie schworen sogar, "zu keiner auffruhr und verände-

rung politischer Ordnung gesinnet" zu sein.34 So läßt sich also in den Auseinan-dersetzungen um die Realisierung des Augsburger Religionsfriedens ein verbor-gener Zug zur Säkularisierung der Konfession erkennen. Die komplizierte Herr-schaftsschichtung im Reich, die aus Gründen der ratio status erforderliche Dul-dung anderer Konfessionen stärkte die Individualisierung der Konfession undbot auch Anlässe zur Forderung nach völliger "Freistellung" der Konfession, wo-rüber abschließend noch zu sprechen ist.

Es ist vielleicht angemessen, die Würdigung der Forderung auf Freistellungnicht mit jener Reserve zu beginnen, die sich die Forschung normalerweise auf-

33 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der modernen Welt,Frankfurt a.M. 1973, 5 18ff.

34 Die hier zitierten Quellen finden sich bei Christoph Lehmann, De pace religionis acta pu-blica et originalia. Das ist: Reichs. Handlungen , Frankfurt a.M. 1707, 5. 130 und 5. 195f.

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erlegt, wenn sie die Grenzen dieser Freistellung - also ihre Begrenzung auf diebeiden Reichskonfessionen - hervorhebt. Vielmehr soll an den zeitgenössischenReaktionen auf die Forderung der "allgemeinen Freistellung" gezeigt werden,welche Ungeheuerlichkeit hier von einigen wenigen protestantischen Vertreterngefordert wurde. Am besten mag uns hier die berühmte "Autonomia"-Schriftdes Andreas Erstenberger aus dem Jahre 1586 einen Eindruck jener Erregung zuvermitteln, der wohl bekanntesten katholischen Schrift gegen alle denkbarenVersionen einer Freistellung.35 Es ist dabei zunächst daran zu erinnern, daß inder Diskussion post-1555 der Begriff Freistellung höchst unterschiedliche Inhaltehaben konnte. Erstenberger unterschied in seinem Traktat insgesamt fünf Ver-sionen dieses Begriffs, wovon die ersten vier Arten spezifische Forderungen imHinblick auf Bestimmungen des Religionsfriedens darstellten (geistlicher Vor-behalt, Ferdinandeische Deklaration), die uns hier nicht näher zu interessierenbrauchen. Sie zeigen gleichwohl die exzeptionelle Bedeutung dieses emanzipa-torischen Begriffs in der politischen Publizistik dieser Zeit. Wichtig erscheint hierauch die allgemeine Diskreditierung des Freistellungsbegriffs durch Erstenber-ger, wenn er schreibt,

"also daß autonomia oder die Freystellung anders nicht ist, dann ein freyeWillkür und macht anzunemen zuthun zuhalten und zu glauben, was einerselbst wil und ihme gut dünckt oder gefellig ist. "36

Aus der gesamten Argumentation Erstenbergers, aber auch anderer katholischerPublizisten, wird klar, daß der Gedanke einer Freistellung der Religion als völligunvereinbar mit einem ordentlichen Regiment angesehen wird, da "sie eben indeme und dardurch alle Ordnung gentzlich aufheben. "Von daher und auch vonder allgemeinen zeitgenössischen politischen Theorie (z.B. Justus Lipsius) kannkein Zweifel an der generellen Ablehnung einer Freistellung bestehen. Allein dieHeftigkeit der Reaktionen auf Forderungen einer solchen individuellen Frei-stellung zeigen, daß mit diesem Vorschschlag nicht nur die Hinnahme der jeweilsanderen der beiden Konfessionen gemeint war, sondern daß hier zu Recht einentscheidender Einbruch in das Autoritätsgefüge von Kirche und Reich vermutetwurde:

35 Franciscus Burgkard (d.i. Andreas Erstenberger), Erster Theil des Traktats De Autonomia,Das ist von Freystellung mehrerlay Religion und Glauben, München 1586. Zu dieser Schrift undzur reichspolitischen Bedeutung der Freistellungsbewegung vgl. Gudrun Westphal, Die Frei-stellungsbewegung auf den Reichstagen zwischen 1556 und 1576, Phil. Diss. Marburg 1975.

