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Stiftung Demokratie Saarland Dialog 18 Guido Freidinger (Hrsg.) Demografischer Wandel und Arbeitsmarkt „Die Altersentwicklung als neue Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft“ Dokumentation eines Symposiums des Arbeitskreises Alternative Arbeitsmarktpolitik (AKAA) vom 26.11.2004 mit Beiträgen von Jürgen Kühl, Hartmut Siemon, Dr. Wolfgang Sieber, Dr. Martina Morschhäuser Redigierte Textfassungen Saarbrücken 2008

Demografischer Wandel und Arbeitsmarkt · dinger vom Amt für soziale Angelegenheiten ... Entwicklungspotential durch eine bessere berufliche Integration von ... Saarland und gerade

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Stiftung Demokratie SaarlandDialog 18

Guido Freidinger (Hrsg.)

Demografischer Wandel und Arbeitsmarkt

„Die Altersentwicklung als neue Herausforderungfür Wirtschaft und Gesellschaft“

Dokumentation eines Symposiums des Arbeitskreises AlternativeArbeitsmarktpolitik (AKAA) vom 26.11.2004 mit Beiträgen vonJürgen Kühl, Hartmut Siemon, Dr. Wolfgang Sieber, Dr. MartinaMorschhäuser

Redigierte Textfassungen

Saarbrücken 2008

Dialog Nr. 18 · Stiftung Demokratie Saarland

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ImpressumDialog ist eine Reihe der Stiftung Demokratie Saarland.Die Reihe kann bezogen werden von der Stiftung Demokratie SaarlandBismarckstraße 99, 66121 Saarbrücken, Telefon (0681) 90626-0, Telefax (0681) 90626-25

Redaktion: Tilo Mörgen

Satz: Karoline Bommersbach

Druck und Weiterverarbeitung: Unionprint Satz und Druck GmbH, Saarbrücken

Demografischer Wandel und Arbeitsmarkt

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Inhalt

Vorwortvon Friedel Läpple 5

Einleitungvon Guido Freidinger 7

Konsequenzen des demographischen Wandels für dieArbeitsmarktpolitik – Thüringer Ansätzevon J. Kühl 11

Eckpunkte der Entwicklung der EuropäischenBeschäftigungsstrategie und die Antworten auf diedemographische Entwicklungvon H. Siemon 23

Berufliche Qualifizierung von MigrantInnen –Soziale Last oder Gewinn?von Dr. W. Sieber 43

Podiumsdiskussion:„Wir werden nicht politischer, wir müssen politisch denken“ 53

Über den Arbeitskreis alternative Arbeitsmarktpolitik (AKAA) 57

Veröffentlichungen des AKAA 59

Referenten 61

AnhangSchaubilder zum Thema: Alter - Beschäftigungshemnis oderPotential für den Arbeitsmarkt? 63

Dialog Nr. 18 · Stiftung Demokratie Saarland

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DamitunsereDemokratielebendigbleibt...

Bismarckstraße 99, 66121 SaarbrückenTelefon (0681) 90626-0, Telefax 90626-25

Demografischer Wandel und Arbeitsmarkt

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Vorwortvon Friedel LäppleVorsitzender der Stiftung Demokratie Saarland

Der demografische Wandel und die sich darausergebenden Konsequenzen geraten zunehmendin den Blickpunkt von Wirtschaft, Politik, Ge-sellschaft und Wissenschaft. Kaum ein Tag ver-geht, ohne dass in den Medien Themen wie Rentenversicherung, Gesundheits-versorgung oder Überalterung der Gesellschaft aufgegriffen werden. Der bereitsjetzt zu beobachtende Mangel an jüngeren Fachkräften, ein höheres Renten-eintrittsalter und die mangelnde Attraktivität Deutschlands für hochqualifi-zierte Einwanderer lassen die Potenziale älterer Mitarbeiter zwangsläufig ineinem neuen Licht erscheinen. Im Zuge der demografischen Entwicklungenwerden viele Unternehmen verstärkt darauf angewiesen sein, die Potenzialeälterer Mitarbeiter zu erschließen.

Die Frage, wie es zukünftig gelingen kann, die tiefgreifenden demografischenVeränderungen am Arbeitsmarkt erfolgreich zu bewerkstelligen, hat den Arbeits-kreis „Alternative Arbeitsmarktpolitik“ (AKAA) dazu veranlasst, sich im Rah-men seines 10. Symposiums mit diesem wichtigen Thema und Lösungsan-sätzen aus anderen Regionen auseinanderzusetzen.

Die Autoren dieses Bandes geben mit ihren aspektreichen Beiträgen interes-sante Einblicke in ein vielschichtiges Thema. Ich bin froh, dass Guido Frei-dinger vom Amt für soziale Angelegenheiten der Landeshauptstadt Saarbrü-cken die Herausgeberschaft übernommen und Tilo Mörgen die Beiträge redak-tionell bearbeitet hat. Ich hoffe, dass dieser interessante Band unserer Dialog-reihe weitere Anregungen für die konstruktive Bewältigung einer überaus wich-tigen gesellschaftlichen Problemstellung liefern kann.

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Einleitungvon Guido Freidinger,Leiter des Amtes für kommunale Arbeitsmarktpolitikder Landeshauptstadt Saarbrücken*

„Unsere Bevölkerung wird weniger, älter und bun-ter“ – Auf diese knappe Formel wird inzwischen diesich bereits seit Jahren, wenn nicht gar Jahrzehntenabzeichnende Bevölkerungsentwicklung in derBundesrepublik gebracht. Für das Saarland und seine Landeshauptstadt be-schreibt die kürzlich veröffentlichte Studie „Deutschland 2020 - die demogra-phische Zukunft der Nation“ des Berlin Instituts für Weltbevölkerung undglobale Entwicklung ein vergleichsweise düsteres Bild.

Die Studie kommt darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass es einen direktenZusammenhang zwischen wirtschaftlicher Vitalität und Bevölkerungszu- undabnahme sowohl in den neuen als auch in den alten Bundesländern gibt. Sieweist auch auf die Folgewirkungen dieser Entwicklung hin: Nach Einschät-zung der Wissenschaftler führt die Entvölkerung der strukturschwachen Regi-onen zu direkten (gesellschafts- und finanzpolitischen) Konsequenzen: Ver-lust von Steuereinnahmen, Fachkräftemangel, Schließung bzw. Verteuerungvon nicht ausgelasteten öffentlichen Einrichtungen, Wegzug der verbliebe-nen jungen und mobilen Erwerbstätigen. Zurück blieben leere Landstriche mitüberwiegend überalterter Bevölkerung… Der vor diesem Hintergrund zuneh-mende innerdeutsche Wettbewerb um die jungen und gut ausgebildeten Men-schen dürfte für das Saarland eher eine zusätzliche Erschwernis statt Entlas-tung bringen.

Die Standortqualität des Landes wird zusätzlich geschwächt, vorhandeneUngleichgewichte zwischen strukturstarken und strukturschwachen Regio-nen werden durch die demographische Entwicklung zusätzlich verstärkt. Diedemographische Entwicklung stellt also nicht nur die Bevölkerungs- sprich

* bis 2005, seither Leiter des Amtes für soziale Angelegenheiten

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Familienpolitik vor neue Aufgaben sondern ist auch und gerade für uns einearbeitsmarktpolitische Herausforderung.

Die „stadteigenen“ Zahlen bzw. Prognosen für Saarbrücken scheinen dieseEntwicklung zunächst zu bestätigen: Die Bevölkerung geht voraussichtlichvon rd. 183.000 (2003) auf 168.000 im Jahre 2030 – also um rund 8 % zurück(zwischen 1970 und 2003 hat die Landeshauptstadt rd. 30.000 Einwohner ver-loren). Im gleichen Zeitraum wird die Zahl der Senioren (über 60 Jahre) von47.000 auf 59.000 zunehmen. Der relative Anteil dieser Altersgruppe wächstvon derzeit 26 auf dann 35 %. Die Zahl der Menschen unter 18 Jahren wird imgleichen Zeitraum um 29 % zurückgehen.

Die traditionell niedrige Geburtenrate im Saarland wird voraussichtlich ab 2008zu einem Rückgang der Ausbildungsplatzbewerber führen. Betriebe im Saar-land werden bei der Rekrutierung qualifizierten Personals zunehmend Engpäs-se bekommen. Bemühungen um eine Erhöhung der Schulabschlussquotenund der Ausbildungsquoten müssten verstärkt um Strategien zur Weiter-qualifizierung bzw. Umschulung von älteren Erwerbsfähigen möglicherweiseauch der Erhöhung der Erwerbstätigkeit älterer Jahrgänge generell ergänztwerden. Themen genug für den Arbeitskreis „Alternative Arbeitsmarktpolitik“(AKAA), der sich die kontinuierliche Beobachtung der politischen und wis-senschaftlichen Diskussion zur Arbeitsmarktpolitik zum Ziel gesetzt hat, sichbei seinem 10. Symposium mit dieser wichtigen Zukunftsfrage und Lösungs-ansätzen in anderen Regionen auseinander zu setzen. Aus der Fülle der sichhierbei aufdrängenden Fragen haben wir uns zunächst für vier Themenbereicheentschieden, die im Rahmen der heutigen Fachtagung behandelt werden sol-len: Unser erstes Thema lautet:„Demographischer Wandel im Spiegel der euro-päischen Beschäftigungspolitik“ – hier wollen wir uns damit befassen, wie dieeuropäische Union auf die sich abzeichnenden demographischen Verände-rungen reagiert und welche Antworten es insbesondere im Rahmen der euro-päischen Beschäftigungsstrategie hierauf gibt.

Unser zweites Thema „Alter – Beschäftigungshemmnis oder Potential für denArbeitsmarkt?“ setzt sich mit dem häufig auftretenden Widerspruchauseinander, dass obwohl ältere ArbeitnehmerInnen von den Personal-verantwortlichen der Wirtschaft für leistungsfähig gehalten werden, sie in derEinstellungspolitik aber auch bei der innerbetrieblichen Qualifizierung sprichder Personalentwicklung der Unternehmen häufig als benachteiligt gelten. Indiesem Zusammenhang muss die betriebliche Personalpolitik die Frage beant-

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worten wie zukünftig die Potentiale älterer ArbeitnehmerInnen besser genutztwerden können. (Anm.: Ein druckreifes Manuskript lag hierzu leider nicht vor.Die meisten der präsentierten Schaubilder sind im Anhang dokumentiert.)

Thema drei befasst sich mit der Frage: „Berufliche Integration von MigrantInnen– soziale Last oder Gewinn?“Zwar kann nach Überzeugung der meisten Prognostiker Einwanderung diedemographische Entwicklung in Deutschland nicht kompensieren; dennochgibt es in anderen Regionen gute Beispiele dafür wie das regionaleEntwicklungspotential durch eine bessere berufliche Integration von Perso-nen mit Migrationshintergrund gestärkt werden kann. Die zentralen Fragenhierbei lauten: Durch welche Ansätze kann den immer noch vorherrschendenAusgrenzungstendenzen insbesondere auch am Arbeitsmarkt entgegenge-wirkt werden und wie kann mit Blick auf diese Bevölkerungsgruppe bei derStrategiewahl der Wandel von der „“Defizitorientierung“ zur Ressourcen-orientierung“ bewerkstelligt werden.

Unser Thema vier wendet sich dann den Konsequenzen des demographischenWandels für eine (altersspezifische) Arbeitsmarktpolitik zu. Dabei ist festzu-stellen, dass in Deutschland ältere Arbeitskräfte im Vergleich zu anderen Volks-wirtschaften häufiger nicht mehr erwerbstätig sind. Angesichts der demogra-phischen Herausforderung müsste jedoch der Verbleib bzw. die (Re-) Integra-tion älterer Erwerbspersonen in Beschäftigung verbessert werden. Hier wollenwir uns mit den speziellen Erfahrungen der Thüringer Landesregierung zurBewältigung des demographischen Wandels auseinander setzen.

Trotz der offensichtlichen Dramatik der Bevölkerungsentwicklung gerade imSaarland und gerade für die saarländische Standortqualität stehen hier dieKonsequenzen für den Arbeitsmarkt und die Arbeitsmarktpolitik nach unsererAuffassung bisher nicht im Mittelpunkt der Diskussion. Zumindest scheint esso, dass die Akteure in Politik und Wirtschaft derzeit schlecht gerüstet sind.Von daher macht es Sinn, dass wir uns in der abschließenden Diskussions-runde noch einmal gezielt mit den Chancen des Saarlandes für eine aktive,demographiesensible Arbeitsmarktpolitik zu Beginn einer neuen EU–Förderperiode auseinandersetzen.

In diesem Sinne wünsche ich uns in den nachfolgenden Beiträgen möglichstviele Anregungen und der gesamten Veranstaltung einen fruchtbaren und kon-struktiven Verlauf.

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Konsequenzen des demographischenWandels für die Arbeitsmarktpolitik –

Thüringer AnsätzeJürgen Kühl

Die verbesserte wirtschaftliche Ausgangslage ermöglichtkonstruktives Herangehen an die Alterungsproblematik

Nach dreijähriger Stagnation wuchs die deutsche Gesamtwirtschaft 2004erstmals wieder – um 1,7 % auf real 2 Billionen Euro. Bei leicht rückläufigenKonsumausgaben (- 0,3%) und weiter sinkenden Bauinvestitionen (- 2,5%)wurde dieses Wachstum durch Exporte von 731 Mrd. Euro (+ 8,2% real) undnur leicht steigende Konsumausgaben des Staates (+ 0,4%) und mehr Aus-rüstungsinvestitionen (+ 1,2%) getragen. Sorgen machen das schwachePotentialwachstum von jährlich gut 1% (also 20 bis 30 Mrd. Euro) und dasVerharren des Wirtschaftswachstums an der Beschäftigungsschwelle, so dassnachhaltige Beschäftigungsgewinne und Abbau der Arbeitslosigkeit ausblei-

ben. Immerhin arbeiten 38,4 Millionen Erwerbs-tätige, auch wenn der Zuwachs von fast 130.000überwiegend Mini-, Midi- Teilzeit- und andererBeschäftigung wie Selbstständigkeit, Ich-AG u.a.zu verdanken ist – sozialversicherte Beschäfti-gung sinkt ständig seit 2001. Allein 2004 ging sieum gut 450.000 auf 26,1 Millionen zurück.Berufsnot der Jugend in vielen Regionen,mitunter recht prekäre Abweichungen vomNormalarbeitsverhältnis, weniger ganzjährigeBeschäftigung, weniger Urlaubs- undWeihnachtsgeld, Umbau der sozialen Sicherungs-systeme fordern immer mehr Menschen.

