21
dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes – Piaget / Bernard schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG dtv München 1992 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 423 35004 4

Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

dtv Taschenbücher

Das Weltbild des Kindes

Übersetzt von Luc Bernard

vonJean Piaget, Luc Bernard

1. Auflage

Das Weltbild des Kindes – Piaget / Bernard

schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

dtv München 1992

Verlag C.H. Beck im Internet:www.beck.de

ISBN 978 3 423 35004 4

Page 2: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

dtv

Page 3: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

Welche Vorstellung von der Welt haben Kinder in den verschiedenenStadien ihrer Entwicklung? Wie eignen sie sich »Realität« an? Wieerklart sich ein Kind das Wesen des Denkens, die Benennung derDinge, die Beschaffenheit der Träume und des Bewußtseins? JeanPiaget, der sein monumentales Lebenswerk der Erforschung der kind-lichen Entwicklung gewidmet hat und damit Weltruhm erlangte, be-faßt sich in >Das Weltbild des Kindes>, 1926 zum erstenmal erschie-nen, mit drei umfassenden Themenkreisen. Der erste untersucht denkindlichen Realismus: wie das Kind die Grenzen zwischen seinem Ichund der äußeren Realität erfährt und bestimmt. Im zweiten geht Pia-get dem kindlichen Animismus nach: wie Kinder Gegenstände undKörper, die für Erwachsene leblos sind, mit Leben und Bewußtseinausstatten. Der dritte Teil gilt dem kindlichen Artifizialismus, womitPiaget die kindlichen Erklärungsmodelle zum Ursprung der Gestirne,des Himmels, der Wasserläufe etc. meint. Piaget arbeitet die allen dreiBereichen gemeinsame Ausgangslage heraus: Für ihn gibt es einengrundsätzliche Egozentrizität des kindlichen Denkens; diese macht esdem Kind unmöglich, sich in solche Gegebenheiten hineinzuversetzenund sie zu verstehen, die von seiner eigenen Sicht abweichen. Piagetgelingt es, die kindlichen Reaktionen erklärbarer zu machen; er leistetdamit einen bedeutsamen Beitrag zum Verständnis zwischen Elternund Kindern. »Das Vergnügen, mit dem man Piagets Beschreibungender kindlichen Weltansicht liest, und die , face validity< seiner Deutun-gen sprechen in einem tieferen Sinn für ihre Wahrheit.« (Hans Aebliim Vorwort)

Jean Piaget, geboren 1896 in Neuchâtel/Schweiz, war zwischen 1926und 1954 Professor für Psychologie in Neuchâtel, Genf und Lau-sanne. Bis 1967 war er Direktor des Internationalen Erziehungsbüros,ab 1932 leitete er auch das Institut Jcan-Jaques Rousseau. Er starb1980 in Genf. Piaget war einer der Hauptvertreter der Entwicklungs-psychologie (Genfer Schule); er befaßte sich vor allem mit der Ent-wicklung der kognitiven Strukturen beim Kind sowie mit erkenntnis-theoretischen Fragen.

Page 4: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

Jean Piaget

Das Weltbild des Kindes

Einführung von Hans AebliAus dem Französischen von

Luc Bernard

Klett-CottaDeutscher Taschenbuch Verlag

Page 5: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

Unter Mitarbeit von A. Bodourian (2., 9. und 10. Kapitel), G. Guex(1., 3., 7., B. und 9. Kapitel), R. Hepner (8. Kapitel), H. Krafft (1., 3.,5., 7. und 9. Kapitel), E. Margairaz (9. und 10. Kapitel), S. Perret (1.,3., 5. und 7. Kapitel, V.-J. Piaget (1., 3., 7. und 9. Kapitel), M. Rodri-go (3. und 9. Kapitel), M. Rond (9. Kapitel), N. Swetlova (2., 9. und10. Kapitel) und Dr. Versteeg (3. Kapitel).

Von Jean Piagetist im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen:

Die Psychologie des Kindes (mit Bärbel Inhelder; 35030)

Ungekürzte Ausgabe1. Auflage Juli 1988 (dtv 15044)

B. Auflage Oktober 2005Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

O 1926 Presses Universitaires de FranceTitel der französischen Originalausgabe:La représentation du monde chez l'enfant

O der deutschsprachigen Ausgabe:1978 J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659,

StuttgartISBN 3-12-926321-7

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagbild: >Kind mit Taube< (1901) von Pablo Picasso

(O Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 2005)Gesamtherstellung: buch bücher dd ag, Frensdorf

Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany . ISBN 3-423-35004-0

Page 6: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

Inhalt

Zur Einführung. Von Hans Aebli 9

Einleitung: Die Probleme und die Methoden 151. Die Testmethode, die reine Beobachtung und die klinische

Methode 162. Die bei der klinischen Untersuchung beobachtbaren fünf

Reaktionstypen 233. Regeln und Kriterien für eine Diagnose der erwähnten

Reaktionstypen 304. Regeln für die Interpretation der Ergebnisse 34

Erster Teil: Der kindliche Realismus 43Kapitel I: Der Begriff Denken 47

1. Das erste Stadium: Man denkt mit dem Mund 482. Das Sehen und der Blick 553. Das zweite und das dritte Stadium: Man denkt mit dem Kopf 574. Die Wörter und die Dinge 62

