37
Seite 1 von 37 Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am Anfang des 20. Jahr- hunderts Von Friedemann Scriba https://encrypted-tbn1.gstatic.com/images?q=tbn:ANd9GcTp7zGctDH2CcZksUBHtQQ8P4lZd5-2ZJ64Iw3oVGVPGt8VZQzZ5w Abruf: 8.8.2015 Steckbrief: Bedeutung – Erfahrung – Verlauf – Folgen S. 2 A. Der Kriegsausbruch S. 6 1. Umstände 2. Handlungen 3. Wissen / Fähigkeiten 4. Glaubenssätze 5. Identität / Zu- gehörigkeit 6. Spiritualität B. Zum Alltag der Front- soldaten (das Beispiel Westfront) S. 18 C. Zum Alltag im Großen Generalhauptquartier S. 24 D. Zum Alltag in der Hei- mat – Beispiel Großstadt- bewohner S. 31 E. Schluss S. 37

Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

  • Upload
    vudan

  • View
    219

  • Download
    1

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 1 von 37

Der Erste Weltkrieg

Die Katastrophenerfahrung am Anfang des 20. Jahr-hunderts

Von Friedemann Scriba

https://encrypted-tbn1.gstatic.com/images?q=tbn:ANd9GcTp7zGctDH2CcZksUBHtQQ8P4lZd5-2ZJ64Iw3oVGVPGt8VZQzZ5w

Abruf: 8.8.2015

Steckbrief: Bedeutung – Erfahrung – Verlauf – Folgen

S. 2

A. Der Kriegsausbruch

S. 6

1.

Umstände

2.

Handlungen

3.

Wissen /

Fähigkeiten

4.

Glaubenssätze

5.

Identität / Zu-

gehörigkeit

6.

Spiritualität

B. Zum Alltag der Front-

soldaten (das Beispiel

Westfront)

S. 18

C. Zum Alltag im Großen

Generalhauptquartier

S. 24

D. Zum Alltag in der Hei-

mat – Beispiel Großstadt-

bewohner

S. 31

E. Schluss

S. 37

Page 2: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 2 von 37

Bild 1

Schützengraben an der Westfront

Zeitgenössisches Photo

https://www.ndr.de/kultur/geschichte/chronologie/europeana147

_v-contentgross.jpg (Abruf 21.06.2015)

Bild 2

Giftgasangriff an der Westfront

Zeitgenössisches Photo

http://img.welt.de/img/geschichte/crop119504091/31407119

93-ci3x2l-w580-aoriginal-h386-l0/German-infantry-WWI.jpg

(Abruf 21.06.2015)

Steckbrief: Bedeutung – Erfahrung – Verlauf - Fol-gen

Zu klärende Wörter: der Gefallene; der Invalide; die Katastrophe / die Urkatastro-phe; die Rationierung; das Giftgas; der Kadaver; das Trauma; die Krise

Bedeutung:

In Großbritannien, Frankreich und Italien heißt er noch immer: „Der Große Krieg“. Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit 10 Millionen Gefallenen und 7 Millionen Invaliden der bis dahin opferreichste Krieg der Weltgeschichte war. Ähnlich 5

Verheerendes und die Lebensverhältnisse fast aller Menschen Umstürzendes kannte man allenfalls im Mitteleuropa des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648). Manche Bü-cher über den Ersten Weltkrieg betiteln diesen als „Urkatastrophe des 20. Jahrhun-derts“.

Erfahrung: 10

Zeitzeugen vor allem in den Großstädten erinnern sich an die Rationierung von Le-bensmitteln, an den Hunger vor allem im Winter, an Kleidung aus Ersatzstoffen wie Pa-pier, an das Massensterben aufgrund der Spanischen Grippe, an das Verbot, Wohnungen auf mehr als 15° C im Winter zu heizen, und schließlich – vor allem in Deutschland – an die völlige Entwertung ihres Geldes auch in den Nachkriegsjahren. 15

Page 3: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 3 von 37

Bild 3

Warteschlangen vor Milchgeschäft 1917

Zeitgenössisches Photo

http://www.schwiebert.lima-city.de/wp-

content/uploads/2014/09/Warteschlange.jpg (Abruf 21.06.2015)

Bild 4

Massengrab deutscher Soldaten bei Vimy 1917

Zeitgenössisches Photo

http://www.science-at-

ho-

me.net/gallery/history/albums/userpics/normal_Massengrab_Erster

_Weltkrieg.jpg (Abruf 21.06.20159

Ehemalige Soldaten erinnern sich an die ohrenbetäubende Hölle in den Schützengräben (vor allem im heutigen Nord-Frankreich), an die Giftgasangriffe, 20

an die vielen Leichen verstümmelter Kameraden nach einem Angriff, an die Pferdekadaver und an die traumatisier-ten Soldaten, die man damals als „Kriegszitterer“ bezeichnete. 25

Beginn:

Ausgelöst wurde der Erste Weltkrieg im August 1914: Zuvor hatte Ende Juni 1914 ein serbischer Attentäter namens 30

Gavrilo Princip in Sarajevo den österrei-chischen Kronprinzen Franz-Ferdinand und dessen Frau erschossen. Sarajevo lag in Bosnien-Hercegovina, das seit 1908 von Österreich besetzt war. Fieberhafte Bemühungen der Diplomaten der europäi-35

schen Großmächte, einen Kriegsausbruch zu verhindern, scheiterten. Man bezeichnet diese Zeit auch als Julikrise. Schließlich erklärte Österreichs Hauptverbündeter, das Deutsche Reich, am 2. August Frankreich den Krieg. Aufgrund vorher geschlossener Ver-träge zwischen verschiedenen europäischen Großmächten und aufgrund der Beistands-verpflichtungen von Kolonien gegen-40

über ihrem Mutterland weitete sich die-ser südosteuropäische Konflikt zum weltweiten Krieg. Daher spricht man vom „Ersten Weltkrieg“.

45

Page 4: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 4 von 37

Bild 5

http://www.fr-online.de/image/view/2014/5/20/27554886,27547135,highRes,Europa+vor+dem+ersten+Weltkrieg.jpg (Abruf 21.6.2015)

Verlauf:

In diesem Krieg standen sich im Wesentlichen gegenüber: Österreich-Ungarn, Deutschland und das Osmanische Reich als sogenannte Mittelmächte. Frankreich, Eng-land, Russland, ab 1915 Italien als sogenannte „Entente“. Ein Blick auf eine Europakarte 50

jener Zeit zeigt, dass es an den Randgebieten der Mittelmächte verschiedene Kampfge-biete geben würde: Die Mittelmächte waren in gewisser Weise eingekreist.