36 Erstenberger, De Autonomia, S. 1v.

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"... die gantze Respublica unnd uhralte herrliche Ordnung und Harmoniede ß heiligen Römischen Reichs, als so auff zwayerlay Ständt und glider,Geistlich und Weltlich, wie die Confessionisten selbs offentlich bekennen,fundirt und gegründet ist, (wirdet) zerrissen und labefactirt ... "37

Um so mehr müssen dagegen jene Positionen auffallen, die Toleranz undFreistellung forderten und als notwendige Voraussetzungen einer neuen "ainig-keit" im Reich erkannten. Lazarus von Schwendi ist hier zunächst als einer jenerpolitischen Vertreter der Toleranz zu nennen, der sich der Neuerung seiner For-derung durchaus bewußt war, wenn er 1574 schrieb:

"Und ob wol solche Toleranz beiden Religionen nicht die rechte Regel undder ordinari weg in den Regiment ist ... sondern ... allein ein Nothweg undAufenthalt gemeiner wesens und friedens "38

Zu nennen sind hier aber auch jene Forderungen nach einer untertanen-freundlichen Interpretation der umstrittenen jus emigrandi - Bestimmung desReligionsfriedens. Wieder kommt es mir hier auf den erwähnten Gesichtspunktder "modernen" Aufspaltung des Menschen an, und deshalb zitiere ich nur einePassage aus dem "Kurtzen Bericht und Anzaig, daß die Bedrangnis unnd be-schwerungen so den Underthanen, die sich zu der Lehr der AugsburgischenKonfession bekennen ...", wo es heißt:

"Derwegen und wover den Stenden ires gemeinen vatter lands hail undwolfart von hertzen angelegen, hoch von nöten, daß obberürte ursachendieses mißtrauens, nemblich die bedrangnuß und verjagung derjenigen, sosich zu der augsburgischen Confession bekennen, unnd ihrer ordenlichenObrigkeit inn Politischen sachen den schuldigen gehorsam laisten, sich auchsonsten ihres thails dem Religionsfriden gemeß verhalten, unvertriebensambt weib unnd Kinder bey Hau ß und Hof gelassen werden, Bevorab sosich ainig Exercitium publicum Religionis nit sonder allein die Freyheit irerGewissen begern. "39

Mir scheint aus Quellenbelegen dieser Art die Notwendigkeit zu resultieren, inder spezifischen Lösung der konfessionellen Konflikte im Reich nicht nur eine auspolitischem Kalkül vereinbarte "Gleichberechtigung" der Konfessionen, sondern

37 Erstenberger, De Autonomia, hier zitiert nach Westphal (wie Anm. 32), S. 265.

38 Das hier zitierte Gutachten des Lazarus von Schwendi findet sich gedruckt bei Eugen vonFrauenholz, Des Lazarus von Schwendi Denkschrift über die politische Lage des DeutschenReiches von 1574, München 1939, S. 34. Zur Toleranzauffassung Schwendis vgl. jetzt unterBenutzung neuer Quellen Wolf-Dieter Mohrmann, Bemerkungen zur Staatsauffassung desLazarus von Schwendi. In: H. Maurer-H.Patze (Hgg.), Festschr. f. B. Schwineköper zu seinem 70.Geburtstag, Sigmaringen 1982, S. 501-521.