Kapitel II: Der Realismus der Namen 671. Der Ursprung der Namen 682. Der Ort der Namen 763. Der innere Wert der Namen 834. Schlußfolgerungen 88

Kapitel III: Die Träume 901. Das erste Stadium: Der Traum kommt von außen und bleibt

äußerlich 922. Das zweite Stadium: Der Traum kommt aus uns, ist aber

außerhalb von uns 1043. Das dritte Stadium: Der Traum ist innerlich und kommt von

innen 1124. Schlußfolgerungen 114

Kapitel IV: Der Realismus und die Ursprünge der Partizipation 1181. Der Realismus und das Selbstbewußtsein 1192. Die Partizipationsgefühle und die magischen Praktiken beim

Kind 1253. Die Ursprünge der kindlichen Partizipation und Magie 1414. Gegenbeweis: Die spontanen magischen Haltungen beim

Erwachsenen 1515. Schlußfolgerung: Logische Egozentrizität und ontologische

Egozentrizität 155

Page 7: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

Zweiter Teil: Der kindliche Animismus 157Kapitel V: Das den Dingen zugesprochene Bewußtsein 159

1. Das erste Stadium: Alles ist mit Bewußtsein ausgestattet 1612. Das zweite Stadium: Alle beweglichen Gegenstände sind

bewußt 1663. Das dritte Stadium: Bewußt sind die mit Eigenbewegung

ausgestatteten Körper 1684. Das Bewußtsein wird den Tieren vorbehalten 1715. Schlußfolgerungen 172

Kapitel VI: Der Begriff »Leben« 1781. Das erste Stadium: Das Leben ist mit der Aktivität im allge-

meinen verbunden 1792. Das zweite Stadium: Das Leben wird mit der Bewegung

verbunden 1823. Das dritte und das vierte Stadium: Das Leben wird mit der

Eigenbewegung verbunden und dann den Tieren und Pflan-zen vorbehalten 184

4. Schlußfolgerung: Der Begriff »Leben« beim Kind 186Kapitel VII: Die Ursprünge des kindlichen Animismus: Morali-

sche Notwendigkeit und physikalischer Determinismus 1881. Der spontane Animismus beim Kind 1882. Die Sonne und der Mond folgen uns 1933. Physikalischer Determinismus und moralische Notwendig-

keit 2004. Schlußfolgerungen: Der Aussagewert der Befragung über

den kindlichen Animismus und die Natur des »diffusenAnimismus« 205

5. Schlußfolgerungen (Fortsetzung): Die Ursprünge des kind-lichen Animismus 210

Dritter Teil: Der kindliche Artifizialismus und die späterenStadien der Kausalität 227Kapitel VIII: Der Ursprung der Gestirne 229

1. Ein ursprünglicher Fall des ersten Stadiums 2312. Das erste Stadium: Die Gestirne sind fabriziert worden 2353. Das zweite und das dritte Stadium: Die Gestirne haben ei-

nen zuerst teilweise, dann ganz natürlichen Ursprung 242

4. Die Mondsicheln 249Kapitel IX: Die Meteorologie und der Ursprung der Gewässer . 253

1. Das Himmelsgewölbe 2542. Die Ursache und die Natur der Nacht 2583. Der Ursprung der Wolken 2644. Der Donner und die Blitze 2715. Die Bildung des Regens 274

Page 8: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

6. Die Erklärung für den Schnee, das Eis und die Kälte 2827. Die Flüsse, die Seen und das Meer. Der primäre Ursprung

der Gewässer 286Kapitel X: Der Ursprung der Bäume, der Berge und der Erde 292

1. Die Herkunft des Holzes und der Pflanzen 2922. Die Herkunft des Eisens, des Glases, des Stoffes und des

Papiers 2953. Die Herkunft der Steine und des Erdbodens 2974. Der Ursprung der Berge 304

Kapitel XI: Die Bedeutung und die Ursprünge des kindlichenArtifizialismus 3061. Die Bedeutung des kindlichen Artifizialismus 3062. Die Beziehungen zwischen dem Artifizialismus und dem

Problem der Geburt der Kinder 3143. Die Stadien des spontanen Artifizialismus und ihre Bezie-

hungen zur Entwicklung des Animismus 3224. Die Ursprünge des Artifizialismus 3285. Die Ursprünge der Identifikation und die Ursachen für das

Verschwinden des Artifizialismus und des Animismus 335

Anhang: Anmerkung zu den Beziehungen zwischen dem Glau-ben an das Wirksame und der Magie im Zusammenhang mitden Abschnitten 2 und 3 des IV. Kapitels 339

Personenregister 345

Page 9: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –
Page 10: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

Zur Einführung

>Das Weltbild des Kindes< markiert einen Angelpunkt in Piagetsmonumentalem entwicklungspsychologischen Werk. 1926 er-schienen, ist es die dritte größere Monographie Piagets zur geisti-gen Entwicklung des Kindes. Hatten die ersten beiden Werke,>Sprechen und Denken des Kindes< und >Urteil und Denkprozeßdes Kindes< versucht, die formalen Merkmale der Sprache und desDenkens des Kindes zu kennzeichnen, so wendet sich Piaget imvorliegenden Buch den inhaltlichen Fragen zu: Er untersucht zu-sammen mit seinen Mitarbeitern, wie sich das Kind das Wesen desDenkens, der sprachlichen Benennung, der Träume und des Be-wußtseins erklärt, wie es die Entstehung des Lebens deutet undwelchen Gegenständen es Leben zuschreibt, wie es sich die Entste-hung der Gestirne, der meteorologischen Erscheinungen (Wolken,Regen, Donner, Blitz), den Ursprung der Berge, der Mineralienusw. erklärt. Das Ergebnis ist ein reizvolles Bild der kindlichenWeltansicht, dessen Stadium man den Erziehern, den Kindergärt-nerinnen und den Lehrern der Elementarstufe nicht genug emp-fehlen kann.