Hauptkampfgebiete waren Flandern (als sog. Westfront das Gebiet im Süden des heu-tigen Belgiens und im Norden des heutigen Frankreichs), die Südost-Alpen im Grenzge-biet Italien/Slowenien sowie Galizien (die Karpaten heute im Bereich Südost-Polen / 55

West-Ukraine / Nord-Rumänien). Im Verlauf des Krieges sollten sich diese Kampfgebie-te kaum verändern. Keine Seite konnte nennenswerte Gebiete gewinnen.

1917 änderte sich das Gefüge:

1. Russland schied praktisch aus, weil es wegen einer Revolution im Inneren ge-schwächt war und schließlich im März 1918 einen ungünstigen Frieden mit den Mittel-60

mächten abschloss.

2. Die neue große Industriemacht im Westen, die USA, trat auf Seiten der Entente in den Krieg ein.

Page 5: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 5 von 37

Zu Ende ging der Krieg im Herbst 1918: Alle kriegführenden Mächte Europas waren erschöpft und nicht in der Lage, den Krieg weiterzuführen. Österreich und Deutschland 65

baten um Waffenstillstand.

Ergebnis:

Nach den Friedensverhandlungen von 1919 (Pariser Vorortverträge) war unter ande-rem als Ergebnis dieser 4 Jahre Krieg klar:

1. Österreich-Ungarn hatte alle Gebiete seiner alten Vielvölkermonarchie verloren 70

außer dem deutschsprachigen Kernösterreich (etwa die Grenzen von heute).

2. Deutschland blieb als großes Land bestehen, sollte aber als „Alleinschuldiger“ sämtliche Kriegskosten aller bezahlen.

3. Frankreich und England hatten von ihrem Sieg keinen Gewinn, ohne die USA wa-ren die wirtschaftlichen Kriegsfolgen nicht zu bewältigen. 75

4. Im Osten war aus dem russischen Zarenreich die Sowjetunion mit einem völlig neuen politischen System, dem Kommunismus, hervorgegangen.

█ Aufg. 1: Stelle auf einem Fußballfeld graphisch dar, welche Konfliktparteien am Ersten Weltkrieg beteiligt waren. Dabei entsprechen die Bündnisse den Mannschaften und die Länder einzelnen Spielern.

█ Aufg. 2: Fasse das Ergebnis des Krieges graphisch für eine einfache Tafelskizze dar: Dazu setzt Du Deutschland in die Mitte einer vereinfachten Landkarte und notierst die Ergebnisse in die passenden Himmelsrichtungen, z.B. Frankreich südöstlich, also unten links.

Folgen:

Im gesamten 20. Jahrhundert bestimmten die USA und die Sowjetunion das politische Geschehen in Europa – und letztlich auch das Leben der ganz normalen Menschen. Das 80

20. Jahrhundert brachte weitere Kriege (insbesondere den Zweiten Weltkrieg mit fünf-mal so vielen Gefallenen und zivilen Toten wie im Ersten Weltkrieg), Massenflucht und Vertreibung sowie verbrecherische Diktaturen in vielen Ländern Europas – insbesonde-re die Diktatur der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 bis 1945 und die der Kom-munisten in Russland/Sowjetunion 1917 bis 1991. Das 20. Jahrhundert wurde so das 85

opferreichste der Weltgeschichte. Diese Folgen machen klar, warum Historiker seit den 1980er Jahren von der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ sprechen.

█ Aufg. 3: Du hast in einem Radiointerview maximal 1 ½ Minuten Zeit, um dem Pub-likum die Frage zu beantworten: Warum gilt der Erste Weltkrieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts? In Deiner Antwort verwendest Du die wichtigsten Infos dieses Steck-briefes.

Page 6: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 6 von 37

Bild 6

Europa 1920

http://www.westpoint.edu/history/SiteAssets/SitePages/World%20War%20I/WWOne51.jpg (Abruf 21.06.2015)

A. Der Kriegsausbruch

Zu klärende Wörter: der Pazifismus / pazifistisch; in der Öffentlichkeit präsent sein; die Mentalität (z.B. eines Volkes, aber auch eines Menschen, einiger Deiner Lehrer); die Heimatfront

Der Julikrise 1914 waren schon die Balkankriege 1912/13 vorausgegangen, die von der zeitgenössischen Öffentlichkeit als ungewöhnlich grausam empfunden wurden. Pazi-90

fistische Bewegungen hatten in den europäischen Gesellschaften zwar keine Mehrheit, waren aber in der Öffentlichkeit präsent. Die Gefahr eines neuerlichen Krieges war allen bewusst. Dennoch brach 1914 der Erste Weltkrieg aus, der mit 15% Gefallenen und 12% Invaliden bei insgesamt 60 Millionen eingesetzten Soldaten in nur 4 1/2 Jahren der bis dahin opferreichste Krieg der Weltgeschichte war. 95

Dies drängt zur Frage:

Page 7: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 7 von 37

„Warum ist dennoch dieser Krieg ausgebrochen?“ oder – mit stärkerem Blick auf per-sönliche Verantwortlichkeiten – zur Formulierung: „Warum haben die Politiker der Länder diesen Krieg nicht verhindert, sondern in Gang gesetzt?“

Diese Frage löst Anschlussfragen aus: 100

- „Wie kam es zum Ausbruch?“ bzw. „Warum konnte der Ausbruch nicht verhindert werden?“ - „Was machte diesen Krieg noch grausamer als erwartet?“ (mit besonderem Blick auf die Kriegsdauer und die dahintersteckenden Mentalitäten, die Planungen, die Technik und die Einbeziehung der sog. „Heimatfront“ außerhalb der eigentlichen Kampfgebiete) 105

- „Welche Probleme bzw. Erblasten hinterließ der Krieg nach seinem Ende?“

Im Folgenden betrachten wir die damals Handelnden, die Akteure, anhand von sechs Kriterien: 1. Umstände, 2. Handlungen, 3. Wissen und Können, 4. Werthaltungen, 5. Zu-gehörigkeit (manchmal auch Identität genannt) und 6. Religiosität (auch weiter gefasst als Spiritualität bezeichnet). 110

A 1: Umstände:

Welche unveränderbaren Gegebenheiten haben die Akteure (insbesondere Po-

litiker und führende Militärs) damals gesehen?