30 Jahre Massenarbeitslosigkeit im Westen, 15Jahre im Osten, und zwar ununterbrochen und

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bis zuletzt steigend, werden auch 2005 weitergehen, so dass gut 4,4 MillionenMenschen bei einer Arbeitslosenquote von 10,5% bei hohen regionalen Un-terschieden in 2005 arbeitslos sein werden. HARTZ-IV-Kosten von rd. 40 Mrd.Euro entsprechen denen des alten Arbeitslosenhilfesystems, die gesamt-fiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit liegen doppelt so hoch, dieProduktionsverluste bei 8% des Bruttosozialproduktes.

Mit 685 Mrd. Euro erreichten die Sozialausgaben 2002 (+3,4%) neue Höhen,auch getrieben über die falsche Finanzierung der Vereinigungskosten. DieSozialleistungsquote von 32,5% des BIP – im Westen 30,1%, im Osten 49,5% -liegt etwa auf dem Westdeutschen Wert von 1975, just dem Jahr, in dem dieVollbeschäftigung verloren ging.

Der Geldvermögensbestand der privaten Haushalte wuchs von 3,92 BillionenEuro Ende 2003 auf 4,1 Billionen Euro 2004. Die Sparquote stieg in dieser Zeitauf ihren bisher höchsten Wert: 10,9% des verfügbaren Einkommens. Sehraufschlussreich ist der Armuts- und Reichtumsbericht im Sozialbericht vonNRW 2004 (Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Lan-des NRW 2004), auf den hier nur verwiesen werden kann. Die weiter steigendeVermögens- und Einkommenskonzentration belegt die steigende soziale Un-gleichheit in Deutschland. Laut DIW lebten 2003 ca. 15,3% der Bevölkerung(1998 erst 13%) in (relativer) Armut, hatten also weniger als 60% des mittlerenEinkommens vergleichbarer Haushalte. Quelle für verminderte Lohnstück-kosten, Wettbewerbsfähigkeit, Reallohnsteigerungen und vernünftigerArbeitszeitverkürzungen statt unsinniger –verlängerungen ist die permanentsteigende Produktivität je Erwerbstätigenstunde, die 2004 rd. 36,38 Euro er-reichte (1991 28,87 Euro).

Dieser bis auf die unverändert zu hohe Massenarbeitslosigkeit verbessertenwirtschaftlichen Lage steht nach Mehrheitsmeinung der Experten ein demo-graphischer Wandel gegenüber, der weder kurz- noch mittelfristig zu einemgeringeren Erwerbspersonenpotential und damit auch nicht zu einer demogra-phischen Entlastung desselben führt. Selbst optimistische Vorausschätzungengehen nach 2020 von einer Arbeitslosenquote zwischen 5 und 10% aus. Auchein genereller Mangel an Erwerbspersonen wird nicht gesehen. Ob Fachkräfte,die in großer Zahl ersetzt, mitunter auch zusätzlich eingestellt werden müssen,länger als üblich gesucht werden oder nur alternativ zur ursprünglichen Nach-frage zu finden sind oder gar Mangel an Qualifikationen eintritt, ist eine Frageder Leistungsfähigkeit des schulischen und betrieblichen Aus- und

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Weiterbildungssystems, der neuen Zuwanderungsregelungen, der SGB III-und Landesförderung der beruflichen Bildung und der noch intensiveren EU-Strukturfondsförderung nach 2007 unter dem Motto des lebenslangen Lernens.

Auch langfristig gilt die Gestaltbarkeit des demographischen Wandels undseiner Folgen. Entscheidend bleiben Wirtschaftswachstum, Produktivitätsan-stieg, Qualifizierung, soziale Sicherung, die Einkommens- und Vermögens-verteilung, die Staatsfinanzen – nicht die Zahl der Personen. Schafft aber de-ren Alterung, ja Überalterung ein „Altersstrukturproblem“? Hilft eine steigen-de Erwerbstätigkeit der Frauen, nicht nur in Teilzeit, Mini- und Midijobs undDienstleistungen, sondern qualifizierungsgerecht? Nützen verbesserte Kinder-betreuung, flächendeckende Ganztagsschulen und noch bessere Familien-förderung? Was leistet eine Politik qualitativ hochwertiger Zuwanderungen?Können noch empfindlichere Renten- oder Pensionsabschläge, höhere Regel-altersgrenzen eine Abkehr von der Frühverrentungspraxis erzwingen? Waskann die „jugendzentrierte“ Personalpolitik der Betriebe ablösen, eine „alters-gerechte“ Personalentwicklung? Was wird mit den zehn geburtenstarken west-deutschen Jahrgängen 1955-1965, also den heute 40- bis 50Jährigen, sowieden zusätzlichen Menschen der DDR-Geburtenförderung?

Die Betriebe sind an der Lösung der Alterungsproblematik zubeteiligen

Die unerträglich hohe Langzeitarbeitslosigkeit der Älteren zeigt allenfalls beiden über 55Jährigen wegen verstärkter Altersteilzeit und demographischerUrsachen leichte Besserungen – doch ist die Dauer nicht kürzer, die Abgängein Arbeit nicht mehr geworden. Von den 52 Mrd. Euro Gesamtausgaben der BAin 2001 entfielen für die Älteren über 55 Jahren etwa ein Viertel:

- 62%, also 8,1 Mrd. Euro, auf passive Geldleistungen und SV-Beiträge;- 28%, also 3,7 Mrd. Euro, auf Übergangsförderung in den Ruhestand;- 10%, also 1,3 Mrd. Euro, auf Prävention und Reintegration von Arbeits-

losen.

Daraus folgert das IAB zurecht: „Wegen der Erhaltung und Aktivierung vongroßenteils brachliegenden Humankapital (Fachausdruck vielleicht unglück-lich gewählt, aber kein Unwort des Jahres 2004 Anm. J.K.) und Erfahrungs-

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wissen Älterer wäre eine Umsteuerung von den rein passiven zu den aktivenLeistungen der Arbeitsförderung wünschenswert“, IAB Werkstattbericht Nr.5/2003, S.25.

Da die Europäische Beschäftigungsstrategie und die EU-Leitlinien wie Struktur-fonds die Erwerbsintegration statt Ausgrenzung Älterer fordern und da dasIAB Spielraum für eine Verdoppelung der Beschäftigungsquote Älterer auf74% (ebenda, S.25) sieht, kann die Lösung nicht ohne die Betriebe und Verwal-tungen unter Nutzung der Strukturfonds, der SGB II- und III-Politik sowie derBeschäftigungspolitik von Ländern und Kommunen erfolgen. Wenn sich diegesamte Beschäftigungssituation langsam aber stetig bessert, wenn sich diebetriebliche Personalwirtschaft gegenüber Älteren wandelt und wenn Arbeits-bedingungen und Arbeitsschutz das gesamte Arbeitsvermögen möglichst überdas gesamte Berufsleben entwickeln helfen, ist eine Lösung des Alterungs-problems denkbar.

Als einziges repräsentatives Informationssystem berichtet das IAB-Betriebs-panel seit 1993 jedes Jahr im Westen, seit 1996 auch im Osten aus zuletzt 16 200Betrieben aller Größen Branchen sowie 15 Ländern u.a. über die betrieblichePersonalwirtschaft. Danach haben 59% aller Betriebe Beschäftigte über 50Jahren, 41% jedoch keine, also vielleicht Potential in diese Richtung. Nichteinmal jeder zweite, 41%, Kleinbetrieb bis fünf Beschäftigte hat ältere Mitarbei-ter ab 50 Jahren, doch ab 20 Beschäftigte gibt es sie in nahezu jedem Betrieb. ImWesten sind 19% der Beschäftigten über 50 Jahre alt, im Osten 22%. Haupt-arbeitgeber sind die öffentliche Verwaltung, Organisationen ohne Erwerbs-zweck (wie Kirchen, Verbände, Vereine, Stiftungen, Interessenvertretungen),das Erziehungs- und Unterrichtswesen, Bahn und Post.

Im Jahre 2002 nannten im Westen 50%, im Osten 56% der Personalchefs, Inha-ber oder Personalverantwortlichen der Betriebe keinerlei Personalprobleme(IAB/SOESTRA: Zusammengefasste Ergebnisse des IAB-Betriebspanels 2002– Ostdeutschland, Informationen für die Beratungs- und Vermittlungsdiensteder BA 21/03 vom 15.10. 2003, S.35ff.). Hohe Lohnkostenbelastung, Schwierig-keiten bei der Personalrekrutierung, Nachwuchs- und Personalmangel drück-ten die Betriebsüberalterung, sagten 3% der ostdeutschen und 4% der west-deutschen Betriebe.

Ob aus der natürlichen Alterung der Belegschaften ein Überalterungsproblemwird, hängt u.a. von der betrieblichen Einschätzung der Leistungsfähigkeit

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Älterer ab. Die gesamte Quelle – Ergebnisse des IAB-Betriebspanels 2002 –hält Ältere summiert über alle Leistungsindikatoren und gewichtet nach ihrerbetrieblichen Bedeutung für genauso leistungsfähig wie Jüngere. Die Leis-tungsfähigkeit und somit die Arbeitsproduktivität wird nicht abhängig gese-hen vom Lebensalter, sondern von Effizienz des Arbeitsplatzes, Art der Tätig-keit und Arbeitsbedingungen. Betriebe schätzen demnach bei Älteren dasErfahrungswissen, die Arbeitsmoral und –disziplin, das Qualitätsbewusstseinund die Loyalität (ebenda, S.39). Das tatsächliche Einstellungsverhalten derPersonalverantwortlichen widerspricht allerdings der positiven Leistungsein-schätzung, die im Grunde den sogenannten klassischen Arbeitstugenden ent-spricht.

Das betriebliche Maßnahmenspektrum für Ältere sieht so aus (in %)

West OstAltersteilzeit 12 8Weiterbildung 6 7Altersgemischte Arbeitsgruppen 6 7Verminderte Leistungsanforderungen 3 2Besondere Arbeitsplatzausstattung 2 1Altersgerechte Weiterbildung u.a. 2 2

Nach repräsentativen Angaben stellen 56% der Westbetriebe und 45% derOstbetriebe Ältere ohne bestimmte Bedingungen ein – jedoch 15% aller Betrie-be aller Größen und aller Branchen stellen grundsätzlich keine Älteren ein.Rund 29% der Betriebe im Westen und 40% der Ostbetriebe stellen Ältere nurmit Lohnzuschuss ein, nur wenn es keine jüngeren Bewerber gibt (West 8%,Ost 9%), je 8% vorzugsweise in Teilzeit, 6% bzw. 7% nur mit befristetem Ver-trag, auch um den Kündigungsschutz auszuweichen, 8% machen andere Vor-aussetzungen. Sowohl die Alterung von Belegschaften als auch die Einstel-lung älterer Arbeitsloser sind also gestaltbar, vor allem auf betrieblicher Ebene,selbst wenn dort das Maßnahmenspektrum noch eng und auf Altersteilzeit,also Ausgliederung konzentriert ist sowie häufig öffentliche Förderung zurBedingung gemacht wird.

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Arbeitsmarktpolitik für ältere Langzeitarbeitslose inThüringen

Von den neuen Ländern hat Thüringen eine der besten Ausgangssituationen,die gleichwohl völlig anders ist als im Westen: Die Reindustriealisierung läuft,bis zuletzt unterstützt durch neue Ansiedlungen. Die Zeiten sind vorbei, indenen mehr Menschen in arbeitsmarktpolitischen einschl. ESF-Maßnahmensteckten als in der Industrie beschäftigt waren. Der öffentliche Dienst ist seitder Wende halbiert worden und schrumpft personell weiter. Die Baukrise kommt,die Landes- und Kommunalfinanzen bleiben prekär. Der Abwanderung undBerufsnot Jugendlicher wird mit Ausbildungsprogrammen und Sicherungs-maßnahmen der Fachkräfteversorgung begegnet. Das Land bemüht sich in-tensiv und erfolgreich, die EU-Strukturfonds und Landesmittel einzusetzensowie beide eng mit der Arbeitsmarktpolitik nach dem SGB III bzw. dessenVorläufern abzustimmen.

Neben dem Auslaufen der Strukturfondsperiode 2000 bis 2006 und ungewisserFortsetzung sowie den Landesmitteln für Arbeitsmarktpolitik machen vor al-lem die aktiven BA-Finanzen Sorgen. Bundesweit lagen 2004 die Einnahmenwegen rd. 450.000 weniger sv-pflichtig Beschäftigten und wegen der rechtbescheidenen Lohnentwicklung um 1,5 Mrd. Euro unter dem Vorjahreswert.Durch eine neue Sicherungs- gleich Sparlogik wurden bei durchschnittlich4,38 Millionen Arbeitslosen 2,5 Mrd. Euro weniger ausgegeben, fast die Hälfte(1,2 Mrd.) bei der beruflichen Weiterbildung, Eingliederungs- und ABM-Zu-schüssen. So lag der gesetzlich verankerte Bundeszuschuss bei 4,2 Mrd. Euro,eine Milliarde Euro unter dem beschlossenen und vom BMWA genehmigtenZuschuss von 5,2 Mrd. Euro. In 2005 sind bei rd. 4,4 Millionen Arbeitslosen 29Mrd. Euro für das Arbeitslosengeld I eingeplant. Für jeden ALG-I-Empfänger,der nach Leistungsende ALG II bezieht, hat die BA 10.000 Euro an den Bund zuzahlen. Dafür sind 6,7 Mrd. Euro als „Aussteuerungsbetrag“ vorgesehen. DieArbeitsmarktpolitik der BA wird sich also auf die Vermeidung dieser „Straf-zahlungen“ konzentrieren. Bei hohen Vorbindungen und geringerem Ein-gliederungstitel (EGT) wird der arbeitsmarktpolitische Neubewilligungs-spielraum 2005 bei zwischen 50.000 und 150.000 (wg. HARTZ IV) zusätzlichenArbeitslosen viel enger – und zwar für alle Länder, insbesondere die Neuen.