Indessen geht Piaget auch in diesem Werk über die bloße Be-schreibung der kindlichen Vorstellungen hinaus. Er untersucht dieMechanismen ihrer Entstehung. Der grundlegende Tatbestand,der ihm die Reaktionen der Kinder erklärt, ist die Egozentrizitätihres Denkens. Dabei steht das vorliegende Werk an einem Wen-depunkt in Piagets Entwicklungspsychologie. In >Sprechen undDenken des Kindes< hatte Piaget den Begriff der Egozentrizitätprimär als sozialpsychologisches Phänomen verstanden: DemKind geht es nicht um die Kommunikation mit dem anderen; esspricht für sich und zu sich. Diese Auffassung ist, wie man weiß, inAmerika und in der Sowjetunion stark angegriffen worden. Imvorliegenden Buch bezieht Piaget jene Position, die er in seinemgesamten folgenden Werk beibehalten wird: Egozentrizität bedeu-tet nicht ein Fehlen des Willens zur Kommunikation. Sie stelltprimär eine Einschränkung in der Funktion des kindlichen Den-kens dar, die erst sekundär Auswirkungen im Bereich der Kom-munikation hat. Egozentrizität ist die Unfähigkeit des Kindes, sichin den Standpunkt eines anderen zu versetzen und zu verstehen,daß dessen Sicht eines Gegenstandes möglicherweise von der eige-nen abweicht.

Dieser Egozentrismus ist für Piaget ein Produkt der unvollkom-menen Differenzierung des eigenen Ich von den Dingen der Um-welt. Das Kind vermag bei vielen Erscheinungen den subjektiven

9

Page 11: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

und den objektiven Anteil nicht auseinanderzuhalten. Zwar treffendie drei- bis neunjährigen Kinder, die hier vor allem untersuchtwerden, diese Unterscheidung im Bereiche des sensomotorischenHandelns in der Regel durchaus. Sie wissen natürlich, daß ihreHand zum eigenen Körper, der in der Hand gehaltene Ball aberzur Umwelt gehört. Aber im Bereiche der psychologischen Pro-zesse, der Lebensvorgänge und der Interaktionen mit Erscheinun-gen, die man nicht manipulieren kann, also zum Beispiel mit demWind, dem Regen, der Sonne und dem Mond, zerfließen die Gren-zen zwischen Subjekt und Objekt.

Daraus entstehen drei Äußerungsformen des Egozentrismus:Der Realismus, der Animismus und der Artifizialismus. Alle ge-hen sie auf eine adualistische Auffassung von Ich und sachlicherGegebenheit zurück. Zwischen dieser und jenem besteht eine Be-ziehung der Partizipation; auch zwischen den Erscheinungen un-ter sich. Der Begriff stammt bekanntlich von Lévy-Bruhl, der mitihm die Mentalität des primitiven Menschen gekennzeichnet hat.Für das Kind besteht er in der Annahme einer teilweisen Identitätund eines Wirkungszusammenhangs zwischen Dingen, die sichweder berühren noch in einer kausalen Beziehung zueinander ste-hen. Aber eben: nicht nur zwischen Dingen. Das Kind meint,selbst an den objektiven Prozessen zu partizipieren. Sie sind wie esmit Bewußtsein, Absichten und Erlebnissen ausgestattet (Animis-mus), und es kann daher auch durch magische Praktiken auf sieeinwirken. Der Egozentrismus erklärt auch den kindlichen Realis-mus: Da sich das Kind der Tatsache noch nicht bewußt ist, daß dieBenennung eines Gegenstandes einen subjektiven Akt des Men-schen darstellt und daß die Träume in ihm selbst entstehen, verlegtes die Namen in die Dinge hinein und gibt es den Träumen denStatus von Dingen, die außerhalb seiner selbst lokalisiert sind. Soist der Egozentrismus eine Haltung des Subjektes, das seiner selbstnoch nicht bewußt ist; die Folge ist eine synkretische Vermengungvon subjektiven und objektiven Phänomenen. In diesem Zusam-menhang stellt sich Piaget auch die Frage nach dem Verhältnisseiner Deutung der Mentalität des Kindes zu den DeutungenFreuds. Das zentrale Problem lautet: Stellen die geschilderten Er-scheinungen »Projektionen« dar? Piaget sieht eine gewisse Ver-wandtschaft, grenzt seine Position jedoch von derjenigen Freudsab. Er spricht von Introjektion und meint damit die Attributionsubjektiver Prozesse, die zu den eigenen Intentionen und Erlebnis-sen in einer reziproken Beziehung stehen: »Die Tür ist böse, weilsie mit mir zusammengestoßen ist.«

Auch der kindliche Artifizialismus ist nach Piaget eine Auswir-kung des Egozentrismus: Die Dinge sind von den Menschen odervon menschenähnlichen Wesen artifiziell, also künstlich, gemacht

10

Page 12: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

worden, um gewisse Funktionen für die Menschen zu erfüllen,und sie müssen diese Funktionen erfüllen, weil sie dazu mora-lisch verpflichtet sind. Damit setzt der Artifizialismus den Ani-mismus fort. Zugleich wird hier die Nicht-Unterscheidung vonphysikalischen und moralischen Regeln durch das Kind sichtbar.