Welche waren tatsächlich gegeben?

Worterklärungen: der Akteur; der Diplomat; die Marine; die Waffengattung; das Ri-siko vs. die Chance; ein Streit eskaliert; potentiell; die Elite; der Realitätsverlust; die Kä-seglocke; der Schlafwandler

Beeinflusst wurden die Handlungen der führenden Politiker, der Diplomaten und der obersten Offiziere durch verschiedene Faktoren, die sie nicht mehr selbst beeinflussen konnten. In gewisser Weise hielten sie sich in geschlossenen Räumen auf, deren Form und Ausstattung sie nicht mitbestimmen konnten; sie sahen auch kaum, was sich in den Räumen der jeweils Anderen abspielte. 115

Der militärtechnische Faktor war: Alle Länder hatten in den letzten Jahren aufgerüstet und neue, besonders wirksame Waffen gekauft: Eine neue Erfindung für das Heer war das Maschinengewehr, die Marineflotten verfügten über wesentlich größere und schnel-lere Kriegsschiffe, und als dritte Waffengattung gab es nun die Luftwaffe. Die Entschei-dungsträger aller Länder vertrauten auf die Abschreckungskraft und die Leistung der 120

verbesserten Militärtechnologie.

Der außenpolitische Faktor war: In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatten sich im Wesentlichen zwei Bündnissysteme herausgebildet. Innerhalb dieser Bündnissyste-me war der sich daraus ergebende Automatismus klar: Wenn ein Mitglied angegriffen würde, müssten auch die anderen Mitglieder ihre Soldaten aktivieren (Mobilmachung) 125

und dem Angreifer den Krieg erklären. Jeder Akteur wusste also, dass das Attentat von Sarajevo ganz schnell diesen Automatismus auslösen würde. Während der Julikrise wussten alle, dass zum ersten Mal nach 100 Jahren, also nach den Napoleonischen Krie-gen, eine Eskalation wieder einen gesamteuropäischen Krieg auslösen könnte.

Page 8: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 8 von 37

Bild 7

Kaiser Franz Joseph von Österreich

vor seiner Sommerresidenz in Bad

Ischl

Zeitgenössische kolorierte Postkarte

http://www.antiquepool.at/products/2/2927.jpg

(Abruf 21.06.2015)

Bild 8

Die kaiserliche Yacht „Hohenzollern“ während der

traditionellen Nordland-Tour Wilhelms II. am

21.7.1914

Zeitgenössisches Photo

http://cdn1.spiegel.de/images/image-717090-galleryV9-xjjt.jpg (Abruf

21.6.2015)

Der geographische Faktor war: Aufgrund der Bündnissysteme war klar, dass die Mit-130

telmächte Deutschland und Österreich von potentiellen Kriegsgegnern umgeben waren. Im Osten Russland und Serbien, im Westen Frankreich und England, im Süden evtl. Itali-en. Die Akteure der Mittelmächte wussten, dass eine Eskalation das Risiko eines Mehr-frontenkrieges bringen könnte; für die Akteure der Entente sahen diesen Umstand eher als eine Chance, einen solchen Krieg gewinnen zu können. – Neben dieser allgemeinen 135

Lage der beteiligten Länder konnte man auch die naturräumlichen und klimatischen Ge-gebenheiten möglicher Kampfgebiete nicht einfach ausblenden: Es war von Anfang an klar, dass die Kampfbedingungen an der österreichischen Südfront in den Alpen beson-ders schwierig würden.

Der soziale Faktor war: Die Akteure entstammten fast alle dem Adel oder dem höchs-140

ten Bürgertum. Sie kannten in der Regel nicht die Arbeits- und Lebensbedingungen der Mehrheitsbevölkerung und konnten sich auch nicht wirklich vorstellen, was es heißt, als einfacher Soldat in die Schlacht zu gehen. Die meisten hatten zwar militärische Ausbil-dungen durchlaufen und entsprechende Ideale gelernt, aber kaum noch wirkliche Kriegssituationen erlebt. Deshalb konnten sie ihre nationalistischen und militaristischen 145

Wertvorstellungen nicht durch einen Blick auf die harte Wirklichkeit in Frage stellen. Sie entstammten einer Elite, die gewissermaßen in ihrer Käseglocke lebte und mit entspre-chendem Realitätsverlust in der Julikrise weitreichende Entscheidungen traf – ohne die Folgen wirklich vorausberechnen zu können.

Außerdem gingen die beiden Kaiser der Mittelmächte während der Julikrise auf Ur-150

laubsreise. Deshalb bezeichnete der Historiker Christopher Clark 2013 deshalb die Ak-teure als „Schlafwandler“.

Page 9: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 9 von 37

Also: Den Akteuren aller Seiten waren die objektiven Risiken im Prinzip bekannt; aber sie waren aber zu sehr in altem, der Situation unangemessenem Denken befangen 155

und damit zu passenden Entscheidungen nicht in der Lage. Die Umstände waren zu-gleich extrem gefährlich und die Akteure dem gegenüber zu beschränkt.

█ Aufg. 4: Erkläre, warum der Historiker Clark die Politiker als „Schlafwandler“ be-zeichnet. Recherchiere ggf. auch die Bedeutung dieses Wortes.

█ Aufg. 5: Überlege, ob diese Politiker am Beginn des Ersten Weltkrieges schuld wa-ren.

A 2. Handlungen: Was taten die Politiker, die Medien und die Bevölkerungen in

den beteiligten Ländern?

Zu klärende Wörter: die Diplomatie; der Ehrenkodex; das Ultimatum; die Mobilma-chung; die Kriegserklärung; die Kaskade; der Burgfrieden

Es gab in allen beteiligten Ländern Politiker, die wiederum durch Diplomatie einen Krieg verhindern wollten. Ebenso gab es solche die meinten, dass nur ein Krieg die ver-worrene Situation klären könnte. 160

Das Attentat von Sarajevo verlangte nach damaligem Ehrenkodex, dass der österrei-chische Kaiser Franz-Joseph und seine Regierung stark reagieren mussten. Deswegen rechneten ja auch viele mit einem Krieg. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. bestärkte Ös-terreich zu heftigen Maßnahmen gegenüber Serbien und seinen Verbündeten.