Thüringen hatte 1998/99 wegen hoher und steigender LangzeitarbeitslosigkeitÄlterer ein Programm „Beschäftigung Älterer bis zur Rente (Bär)“ entworfen.Um Ältere möglichst in der Privatwirtschaft sozialversichert, zu tariflichen/

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ortsüblichen Bedingungen dauerhaft zu integrieren und gleichzeitig relativeRentenarmut zu vermeiden, sollten Lohnsubventionen und – falls nötig – ESF-finanzierte Qualifizierung in Zusammenarbeit mit den Arbeitsämtern bis zumfrühestmöglichen Rentenzugang ohne Abschläge gezahlt werden. Die lange(bis zu 10 Jahre) Unterstützungsdauer, die selbst bei degressiver Staffelungbeträchtlichen Fördermittel und die sogar bei Doppelhaushalten mit mehrjähri-gen Verpflichtungsermächtigungen haushaltsrechtlich schwer darstellbareFörderung ließen diesen Maximalansatz, so richtig er für Beschäftigte undBetriebe war, nicht zu. ESF-finanzierte Qualifizierung und Betriebsintegrationmit Praktikum und Betreuung gab es für die Zielgruppe der Langzeitarbeitslo-sen ab 50 Jahren sehr erfolgreich.

Seit dem 1.4.2000 läuft das Programm „50-Plus“ (AKTEUR NR. 16/2000 und M.Reuße, AKTEUR Nr. 20/2001), das die Einstellung von Arbeitnehmern ab 50Jahren aus Landesmitteln fördert. Die ab 1.1.2004 geltende Richtlinie – dasProgramm lief leicht modifiziert, aber ununterbrochen weiter – sieht folgendeEckwerte vor:

- Sicherung dauerhafter sv-pflichtiger Beschäftigung älterer Arbeitnehmerin Thüringen durch ein unbefristetes oder bis Rentenzugang befristetesArbeitsverhältnis von mindestens Personalserviceagentur sind gleichgestellt.

- Es gibt Zuschüsse zu den Personalausgaben und für Ausgaben der beruf-begleitenden, arbeitsplatzbezogenen Qualifizierung in Höhe von:o im ersten Förderjahr bis zu 60% des Bruttolohns einschl. 20%

pauschalisierter Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung,max. 10.000 Euro

o im zweiten Förderjahr 60% der Förderung des ersten Jahres,max. 6.000 Euro

o im dritten Förderjahr 40% ̂ der Förderung des ersten Jahres,max. 4.000 Euro

o bis 2.400 Euro für arbeitsplatzbezogene Qualifizierung gemäßnachgewiesenem Bedarf und während der Arbeitszeit

Leistungen an den Arbeitgeber für denselben Zweck nach SGB III, z.b. Ein-gliederungszuschüsse sind vorrangig und werden angerechnet. Frauen sollenentsprechend ihrem Anteil an den Arbeitslosen zum Zuge kommen. Nach Ab-lauf der Förderung besteht eine Nachbeschäftigungspflicht von sechs Mona-ten zu unveränderten Bedingungen.

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Das Programm „50-Plus“ besteht aus einem klassischen Teil, der mit den übli-chen BA-Förderinstrumenten kombiniert ist, und Strukturanpassungs-maßnahmen für Arbeitnehmern ab 55 Jahren. Im Oktober 2004 befanden sich2.848 geförderte Arbeitnehmer in 2.131 Maßnahmen.

Im ersten, klassischen Teil wurden seit Programmbeginn am 1.4.2000 6.137Arbeitnehmer in 5.829 Maßnahmen zu 89,2% in Wirtschaftsunternehmen ge-fördert. Aktuell waren im Oktober 2004 Geförderte in knapp 1.500 Maßnahmen,hauptsächlich gefördert mit Eingliederungszuschüssen, Beschäftigungshilfenfür Langzeitarbeitslose, Eingliederungszuschüsse bei Neugründungen, früherauch SAM usw.

Vorrangige Beschäftigungsbranchen sind:

- Handel, Instandhaltung, Kfz-Reparatur 23,4%- Verarbeitendes Gewerbe 14,7%- Baugewerbe 8%- Grundstücke, Vermietung 8,5%- Gastgewerbe 6,9%- Gesundheits-, Veterinär-, Sozialwesen 6,8%- sonstige persönliche o. öffentliche Dienstleistungen 14,7%

Im zweiten Teil – SAM für Arbeitnehmer ab 55 Jahren – befanden sich imOktober 2004 rd. 1.310 Beschäftigte in 649 Maßnahmen in folgenden Berei-chen:

Arbeitnehmer ProjekteSoziale Dienste 348 348Verbesserung Wohnumfeld 5 4Städtebauliche Erneuerung 27 3Kultur 131 85Sport 53 49Denkmalpflege 33 24Jugendhilfe 98 82Wirtschaftliche Infrastruktur 46 4Touristische Infrastruktur 221 75Umwelt 348 75

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Beide Maßnahmenteile zeigen, dass ältere Arbeitnehmer ab 50 Jahren, ja sogarab 55 Jahren, erfolgreich in einem breiten Spektrum von Wirtschaftsbranchenund Förderbereichen integriert werden können. Besonders die betrieblichenVarianten sind mit rd. 90% hervorzuheben. Auch die FörderschwerpunkteUmwelt, wirtschaftsnahe und touristische Infrastruktur, Kultur und sozialeDienste sind mit vielen kleinen Maßnahmen sehr beschäftigungs- und struktur-wirksam. Bis einschl. 2008 sind in den laufenden Maßnahmen erhebliche Mit-tel mehrjährig gebunden: rd. 7,6 Millionen Euro im klassischen Teil, rd. 16,3Millionen Euro in der Strukturförderung für Ältere ab 55 Jahren.

Besonders wichtig sind Berechenbarkeit und Planungssicherheit der Förde-rung für Betriebe und Maßnahmenträger. Die Umsetzungs- „Gesellschaft fürArbeits- und Wirtschaftsförderung (GFAW)“ ist auch regional aufgestellt undsichert Nähe der Beratung vor Ort. Ein über 15 Jahre gehegtes und gefördertesNetz von Bildungs- und Beschäftigungsträgern, mindestens ein Zuständigerin jedem Landkreis/jeder kreisfreien Stadt sichert die Betriebs- und Träger-kooperation. Die GFAW stimmt die Förderung über die Maßnahmelisten mitder Arbeitsverwaltung ab. Vier Regionalbeiräte für Arbeitsmarktpolitik in jederPlanungsregion und ab Dach ein Landesbeirat aus allen gesellschaftlichenGruppen beraten Programmentwicklung, -änderungen und –schwerpunkte. Alleim Landtag vertretenen Parteien befürworten das Programm und die z.T. mehr-jährige Mittelbindung.

Öffentliche Förderung für Ältere und alternde Belegschaftenausbauen

Im Sinne der europäischen Beschäftigungsstrategie, der beschäftigungs-politischen Leitlinien und des Lissabon-Prozesses dienen die Strukturfondsder EU – insbesondere der ESF – auch der Beschäftigungsförderung undQualifizierung älterer Arbeitnehmer und Langzeitarbeitsloser zwecks Erwerbs-integration statt Ausgrenzung. Auch die Einzelinitiativen EQUAL I und II, das„lokale Kapital für soziale Zwecke“ und die ESF-Art.6-Projekte, z.b. Mikro-ensembles MEN in Thüringen stehen im Dienst der Älterenförderung mit gu-ten Ergebnissen. Sie verdienen breiter bekannt zu werden, damit insbesondereBund und BA diese Instrumente würdigen und nutzen. So ließen sich dieAnsätze öffentlich geförderter Beschäftigung konkret ausbauen. Statt Leiti-deen wie dem 3. Sektor, dem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor o.ä.

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nachzuhängen, sollten lieber kleinregionale Einzelprojekte und Beschäftigungs-initiativen gefördert werden.

Auch die neuen Möglichkeiten der SGB III wie ABM, Arbeit gegenMehraufwandsentschädigung zuzüglich. ALG-II, Unterkunftskosten und Zu-schlägen sowie das Einstiegsgeld in sv-pflichtige Beschäftigung oder Selbst-ständigkeit könnten gezielt beim Alterungsproblem zwecks höherer Alters-erwerbstätigkeit eingesetzt werden.

Besonders weiterführende Ansätze liefert das AGIL-Team Augsburg mit loka-lem Management für eine älter werdende Gesellschaft (AGIL: Beschäftigungs-strategie für eine älter werdende und vielkulturelle Gesellschaft, Augsburg2004). Setzt sich in Betrieben und Verwaltungen die Tatsache durch, dass siesowohl mit (über-)alternden Belegschaften als auch mit älteren Kunden zu-rechtkommen müssen, kann die gemeinsame Bewältigung dieser Alterungs-prozesse selbst als expansiver, auch kaufkräftiger Markt mit völlig neuen Pro-dukten, Diensten, Qualitätsstandards und Kundenbindungen, also als ein ex-pansiver Beschäftigungsbereich gelten, der sogar der Globalisierung trotzenkann. Sieht man das Potential Älterer in Form von Arbeitsvermögen, Erfahrungund Kaufkraft als Entwicklungsperspektive statt als „Verfall“ sind alle Lebens-bereiche expansiv einzuschätzen: Arbeiten, Wohnen, Freizeit, Unterhaltung,Bildung, Gesundheit/Wellness, Tourismus/Geselligkeit, Enkel usw. Dies erfor-dert hochwertige Dienstleistungen mit jeder Menge Beschäftigungschancen.Die Thüringer Erfahrungen zeigen, dass mit Blick auf die EU-Initiativen undviele lokalregionale Ansätze die Konsequenzen des demographischen Wan-dels mittels beschäftigungspolitischer Ansätze zu bewältigen sind.

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Eckpunkte der Entwicklung derEuropäischen Beschäftigungsstrategie

und die Antworten auf diedemografische Entwicklung

Hartmut Siemon

Ausgangspunkt:

In der Ölkrise der 90er Jahre zeigte sich:

- die Union besaß weder ausreichend solide Instrumente noch einheitlicheStrategien, um mit solchen makroökonomischen Schocks umzugehen

- noch hatte man effiziente Rezepte gegen die hohe und hartnäckige Arbeits-losigkeit, gegen Langzeitarbeitslosigkeit und andere strukturelle Problemeauf den Arbeitsmärkten.

Die Antwort war ein höheres Interesse an europäischen Lösungen durch mehrKoordinierung und Konvergenz der Politiken. Makroökonomisch erfolgte diesdurch den Vertrag von Maastricht.

Nach Maastricht entstanden aus dieser neuen Debatte dann europäische Lö-sungen, die in Strukturpolitiken umgewandelt wurden. Sie sind heute einenotwendige Ergänzung zum makroökonomischem Policy-Mix in der Wirtschafts-und Währungsunion. Beschäftigung ist in dieser Debatte das wichtigste Ele-ment.

Die Frage der Beschäftigung betrifft nämlich sämtliche Herausforderungen derErweiterung, der Erneuerung des Finanzrahmens und der Strukturfonds derEU, des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts und institutioneller Re-form.

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Das Delors Weißbuch 1993 und die Essen-Strategie

Mit dem „Weißbuch über Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäfti-gung“ von Jacques Delors im Jahre 1993 wurde begonnen sich auf EU-Ebeneintensiv mit dem Thema Beschäftigung auseinander zu setzen. Dieses Weiß-buch wurde zur ideologischen, politischen und analytischen Grundlage für einkoordiniertes europäisches Beschäftigungskonzept.Vor dem Vertrag von Amsterdam können Beschäftigung und Politik der Ent-wicklung des Arbeitsmarkts auf europäischer Ebene als traditionelle Zusam-menarbeit zwischen Regierungen charakterisiert werden, vergleichbar mit derOECD oder der IAO.Während die Beschäftigungspolitik ausschließlich Sache der Mitgliedstaatenwar, bestand die Rolle der Kommission darin, die Zusammenarbeit zwischendiesen auf europäischer Ebene zu fördern, indem sie Initiativen ergreift, überBeschäftigungstendenzen und Aussichten berichtet und Forschung und ana-lytische Arbeiten vornimmt, ohne jedoch eine vom Vertrag festgelegteRechtsgrundlage für supranationale Arbeit zu haben. Die Kommission förder-te daneben auch die Verbreitung von Informationen und unterstützte die Mit-gliedstaaten bei ihrem Kampf gegen Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzungmit der Gemeinschaftsfinanzierung, hauptsächlich mit dem Europäischen Sozial-fonds. Entscheidungen vom Rat erforderten Einstimmigkeit, was Fortschritteim Gesetzgebungsbereich nicht gerade vereinfachte.

Politisch gab es jedoch Fortschritte beim europäischen Kampf gegen die Ar-beitslosigkeit:Angespornt von dem Weißbuch von Jacques Delors einigte sich der Europä-ische Rat in Essen im Dezember 1994 auf fünf Hauptziele, die von den Mitglied-staaten verfolgt werden sollen. Dazu gehörten:

· die Entwicklung von Humanressourcen durch Berufsausbildung,· die Förderung produktiver Investitionen durch gemäßigtere Lohnpolitiken,· effizientere Arbeitsmarktinstitutionen,· das Aufzeigen neuer Beschäftigungsquellen durch lokale Initiativen und· die Förderung des Zugangs zur Arbeitswelt für einige spezifische Ziel-

gruppen wie zum Beispiel Jugendliche, Langzeitarbeitslose und Frauen.

Diese Ziele, die so genannte „Strategie von Essen“, wurden von den folgen-den Schlussfolgerungen und Beschlüssen des Europäischen Rates noch be-kräftigt. Erste Schritte wurden unternommen, gemeinsame europäische Indika-

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toren zu entwickeln und die Ebene der euro-päischen Institutionen zu stärken, als Ende1996 ein ständiger Ausschuss für Beschäfti-gungs- und Arbeitsmarktpolitik geschaffenwurde. Während die Essen-Strategie auf mehrpolitischen Verpflichtungen in derBeschäftigungspolitik setzte, basierte die Ar-beit auf unverbindlichen Schlussfolgerungender Europäischen Räte, eine klareRechtsgrundlage, eine starke permanenteStruktur sowie eine langfristige Vision fehltenjedoch. Deshalb bildet der Vertrag vonAmsterdam einen bedeutenden Wendepunktbei der Entwicklung eines koordinierten euro-päischen Konzepts in der Beschäftigungs-politik.