Man erkennt: Piaget beschreibt nicht nur ein Weltbild desKindes, er zeigt auch, aus welchen Grundhaltungen heraus esentsteht. Das Buch ist jedoch noch in einer anderen Hinsichtbedeutungsvoll. Piaget stellt sich darin einem Problem, das er inseinen folgenden Werken nicht weiterverfolgen, negativer for-muliert: das er verdrängen wird. Es ist die Frage nach der Ent-stehung der Auffassungen, die das Kind in den klinischen Befra-gungen äußert. Zwei Deutungen sind hier möglich: entweder diekindlichen Ideen liegen schon vor, bevor die Befragung einsetzt,und sie werden im Interview nur aufgedeckt, oder aber: dasKind elaboriert sie im Verlaufe des Interviews. (So wenigstenshaben wir das Problem in unserem Buch >Über die geistige Ent-wicklung des Kindes< 1 pointiert formuliert.) Bekanntlich neigtPiaget in seinen seit 1940 erschienenen Werken der ersten derbeiden Auffassungen zu. Im vorliegenden Buch stellt sich Piagetdieser Frage, und er gibt auf sie eine sehr viel vorsichtigere und,wie wir meinen, richtigere Antwort: Von vielen im Interviewgeäußerten Ansichten über die Welt kann nicht angenommenwerden, daß das Kind sie in die Befragung mitbringt. Vielmehrentwickelt es sie im Verlaufe der Befragung zum ersten Mal, adhoc, als Reaktion auf die Fragen des Versuchsleiters. Deshalbsind sie nicht wertlos: Sie zeigen nach Piaget die Ausrichtungdes kindlichen Denkens und die Prinzipien, gemäß denen es seineDeutungen und Erklärungen der Welt konstruiert. Man fragtsich unwillkürlich, wie sich wohl Piagets Werk entwickelt hätte,wenn er mit dieser Auffassung auch in seinen folgenden Arbei-ten Ernst gemacht hätte.

Auch bezüglich der Erklärungen der kindlichen Reaktionenaus individuellen und sozialen Faktoren ist dieses Buch offenerals die folgenden Werke Piagets. Bei der Deutung der Entste-hung der realistischen, animistischen und artifizialistischen Er-klärungen wägt er in nuancierter Weise ab, welches die individu-ellen Kräfte und welches die sozialen und erzieherischen Ein-flüsse sind, die die kindlichen Reaktionen bestimmen. So kommter etwa zum überraschenden, aber einleuchtenden Schluß, daß inden artifizialistischen Deutungen der Entstehung der Naturer-scheinungen die Einflüsse der Umwelt dominieren, mindestenswas die Inhalte betrifft. Auch hier fragt man sich, was aus Pia-

Hans Aebli: Über die geistige Entwicklung des Kindes. Stuttgart 1963; '1975.

11

Page 13: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

gets Werk geworden wäre, wenn er diese Frage in der gleichenOffenheit weiterverfolgt hätte.

Ebenso interessant sind die Entwicklungsmodelle, die demWerk zugrunde liegen. Einmal erkennt man eine Vorform desspäteren Aquilibrationsmodells: Das kindliche Denken entwickeltsich vor dem Widerstand der Erscheinungen, deren Assimilationan die bestehenden Erklärungsschemata nicht gelingen will. So-dann aber skizziert Piaget ein hochinteressantes Spiralmodell dergeistigen Entwicklung, das deutlich dialektische Züge trägt: DieEntwicklung des Verständnisses einer Erscheinung zerfällt in einePhase der Unbewußtheit, in der die kindliche Überzeugung nochrein implizit, unausgesprochen und unaussprechbar ist. Wenn es inder Folge fähig wird, seine realistischen, animistischen oder artifi-zialistischen Überzeugungen zu verbalisieren, so sind diese schonvon einer der ersten entgegenstehenden, neuen Deutungstendenz»unterminiert« (»minés«). Diese neue Tendenz verschafft sichdann ihre Geltung im kindlichen Denken, trägt aber wiederumschon den Keim ihrer In-Frage-Stellung und Überwindung in sich.Man müßte einmal untersuchen, mit welchen hegelianischen undmarxistischen Ideen Piaget in dieser Zeit in Berührung gestandenhat. Er verrät es uns in diesem Falle nicht.

Indessen zeigt er in diesem Werk die Quellen der Inspirationseiner Begriffe und Theorien viel deutlicher auf, als dies später derFall ist. Wir haben die Lévy-Bruhlsche Inspiration des Partizipa-tionsgedankens schon genannt, auch die Diskussion des Freud-schen Projektionsbegriffs. Sehr deutlich ist auch der Einfluß LéonBrunschvicgs, aus dessen Interpretation des aristotelischen Kausa-litätsbegriffs Piaget den Gedanken des Artifizialismus übernom-men hat. Auch der Geist des Genfer Linguisten de Saussure undder amerikanischen Entwicklungspsychologen Baldwin und Stan-ley Hall und seines älteren Kollegen am Institut Jean-JacquesRousseau, des Pädagogen und Theologen Pierre Bovet, ist mitHänden zu greifen: Piaget zitiert diese Autoren ausführlich undgeht im einzelnen auf ihre Auffassungen ein.