Letztlich setzten Politiker und hohe Militärs aller Länder eine Spirale von Ultimaten, 165

Mobilmachungen und Kriegserklärungen in Gang. Die Ereignisse folgten wie eine Kaska-de aufeinander. Die erste wirkliche Kriegserklärung war die von Deutschland an Russ-land am 1. August 1914.

Politiker und Historiker verschiedener Länder und Zeiten gewichten die Verantwort-lichkeit für den Kriegsausbruch unterschiedlich. In dieser Kriegsschuldfrage gibt es un-170

terschiedliche Gewichtungen in der Spannweite von: „Deutschland ist alleine schuld“, bis zu: „Die Politiker aller Länder waren Schlafwandler“.

1914 Zeitleiste Julikrise

28. Juni Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaars in Sarajewo durch den serbischen Attentäter

Gavrilo Princip, der nach Ansicht der Österreicher im Auftrag, zumindest aber mit eindeutiger

Mitwisserschaft des serbischen Geheimdienstes gehandelt hatte (Attentat von Sarajevo)

5. Juli Der deutsche Kaiser Wilhelm II. sichert Österreich-Ungarn volle deutsche Unterstützung zu.

23. Juli Österreich-Ungarn stellt Serbien ein auf 48 Stunden befristetes Ultimatum (u. a. gefordert:

Page 10: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 10 von 37

Beteiligung österreichischer Beamter bei der Untersuchung des Attentats)

25. Juli Der russische Kronrat beschließt die Unterstützung Serbiens bei einem Angriff Österreichs auf

Serbien. Serbien macht mobil,

28. Juli Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien (erklärt dabei keine territorialen Gewinne auf

Kosten Serbiens machen zu wollen)

29. Juli Russland macht nach Intervention Wilhelms II. unter Verweis auf eine etwaige deutsche Frie-

densvermittlung zunächst nur in vier Militärbezirken mobil (Teilmobilmachung).

30. Juli Zar Alexander II. verfügt die Generalmobilmachung der russischen Armee.

31. Juli Russische Generalmobilmachung wird in Berlin bekannt. Telegramm des deutschen General-stabschefs von Moltke an den Generalstabschef der Österreicher, Conrad von Hötzendorf: Auf-

forderung Österreichs zur vollen Mobilmachung, die dann folgende deutsche Mobilmachung

wird - Wilhelm II. kennt das Telegramm nicht - darin angekündigt; kurzfristige Ultimaten des

Deutschen Reichs an Russland und an Frankreich; Generalmobilmachung Österreich-Ungarns und Belgiens.

1. August Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Russland und deutsche Generalmobilmachung.

Allgemeine Mobilmachung in Frankreich. Italien erklärt sich für neutral.

2. August Deutschland besetzt Luxemburg für den deutschen Aufmarsch gegen Frankreich. Deutsches Ultimatum an Belgien: Freier Durchmarsch für die deutsche Armee durch Belgien. (»Schlieffen-

Plan); Abschluss des deutsch-türkischen Bündnisvertrags

3. August Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Frankreich. (Begründung: unbefriedigende Antwort

auf dt. Ultimatum, angebliche französische Grenzverletzungen und militärische Provokationen).

Britische Mobilmachung und britisches Ultimatum an Deutsches Reich wegen bevorstehenden

deutschen Angriffs auf Belgien, dessen Neutralität seit 1830 auch von Großbritannien garantiert

wird.. Rumänien erklärt sich für neutral.

4. August Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Deutschland durch Großbritannien (= gleichbedeu-

tend mit Kriegserklärung Großbritanniens an das Deutsche Reich. Bewilligung der Kriegskredi-te durch den deutschen Reichstag einschließlich der eigentlich pazifistischen SPD ("Burgfrie-

den").

6. August

1914 bis

16.Oktober

1915

Weitere 21 Kriegserklärungen

• Österreich-Ungarn an Russland. (6.8.1914)

• Serbien an das Deutsche Reich. (6.8.1914)

• Montenegro an Österreich-Ungarn (7.8.1914)

• Montenegro an das Deutsche Reich (12.8.1914)

• Frankreich an Österreich-Ungarn (11.8.1914)

• Großbritannien an Österreich-Ungarn (12.8.1914.)

• Japan an Deutschland (23.8.1914)

• Österreich-Ungarn an Japan (23.8.1914)

• Österreich-Ungarn an Belgien (28.8.1914)

• Montenegro an Bulgarien (15.10.1914)

• Serbien an das Osmanische Reich (29.10.1914)

• Osmanisches Reich an Russland (29.10.1914)

• Osmanisches Reich an Frankreich (29.10.1914)

• Russland an das Osmanische Reich (2.11.1914)

• Großbritannien an das Osmanische Reich (5.11.1914)

• Frankreich an das Osmanische Reich (6.11.1914)

• Italien an Österreich-Ungarn (23.5.1915)

• Italien an Osmanisches Reich (21.8.1915)

• Bulgarien an Serbien (14.10.1915)

• Großbritannien an Bulgarien (15.10.1915)

Page 11: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 11 von 37

Bild 9

Der geplante Vormarsch der deutschen Armeen

gemäß Schlieffenplan

Zeitgenössische französische Graphik

https://s-media-cache-

ak0.pinimg.com/736x/8a/fa/04/8afa046c76a1c6fa3b855e338f1ea2c3.j

pg (Abruf: 21.06.2015)

• Frankreich an Bulgarien (16.10.1915) Anhand von: http://www.teachsam.de/geschichte/ges_deu_1871-1918/ges_deu_erster_weltkrieg/ges_deu_1871-

1918_1WK_6.htm (Abruf: 21.6.2015)

Zulasten Deutschlands wird zusätz-lich angeführt, dass bereits die Vor-kriegsplanungen des sog. 175

Schlieffenplans völkerrechtswidrige Handlungen vorsahen und das Verhal-ten der deutschen Politik während der Julikrise bestimmten. Wie im Schlieffenplan vorgesehen, überfiel 180