Der Vertrag von Amsterdam 1997 und der neueBeschäftigungstitel

Der Vertrag ändert zwar nichts an dem Grundprinzip, dass nur die Mitgliedstaa-ten für Beschäftigungspolitik zuständig sind, doch überträgt er den Europäi-schen Institutionen, dem Rat und der Kommission eine viel stärkere Rolle,neue Aufgaben und stärkere Instrumente. Er beteiligt das Europäische Parla-ment enger am Entscheidungsfindungsprozess. Die Verantwortlichkeiten derSozialpartner und ihre Möglichkeiten, sich zu beteiligten, werden auch durchdie Einbeziehung des sozialen Protokolls in den Vertrag verstärkt. Neben die-ser Stärkung der Gemeinschaft in der Beschäftigung insgesamt lauten dieSchlüsselelemente des Vertrags von Amsterdam auf diesem Gebiet wie folgt:

1. Er behält die Verpflichtung eines hohes Beschäftigungsniveaus als einesder Schlüsselziele der Europäischen Union bei und erklärt, dass dieses Zielebenso wichtig ist wie die makroökonomischen Ziele Wachstum und Stabilität.Die Bedeutung des Beschäftigungsziels wird noch dadurch verstärkt, dass dieBeschäftigungsartikel im Vertrag als Titel (wie die Artikel zu Wirtschaft undWährung), und nicht als bloßes Kapitel enthalten sind.

2. Er betont, dass die Beschäftigung eine Angelegenheit von „gemeinsamemInteresse“ ist. Die Mitgliedstaaten haben sich verpflichtet, ihre Beschäftigungs-

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politiken auf Gemeinschaftsebene zu koordinieren, weil die WWU dies erfor-dert und sich die Art, wie arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in einem Landdurchgeführt werden, auch auf die politischen Parameter des Arbeitsmarktesanderer Mitgliedstaaten auswirken.

3. Er verpflichtet die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft, an der Entwick-lung einer koordinierten Beschäftigungsstrategie zu arbeiten, erfahrene, aus-gebildete und anpassungsfähige Arbeitskräfte zu fördern und auf Arbeits-märkte hin zu arbeiten, die dem wirtschaftlichen Wandel gegenüber aufge-schlossen sind.

4. Er enthält daneben auch das wichtige Prinzip der Integration von Beschäfti-gung in andere Politiken, da Artikel 127 erfordert, dass die Beschäftigungsaus-wirkung jeder Gemeinschaftspolitik berücksichtigt werden muss.

5. Er schafft den Rahmen für ein Länderüberwachungsverfahren (Artikel 128):Die Beschäftigungspolitiken der Mitgliedstaaten werden u.a. durch einen jähr-lichen Gemeinsamen Beschäftigungsbericht untersucht, der von Kommissionund dem Rat erstellt wird. Außerdem schlägt die Kommission jährlicheBeschäftigungsleitlinien für die Mitgliedstaaten vor, die der Rat verabschiedet(weitgehend so ähnlich wie im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik),und auf deren Grundlage die Mitgliedstaaten nationale Aktionspläne für Be-schäftigung entwickeln. Schließlich kann die Kommission Empfehlungen fürdie einzelnen Mitgliedstaaten vorschlagen, die der Rat verabschiedet.

6. Er erstellt permanente, verfassungsmäßige institutionelle Strukturen (Arti-kel 130, der Beschäftigungsausschuss ), die eine sichtbare, kontinuierlicheund transparente Debatte über die Beschäftigung und andere Fragen der Struk-turpolitik auf europäischer Ebene ermöglichen, und fördert so eine bessereVorbereitung auf die Beratung im Rat.

7. Er schafft eine Rechtsgrundlage für die Analyse und Forschung, den Aus-tausch guter Praktiken und die Förderung von Maßnahmen für mehr Beschäf-tigung (Artikel 129) sowie weitere Tätigkeiten der Kommission auf Ebene derGemeinschaft in diesem Bereich, die vorher noch nicht existierten.

8. Schließlich ermöglicht er, dass Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheitgetroffen werden, die ein einzelnes Land daran hindern, Entscheidungen oder

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Empfehlungen zu blockieren, die für Europa und die Bürger insgesamt notwen-dig sein können.

Auf der Grundlage dieser neuen Bestimmungen beschloss der LuxemburgerBeschäftigungsgipfel die Anwendung auch vor Inkrafttreten des Vertragesvon Amsterdam und rief die Europäische Beschäftigungsstrategie in ihrer ge-genwärtigen Form ins Leben. Reagierend auf die sich verändernden sozio-ökonomischen Gegebenheiten haben die folgenden Europäischen Räte grund-legende Orientierungen für die EBS selbst und/oder für die Verbindungenzwischen den Beschäftigungspolitiken und anderen Gemeinschaftspolitikengeliefert. Am wichtigsten waren Cardiff (Juni 1998), Köln (Juni 1999), Lissabon(März 2000), Stockholm (Oktober 2000) und Barcelona (März 2002).

Die Koordinierung von Beschäftigungspolitiken auf EU-Ebene

Die EBS ist gedacht als das wesentliche Instrument zur Orientierung und Sicher-stellung der Koordinierung der beschäftigungspolitischen Prioritäten, zu de-nen sich die Mitgliedstaaten auf europäischer Ebene bekennen. Auf der Grund-lage der neuen Bestimmungen des Vertrages von Amsterdam hat der Europäi-sche Rat von Luxemburg im November 1997 die Europäische Beschäftigungs-strategie (EBS) ins Leben gerufen, die auch als „Luxemburg-Prozess“ bekanntist.

Die Staats- und Regierungschefs verständigten sich auf einen Rahmen fürAktionen, die sich gründen auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, einenSatz gemeinsamer Ziele für Beschäftigungspolitik zu bestimmen. DieseKoordinierung nationaler Beschäftigungspolitiken auf europäischer Ebenemusste um mehrere Komponenten entwickelt werden:

Beschäftigungspolitische Leitlinien: auf Vorschlag der Kommission einigt sichder Europäische Rat jedes Jahr auf eine Reihe von Leitlinien, die die gemeinsa-men Prioritäten für die Beschäftigungspolitiken der Mitgliedstaaten beschrei-ben.

- Nationale Aktionspläne: jeder Mitgliedstaat erarbeitet einen nationalenAktionsplan, der beschreibt, wie diese Leitlinien national in die Praxis um-gesetzt werden.

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- Gemeinsamer Beschäftigungsbericht: Die Kommission und der Rat prüfendann gemeinsam jeden nationalen Aktionsplan und legen einen gemeinsa-men Beschäftigungsbericht vor. Daneben legt auch die Kommission einenneuen Vorschlag zur Überarbeitung der Beschäftigungsleitlinien für daskommende Jahr vor.

- Empfehlungen: Auf Vorschlag der Kommission kann der Rat mit qualifizier-ter Mehrheit darüber entscheiden, länderspezifische Empfehlungen zu ver-öffentlichen. So ist der Luxemburger Prozess ein laufendes Arbeitsprogrammder jährlichen Planung, Überwachung, Überprüfung und Neuanpassung.

Der Mehrwert der „Offenen Methode der Koordinierung“

Die EBS initiierte eine neue Arbeitsmethode auf europäischer Ebene, die als„offene Methode der Koordinierung“ bekannt wurde. Sie ist auf fünf Schlüssel-elemente gegründet: Subsidiarität, Konvergenz, Führen nach Zielen, Länder-überwachung und einen integrierten Ansatz.

- Subsidiarität: Diese Methode bildet ein Gleichgewicht zwischen derKoordinierung auf der Ebene der Europäischen Union bei der Festlegungvon gemeinsamen Zielen und den Verantwortlichkeiten der Mitgliedstaa-ten bei der Entscheidung über den ausführlichen Inhalt der Aktion. DieFestlegung der Mittel und der Bedingungen, zu denen Programme undMaßnahmen durchgeführt werden, wird größtenteils den einzelnen Mit-gliedstaaten überlassen, die nach dem EU-Vertrag für ihre Beschäftigungs-politik verantwortlich sind.

- Konvergenz: Gemeint ist das Streben nach gemeinsam vereinbartenBeschäftigungsergebnissen durch die konzertierte Aktion, bei der jederMitgliedstaat dazu beiträgt, die durchschnittliche Leistung in Europa an-zuheben. Dieses Prinzip wurde vom Europäischen Rat in Lissabon im März2000 konkreter gemacht, als die Vollbeschäftigung zum obersten Ziel derUnion erklärt wurde, begleitet von konkreten Zielsetzungen.

- Führen nach Zielen: Der Erfolg der Strategie hängt ab von der Nutzungquantifizierter Messungen, Ziele und Benchmarks, die eine präzise Beob-achtung und Bewertung von Fortschritten ermöglichen. Diese Ziele basie-ren auf den gemeinsamen Werten der Mitgliedstaaten und umfassen Fra-gen, die von gemeinsamem Interesse sind. Fortschritte in Richtung der

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gemeinsamen Ziele werden mit quantitativen oder qualitativen Indikatorengemessen. Durch die Nutzung von Zielen und Indikatoren werden die Er-gebnisse der Politiken transparent gemacht und sind deshalb offen fürBewertung durch die Öffentlichkeit.

- Länderüberwachung: Der jährliche Berichterstattungsprozess führt zuWirkungsbewertung und Vergleich erreichter Fortschritte und damit zurIdentifizierung möglicher guter Praktiken zwischen den Mitgliedstaaten.Dies läßt einen Druck zur Verbesserung von Qualität und Wirksamkeit vonPolitik entstehen. Dieser Druck soll dazu beitragen, Politikkurse zu steuernund die Effizienz von Maßnahmen Aktionen zu erhöhen.

- Ein integriertes Konzept: Die Beschäftigungsleitlinien beschränken sichkeinesfalls nur auf die traditionelle aktive Arbeitsmarktpolitik. Sie beziehensich auch auf Sozial-, Bildungs-, Steuer-, Unternehmens- und Regional-politik. Das heißt, dass Ergebnisse bei strukturellen Reformen nur nichtvon einzelnen, Aktionen oder Maßnahmen erzielt werden können, sonderneine konsequente und konzertierte Aktion in vielen verschiedenen Politik-bereichen und Maßnahmen erforderlich sind, die außerdem an die ver-schiedenen Bedürfnisse und Bedingungen angepasst sein müssen. Es be-deutet auch, dass der Luxemburger Prozess nicht nur den Ministerien fürArbeit und Beschäftigung „gehört“, sondern vielmehr ein Prozess ist, derRegierungen als Ganzes und auch eine Vielzahl anderer.

Lissabon Strategie

In Lissabon (2000) hat der Ministerrat für die Europäische Union ein neuesstrategisches Ziel für das nächste Jahrzehnt gesetzt: der wettbewerbsfähigsteund dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt zu werden, fähigzu nachhaltigem wirtschaftlichem Wachstum mit mehr und besseren Arbeits-plätzen und größerem sozialen Zusammenhalt. Die Strategie wurde entworfen,um die Union zu befähigen, die Bedingungen für Vollbeschäftigung und ver-stärkten Zusammenhalt bis 2010 herzustellen. Der Europäische Rat bestimmteauch, dass das übergreifende Ziel dieser Maßnahmen die Erhöhung der allge-meinen Beschäftigungsquote in der EU auf 70% und die von Frauen auf einenDurchschnitt von mehr als 60% bis 2010 sein sollte.

Ein weiteres Ziel der Lissabonstrategie ist es, die Beschäftigungsquote beiälteren Arbeitnehmern (55-64 Jahre) bis zum Jahr 2010 auf 50 % zu erhöhen.

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Deutschland ist hiervon mit 39,3 % noch weit entfernt. Die skandinavischenMitgliedstaaten liegen teilweise bereits mit einer Beschäftigungsquote vonüber 60 % bei älteren Arbeitnehmern weit über dieser Zielmarke. Von den Erfah-rungen dieser Mitgliedstaaten können wir profitieren.

Der Europäische Rat von Stockholm (März 2001) hat zwei Zwischenziele undein zusätzliches Ziel bestimmt: bis 2005 soll die allgemeine Beschäftigungs-quote 67% erreichen und die von Frauen 57%, die älterer Arbeitnehmer soll2010 50% betragen. Der Europäische Rat von Barcelona (März 2002) bestätig-te, dass Vollbeschäftigung das übergreifende Ziel der EU ist und forderte eineverstärkte Beschäftigungsstrategie, um die Ziele der Lissabon-Strategie in ei-ner erweiterten EU zu untersetzen.

Wirkungsbewertung 2002

Der Zweck war eine Bestandsaufnahme der Erfahrung aus fünf Jahren Europä-ischer Beschäftigungsstrategie (EBS), wie es die Europäische Sozialagendavorsieht. Diese Bewertung wurde gemeinsam von Kommission und den Mit-gliedstaaten durchgeführt. Die Mitgliedstaaten erstellten ihre nationalenBewertungsprojekte , die einem gemeinsamen Rahmen von Themen erfolgten.Die Kommission fügte eine makroökonomische Analyse und eine Gesamt-analyse der nationalen Berichte hinzu, die in einem Synthesebericht zusam-mengefasst wurden, auf der Grundlage eines technischen Hintergrundpapiers.Die Ergebnisse der Bewertung der Kommission sind in einer Mitteilung fest-gehalten worden, die am 17. Juli 2002 verabschiedet wurde. Diese Mitteilungüberprüft die Ergebnisse einer Folgebewertung, die durchgeführt wurde aufder Grundlage einer eigenen Analyse und des Input der Dienststellen der Kom-mission aus den Mitgliedstaaten. Sie sieht erste Orientierungen für die zukünf-tige Form der Europäischen Beschäftigungsstrategie vor.

Gegenseitige Straffung der EBS und anderer politischer ProzesseNach dem Europäischen Rat von Barcelona hat die Kommission ihre Mittei-lung zur Straffung der jährlichen Koordinierungszyklen von Wirtschafts- undBeschäftigungspolitiken verabschiedet (September 2002). Die wesentliche Ideebesteht darin, die Koordinierungsmechanismen um einige wichtige Termineherum zu bündeln, um den Zyklus transparenter und verständlicher und dieKoordinierung dadurch sichtbarer und wirkungsvoller zu machen. In Überein-stimmung mit der übergreifenden Lissabon-Strategie soll dies beitragen zueiner Verstärkung der Konzentration auf mittelfristige Orientierung und zu ver-

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besserter Kohärenz der Politiken. Dieser veränderte jährliche Prozess wird dieRolle des Frühjahrsgipfels des Europäischen Rates in seiner Orientierungs-funktion für die übergreifende Strategie der EU stärken. Der neue Politikzyklusist auf die folgenden Blöcke gegründet.

Das ‘Umsetzungspaket’ (jeden Januar): Die Kommission wird die Schlussfol-gerungen aus ihrer Bewertung der Umsetzung der politischen Leitlinien inForm eines Umsetzungspakets vorlegen, das gleichzeitig mit und ergänzend zuihrem Frühjahrsbericht für die Frühjahrstagung des Europäischen Rates prä-sentiert wird. Dieses ‘Umsetzungspaket’ (bestehend aus dem Bericht über dieUmsetzung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik, dem Entwurf des Gemeinsa-men Beschäftigungsberichts, und dem Bericht über die Umsetzung derBinnenmarktstrategie) wird eine detaillierte Bewertung der Umsetzung in denverschiedenen Politikbereichen enthalten. Auf der anderen Seite wird der‘Frühjahrsbericht’ auch weiterhin der strategische Beitrag der Kommission zurFrühjahrstagung des Europäischen Rates sein, nach wie vor auf die wichtigs-ten Themen eingehen und die politischen Prioritäten der Kommission für dieEU aufzeigen.