Man sieht, >Das Weltbild des Kindes> ist trotz seiner frühenEntstehung ein aktuelles Buch. Es beschreibt und deutet das Den-ken des drei- bis neunjährigen Kindes in konkreter und anschauli-cher Weise, ohne das Problem der allgemeinen Entwicklungsme-chanismen zu vernachlässigen. In der Folge wird Piaget noch zweiBücher dieser Art schreiben: das Werk über den Kausalbegriff desKindes und dasjenige über sein moralisches Urteil. Es folgen diezwei Monographien über die sensomotorische Entwicklung derersten zwei Lebensjahre, und dann greift Piaget das Denken desdrei- bis zwölfjährigen Kindes in den Arbeiten über den Zahlbe-griff, die physikalischen Mengenbegriffe und die Geometrie ein

12

Page 14: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

drittes Mal auf. Die Grundüberzeugungen bleiben dabei erstaun-lich konstant: Die Assimilationstheorie wird nur unbedeutendausgebaut, hinzu kommen der Akkommodations- und der Äquili-brationsbegriff. Piaget entwickelt eine Theorie der schrittweisenVerinnerlichung der Handlung und der zunehmenden Mobilität.Der Gedanke der Systemhaftigkeit des kindlichen Denkens wirdformuliert und in Begriffen der formalen Logik gefaßt. Das sindeindrucksvolle Leistungen der Theoriebildung. Ob sie jedoch dieZeiten überdauern werden, ist fraglich. Im vorliegenden Buch sinddie Systeme des kindlichen Denkens noch inhaltlich und deskrip-tiv gefaßt. An Stelle der logischen Systeme lernen wir die kindli-chen Deutungen der Welt und ihrer Erscheinungen kennen. Sindvielleicht diese Beschreibungen und die offenen Deutungsmodelledem heutigen Stand unserer Kenntnis am ehesten angemessen?Wir wollen die Frage offen lassen. Das Vergnügen, mit dem manPiagets Beschreibungen der kindlichen Weltansicht liest, und die»face validity« seiner Deutungen sprechen jedenfalls in einem tie-fen Sinn für ihre Wahrheit.

Bern, im April 1978 Hans Aebli

Page 15: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –
Page 16: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

Einleitung

Die Probleme und die Methoden

Das Problem, das wir hier untersuchen wollen, ist eines der wich-tigsten, aber auch eines der schwierigsten der Kinderpsychologie:Welche Vorstellungen haben die Kinder in den verschiedenen Sta-dien ihrer intellektuellen Entwicklung spontan von der Welt? DasProblem hat zwei wesentliche Aspekte. Zuerst muß die Frage nachder Modalität des kindlichen Denkens gestellt werden: auf wel-chen Wirklichkeitsebenen bewegt sich dieses Denken? Mit ande-ren Worten, glaubt das Kind, wie wir Erwachsenen, an eine wirkli-che Welt, und macht es einen Unterschied zwischen diesem Glau-ben und den verschiedenen Fiktionen seines Spiels und seiner Ein-bildungskraft? In welchem Maß unterscheidet das Kind zwischender äußeren und einer inneren oder subjektiven Welt, wie zieht eseine Grenze zwischen dem Ich und der objektiven Wirklichkeit?Alle diese Fragen bilden einen ersten Problemkreis, den der Wirk-lichkeit beim Kind.

Eine zweite grundlegende Frage hängt unmittelbar mit dieserersten zusammen, die der Erklärung beim Kind. Wie gebrauchtdas Kind die Begriffe Ursache und Gesetzmäßigkeit? WelcheStruktur hat die kindliche Kausalität? Man hat die Erklärung beiNaturvölkern und in den Naturwissenschaften untersucht, manhat sich mit den verschiedenen philosophischen Erklärungstypenbefaßt. Wartet das Kind mit einem eigenen Erklärungstyp auf?Alle diese Fragen stellen einen zweiten Problemkreis dar, den derkindlichen Kausalität. Mit der Realität und der Kausalität beimKind setzen wir uns in diesem Buch (und in einer weiteren Publi-kation über die physikalische Kausalität beim Kind) auseinander.Es geht somit um eine ganz andere Problemstellung als diejenige,die wir in einer bereits publizierten Untersuchung' erforscht ha-ben. Während wir dort die Form und das Funktionieren des kind-lichen Denkens analysiert haben, befassen wir uns hier mit seinemInhalt. Die beiden Fragenkomplexe hängen eng miteinander zu-sammen, sie lassen sich aber ohne allzu große Willkür voneinandertrennen. Die Form und das Funktionieren des Denkens kann manimmer dann aufklären, wenn das Kind mit anderen Kindern oder

Jean Naget: Etudes sur la logique de l'enfant. Band I: Le langage et la pensée chezl'enfant; Band II: Le jugement et le raisonnement chez l'enfant. Neuchâtel und Paris1923 und 1924. Deutsch: Sprechen und Denken des Kindes (Abkürzung SD); Urteil undDenkprozeß des Kindes (UD). Beide: Düsseldorf 1972.