Deutschland das neutrale, unbeteiligte Belgien, um leichter im Norden Frank-reichs eine Front zur Eroberung von Paris aufzubauen. Nach der Überrum-pelung Belgiens wurde ein großer Teil 185

der Bevölkerung - entgegen dem in-ternationalen Kriegsrecht - zur Zwangsarbeit genötigt. Außerdem ver-stieß das deutsche Militär gegen die Pflicht zum Schutz von Kulturgütern, 190

als es die berühmte Universitätsbiblio-thek von Löwen in Flammen aufgehen ließ; dabei wurden mittelalterliche Handschriften von Texten, die es nur ein Mal gab, vernichtet. 195

Zur Kriegführung benötigen Politiker auch eine Bevölkerung, die einen Krieg unter-stützt oder zumindest nicht verhindert. Eine Minderheit hatte schon in den Jahren vor dem Krieg gegen Militarismus, Aufrüstung und Kriegsvorbereitung demonstriert. Doch haben diese Pazifisten nie die breite Bevölkerung mobilisieren können. Jedenfalls störte die Bevölkerung nicht die Politiker und Militärs in ihrem Handeln. Oft werden die Be-200

völkerungen im Sinne der damaligen Propaganda als kriegsbegeistert dargestellt: Als Belege dienen zum einen Photos von Straßenszenen jubelnder Menschen und von be-geisterten Soldaten an ihren Transportzügen sowie zum anderen patriotische Texte bürgerlicher junger Männer, die noch keinen Krieg in Wirklichkeit gesehen hatten. Die-ser Propaganda und ihrer Verstärkung durch Presse, Photo- und Plakatkampagnen, 205

Platzkonzerte von Militärkapellen sowie die ersten Wochenschauen in Kinos setzte kaum jemand etwas entgegen.

Doch standen viele (je nach Land in unterschiedlicher Weise) der nationalistischen Begeisterung entfremdet oder distanziert gegenüber – seien es Industriearbeiter in den west- und mitteleuropäischen Großstädten, seien es Bauern in der Einsamkeit der Dör-210

Page 12: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 12 von 37

fer in den östlichen Gebieten des Habsburgerreiches oder in den Weiten Russlands. Dennoch kam es 1914 nur zu wenigen Protest- oder Verweigerungsakten aus der Bevöl-kerung: Spätestens seit den Kriegserklärungen im August, als auch eigentlich pazifisti-sche Politiker sozialistischer Parteien die Kriegspolitik unterstützen, hielten sich fast alle an die Parolen von „Burgfrieden“ oder „Union Sacrée“. D.h.: Sie übernahmen die Vor-215

stellung, die Gemeinschaft ihrer Nation sei nun existenziell bedroht und sie müssten jetzt loyal sein. Oppositionspolitiker und Bevölkerungsmehrheit streuten eben keinen Sand in die anlaufende Kriegsmaschinerie.

█ Aufg. 6: Du hast die Aufgabe, 30 Schuldpunkte in zwei Runden zu verteilen. In der ersten Runde verteilst Du die Anteile auf Politiker, Medien und normale Bevölkerung. In der zweiten Runde verteilst Du die für die Politiker verwendeten Punkte weiter auf die 3 Länder der Mittelmächte und die 4 Länder der Entente. Deine Entscheidung begründest Du jeweils in 1-2 ganzen Sätzen.

A 3. Wissen / Fähigkeiten:

Welche Kompetenzen und Ressourcen bestanden damals, um einen Krieg doch

noch zu verhindern bzw. die Kaskade der Kriegserklärungen und Bündnisfälle zu

stoppen?

Zu klärende Wörter: die Eskalation; die Unfähigkeit zum konsensfähigen Handeln; der Stellungskrieg; die Volkswirtschaft (die europäischen Volkswirtschaften)

Die Entscheidungsträger erwiesen sich in der Regel als der Situation nicht gewach-sen: Sie überschauten die Risiken, die sie eingingen, nicht, sie kannten die tatsächliche 220

Leistungskraft ihrer Armeen nicht und sie hatten z.T. keine brauchbaren Informationen, um eine Entscheidung zu treffen. Dies gilt für alle in die Julikrise verwickelten Länder.

Page 13: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 13 von 37

Text 1: Interview mit dem australisch-britischen Historiker Christopher Clark (*xyz)

[…]

Clark: Der Hamburger Historiker Fritz Fischer hat in den sechziger Jahren die These von der Hauptschuld der 225 Deutschen am Krieg aufgestellt. Sie seien die Verantwortlichen gewesen, weil sie als Einzige den Krieg wirklich gewollt hätten. Noch heute argumentiert zum Beispiel der britische Historiker John C. G. Röhl in diese Rich-tung. So sagt er, dass die Deutschen sogar den Zeitpunkt für den Beginn des Krieges im Vorhinein festgelegt hätten. Wenn man das meint, dann ist das Attentat von Sarajevo natürlich vollkommen unwichtig für die Vorge-schichte des Weltkrieges. 230

Aber ich sehe das anders. Besonders interessant an der Krise im Juli 1914 ist doch, dass sich alle getrieben fühl-ten. Alle meinten, unter Druck von außen zu handeln. Alle meinten, der Krieg werde ihnen von den Gegnern aufgezwungen. Alle trafen jedoch Entscheidungen, die zur Eskalation der Krise beitrugen. Insofern tragen sie auch alle die Verantwortung, nicht nur Deutschland.

[…] 235

Die Krise, die zum Krieg führte, wurde durch einen Terroranschlag ausgelöst. Es sind solche einzelnen, willkür-lichen Akte, die den Lauf der Welt entscheidend beeinflussen können. Durch den 11. September 2001 wurden wir wieder daran erinnert. In der Geschichtsschreibung der siebziger und achtziger Jahre, die unser Bild vom Jahr 1914 nach wie vor prägt, hat man das nicht so gesehen und eher die Strukturen betrachtet. Aber es waren einzelne Taten und einzelne Menschen, die agierten, falsch agierten. Und da muss man eben sagen: Man hätte 240 anders handeln können, man hätte auch gegensteuern können. 1914 ist nicht das Verhängnis von 1815 gewesen, so fatal das Ergebnis des Wiener Kongresses zweifellos war.

ZEIT: Wann hat es 1914 denn noch eine Chance für den Frieden gegeben?