39 Abdruck dieser Schrift in De Autonomia (wie Anm. 35), 5. 201ff., hier 5. 202.

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zugleich einen starken Impuls für eine Toleranz, die von der individuellen und

deshalb nicht hinterfragbaren Glaubensentscheidung ausging, zu sehen.Dieser Versuch, an drei vermutlich relevanten Komplexen die Bedeutung

der Kategorie "Individualisierung" für die Moderne herauszustellen, ging von

der Überlegung aus, daß es im Kontext dieser Tagung und in Abgrenzung vonanderen Referaten vor allem darauf ankommen mußte, die Befunde realhisto-

rischer Veränderungen im Bereich von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in Be-ziehung zu jenem Quellenmaterial zu setzen, das uns über den Wandel von Nor-

men Auskunft geben kann. Gesellschaftliche Normen sind für den Historiker

Verbindungsstellen zwischen den realhistorischen Strukturen vor allem ökono-

mischer und politischer Natur einerseits und dem Verhalten des Menschen an-

dererseits. Insofern entspricht der feudalen Ordnung eine korporative Normen-

orientierung, während die entstehende bürgerliche Ordnung durch ein indivi-

dualistisches Normensystem gelenkt wird. Die zeitlich parallele Veränderung von

zentralen Normen sowohl im Bereich des Wirtschaftsverhaltens, der Affektstruk-tur des Menschen und der religiösen Überzeugung scheint ein Hinweis darauf zu

sein, daß in diesem Zeitraum ein besonders wichtiger Schritt auf dem Weg in die

Moderne vollzogen wurde.

NEUZEIT UND ENDZEIT.Zur mentalen Konfiguration von Apokalypse und

Utopie *

Von Erich Kleinschmidt

Es scheint wenig glaubwürdig, daß die Formulierung epochendeutender

Begriffe dem Zufall unterliegt, wenn auch die bedeutendste Reihe der expres-

sionistischen Dichtergeneration, "Der jüngste Tag" im Leipziger Kurt Wolff-Ver-lag angeblich einer willkürlichen Stichwortsuche ihre programmatisch geworde-

ne Bezeichnung verdanken soll. Kurt Pinthus erinnert sich daran, wie Franz Wer-

fel, Walter Hasenclever, er selbst und der Verleger Wolff den Namen aus der

Taufe hoben:

"Es wurde beschlossen, eine Serie kleiner dichterischer Bände zu beginnen,deren jedes ... von einem jungen oder noch unbekannten Autor verfaßtsein sollte. Wie aber der Name? Auf dem Tisch lagen die Korrekturbogenvon Werfels neuem Gedichtband 'Wir sind'. Mit einem Bleistift wurde hin-eingestochen, und die letzte Zeile der aufgeschlagenen Seite 166 begann'0 jüngster Tag'! So entstand die für die keimende, kommende Literaturrepräsentative Reihe "Der jüngste Tag" ..."1

Die Wahl des apokalyptischen Stichworts aus Werfels dramatischem Ge-

dicht 'Das Opfer'2 war aber als Leitthema eines literarischen Aufbruchs nur des-halb möglich, weil der entsprechende, doppelläufige Denkgestus von End- und

Neuzeit ohnehin schon als epochale Strömung vorhanden war. Die Verkettung

eines "Fin de siecle"-Bewußtseins und der aufbrechenden, avantgardistischen

Moderne realisierte sich keineswegs zufällig als poetologisches Programm im

Vorfeld des Ersten Weltkriegs, nach dessen Abschluß und einer tiefgreifenden,gesellschaftlichen Sinnkrise angesichts der Millionen unsinnig geopferter Toten

Kurt Pinthus die anthologische "Symphonie jüngster Dichtung" erneut unter

den ambivalenten Titelbegriff "Menschheitsdämmerung" versammelte.3

* Dem Beitrag wurde der thesenhafte Vortragscharakter belassen. Auf weiterführende Li-teraturhinweise wurde deswegen auch verzichtet. Lediglich für die Zitate sind die Belegstellenangeführt.

1 Zitat nach *Vorbemerkung" von H. Schöffler (Hg.), Der jüngste Tag, Frankfurt/M. 1970,Band. 1, S. IX.

2 In: F. Werfel, Wir sind. Neue Gedichte, Leipzig 1913, hier zitiert nach F Werfel, Gesam-melte Werke, Bd. Das lyrische Werk, Frankfurt/M. 1967, S. 131.

3 Berlin 1919, 2. Aufl. 1920.