Das ‘Leitlinienpaket’ (jeden April): Auf der Grundlage der vom EuropäischenRat auf seiner Frühjahrstagung ausgegebenen politischen Leitlinien wird dieKommission ihre Vorschläge für weitere Maßnahmen in den verschiedenenPolitikbereichen in einem ‘Leitlinienpaket’ vorlegen, das sich aus den Grund-zügen der Wirtschaftspolitik, den Beschäftigungspolitischen Leitlinien undden beschäftigungspolitischen Empfehlungen zusammensetzt. Im Anschlussan weitere Beratungen im Europäischen Parlament und den zuständigen Rats-formationen wird der Europäische Rat im Juni seine Schlussfolgerungen fest-legen. Die zuständigen Ratsformationen werden dann die Grundzüge der Wirt-schaftspolitik, die Beschäftigungspolitischen Leitlinien und die beschäftigungs-politischen Empfehlungen annehmen, auf deren Grundlage die Mitgliedstaa-ten ihre Nationalen Aktionspläne oder Berichte während des zweiten Halbjah-res erarbeiten werden.

Die 2003 Überarbeitung der EBS

Nach der 2002 durchgeführten Wirkungsbewertung und der Mitteilung zurStraffung der jährlichen Koordinierungszyklen in den Bereichen Wirtschafts-und Beschäftigungspolitik, hat die Kommission im Januar 2003 eine Mitteilungbez. der EBS angenommen .

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In ihrer Mitteilung präsentierte die Kommission einen Rahmen für eine refor-mierte Strategie, mit konkreten Zielen. Drei übergreifende Ziele werden hervor-gehoben (Vollbeschäftigung, Qualität und Produktivität von Arbeit, Kohäsionund ein inklusiver Arbeitsmarkt) und es wird die Notwendigkeit verbesserterUmsetzung und Governance der EBS betont.

Der Bericht der Task force Beschäftigung 2003 (KOK I)

Vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Rückgangs und auf Bitte der Staats-und Regierungschefs anlässlich des Frühjahrsgipfels 2003, hatte die Kommis-sion eine Europäische Taskforce „Beschäftigung“ unter dem Vorsitz von WimKok, ex-Premierminister der Niederlande, eingesetzt.

Die Taskforce nannte vier Handlungsprioritäten von allgemeiner Wichtigkeitfür Mitgliedstaaten:

· mehr Anpassungsfähigkeit auf Seiten der Arbeitnehmer und der Unterneh-men;

· größere Attraktivität des Arbeitsmarktes für mehr Menschen und Arbeit zueiner echten Alternative für alle machen;

· mehr und effektivere Investitionen in Humankapital;· effektivere Durchführung der Reformen durch bessere beschäftigungs-

politische Maßnahmen.

Laut der Europäischen Taskforce Beschäftigung, wurde die Notwendigkeitbestätigt, eher auf die Umsetzung von Reformen zu bestehen, die von denMitgliedstaaten unternommen wurden, als sich in einem Prozess weiterer Än-derungen der Leitlinien zu engagieren. Der „mittelfristige Charakter“ der neuenBeschäftigungsleitlinien und die gegenseitige Straffung der EBS (siehe EBSEntwicklung) )und der Grundzüge der Wirtschaftspolitik rechtfertigen,zumindest bis zur Halbzeitbewertung in 2006 dieselben Leitlinien beizubehal-ten

Frühjahr 2004 – Bericht der Kommission setzt Prioritäten, umRückstand bei der Lissabonner Agenda aufzuholen

Die Kommission fordert den Europäischen Rat anlässlich seiner Frühjahrs-tagung auf, die wirtschaftliche Erholung und die Dynamik des Erweiterungs-

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prozesses zu nutzen, um der Lissabonner Strategie neue Impulse zu verleihen.Zu diesem Zweck setzt die Kommission die folgenden drei Prioritäten: Auswei-tung der Investitionen in Netze und Wissen, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeitvon Industrie und Dienstleistungssektor und Verlängerung der Lebens-arbeitszeit. Vier Jahre nach Festlegung der Lissabonner Strategie reichen dievon der Union erzielten Fortschritte nach wie vor nicht aus, um die gesetztenZiele zu erreichen. So haben die Mitgliedstaaten trotz unbestrittener Fort-schritte in einigen wichtigen Feldern die Reformen nicht entschlossen genugin Angriff genommen, so dass in mehreren Bereichen gar erhebliche Schwierig-keiten zu verzeichnen sind.

Kommissionspräsident Prodi kommentierte den Bericht mit den Worten: “DenMitgliedstaaten scheint nicht klar zu sein, dass 2010 vor der Tür steht. VierJahre nach Lissabon ist klar, dass wir unsere mittelfristigen Ziele verfehlenwerden. Die Botschaft des Berichts sollte ausreichen, um alle Regierungenwachzurütteln. Auf europäischer Ebene haben wir kontinuierlich die richtigenPrioritäten gesetzt, doch haben die Mitgliedstaaten diese nicht entschlossengenug umgesetzt. Für das Jahr 2004 setzen wir drei Prioritäten: mehr Investiti-onen in Netzwerke und Wissen, die Verstärkung der industriellen Wettbewerbs-fähigkeit und mehr Massnahmen zur Erhöhung der Teilnahme am Arbeits-markt. Wir fordern die Regierungen auf, an allen drei Fronten unverzüglich zureagieren. Wir müssen die wirtschaftliche Erholung nutzen, um verlorenes Ter-rain wettzumachen. Europa verdient größere Anstrengungen.”

Bisherige FortschritteIn diesem vierten Bericht zeichnet die Kommission die Fortschritte seit demJahr 2000 nach und fordert den Europäischen Rat auf, die mit der wirtschaftli-chen Erholung und der Dynamik des Erweiterungsprozesses verbundenenChancen zu nutzen, um der Lissabonner Strategie die notwendigen Impulse zuverleihen. Der irische Vorsitz sieht deren Umsetzung als eine der Hauptprioritätenseiner Amtszeit an.

Bei genauerer Betrachtung sind viel versprechende Fortschritte zu erkennen:so wurden seit 1999 trotz konjunktureller Flaute 6 Mio. Arbeitsplätze geschaf-fen, bedeutende Fortschritte bei Langzeitarbeitslosigkeit und derErwerbstätigenquote von Frauen erzielt und mehrere, strategisch wichtige netz-gebundene Märkte (Telekommunikation, Energie, Schienenverkehr…) geöff-net und fand das Internet zunehmend in Schulen, Unternehmen, öffentlichenVerwaltungen und Haushalten Eingang.

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Dennoch ist die Union nach wie vor weit von den in Lissabon gesetzten Zielenentfernt. Beschäftigung und Produktivität tragen nicht ausreichend zum Wachs-tum in Europa bei. Dafür gibt es mehrere Gründe, wie den geringen Anteil vonArbeitnehmern zwischen 55 und 64, die unzureichende Verbreitung und Nut-zung von Informations- und Kommunikationstechnologien sowie fehlendeInvestitionen in wissenbasierte Bereiche (Forschung, Innovation, allgemeineund berufliche Bildung).

Darüber hinaus weist der Binnenmarkt sowohl bei den Dienstleistungen alsauch dem innergemeinschaftlichen Handel nach wie vor einen zu geringenIntegrationsstand auf. Auch die Umsetzung der aus der Lissabonner Strategieresultierenden Richtlinien durch die Mitgliedstaaten ist nur mäßig (58 % imUnionsdurchschnitt).

Gleiches gilt für die Bereiche Umwelt, sozialer Zusammenhalt und dauerhafteEntwicklung.

Prioritäten für 2004Von dieser Bilanz ausgehend fordert die Kommission den Europäischen Ratauf, in den drei prioritären Bereichen die notwendigen Entscheidungen zutreffen, d.h.

· die Investitionen in Netze und Wissen auszuweiten. Zu diesem Zweckmüssen die Mitgliedstaaten sich vordringlich um Umsetzung derWachstumsinitiative (über das «Schnellstartprogramm») und des Aktions-plans «In die Forschung investieren» bemühen. Auch muss verstärkt indie allgemeine und die berufliche Bildung investiert werden.

· die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu steigern. Rat undEuropäisches Parlament sollten sich auf einige zur Steigerung derWettbewerbsfähigkeit erforderliche strategische Vorschläge konzentrieren.Im Industriesektor müsste die Umsetzung der Lissabonner Strategie ver-bessert werden. Auch zur Integration des Dienstleistungsmarkts bedarf esrascher Fortschritte beim Vorschlag einer entsprechenden Rahmenrichtli-nie. Und schließlich müsste die Union zur Steigerung der Wettbewerbs-fähigkeit auch die Synergien zwischen Umwelt, Forschung und Industriestärken. Zu diesem Zweck sollte der Aktionsplan für Umwelttechnologienso rasch wie möglich angenommen werden.

· ein aktives Altern zu fördern und ältere Arbeitnehmer zum Verbleib imArbeitsleben zu animieren und finanzielle Anreize für den Vorruhestand zu

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streichen. Parallel dazu sollten die Mitgliedstaaten die Modernisierung derGesundheitssysteme in Angriff nehmen, um deren Finanzierbarkeit zu er-halten und deren Wirksamkeit zu erhöhen.

Straffung und HalbzeitüberprüfungIm Zuge der gestrafften zyklischen Koordinierung ist diesem Frühjahrsberichtein Umsetzungspaket beigefügt, das aus dem Bericht über die Umsetzung derGrundzüge der Wirtschaftspolitik für den Zeitraum 2003 bis 2005, dem Entwurfdes Gemeinsamen Beschäftigungsberichts, in dem die Fortschritte bei derUmsetzung der beschäftigungspolitischen Leitlinien bewertet werden und demBericht über die Umsetzung der Binnenmarktstrategie besteht.

Die Europäische Union muss mehr tun, um ihre Beschäftigungsziele zu er-reichenIm Gemeinsamen Beschäftigungsbericht wird bewertet, welche Fortschrittedie Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der neuen europäischenBeschäftigungsstrategie erzielt haben, die 2003 mit dem Ziel beschlossen wur-de, neue und bessere Arbeitsplätze zu schaffen. Diesem Bericht zufolge gehendie Reformen zwar in allen Tätigkeitsfeldern, die in der EuropäischenBeschäftigungsstrategie genannt sind, weiter, muss aber mehr getan werden,um das Beschäftigungs- und Produktivitätswachstum anzukurbeln. Wenn dieSchaffung von Arbeitsplätzen und die Erwerbsbeteiligung von Frauen, älterenArbeitnehmern und jungen Menschen nicht stärker gefördert wird, läuft dieEuropäische Union Gefahr, die Ziele, die sie sich selbst für das Jahr 2010 ge-setzt hat, zu verfehlen.

Das für 2005 anvisierte Zwischenziel einer Erwerbstätigenquote von 67 % wirdvoraussichtlich nicht erreicht, auch wenn vier Mitgliedstaaten (DK, NL, S, UK)bereits bei den für 2010 angestrebten 70 % angelangt sind. Eine genauereBetrachtung spezieller Gruppen zeigt, dass die Erwerbstätigenquote von Frau-en kontinuierlich ansteigt und auf dem besten Weg ist, das für 2005 angestreb-te Zwischenziel von 57 % zu erreichen, die Reformanstrengungen jedoch fort-gesetzt werden müssen, um die für 2010 anvisierte Zielmarke zu erreichen. Beiden älteren Arbeitnehmern ist zwar ein erheblicher Anstieg der Erwerbstätigen-quote auf knapp über 40 % zu verzeichnen, doch liegt das 50 %-Ziel noch inweiter Ferne. Angesichts der alterungsbedingten demographischen Heraus-forderungen in Europa muss die Europäische Union auf jeden Fall die Bereit-schaft der Arbeitnehmer zu einem längeren Verbleib im Erwerbsleben erhöhen

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und Anreize für diejenigen schaffen, die nicht Teil der Erwerbsbevölkerungsind.

Anlass zur Sorge bereitet der jüngste Rückgang des Arbeitsproduktivitäts-wachstums, das wieder zunehmen muss, soll die europäische Wirtschaft einnachhaltiges Wirtschaftswachstum erzielen. Der Bericht unterstreicht, wie wich-tig in diesem Zusammenhang gut ausgebildete, qualifizierte und anpassungs-fähige Arbeitskräfte und damit auch Investitionen in das Humankapital sind .

Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt wird als notwendig erachtet, um Anpassungenan wirtschaftliche Veränderungen zu ermöglichen. Gleichzeitig muss den Ar-beitnehmern aber auch ein gewisses Maß an Sicherheit geboten werden, wassowohl die Qualität ihrer Arbeitsplätze als auch die Möglichkeit betrifft, aufDauer Beschäftigung zu haben, eine Karriere aufzubauen und Arbeits- undFamilienleben miteinander zu vereinbaren.

Der Bericht wird zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, zu dem mit vorsichtigemOptimismus von einer Erholung der EU-Arbeitsmärkte ausgegangen wird.Untersuchungen der letzten Jahre zeigen, dass der europäische Arbeitsmarktden negativen Auswirkungen des jüngsten konjunkturellen Abschwungs bes-ser gewachsen war als noch Anfang der 90er Jahre.

Zu dieser größeren Belastbarkeit beigetragen haben unter anderem eine zu-nehmende Erwerbsbeteiligung, ein höherer Qualifikationsstand sowie neueArbeitsformen, die in erster Linie auf Strukturreformen in den Mitgliedstaatenzurückzuführen sind. Dies bestätigt das mit der europäischen Beschäftigungs-strategie verfolgte Konzept.

Bei Erstellung ihres Berichts hat sich die Kommission auf die Ergebnisse derTask Force Beschäftigung gestützt, die 2003 im Anschluss an die Frühjahrs-tagung des Europäischen Rates ins Leben gerufen wurde und in der Wim Kokden Vorsitz führte.