Clark: Nehmen Sie das Abkommen von 1907 zwischen Großbritannien und Russland. Noch im Sommer 1914 spielte London mit dem Gedanken, es aufzukündigen. Es war ja nicht zuletzt zur Beilegung kolonialer Streitig-245 keiten geschlossen worden. Die Russen hörten jedoch nicht auf – so sahen das jedenfalls die Briten –, in Persien, in China und Tibet gegen das alte Übereinkommen zu verstoßen. Ich zeige, dass das System der Vorkriegszeit, das System der zwei Blöcke, also der Triple-Entente zwischen Großbritannien, Russland und Frankreich und des Dreibunds zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien, sehr fragil war und sehr wandlungsfähig. Die Blöcke hätten nicht so bleiben müssen, wie sie waren. 250

[…]

Clark: Die Geschichte kann uns keine Modelle liefern, sie kann uns höchstens Fragen stellen. Als ich das Buch zu Ende schrieb, befanden wir uns tief in der Euro-Krise, und mir fielen einige Gemeinsamkeiten auf. Allein schon die Tatsache, dass alle sich bewusst sind, dass es einen möglichen katastrophalen Ausgang aus der Krise gibt, nämlich das Ende des Euro. Und alle sind sich einig, dass das der schlechtestmögliche Ausgang ist. 255

Aber das gemeinsame Bewusstsein reicht nicht aus, um den Egoismus der einzelnen Handelnden zu disziplinie-ren – ganz im Gegenteil: Jeder versucht, diese Gefahr, die alle bedroht, zum eigenen Vorteil zu nutzen. Zurzeit erscheint die Position der Deutschen nur deswegen so bedrohlich mächtig, weil die Gesamtlage chaotisch ist. Das erinnert tatsächlich an die Krise 1914. Die vollkommene Unfähigkeit zum konsensfähigen Handeln war damals fatal, und ich bin mir nicht sicher, ob Europas politische Intelligenz heute klüger ist. Man sollte sich je-260 des Überlegenheitsgefühl gegenüber den Staatsmännern von einst sparen – es waren natürlich alles Männer!

Aus: http://www.zeit.de/2013/38/interview-erster-weltkrieg-christopher-clark-adam-krzeminski/komplettansicht (Abruf 21.6.2015) Die

Zeit 24.9.2013

Page 14: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 14 von 37

█ Aufg. 7: Das Interview verrät, dass Historiker unterschiedliche Ansichten vertraten. Formuliere in ein bis zwei Sätzen, gegen welche Auffassung sich Clark wendet. Nenne dann die Argumente, mit denen Clark seine Gegner widerlegt. Entscheide schließlich auf einer Punkteskala von 0-10, wie sehr Du Clark zustimmen würdest.

Die industriegesellschaftlichen Länder waren von Klassengegensätzen zerrissen, die Habsburger-Monarchie zusätzlich von starken Nationalitätenkonflikten. In den meisten 265

Ländern durfte allenfalls ein Teil der Männer wählen und so politisch Einfluss nehmen. Die Mehrheit der Bevölkerung, in einigen Ländern fast die gesamte Bevölkerung, war von politischer Mitwirkung durch Wahlen ausgeschlossen. Alle Gesellschaften hatten mehr oder weniger starke Demokratiedefizite; d.h.: zu wenige Bürgerinnen und Bürger, hatten geübt, politisch zu handeln, wirkungsvoll zu protestieren, sich effektiv durch 270

Bürgerinitiativen u.ä. einzumischen. Auch in den Arbeiterparteien waren die Mitglieder nicht stark genug, um sich gegen die Burgfriedenspolitik ihrer Parteiführungen durchzu-setzen.

Die Fähigkeiten von Entscheidungsträgern und von verschiedenen Bevölkerungs-gruppen betten sich ein in die Möglichkeiten, die die Länder aufgrund ihrer Geographie 275

und ihres wirtschaftlichen Entwicklungsstandes nutzen können. So besaßen die europä-ischen Großmächte (in geringerem Maße Russland und das Osmanische Reich) eine in-dustrielle und wissenschaftliche Grundlage, um Kriege mit neuer technischer und orga-nisatorischer Qualität zumindest beginnen zu können. Dass dieses zu den neuen Erfah-rungen des Stellungskrieges an der Westfront, einem gegenüber früheren Kriegen 280

nochmals gesteigerten Massensterben, einer stärkeren Einbeziehung der „Heimatfront“ und der schließlichen Überforderung aller beteiligten europäischen Volkswirtschaften führte, war 1914 für die Zeitgenossen so noch nicht absehbar, gehört also nicht zur Be-antwortung dieser Frage.

285

A 4. Glaubenssätze:

Was dachten die Menschen im Juli 1914 über sich selbst und über ihre Pflich-

ten?

Zu klärende Wörter: die Norm des blinden Gehorsams; die permissive Gesellschaft; die Desertion; die Selbstverstümmelung; der Wertehaushalt; das (soziale) Milieu; das Lazarett; horizontal vs. vertikal; die horizontale Loyalität (gegenüber Mitschülern) vs. die vertikale Loyalität (gegenüber der Lehrkraft und dann gegenüber der Schulleitung)

In allen Ländern und Gesellschaftsschichten dürfte die Norm des blinden Gehorsams gegenüber Älteren und Amtsautoritäten eine für unsere heutigen permissiven Gesell-schaften unvorstellbare Rolle gespielt haben. Dieser Respekt vor Autoritäten dürfte ein wesentliches Hemmnis für Kriegsverhinderung in allem Bevölkerungskreisen darge-stellt haben. Dies gilt für die Beratungen in politischen und militärischen Führungskrei-290

sen ebenso wie für die Befolgung von Einberufungsbefehlen (die vermehrten Fälle von Desertion, Selbstverstümmelung und Protest kamen erst später). Dies gilt insbesondere dann, wenn die Kriegsvorbereitungen durch Predigten nationalistischer und kriegsbeja-

Page 15: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 15 von 37

hender Geistlicher in Kirchen in Kleinstädten und Dörfern zusätzlich gerechtfertigt wur-den. 295

Glaubenssätze und Mentalitäten wurden auch deshalb kaum in Frage gestellt, weil die sozialen Milieus mit ihren Wertehaushalten, mit ihren jeweils verwendeten Wörtern und Verhaltensmustern voneinander stark getrennt waren und sich fast ausschließlich in ihren jeweils geschlossenen Weltbildern bewegten. So kamen Arbeiterkinder kamen kaum mit Bürgerkindern in Berührung, auch in Gebieten mit gemischten Konfessionen 300

(wie in einigen Teilen Deutschlands) gingen katholische, protestantische, orthodoxe und z.T. auch jüdische Kinder getrennt zur Schule. Erst während des späteren Kriegsverlaufs schuf die Unentrinnbarkeit des Schützengrabens und des Lazaretts klassen- und milieu-übergreifende Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen nicht-adeligen Menschen. Die-se neuen Erfahrungen ersetzten z.T. das Ideal des Gehorsams gegenüber Vorgesetzten 305

durch ein anderes: nämlich vor allem innerhalb der kleinen Gruppe im Schützengraben seine Kameraden nicht im Stich zu lassen, also eine horizontale Loyalität anstelle einer vertikalen Autoritätshörigkeit.