15

Page 17: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

mit Erwachsenen in Berührung kommt: es sind soziale Verhaltens-weisen, die von außen beobachtet werden können. Der Inhalt hin-gegen kann sichtbar werden oder unsichtbar bleiben, je nach Kindund je nach dem Objekt seiner Vorstellung. Er ist ein System voninneren Überzeugungen, die nur mit einer speziellen Technik auf-gedeckt werden können. Er ist vor allem ein System von Tenden-zen, von geistigen Haltungen, deren sich das Kind selbst nie be-wußt geworden ist und von denen es nie gesprochen hat.

Wir kommen deshalb nicht darum herum, uns zuerst und vorallem anderen über die Methoden zu verständigen, die wir bei derUntersuchung solcher kindlicher Überzeugungen anwenden wol-len. Damit man die Logik der Kinder beurteilen kann, muß manoft nur mit ihnen sprechen; oder man muß sie nur beim Umgangmit anderen Kindern beobachten. Ihre Überzeugungen lassen sichjedoch nur mit einer speziellen Methode beurteilen, die, das seivon Anfang an festgehalten, schwierig und mühsam ist und einendurch mindestens ein oder zwei Jahre Erfahrung geschulten Blickvoraussetzt. Psychiater mit klinischer Erfahrung sehen sofort ein,weshalb. Um den wahren Wert irgendeiner kindlichen Aussagebeurteilen zu können, muß man peinlich genaue Vorsichtsmaß-nahmen treffen. Zu diesen Vorsichtsmaßnahmen möchten wir zu-erst einige Worte sagen, denn der Leser, der sie nicht kennt, könn-te den Sinn der folgenden Seiten völlig mißverstehen und die Ver-suche, die wir durchgeführt haben, verfälschen, falls er sich, waswir erhoffen, dazu entschließt, sie selbst noch einmal auszuführenund zu überprüfen.

1. Die Testmethode, die reine Beobachtung und die klinischeMethode

Eine erste Methode, die man anzuwenden versucht sein könnte,um das zur Diskussion stehende Problem zu lösen, sind die Tests.Die Kinder werden organisierten Prüfungen unterzogen, die zweiBedingungen genügen müssen: Es wird allen Kindern die gleicheFrage unter gleichen Voraussetzungen gestellt; die Antworten derKinder werden auf ein Stufenmodell oder eine Skala bezogen, dieeinen qualitativen Vergleich ermöglicht. Die Methode hat für eineindividuelle Diagnose unzweifelhaft Vorteile. Die Statistiken, dieman auf diese Weise erhält, geben für die allgemeine Psychologieoft nützliche Aufschlüsse. In bezug auf die Probleme, mit denenwir uns hier befassen, kann man jedoch den Tests zwei erheblicheMängel vorwerfen. Eine zureichende Analyse der Ergebnisse istzunächst nicht möglich. Wenn man dauernd unter identischen Be-dingungen arbeitet, erhält man ein Rohergebnis, das für die Praxis

16

Page 18: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

interessant sein mag, das aber oft für die Theorie unbrauchbar ist,weil der Kontext nicht ausreicht. Das ist noch nicht sehr schwer-wiegend, denn man könnte sich vorstellen, daß sich die Testsdurch eine entsprechende geistige Anstrengung so lange abwan-deln lassen, bis sie alle Komponenten einer bestimmten psycholo-gischen Haltung aufdecken. Der Hauptmangel des Tests bei denUntersuchungen, mit denen wir uns befassen, besteht jedoch dar-in, daß die geistige Orientierung des befragten Kindes verfälschtwird oder mindestens verfälscht werden könnte. Wir wollen bei-spielsweise herausfinden, wie sich das Kind die Bewegung derGestirne vorstellt. Wir stellen die Frage: „Weshalb bewegt sich dieSonne?« Das Kind wird etwa antworten: »Der liebe Gott stößtsie« oder »Der Wind stößt sie« usw. Das sind zwar Vorstellungen,deren Kenntnis nicht unwesentlich ist, auch wenn sie auf kindlicheFabulierlust zurückzuführen sind, denn Kinder neigen dazu, My-then zu erfinden, wenn sie durch eine bestimmte Frage in Verle-genheit gebracht werden. Wenn man aber Kinder jeden Alters aufdiese Weise getestet hat, ist man immer noch gleich weit wie vor-her, denn es ist durchaus möglich, daß sich das Kind diese Fragenoch nie in dieser Weise gestellt hat oder daß es sie sich überhauptnoch nie gestellt hat. Es kann durchaus sein, daß sich das Kind dieSonne als ein Lebewesen vorstellt, das sich von selbst bewegt. Mitder Frage: »Weshalb bewegt sich die Sonne?«, suggeriert man dieVorstellung eines äußeren Wirkens und provoziert man eine My-thenbildung. Mit der Frage: »Wie bewegt sich die Sonne?«, sugge-riert man möglicherweise im Gegenteil eine Beschäftigung mitdem »Wie«, um das sich das Kind bisher gar nicht gekümmerthatte, und provoziert man neue Mythen: »Die Sonne bewegt sichdurch Blasen«, »Mit der Wärme«, »Sie rollt« usw. Es gibt nur einMittel, um mit solchen Schwierigkeiten fertig zu werden, nämlichdie Fragen abwandeln, Gegenvorschläge vorbringen, mit einemWort: auf jeden fixen Fragebogen verzichten.