Gleichzeitig einigten sich die Kommission und der Rat auf schärfere, stärkereländerspezifische Empfehlungen für 2004, die die hauptsächliche Grundlagefür den nächsten Ende 2004/Beginn 2005 zu erstellenden GemeinsamenBeschäftigungsbericht darstellen werden. Im Herbst 2004 wird die Kommissi-on ein ehrgeiziges neues Programm „Gegenseitiges Lernen“ starten, das sich

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auf den Austausch bewährter Methoden und die Verbreitung der Erfahrungmit der EBS, einschließlich auf regionaler Ebene, konzentriert.

Zusammen mit einer besseren Verbindung mit der Nutzung der EU-Finanz-mittel, insbesondere dem Europäischen Sozialfond, können die stärkeren EU-Empfehlungen und das verstärkte Programm „Gegenseitiges Lernen“ die Euro-päische Beschäftigungsstrategie neu dynamisieren, eine Strategie, die die na-tionalen Parlamente voll miteinbezieht, die Sozialpartner, anderen Akteure undReformpartnerschaften fördert; eine Strategie, die eine Schlüsselkomponenteder Partnerschaft des Wechsels bilden wird, wie vor kurzem von den Europäi-schen Sozialpartnern angekündigt wurde

Erste umfassende Stellungnahme der Kommission zum ThemaAlterung bereits im Jahr 1999

Die Reaktion Europas auf die Alterung der Weltbevölkerung ist ein Beitrag derEuropäischen Kommission zur 2. Weltkonferenz über das Altern - (Mitteilungder Kommission an den Rat) KOM (2002) 143 endg. (18.3.2002) überschrieben.

Diese Mitteilung der Europäischen Kommission „Ein Europa für alle Alters-gruppen - Wohlstand und Solidarität zwischen den Generationen“ geht derFrage nach, welche Herausforderung diese Veränderung in der Altersstrukturder europäischen Bevölkerung für die Wirtschafts- und Sozialpolitik der EUdarstellt – Kernpunkte sind:

· Anpassung an die Altersentwicklung am Arbeitsplatz und auf dem Ar-beitsmarkt durch die Förderung des aktiven Alterns und der Chancengleich-heit;

· Anpassung an die Altersentwicklung bei Renten und Pensionen durch dieAnhebung des tatsächlichen Rentenalters, Gestaltung der Rentensystemein einer Weise, dass sie weniger empfindlich auf den demografischen Wan-del reagieren, Sicherung eines angemessenen Alterseinkommens und

- Anpassung an den durch die Altersentwicklung bedingten Bedarf an ge-sundheitlicher Versorgung und Pflege durch die Förderung eines Alterns,gesünderen Sicherstellung des gleichberechtigten Zugangs zur medizini-schen Versorgung für alle Altersgruppen, Gewährleistung eines angemes-senen Angebots qualitativ hochwertiger Pflege für hochbetagte/gebrech-liche Menschen und Förderung der Rolle der Rehabilitation.

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Studie zu den Auswirkungen der Bevölkerungsalterung (2002)

Die Studie zeigte, dass die Lissabon-Ziele der Schlüssel sein können, um dieAuswirkungen der Bevölkerungsalterung abzufangen.Die Bevölkerungsalterung wird zu einem Anstieg der Einkommens-ungleichheit und der Armut in der EU führen. Laut einem neuen Berichtkönnen die Mitgliedstaaten diese Auswirkungen jedoch gering halten, wennsie die Beschäftigungsziele der Lissabonner Agenda erreichen. Der für dieEuropäische Kommission erstellte Bericht untersucht, wie sich die Überalte-rung in sechs europäischen Ländern (Niederlande, Deutschland, Frankreich,Italien, Vereinigtes Königreich und Dänemark) bis zum Jahr 2025 auswir-ken könnte.

Beinahe alle europäischen Länder erleben eine Überalterung ihrer Bevölke-rung. Da Menschen in Pension im Allgemeinen über ein niedrigeres Einkom-men verfügen als Erwerbstätige, wird die Überalterung in den nächsten 20Jahren eine leichte Zunahme der Einkommensungleichheit in Europa bewirken.Mehr Menschen mit geringerem Einkommen bedeuten wiederum höhere Armuts-quoten. Wenn jedoch alle EU-Mitgliedstaaten die Beschäftigungsziele der Lis-sabonner Agenda bis 2010 erreichen, lassen sich die Auswirkungen abfangen.Personen, die länger arbeiten, erwerben höhere Ansprüche und erhalten einehöhere Pension. Tatsächlich würde in Ländern wie Frankreich und Italien einehöhere Erwerbsbeteiligung die Einkommensungleichheit und die Armutsquotesogar senken. Für Länder wie z. B. die Niederlande, ist das Ziel für ältereArbeitnehmer/innen sogar besonders relevant, da im Jahr 2000 nur 38 % (derüber-55-Jährigen) erwerbstätig waren.

Als Alternative könnten die Mitgliedstaaten die Pensionen senken. Das würdezu höherer finanzieller Nachhaltigkeit bei den Sozialsystemen und den Pensio-nen führen, aber auch die Einkommensungleichheit und die Armutsquote wei-ter ansteigen lassen. Gemäß diesem Szenario würde die Armutsquote im Verei-nigten Königreich von 19,3 % im Jahr 2000 auf 20,6 % im Jahr 2005 klettern.

Die Studie geht davon aus, dass bei gleich bleibenden Bedingungen die Armuts-quote in den Niederlanden von 10,8 % im Jahr 2000 auf 11,6 % im Jahr 2025ansteigen würde. Lediglich in Italien würde die Quote von 18,5 % auf 17,6 %sinken.

Demografischer Wandel und Arbeitsmarkt

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Die Studie hat sich mit verschiedenen Modellen des Sozialstaates in der EUbefasst und versucht herauszufinden, welches die Auswirkungen derBevölkerungsalterung am besten abfedern kann. Die Studie fand folgendefünf Modelle:· das skandinavische Modell, das stark auf die Erhöhung der

Erwerbsbeteilung ausgerichtet ist: Praktisch alle Frauen arbeiten Vollzeitund das Pensionsantrittsalter ist relativ hoch.

· das angelsächsische Modell, bei dem sich die Leistungen darauf beschrän-ken, das Abgleiten in die Armut zu verhindern;

· das mediterrane Modell, das meist ein eher großzügiges Pensionssystemvorsieht, aber kaum Vorkehrungen für nicht im Ruhestand befindliche Per-sonen trifft;

· das kontinentale Modell, das sehr gute Vorkehrungen für Beschäftigte trifft,wobei vielfach das Bild vom Familienalleinerhalter zugrunde gelegt wird,und das zur Frühpension animiert.

· das Hybridmodell, wie das von den Niederlanden übernommene, kombi-niert kontinentale mit skandinavischen Elementen.

Die Studie kommt zum Schluss, dass das „skandinavische Modell“ der besteSchutz gegen steigende Einkommensungleichheit und Armutsquoten sei. Kämedieses Modell zur Anwendung, läge die dänische Armutsquote im Jahr 2025noch unter der von 2000.

Allerdings eignet sich dieses Modell nicht für alle Mitgliedstaaten. In einigenLändern sind die Finanzierungsprobleme des Sozialsystems einfach zu groß,während in anderen die nötige Steigerung der Erwerbsbeteiligung unrealis-tisch erscheint.

Bericht zur sozialen Lage der Union (2004)

Um die Entwicklung von vergleichenden Analysen, den Meinungsaustauschund die Erfahrungen auf der EU-Ebene zu fördern, unterstützt die EuropäischeKommission ein jährliches Studienprogramm zu spezifischen sozialen und de-mografischen Fragestellungen und finanziert auch das Europäische Observa-torium über die soziale Situation, die Demografie und die Familie. Darüberhinaus führt die Kommission eigene Analysen zu besonders wichtigen sozia-len und demographischen Fragen durch, wie zum Beispiel zu den Themen„Alterung“, „Wanderungen“ und zur Wechselwirkung zwischen sozio-ökono-mischen Entwicklungen und der Sozialpolitik.

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Da die Alterung und das langsamere Wachstum der Bevölkerung die Alterspy-ramide in immer rasanterem Tempo verändern, gewinnt die Demografie immermehr an Bedeutung. Die Folgen dieser gravierenden Verschiebung der Alters-pyramide nach oben werden sich für viele Einrichtungen auf eine viel ältereBevölkerung bis zur Mitte des Jahrhunderts bemerkbar. Ob es nun um Sozial-schutz, Beschäftigung, Gesundheit, Wanderungen oder Strukturpolitik geht,die demografische Variable ist ein wesentlicher Faktor bei der Analyse vonwirtschaftlichen und sozialen Fragen und bei der Entwicklung von geeignetenpolitischen Maßnahmen. Die im März 2000 eingeleitete Lissabonner Strategiewidmete der demografischen Herausforderung besondere Aufmerksamkeit beider Festlegung eines mittelfristigen strategischen Ansatzes für Wirtschafts-wachstum und sozialen Zusammenhalt.

Der Bericht macht deutlich, dass alle 25 Mitgliedstaaten – ungeachtet ihrerUnterschiede – im Wesentlichen denselben sozialen Werten und Anliegenverhaftet sind und vor denselben großen Herausforderungen im Zusammen-hang mit der Bevölkerungsalterung, der schrumpfenden Erwerbsbevölkerungund der notwendigen Reform der Renten- und Gesundheitssysteme stehen.Der Beitritt der zehn neuen Mitgliedstaaten im Mai 2004 wird keine Umkehrungdes Alterungsprozesses in der Union bewirken. Obgleich die Bevölkerungdieser Länder jünger ist als in EU-15, herrschten auch dort im letzten Jahrzehntniedrige Fertilitätsraten und die demografische Struktur wird sich derjenigenvon EU-15 angleichen.

Strategievorschläge

Im Strategiepapier vom März 2004 stellt die Kommission fest:

Bis 2010 ist es nötig rund 15 Mio. neue Arbeitsplätzen zu schaffen (70% Quote)- dies ist ohne die verstärkte Einbeziehung Älterer nicht möglich. Als wichtigs-te Voraussetzungen für eine Steigerung der Erwerbsquoten älterer Arbeitneh-mer werden genannt:

· Angemessene finanzielle Anreize· Fortgesetzter Zugang zur beruflichen Bildung· Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz· Flexible Formen der Arbeitsorganisation· Eine wirksame Arbeitsmarktpolitik· Höhere Qualität der Arbeit

Demografischer Wandel und Arbeitsmarkt

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Im Bericht zur sozialen Lage der Union von 2004 wird ein integrierter Politikan-satz favorisiert, denn:· Alterung und langsameres Wachstum der Bevölkerung verändern die Al-

terspyramide in immer rasanterem Tempo· Ob es um Sozialschutz, Beschäftigung, Gesundheit, Wanderungen oder

Strukturpolitik geht - die demografische Variable ist ein wesentlicher Faktorbei der Analyse von wirtschaftlichen und sozialen Fragen und bei der Ent-wicklung von geeigneten politischen Maßnahmen

· Die im März 2000 eingeleitete Lissabonner Strategie widmete der demogra-fischen Herausforderung besondere Aufmerksamkeit bei der Festlegungeines mittelfristigen strategischen Ansatzes für Wirtschaftswachstum undsozialen Zusammenhalt

Da:

· alle 25 Mitgliedstaaten – ungeachtet ihrer Unterschiede – im Wesentlichendenselben sozialen Werten und Anliegen verhaftet sind,

· alle 25 Mitgliedstaaten vor denselben großen Herausforderungen im Zu-sammenhang mit der Bevölkerungsalterung und der schrumpfendenErwerbsbevölkerung stehen,

· alle 25 Mitgliedstaaten vor notwendigen Reformen der Renten- undGesundheitssysteme stehen,

werden im Bericht als wesentliche politische Orientierungslinien und Ausrich-tung der EBS herausgearbeitet:

· Verlängerung des Erwerbslebens, lebenslanges Lernen, Bewältigung deswirtschaftlichen Strukturwandels

· Reform der sozialen Sicherungssysteme· Förderung der sozialen Eingliederung· Schaffung der notwendigen Voraussetzungen, damit die Paare in Europa

alle vorhandenen Kinderwünsche realisieren können· Entwicklung einer Europäischen Zuwanderungspolitik

Als gemeinsame Arbeitsfelder aller EU Staaten für die Sozialagenda werdenbenannt:

· Verbesserung des Beitrags der Sozialpolitik zu Wachstum, Wettbewerbs-fähigkeit und sozialem Zusammenhalt

Dialog Nr. 18 · Stiftung Demokratie Saarland

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· Verlängerung des Erwerbslebens, Erhöhung der Beschäftigungsquote vonFrauen und Jugendlichen

· Förderung der sozialen Eingliederung sowie Investitionen in Kinder undJugendliche

· Entwicklung einer neuen demografischen Dynamik· Förderung einer effektiven Regelung der sozialen Belange in ganz Europa

Konkret zum Thema Demografie wird vorgeschlagen:

Ausarbeitung einer Europäischen Zuwanderungspolitik, u. a. mit:

- Zielgerichteter Anwerbung- Festlegung von Auswahlkriterien- Ausarbeitung einer Integrationspolitik- Zusammenarbeit mit Drittländern

Sowie die Schaffung optimaler Bedingungen für die Realisierung von Kinder-wünschen – zur Erhöhung der Geburtenrate wird u. a. vorgeschlagen:

- Ermutigung von Frauen sich am Erwerbslebenzu beteiligen

- Angebot guter und bezahlbarerKinderbetreuungseinrichtungen

- Förderung der gleichmäßigen Verteilungvon Familien- und Betreuungsaufgaben bei Paaren

Demografischer Wandel und Arbeitsmarkt

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Berufliche Qualifizierung vonMigrantInnen – Soziale Last oder

Gewinn?Dr. Wolfgang Sieber

Einleitung

Ich möchte in meinem Vortrag drei Themenstränge behandeln:

· Die demographischen Entwicklung und die regionale Entwicklung in mit-telfristiger Perspektive

· Aktuelle und in naher Zukunft absehbare Ausgrenzungstendenzen vonMigrantInnen

· Handlungsleitende Erkenntnisse aus Projektförderungen

In der Darstellung werden zwei Fragestellungen besonders berücksichtigt:

Erstens warum es zielführender ist, von ausschließlichen Defizitsichtweisen inBezug auf Migrationsbewegungen bzw. MigrantInnen und Migranten wegzu-kommen und statt dessen eine ressourcenorientierte Haltung und Sichtweiseeinzunehmen.Zweitens warum die regionale Ebene nicht nur eine statistische Größe ist,sondern eine zentrale soziale und institutionelle Handlungsebene.