█ Aufg. 8: Nimm einmal an, heute gäbe es eine ähnliche Krise wie die Julikrise 1914. Überlege, ob die deutsche Bevölkerung heute wiederum einen Kriegsausbruch hinneh-men oder gar unterstützen würde. Lege Deine Pro- und Contra-Argumente auf eine Waage und entscheide abschließend.

A 5. Identität / Zugehörigkeit: Als was sahen sich die Menschen 1914? Welchen

Gruppen fühlten sie sich zugehörig?

Worterklärungen: die Loyalität; die Nationalisierung der Massen (als langfristiger Prozess); die (bürgerliche) Ideologie

Neben der unter 4. schon genannten Loyalität gegenüber der eigenen Klasse bzw. dem eigenen Milieu muss hier eine schon länger stattgefundene Entwicklung erwähnt 310

werden: In Frankreich, England und Deutschland war die sog. „Nationalisierung der Massen“ ganz oder weitgehend abgeschlossen; d.h.: Auch in der breiteren Bevölkerung bestand ein Bewusstsein dafür, nicht nur der eigenen Familie, Ortsgemeinschaft und regionalen Gruppe anzugehören, sondern auch einer Nation, die dem Land Namen und Kultur gibt. In den Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn, Russland und im Osmanischen 315

Reich waren die nationalen Fragen bereits aufgebrochen oder untergruben zumindest latent die Loyalität von ethnischen Minderheiten gegenüber dem Souverän; denn oft wollten sich kleinere Völker wie etwa Kroaten, Ukrainer, Slowaken oder Polen aus der Vorherrschaft eines anderen wie etwa Russen oder Habsburger-Deutsche befreien. Die Menschen gingen also mit sehr unterschiedlicher Loyalität gegenüber ihrem Staat in den 320

Krieg. Auch dort, wo die Loyalität gegenüber der Staatsnation relativ stark war, konnte sie im weiteren Kriegsverlauf durch andere Loyalitäten (z.B. Klassenloyalität in der Ar-beiterbewegung) in den Hintergrund verdrängt werden.

Page 16: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 16 von 37

Bild 10

Photo von Kriegsgefangenen aus der britischen und französischen

Armee im deutschen Kriegsgefangenenlager Wünsdorf/Zossen bei

Berlin.

Photo durch deutsches Militär

http://www.eslam.de/begriffe/h/images/halbmondlager3.jpg (Abruf: 6.8.2015)

Im Zuge der wissen-schaftlichen Entwick-325

lung der Biologie und ihrer Nutzung durch politische Propaganda waren rassistische Vor-stellungen weit ver-330

breitet – teilweise als bürgerliche Ideologie im Gefolge imperialisti-scher Propaganda, teilweise in „naiver“ 335

Verwendung zur Klassi-fizierung vor allem fremdländisch ausse-hender Menschen. Inso-fern bestimmte eine 340

Zugehörigkeit zur „weißen Rasse“ mit ih-rer angeblichen zivili-satorischen Überlegen-heit die Identität vieler 345

Europäer. Dies sollte im Fortgang des Krieges eine zunehmende Rolle spielen: Es wurden nämlich auf beiden Sei-ten auch Soldaten kolonialer Herkunft eingesetzt, natürlich auch gefangen genommen sowie entsprechend klassifiziert.

█ Aufg. 9: Nimm einmal an, Du vertrittst in einer Talkshow den Verein „Historiker für den Frieden“. Die Talkshow steht unter dem Thema: „Von Rassismus kommt Krieg?“ Formuliere ein zweiminütiges Eingangsstatement zum Thema.

A 6. Spiritualität:

Was trug im Juli 1914 die Menschen in ihrer Lebensbewältigung und wie beein-

flusste dies ihr Handeln?

Zu klärende Wörter: der Feldgeistliche; die Kampfmoral; die Moral stabilisieren; die Sinnerwartung (z.B. „mein Leben hat einen Sinn, weil ich die Welt verbessern kann“); die Religion bleibt, aber ihre Form verändert sich (z.B. Leute glauben weiterhin an Gott, ge-hen aber nicht mehr jeden Sonntag in die Kirche) / der Formwandel von Religiosität

Wie immer in Kriegen, versuchte die politisch-militärische Führungsgruppe religiöse 350

Loyalitäten zu nutzen. Der Einsatz von Feldgeistlichen ist ein seit langem genutztes In-strument, die religiösen Gewohnheiten und Sinnerwartungen der Soldaten im Feld zur

Page 17: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 17 von 37

Bild 11

Feldgeistlicher bei einer Messe für deutsche Soldaten

1917 vor einer Schlacht (Ostfront)

Zeitgenössisches Photo

http://www.abendblatt.de/img/deutschland/crop130891419/4362608272-

w820-cv16_9-q85/Mass-for-Germans-Before-battle.jpg (Abruf 21.06.2015)

Bild 12

Links: Die Statue des deutschen Generalfeldmarschalls Hindenburg auf dem Königsplatz vor Sie-

gessäule und Reichstag in Berlin 1916. Für wenig Geld konnte die Bevölkerung Nägel kaufen und in

die kolossale Holzstatue hämmern. Also produzierte in gewisser Weise das Volk den großen Hel-

den und Anführer Hindenburg.