Bei Geisteskrankheiten stellt sich das Problem genau gleich. EinPatient mit Dementia praecox kann sich in bestimmten Augenblik-ken durchaus daran erinnern, wer sein Vater ist, obwohl er übli-cherweise seine Abstammung auf berühmtere Vorfahren zurück-führt. Das eigentliche Problem ist aber, wie sich ihm die Frage inseinem Geist gestellt hat und ob sie sich gestellt hat. Die Kunst desKlinikers besteht nicht darin, daß er seinen Patienten dazu bringt,zu antworten, sondern daß er ihn dazu bringt, frei zu sprechen,daß er die spontanen Tendenzen entdeckt und sie nicht in einebestimmte Richtung leitet und kanalisiert. Er stellt jedes Symptomin einen geistigen Kontext hinein und abstrahiert nicht von diesemKontext.

Kurz, Tests sind in verschiedener Hinsicht nützlich. Bei unse-

17

Page 19: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

rem Vorhaben besteht aber die Gefahr, daß sie die Perspektiveverzerren, indem sie den kindlichen Geist in eine falsche Richtunglenken. Sie gehen möglicherweise an wesentlichen Fragen, anspontanen Interessen und ganz ursprünglichen Vorstellungen vor-bei.

Wir wollen deshalb auf die reine Beobachtung zurückgreifen.Jede Untersuchung des kindlichen Denkens muß von der Beob-achtung ausgehen und zur Beobachtung zurückkehren, um dieExperimente, die sich vielleicht an ihr inspiriert haben, kritisch zuüberprüfen. Bei den Problemen, mit denen sich diese Untersu-chung befaßt, bietet die Beobachtung eine erstrangige Informa-tionsquelle an, nämlich das Studium der spontanen Fragen derKinder. Die detaillierte Prüfung des Inhalts dieser Fragen gibtAufschluß über die Interessen der Kinder auf den verschiedenenAltersstufen, und sie deckt viele Probleme auf, die sich dem Kindstellen, an die wir nie gedacht hätten oder die wir uns nie in dieserForm gestellt hätten. Die Untersuchung der Form solcher Fragenzeigt vor allem auch, auf welche Lösungen die Kinder implizitkommen, denn fast jede Frage enthält in der Art, wie sie gestelltwird, bereits die Antwort. Wenn etwa ein Kind sich fragt: »Wermacht die Sonne?«, so kommt darin offenbar die Meinung zumAusdruck, die Sonne sei auf irgendeine herstellende Aktivität zu-rückzuführen. Oder wenn ein Kind fragt, weshalb es den Salève 2

zweimal, nämlich den großen und den kleinen, das Matterhornaber nur einmal gebe, so scheint das darauf hinzuweisen, daß esglaubt, die Berge seien einem Plan gemäß angeordnet, der jedenZufall ausschließe.

Damit können wir für unsere Methode eine erste Regel aufstel-len. Will man bestimmte kindliche Erklärungen untersuchen, somuß man, damit die Arbeit etwas einbringt, von spontanen Fragenausgehen, die gleich alte oder jüngere Kinder gestellt haben, undfür die Fragen, die man den als Prüflingen ausgewählten Kindernstellen will, dieselbe kindertümliche Form wählen. Falls man ausden Ergebnissen einer solchen Untersuchung Schlußfolgerungenziehen will, muß man insbesondere nach einem Gegenbeweis su-chen, indem man diese spontanen Fragen der Kinder studiert. Da-bei zeigt sich, ob die Vorstellungen, die man den Kindern zu-schreibt, ihren Fragen und der Art, wie sie diese stellen, entspre-chen oder nicht.

Nehmen wir ein Beispiel. Wir untersuchen in diesem Buch denkindlichen Animismus. Wir werden sehen, daß Kinder einer be-stimmten Altersstufe mit ja antworten, wenn man sie fragt, ob die

2 Die beiden Salève sind Berge in der Umgebung von Genf (Anmerkung des Oberset-zers).

18

Page 20: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

Sonne usw. lebendig, mit Wissen, Gefühlen usw. ausgestattet sei.Ist das eine spontane Vorstellung, oder ist das eine Antwort, diedurch die Art der Befragung direkt oder indirekt suggeriert wird?Man sucht dann bei den Fragen der Kinder, die man gesammelthat, ob unter ihnen ein ähnliches Phänomen anzutreffen sei, undstößt beispielsweise auf ein 6% Jahre altes Kind, Del (siehe SD, 1.Kapitel, Abschnitt 8), das spontan gefragt hat, als es eine Kugel inRichtung der Beobachterin rollen sah: »Weiß sie, daß Sie dortsind?« Man bemerkt auch, daß Del oft danach gefragt hat, wannein Gegenstand, beispielsweise ein Blatt, tot oder lebendig sei. Aufdie Antwort, verwelkte Blätter seien wirklich tot, hat Del entgeg-net: »Aber sie bewegen sich im Wind!« (ebenda, Abschnitt 8). Esgibt somit Kinder, die durch die Art, wie sie ihre Fragen stellen,das Leben und die Bewegung innerlich zu verarbeiten scheinen.Diese Tatsachen zeigen, daß eine auf eine bestimmte Weise durch-geführte Befragung über den Animismus (beispielsweise Fragen,wie Del sie stellt, ob ein bewegter Körper »wisse«, daß er sichbewegt) nichts Unnatürliches ist und daß die innerliche Verarbei-tung des Lebens und der Bewegung ein spontanes Anliegen desKindes ist.