Die demographische Entwicklung in OWL in mittelfristigerPerspektive

Ostwestfalen-Lippe setzt sich aus sechs Kreisen und der kreisfreien StadtBielefeld zusammen, hat 2.071.845 Einwohner, umfasst 6.500 Quadratkilometerund ist deckungsgleich mit Nordrhein-Westfalens nordöstlichem Regierungs-bezirk Detmold.Zum Vergleich: das Saarland hat auf einer Fläche von 2.570 Quadratkilometernrd. 1.061.000 Einwohner.

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Grundinformationen zu Ostwestfalen-Lippe:

2.071.845 EinwohnerInnen 331.495 MigrantInnen 686.451 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte 100.000 Arbeitslose

Quelle: Statistisches Landesamt Nordrhein-Westfalen

Institutioneller Zuschnitt in Ostwestfalen-Lippe:

· 1 Bezirksregierung· 6 Kreise und kreisfreie Stadt, 72 Städte und Gemeinden· 2 Industrie- und Handelskammern, 1 Handwerkskammer· 4 Arbeitsagenturen, 6 Arbeitsgemeinschaften, 1 optierender Kreis

Die Bevölkerungszahl ist zwischen 1987 und 2003 um 277.525 EinwohnerInnengestiegen. Dieser Anstieg ist zu fast 100 Prozent (96,5%) auf Wanderungs-gewinne zurückzuführen, wobei der Zuzug von AussiedlerInnen (+ 165.795) anallererster Stelle steht. Der Wanderungsgewinn von AusländerInnen liegt bei+ 28-970.

Demographische Entwicklung in Ostwestfalen-Lippe 1987 - 2003:

· insgesamt + 267.773 (15%)· AussiedlerInnen + 165.795· AusländerInnen + 28.970· Wachstumsprognose bis 2020 + 50.000

Quelle: Bezirksregierung Detmold 2004

Die Bevölkerungsstruktur weist einen AusssiedlerInnenanteil von über 8 %und einen AusländerInnenanteil von 7,7 % auf. Nicht berücksichtigt sind hierdie eingebürgerten AusländerInnen. Der MigrantInnenanteil ist in OWL mitca. 16% etwas höher als in Nordrhein-Westfalen und deutlich höher als inDeutschland insgesamt. In der Großstadt Bielefeld liegt der MigrantInnenanteilvergleichsweise höher als im Durchschnitt der Region. In einigen Quartierenist von einem MigrantInnenanteil von ca. 40 % auszugehen.

Demografischer Wandel und Arbeitsmarkt

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Bevölkerungsstruktur in OWL 2003

· AussiedlerInnenanteil über 8 %· AusländerInnenanteil 7,7 %· Insgesamt ca. 16 %· Deutschland 12,5 %

Quelle: Bezirksregierung Detmold 2004

U.A. aufgrund dieser Bevölkerungsstruktur erwartet Ostwestfalen-Lippe auchin Zukunft steigende Einwohnerzahlen. Die Bevölkerungsprognose der Bezirks-regierung Detmold zeigt, dass die Einwohnerzahl bis zum Jahr 2020 auf 2,12Mio. ansteigen wird. Dieselbe Studie geht davon aus, dass die Region im Jahr2020 eine der jüngsten in ganz Deutschland sein wird, auch dies eine Folge derZuwanderung. Während in ganz Deutschland im Jahr 2020 28,7 % der Bevölke-rung unter 20 Jahre alt sein werden, sind es in Ostwestfalen-Lippe 33,1%.

Hervorragende Zukunftsaussichten für Ostwestfalen-Lippe, möchte man mei-nen. In der Studie des Berlin-Instituts zur demographischen Zukunft der Nati-on „Deutschland 2020“ wird die demographische Zukunftsfähigkeit derSchlüsselbegriff zur Beurteilung der Entwicklungschancen von Regionen.Auch die Studie der Bezirksregierung Detmold kommt zu einem ähnlichenSchluss, allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung: „Das demogra-phische Wachstumspotential, kann nur dann das regionale Wachstum positivbeeinflussen, wenn die soziale Integration der Migranten gelingt.“ BRDT 2004

Die soziale Integration ist untrennbar verbunden mit der Integration in denArbeitsmarkt, der beruflichen Integration. Einige Entwicklungen am Arbeits-markt sind jedoch so besorgniserregend, dass die regionalen Entwicklungs-chancen gefährdet scheinen.

Aktuelle Ausgrenzungstendenzen von MigrantInnen aus Arbeitsmarktund Gesellschaft

Die Arbeitslosigkeit von MigrantInnen ist in Ostwestfalen-Lippe mindestensdoppelt so hoch wie die des Durchschnitts und steigt wesentlich rascher anals die der Mehrheitsbevölkerung. Im Vergleich zum nordrhein-westfälischenDurchschnitt steigt sie teilweise fast doppelt so schnell an. Bekanntlich ver-

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hüllt die Statistik noch so einiges. Nicht erfasst in den Daten sindAussiedlerInnen sowie Eingebürgerte.

Die Arbeitslosigkeit von AusländerInnen in den Arbeitsamtsbezirken in Ost-westfalen-Lippe (Bielefeld, Herford, Paderborn und Lippe) lag im Oktober 2004bei 25 %, der Anteil der AusländerInnen an der Wohnbevölkerung bei 8 %. DieArbeitslosenquote für alle zivilen Erwerbspersonen lag bei 11 %.

Entwicklung der Arbeitslosigkeit von AusländerInnen 1993 – 2003

· Land NRW + 50 %· Ostwestfalen-Lippe + 80 %· Stadt Bielefeld + 92 %

Quelle: Landesdatenbank Nordrhein-Westfalen

Der Begriff der Arbeitslosigkeit ist nicht aussagekräftig genug, um dieArbeitsmarktferne und den Grad der sozialen Ausgrenzung eines Großteilsdieser Gruppe – arbeitslose MigrantInnen – zu beschreiben. Ein Blick auf dieKerngruppe der zukünftigen ALG II-Beziehenden, die erwerbsfähigen Sozialhilfe-beziehenden in der Stadt Bielefeld, zeigt folgendes Profil:

· 35,1 % aller Hilfe zum Lebensunterhalt Beziehenden sind ausländischerHerkunft. Das ist das Dreifache, gemessen am Bevölkerungsanteil.

· 27,7 % der ausländischen Hilfe zum Lebensunterhalt Beziehenden habenkeinen Schulabschluss, zusätzlich haben 13 % keinen anerkannten Schul-abschluss.

· 63,4 % der ausländischen Hilfe zum Lebensunterhalt Beziehenden habenkeinen Berufsabschluss, 12,4% haben keinen anerkannten Berufsabschluss.

Quelle: Stadt Bielefeld

Was sind die Ursachen?

Teilweise liegen sie in der Entwicklung der Wirtschaftsstruktur begründet. Derklassische Arbeitsmarkt für MigrantInnen – ungelernte Helfertätigkeiten imverarbeitenden Gewerbe- ist stark rückläufig. Der Anteil der AusländerInnenan diesen Arbeitsplätzen liegt bei ca. 25 %.

Demografischer Wandel und Arbeitsmarkt

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Die Hoffnung auf die Besetzung höherwertiger Arbeitsplätze ist insofern trü-gerisch, als diese ein hohes Maß an formaler Qualifikation verlangen und/oderin starker Weise auf Kommunikation basieren, also Sprachbeherrschung inWort und Schrift voraussetzen..

Die Dienstleistungsgesellschaft bringt Jobs hervor, die vor allem auch immerkommunikationsorientiert sind, so dass Sprache neben fachlichen Qualifikati-onen eine zentrale Voraussetzung ist.

Nicht eingegangen werden kann in diesem Zusammenhang auf die erheblichsinkende Erwerbsbeteiligung von MigrantInnen. Bei AusländerInnen insgesamtund bei TürkInnen im Besonderen ist sie bundesweit zwischen 1982 und 1998um dramatische 13 Prozentpunkte zurückgegangen (IAB 2000:7)

Kerndaten zu Ausgrenzungstendenzen

· 25 % Arbeitslosenquote von AusländerInnen· 35 % Sozialhilfequote von AusländerInnen· 61 % Anteil von SchülerInnen mit Migrationshintergrund an Hauptschulen

(Bielefeld)· 39 % Anteil von SchülerInnen mit Migrationshintergrund an Sonderschu-

len (Bielefeld)

Quelle: diverse

In einer vielbeachteten Studie hat Elmar Hönekopp (2003:17 ff.) vom Institutfür Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit nachge-wiesen, dass der Bildungsabstand von MigrantInnen aus dem HerkunftslandTürkei gegenüber der Mehrheitsbevölkerung im Lauf der Jahrzehnte gleich-geblieben ist. Dies wird auch durch eine regionale Studie aus Ostwestfalen-Lippe belegt. In den Haupt- und Sonderschulen ist der Anteil der SchülerInnenmit Migrationshintergrund besonders hoch. In Bielefeld fallen besonders diehohen Werte der MigrantInnen an den Hauptschulen (61,1%) und an denSonderschulen (39%) auf.

Handlungsansätze

Nach dieser düsteren Skizze der Entwicklung auf dem regionalen Arbeitsmarktfragt man sich, wo überhaupt Handlungsansätze für die arbeitsmarktpolitische

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Förderung liegen können, die die berufliche Situation von MigrantInnen nach-haltig zu verbessern in der Lage sind. Mit den im Folgenden skizziertenHandlungsansätzen soll keinesfalls der Eindruck erweckt werden, es handelesich dabei um Patentrezepte. Gerade jetzt in der aktuellen „heißen Phase“ derbundesdeutschen Migrationsdebatte kommt so mancher „großer Wurf“ daher,der die nötige Differenziertheit vermissen lässt. Bei den dargestelltenHandlungsansätzen handelt es sich vielmehr um Spuren, deren Verfolgunglohnenswert erscheint.

· Keine migrantenspezifische Qualifizierungsmaßnahmen

Nicht gemeint sind Maßnahmen der Sprachförderung. Die Erfahrung mit denoben erwähnten ESF-kofinanzierten Maßnahmen in Ostwestfalen-Lippe zeigt,dass die Zusammenfassung von MigrantInnen in speziellen Kursen in vielerleiHinsicht das Gegenteil dessen bewirkt, was beabsichtigt war. Statt bei derMehrheit für migrationsspezifische Fragen und Probleme zu sensibilisierenund Migration als eine Querschnittsthema zu behandeln, wird suggeriert, aufdiese Weise vermeintliche migrationsspezifische Defizite beseitigen zu kön-nen. In der Folge bleiben MigrantInnen in den Maßnahmen unter sich. Auchdie Kommunikation findet weiterhin in den Muttersprachen statt, manchmallernen Türken Russisch und umgekehrt.

· Netzwerke, z.B. BQN (berufliche Qualifizierungsnetzwerke)

Erfolgversprechender ist es daher, die Akteure für die berufliche Aus- undWeiterbildung insgesamt für Problemlösungsansätze und Formen des Um-gangs mit der Zielgruppe anzusprechen und das entsprechende Know-how indie Institutionen hineinzutragen und dort dauerhaft zu verankern. Migrationwird so zum Querschnittsthema für berufliche Aus- und Weiterbildung. (Kon-takt BQN Ostwestfalen-Lippe, MOZAIK gGmbH 0521/96682-0)

· Vorgelagerte Selbsthilfenetzwerke und systematische Entwicklung ehren-amtlicher Unterstützungsstrukturen, z.B. das Modellprojekt „MigrantInnenunterstützen MigrantInnen“

Da es oft am Informationsfluss zwischen den Institutionen der Mehrheits-gesellschaft und den „communities“ der Minderheiten mangelt, werden beidiesem Ansatz die traditionellen „Komm-Strukturen“ der Beratung (Arbeits-

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markt und Sozialberatung) durch Geh-Strukturen ergänzt. Dies geschiehtteilweise in Form von Organisation von Selbsthilfestrukturen, die durch Insti-tutionen betreut werden. Ein neuer Ansatz sind Netzwerke vonIntegrationshelferInnen und PatInnen mit Migrationshintergrund, die ehren-amtlich tätig sind und professionell betreut und qualifiziert werden (u.a. durchWohlfahrtsverbände). Ein Beispiel: in einem EQUAL-Projekt in Ostwestfalen-Lippe („MigrantInnen integrieren MigrantInnen) haben 40 Ehrenamtliche ineinem Zeittraum von zwei Jahren weit über 400 Personen unterschiedlichsterNationalität begleitet und beraten. Kontakt (AWO Bezirksverband OWL 0573294 95 53)

· Fallmanagement Sprache

Im Kreis Herford wurde nach unbefriedigenden Erfahrungen in den Sprach-kursen – meist fanden sich in den einzelnen Kursen Menschen mit so unter-schiedlichem Sprachniveaus, dass eine effektive Sprachförderung nicht mög-lich war – das Modell Fallmanagement Sprache entwickelt. In Absprache mitder Beschäftigungsberatung und weiteren Akteuren vor Ort erfolgt nach ei-nem Sprachstandstest und einer individuellen Bedarfsfeststellung hinsicht-lich Sprachförderung die Zuordnung in eine passende Sprachfördermaßnahme.Dies wird zentral und trägerunabhängig durchgeführt. Hierbei soll versuchtwerden, auf Bildungshintergründe, Lernbedürfnisse und -möglichkeiten ein-zugehen, aber gleichzeitig auch den Integrationsanforderungen der Mehrheits-gesellschaft Rechnung zu tragen.

Durch engen Kontakt und regelmäßigen Austausch mit den Lehrkräften undden sozialpädagogischen Begleitkräften erfahren die MigrantInnen währendder Maßnahme eine intensive Begleitung, so dass Probleme und Lern-hemmnisse zeitnah erkannt und beseitigt werden können und die LernerInnendie Förderung erfahren, die sie brauchen. In der Nachbetreuung wird unterZuhilfenahme der ausführlichen individuellen Beurteilungen der KursleiterInnengemeinsam mit der Beschäftigungsberatung, den Fallmanagern im Sozialamtund den MigrantInnen selbst über den weiteren Weg gesprochen und ent-schieden (z.B. weiterführende Sprachfördermaßnahme, weiterführende beruf-liche Maßnahme, Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt), so dass man voneiner individuellen Berufswegeplanung unter Einbezug einer individuellen Ein-schätzung des Sprachstandes bzw. einer Empfehlung zur Sprachförderungsprechen kann.