Man ersieht daraus, daß eine direkte Beobachtung notwendig ist,man sieht aber auch, welche Hindernisse und Grenzen einer sol-chen Methode gesetzt sind. Die Methode der reinen Beobachtungist aufwendig, die Qualität der Ergebnisse scheint auf Kosten derQuantität zu gehen (man kann nicht viele Kinder unter gleichenBedingungen beobachten), sie scheint auch etliche systematischeMängel aufzuweisen, von denen die beiden wichtigsten erwähntseien. Ein ernsthaftes Hindernis für denjenigen, der das Kinddurch reine Beobachtung kennenlernen will, ohne ihm irgendwel-che Fragen zu stellen, ist zunächst einmal die intellektuelle Ego-zentrik des Kindes. Wir haben an anderer Stelle (SD, 1. bis 3. Ka-pitel) zu zeigen versucht, daß das Kind nicht spontan versuchtoder daß es ihm nicht spontan gelingt, sein ganzes Denken mitzu-teilen. Es befindet sich in Gesellschaft anderer Kinder; das ganzeGespräch dreht sich um die unmittelbaren Aktionen und das Spiel,es geht nicht auf diesen wesentlichen Teil des Denkens ein, der vonder Aktion abgelöst ist und sich im Kontakt mit der Aktivität derErwachsenen oder mit der Natur entwickelt. Die Vorstellung derWelt und die physikalische Kausalität scheinen von da her für dasKind völlig bedeutungslos zu sein. Oder das Kind befindet sich inGesellschaft der Erwachsenen: Dann stellt es pausenlos Fragen,ohne eigene Erklärungen dafür zu geben. Es schweigt sich überseine eigenen Vorstellungen aus, am Anfang weil es glaubt, sieseien jedermann bekannt, später aus Scham, weil es fürchtet, sichzu täuschen, aus Angst vor Desillusionierungen. Es schweigt sich

19

Page 21: Das Weltbild des Kindes - Microsoft€¦ · dtv Taschenbücher Das Weltbild des Kindes Übersetzt von Luc Bernard von Jean Piaget, Luc Bernard 1. Auflage Das Weltbild des Kindes –

insbesondere auch deshalb aus, weil ihm seine Erklärungen, da siedie seinen sind, als die natürlichsten und auch als die einzig mögli-chen vorkommen. Was in Worten formuliert werden könnte,bleibt somit üblicherweise implizit, weil das Denken des Kindesnoch nicht so umfassend sozialisiert ist wie unser Denken. Vonsolchen formulierbaren, zumindest dank der inneren Sprache for-mulierbaren, Gedanken abgesehen, wieviel unformulierbares Den-ken entzieht sich unserem Zugriff, wenn wir uns darauf beschrän-ken, das Kind zu beobachten, ohne mit ihm zu sprechen? Mitunformulierbarem Denken meinen wir die geistigen Haltungen,die synkretistischen, visuellen oder motorischen Schemata, allediese Vorverbindungen, von denen man spürt, daß es sie gibt,sobald man mit dem Kind spricht. Man muß vor allem diese Vor-verbindungen kennenlernen, und zu ihrer Aufspürung sind spe-zielle Methoden notwendig.

Der zweite systematische Mangel der reinen Beobachtung istdarauf zurückzuführen, daß man beim Kind kaum zwischen Spielund Überzeugung unterscheiden kann. Ein Kind, das allein zu seinglaubt, sagt etwa zu einer Dampfwalze: »Hast du die großen Stei-ne richtig zerdrückt?« Spielt es, oder personifiziert es wirklich dieMaschine? Man kann das in einem solchen Fall unmöglich ent-scheiden, weil es ein besonderer Fall ist. Die reine Beobachtungkann nicht zwischen Überzeugung und Fabulieren unterscheiden.Es gibt, wie wir noch sehen werden, ein einziges Kriterium, näm-lich möglichst viele Informationen und einen Vergleich zwischenden individuellen Reaktionen.

Man muß deshalb unbedingt über die Methode der reinen Beob-achtung hinausgehen und, ohne die Mängel der Tests in Kauf zunehmen, die wichtigsten Vorteile des Experimentierens ausnützen.Wir wenden dazu eine dritte Methode an, die die positiven Ele-mente des Tests und der direkten Beobachtung vereinigt und ihrejeweiligen Mängel vermeidet: die Methode der klinischen Unter-suchung, die der Psychiater bei der Diagnosestellung verwendet.Man kann zum Beispiel bestimmte Formen von Paranoia währendMonaten beobachten, ohne je dem Größenwahn auf die Spur zukommen, den man dennoch bei jeder seltsamen Reaktion spürt.Andererseits hat man keine differentialdiagnostischen Tests für dieverschiedenen Krankheitssyndrome. Doch der Kliniker kanngleichzeitig: 1. mit dem Kranken sprechen, ihm bei seinen Ant-worten folgen, um sich nichts von dem entgehen zu lassen, was anWahnvorstellungen sichtbar werden könnte; 2. den Kranken mitaller Vorsicht und Zurückhaltung auf die kritischen Bereiche hin-lenken (seine Herkunft, seine Nationalität, seine militärischen undpolitischen Aspirationen, seine Fähigkeiten, sein mystisches Lebenusw.), ohne daß er selbstverständlich weiß, wo er der Wahnvor-

20