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Durch einen regelmäßigen Austausch der Träger und der KursleiterInnen ha-ben die Sprachfördermaßnahmen im Kreis Herford eine Weiterentwicklung inden Bereichen

- Handlungsorientierung,- Praxisnähe,- Lernen lernen,- ganzheitlichem Lernen,- Motivationsförderung

erfahren, was an den Ergebnissen der einzelnen Lernenden als auch der Mög-lichkeiten, sie in ersten oder zweiten Arbeitsmarkt zu integrieren, deutlich zumerken ist. Eines der Highlights in den letzten Wochen war die Durchführungder internationalen Sprachenfestes, auf dem alle Teilnehmenden derarbeitsmarktorientierten Sprachkurse Gelegenheit hatten, sich zu mit kleinenSketchen, Musikstücken, Tanzeinlagen usw. zu präsentieren. (Kontakt: DieChance gGmbH 05221 131447)

· Individuelle Sprachförderung mit in Kombination mit berufspraktischenAnteilen

Traditionelle sprachliche Qualifizierungsansätze gehen oft an MigrantInnenvorbei, da es sich nicht selten um lernungewohnte oder (aufgrund der langen

Zeit, die sie schon in Arbeit im Heimatland ver-bracht haben) lernentwöhnt sind. Keine Selten-heit ist dadurch das Durchlaufen mehrererSprachkurse ohne nennenswerten sichtbarenErfolg. Dies hängt auch mit der Beibehaltungder Muttersprache in allen außerhalb desSprachkurses liegenden kommunikativen undsozialen Zusammenhängen zusammen, da pri-vate Kontakte der MigrantInnen zur Mehrheits-gesellschaft leider nach wie vor sehr selten sind.

Verallgemeinert formuliert wird an dieser Stellenicht allein das Problem der individuellen Inte-gration in den Arbeitsmarkt deutlich, sondernauch jenes der sozialen Integration vonMinderheitengruppe in die Mehrheitsgesell-

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schaft. Aus der praktischen Arbeit mit MigrantInnen wird häufig das Postulatder Verknüpfung praktischer Arbeit mit Sprachförderung formuliert. DiesesPostulat wird im Projekt aufgenommen und mit einer sozial-integrativen Kom-ponente verknüpft.

Auf sprachlicher Ebene geht es darum, die kommunikative Handlungsfähigkeitder Lernenden auszubauen und zu verbessern. Unterricht und damit jede Formder Qualifizierung/Weiterbildung dient immer der Vorbereitung zur Lebens-bewältigung. Die Lernenden sollen in die Lage versetzt werden, die für sierelevanten Lebensräume zu kontrollieren, das heißt, sich in Situationen desprivaten und beruflichen Alltags angemessen sprachlich verhalten zu können.Dabei ist von vornherein klar, dass dem Erwerb der deutschen Sprache beidieser Zielgruppe Grenzen gesetzt sind. Das Ziel ist daher, dass sie innerhalbund unter Bewusstsein dieser Grenzen im Alltag handlungsfähig(er) werden.Angesichts des Lernhintergrunds der Zielgruppe und der potentiellen Arbeits-felder steht die Verbesserung des hörenden Verstehens und der mündlichenAusdrucksfähigkeit an erster Stelle. Neben dem Erwerb gewisser Grund-kenntnisse geht es auch um die Vermittlung einer spezifischen Arbeitssprachein Verbindung mit einer fachlichen Qualifizierung (z.B. Maler, Mauer, Reini-gung, Hauswirtschaft) (Kontakt: Die Chance gGmbH 05221 131447).

Schluss

„Hat es alles schon gegeben“, werden sich an dieser Stelle alte Hasen derArbeitsmarktpolitik denken. Stimmt, viele dieser Ansätze sind in der einen oderanderen Form natürlich auch schon an anderen Orten umgesetzt worden. Sokommt die BQN-Idee ja auch ursprünglich aus einem Modellprojekt bei derIHK in Köln und wurde mit „Beratungsstelle zur Qualifizierung ausländischerNachwuchskräfte“ übersetzt.

Arbeitsmarkt- und Sozialpolitisch geht es darum, Zuwanderung vom Nischen-zum Querschnittsthema zu machen. Migrationsgesichtspunkte müssen in al-len Aktivitäten arbeitsmarktpolitischer Akteure – Unternehmen und Institutio-nen – berücksichtigt werden, aber auch in den Bereichen der Schul- und Bil-dungspolitik, der Gesundheitspolitik, der Sozialpolitik und der Stadt-entwicklungspolitik.

Den Ansätzen ist die Idee neuer Brückenschläge zwischen Mehrheit und Min-derheiten gemeinsam, der Schwerpunkt liegt auf systematisch entwickelten

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Kommunikationsstrukturen. Hierbei spielen Multiplikatoren sowohl in derMehrheitsgesellschaft als auch in den Minderheitgesellschaften eine entschei-dende Rolle. Voraussetzung ist die Kommunikationsfähigkeit, also die Spra-che.

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Podiumsdiskussion

Im Anschluss an die Vorträge fand eine Podiumsdiskussion statt. Wir habenim Folgenden nur die zentralen Statements des Podiums dokumentiert:

Lothar Gretsch: Die aktive Arbeitsmarkpolitik des Landes hat die Aufgabe imZusammenhang mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel diesen zu begleitenund zu flankieren. Und das nicht nur im Hinblick auf sozialverträgliche Gestal-tung sondern auch im Hinblick darauf, dass Chancen für ArbeitnehmerInnengestärkt und neue Chancen im Rahmen des Strukturwandels wahrgenommenwerden können. Die zweite Säule ist der Ausgleich von Wettbewerbsnach-teilen und Benachteiligungen von bestimmten Zielgruppen. Wir haben im Hin-blick auf die demographische und wirtschaftliche Entwicklung eine ganzeReihe von Verwerfungen die sich an Verkrustungen im Arbeitsmarkt bemerk-bar machen. Als vorderste Probleme haben wir erkannt: Wir haben überdurch-schnittlich viele Langzeitarbeitslosen und wir haben das herauszuhebendeProblem der Jugendarbeitslosigkeit sowie Probleme der Integration von Frau-en in Berufsleben und auch die Integration von Älteren in den Arbeitsmarktund damit verbunden die Erhöhung der Beschäftigungsquote von Älterenstellt ein Problem dar.

Guido Freidinger: Zum Thema Partnerschaft möchte ich noch einmal etwasaufgreifen. Wenn – wie von Herrn Gretsch ja angesprochen – die Kommunenals Partner der Arbeitsmarktpolitikgesehen werden, dann möchte ich meineBitte daran anschließen, dies bei der Förderpolitik zu berücksichtigen. Wennzukünftig Kommunen insbesondere für die Durchführung von qualitativhöherwertigen Maßnahmen – Stichwort „Mehrwert“ und Stichwort„Nachhaltigkeit“ - besondere Aufwendungen haben, dann sollte man Kom-munen so behandeln als würden die Maßnahmen bei einem Dritten durchge-führt. Kommunen als Träger dürfen nicht schlechter gestellt werden als ande-re. Dann sind Kommunen auch bereit und in der Lage, ihre Kompetenzen undihr Erfahrungswissen in den Dienst der Bewältigung des strukturellen unddemografischen Wandels einzubringen. Kommunale Wirtschafts- undArbeitsmarktförderung können hierbei eine wichtige Brückenfunktion über-nehmen

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Hans-Jürgen Kratz: Wir werden nicht politischer, wir müssen politisch den-ken. Wir können gerne eine regionalisierte Arbeitsmarktpolitik betreiben undweg vom Zentralismus gehen. Das heißt: Arbeitsmarktpolitik wird in den Orts-kommunen gemacht. Das gilt, soweit es sich um Beschäftigungsgelegenheitenhandelt. Wir würden auch gerne den Ortskommunen ein Budget zur Verfügungstellen für das sie eine Planungshoheit haben (abgesehen von Genehmigungs-vorbehalten). Viele Regionen haben viel gemacht. Einige Regionen haben we-nig gemacht. Wir hätten hier gerne eine gleichmäßige Arbeitsmarktpolitik. Ne-ben hochwertigen Weiterbildungsmaßnahmen werden wir auchBeschäftigungsgelegenheiten bieten, die ganz weit vom Arbeitsmarkt verorteteArbeitslose auch etwas bieten. Aber was machen wir denn, wenn alle die 30.000Bedarfsgemeinschaften und Arbeitslose in Saarbrücken so fit sind, dass siealle bereit sind, jeden Tag und ab morgen eine Beschäftigung aufzunehmenund der Markt nimmt sie nicht auf?

Werner Müller: Das Thema Arbeitsplatzmangel wird uns zukünftig begleiten.Das zweite Thema wird die Alterstruktur sein. Der Anteil der älteren Arbeitneh-mer, der Mitte der 90er bei 15 Prozent gelegen hat wird je nach Annnahmen biszum Jahre 2020 um ca: 30 Prozent ansteigen. Das Durchschnittsalter lag 1980bei 35 Jahren, ist jetzt bei 40 Jahre wird auf knapp 45 Jahre ansteigen. Wir habengleichzeitig eine Polarisierung bei der Qualität der Arbeitsplätze. Wir habeneinen Zuwachs bei Mini-Jobs und Ich-AGs und einen Rückgang bei den sozial-versicherungspflichtigen Arbeitsplätzen. Wir haben massive Probleme imBildungswesen. Die Zahl der Ausbildungsplätze für Jugendlich reichen beiweitem nicht und wir haben einen Trend zur Höherqualifizierung, der sich auchweiterhin bemerkbar machen wird.

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(v.l.n.r.) Lothar Gretsch, Dr. Morschhäuser, Werner Müller, Guido Freidinger,Dr. Sieber, Hartmut Siemon, Hans Jürgen Kratz

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Der Arbeitskreis alternativeArbeitsmarktpolitik (AKAA)

Ziel des Arbeitskreises alternative Arbeitsmarktpolitik (AKAA) ist die konti-nuierliche Beobachtung der politischen und wissenschaftlichen Diskussionzur Arbeitsmarktpolitik. Durch Publikationen und die Organisation von Veran-staltungen mit Arbeitsmarktexperten sollen Ideen entwickelt werden und kon-krete Forderungen an politisch Verantwortliche erhoben werden.

Bisher hat der AKAA 10 Symposien durchgeführt:

Symposien 1993-2003

• Grenzen von Beschäftigungsmaßnahmen – Auf der Suche nach neuenWegen (1993)

• Arbeitsmarktpolitik in der Offensive? Möglichkeiten der Wiedereingliederung von Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt (1995)

• Arbeitsplätze schaffen. Möglichkeiten einer Verzahnung von Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik (1996)

• Jugend will arbeiten – Mehr Ausbildungs- und Arbeitsplätze für jungeMenschen (1998)

• Beschäftigung für alle – Neue Konzepte in der Arbeitsmarktpolitik (1999)

• Integrative Arbeitsmarktpolitik – Zusammenarbeit ist notwendig (2000)

• Soziale Stadt – Chancen einerganzheitlichen Stadtteilentwicklung (2001)

• Fördern mit Perspektiven, Fordern mit Legitimation (2002)

• Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt – Gewinner und Verlierer(2003)

Weitere Informationen zum AKAA unter www.akaa.de

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Veröffentlichungen des Arbeits-kreisesalternative Arbeitsmarktpolitik

(AKAA)

Grenzen von BeschäftigungsmaßnahmenAuf der Suche nach neuen Wegen, Saarbrücken 1993

Arbeitsmarktpolitik in der Offensive ?Möglichkeiten der Wiedereingliederung von Arbeitslosen in den ersten Ar-beitsmarkt, Saarbrücken 1995

Arbeitsplätze schaffenMöglichkeiten einer Verzahnung von Arbeitsmarkt und Strukturpolitik, Saar-brücken 1996

Jugend will arbeitenMehr Ausbildungs und Arbeitsplätze für junge Menschen, Saarbrücken 1998

Beschäftigung für alleNeue Konzepte in der Arbeitsmarktpolitik, Saarbrücken 1999 (Blattlaus Verlag)

Integrative ArbeitsmarktpolitikZusammenarbeit ist notwendig, Saarbrücken 2000 (Blattlaus Verlag)

Soziale StadtChancen einer ganzheitlichen Stadtteilentwicklung, Saarbrücken 2001 (Blatt-laus-Verlag)

Fördern - mit Perspektiven /Fordern – mit LegitimationSaarbrücken 2002 (Blattlaus-Verlag)

Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt – Gewinner und VerliererSaarbrücken 2004 (Blattlaus-Verlag)

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Referenten

Jürgen Kühl, ehemaliger Abteilungsleiter „Arbeitsmarkt und berufliche Bil-dung“ im Ministerium für Wirtschaft, Technologie und Arbeit des FreistaatsThüringen

Hartmut Siemon, Geschäftsführer bei der BRIDGES Consulting Public Affairs& Management GmbH

Dr. Wolfgang Sieber, ehemaliger Mitarbeiter bei der regionalen Personal-entwicklungsgesellschaft REGE mbH in Bielefeld

Dr. Martina Morschhäuser, wiss. Mitarbeiterin ISO-Institut Saarbrücken

Dialog Nr. 18 · Stiftung Demokratie Saarland

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Anhang:

Schaubilder zum ThemaAlter - Beschäftigungshemnis oder

Potential für den Arbeitsmarkt?

Dr. Martina Morschhäuser

Dr. Martina Morschhäuser vom Saarbrücker Institut für Sozialforschung undSozialwirtschaft (ISO) wirkte in den vergangenen Jahren an mehrerenForschungsprojekten zur Thematik „Älter werden im Betrieb“ mit. Diese Pro-jekte dienen dem Ziel, Arbeit und Personaleinsatz in den Betrieben auf demHintergrund alternder Belegschaften alternsgerecht zu gestalten.

Die Einschätzung, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wenigerleistungsfähig seien als jüngere, ist auf Unternehmensseite so nicht gegeben.Unternehmensbefragungen haben verdeutlicht, dass lediglich hinsichtlich dereinzelnen Leistungsparameter wie beispielsweise körperliche Belastbarkeit oderArbeitsdisziplin bei Älteren und Jüngeren unterschiedliche Stärken und Schwä-chen gesehen werden. Die positive Einschätzung der Leistungspotenziale äl-terer Arbeitskräfte findet im Einstellungsverhalten der Unternehmen kaum Nie-derschlag. Die Einstellungsbereitschaft ist allgemein gering. Einzelne Unter-nehmen, die vom ISO-Institut befragt wurden, haben bewusst ältere Arbeits-suchende eingestellt und mit dieser untypischen Verhaltensweise öffentlicheImagegewinne erzielen können. Doch nicht nur beim Einstellungsverhaltensondern auch beim personalpolitischen Umgang mit älteren Beschäftigtenbesteht in der Wirtschaft erheblicher Handlungsbedarf, damit dieBeschäftigungsfähigkeit Älterer gesichert werden kann.

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