Rechts: Titelbild des französischen Satiremagazins Le rire rouge. Der Soldat hält in seiner rechten

Hand eine kleine Statue der Siegesgöttin Viktoria. Das Mädchen ist in französischen Farben beklei-

det und steht als „Marianne“ für ganz Frankreich.

http://t2.gstatic.com/images?q=tbn:ANd9GcQ-UQEMXfWDjIEHFHjidI8GE1ipjzKmPzu-tWAMhxYa80PX8BPRQd6NWXIQ (Abruf:

21.06.2015)

Stabilisierung der Kampfmoral zu nutzen. An die religiösen Traditio-nen vor allem der Landbevölkerung 355

wurde dabei angeknüpft.

Gleichzeitig setzte man den Formwandel von Religiosität im 19. Jahrhundert mit der Aufwertung von Nation vor allem in bürgerli-360

chen Kreisen fort, nämlich die In-tegration religiöser Formen und Leitbegriffe in das Weltbild des Na-tionalismus. Die in Deutschland bald einsetzenden Helden- und 365

Hindenburgkulte illustrieren diesen Befund.

Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Friedensgebote der Religi-onen größere Zahlen von Menschen 370

dazu gebracht hätten, die Kriegs-vorbereitungen im Juli 1914 zu boykottieren.

█ Aufg. 9: Manchmal taucht folgende Behauptung auf: „Wenn die Menschen zu Be-

Page 18: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 18 von 37

ginn des 20. Jahrhunderts ihrer Religion und deren Geboten treu geblieben wären, hät-ten sie sich nicht zum Ersten Weltkrieg hinreißen lassen.“ Nimm Stellung in einer Pro-375

Contra-Argumentation.

█ Aufg. 10:

a. Stelle Dir vor, Du wärest einer der führenden Militärs um den deutschen Kaiser gewesen und würdest 10 Jahre nach Kriegsende Deine Memoiren (Lebenserinnerungen) schreiben. Der Buchverlag möchte von Dir einen Klappentext von ca. 500 Wörtern, der Deine Sicht auf den Juli 1914 klar darstellt.

b. Stelle Dir vor, Du wärest einer der führenden Militärs im französischen Kriegsmi-nisterium gewesen und würdest 10 Jahre nach Kriegsende Deine Memoiren (Lebenser-innerungen) schreiben. Der Buchverlag möchte von Dir einen Klappentext von ca. 500 Wörtern, der Deine Sicht auf den Juli 1914 klar darstellt.

c. Stelle Dir vor, Du wärest ein normaler Soldat tschechischer Sprache im Heer des ös-terreichischen Kaisers gewesen und würdest 10 Jahre nach Kriegsende im neuen tsche-chischen Staat für Deine Kinder Lebenserinnerungen notieren. Dazu schreibst Du Dei-nen Kindern einen zusammenfassenden Brief von etwa 500 Wörtern, der Deine Sicht auf den Juli 1914 klar darstellt. Mache Dir zuvor klar, was Kinder im neuen unabhängigen tschechischen Staat möglicherweise über ihre Väter denken, die zuvor für den österrei-chischen Kaiser in den Krieg gezogen waren.

█ Aufg. 11:

a. Schreibt die wichtigsten Aussagen des Kapitels A. zur Julikrise 1924 auf kleine Kar-teizettel (Richtwert etwa 10-15 Stück). Verteilt diese Karteizettel sinnvoll auf einem / zwei Tischen, so dass ein Cluster entsteht. Findet für diesen Cluster eine Überschrift, welche die Frage beantwortet, ob der Beginn des Ersten Weltkrieges unvermeidbar war. Markiert die drei wichtigsten Zettel farblich. Einer von Euch wird den anderen Euren Cluster vorstellen.

b. Schreibt auf ein Flipchart-Papier (oder Packpapier) auf dem Tisch alles, was Euch zu der Frage einfällt: Kann man etwas aus der Julikrise 1914 für heute lernen.

B. Zum Alltag der Frontsoldaten (das Beispiel Westfront)

B 1. Umfeld:

In welchem unveränderbaren Umfeld bewegten sich die Frontsoldaten?

Worterklärungen: die Front / die Etappe; modrig müffeln; die Kaninchen huschen über die Wiese; die Mäuse knabbern am Käse; dem Regime von Befehl und Gehorsam unterliegen; das Lazarett; desertieren / die Desertion / der Deserteur

Die hier beispielhaft betrachteten Frontsoldaten auf französischer und auf deutscher Seite steckten vom Herbst 1914 bis zum Herbst 1918 in den Schützengräben fest. Sie konnten in diesen 4 Jahren trotz opferreicher Schlachten kaum Geländegewinne erzie-len. Diese komplizierten, teils unterirdischen Grabensysteme waren – nachdem sie 380

Page 19: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 19 von 37

Bild 13

Soldaten mit Gasmasken und Stahlhelmen im Schützengraben an

der Westfront

Zeitgenössisches Photo. Vermutlich aus Bayerischem Heer.

http://www.br.de/radio/bayern2/gesellschaft/notizbuch/erster-weltkrieg-landleben-

102.html (Abruf: 21.6.2015)

Bild 14

Felduniform eines preußischen Infanteriesol-

daten 1914/15, nach damaligem Verständnis

international eine der modernsten Felduni-

formen.

Zeitgenössische Postkarte

http://www.zeno.org/Bildpostkarten.images/I/MPK01768.jpg?

einmal errichtet waren – der dauernde Aufenthaltsort der Soldaten. Sie waren dem nasskalten Wetter Flan-derns, heute im Süden Belgiens und im Nordwesten Frankreichs, ausgesetzt: Feuchtigkeit, Kälte, Grundwas-seraufstieg von unten sorgten dafür, dass sich die Solda-385

ten selten warm und trocken fühlen konnten. Die Luft müffelte dauernd modrig. Ratten und Mäuse huschten dauernd durch die Gräben und knabberten an den Essensvorräten. Diesem Umfeld konnten sich die einfachen Frontsoldaten nur entziehen, wenn sie ver-wundet zum Lazarett im Hinterland, der sog. Etappe, gebracht wurden, sie einen Befehl zum Kontakt zur Etappe hatten oder einen der seltenen Heimaturlaube bekamen. Nach 390

Schlachten kamen noch der Anblick sowie der Gestank von Blut und Leichen dazu. Die sog. „Frontschweine“ mussten eine zerschossene Landschaft voller zerstörter Geräte und voller Leichen von Pferden und Menschen sehen.

Den Zeitpunkt eines Angriffes bestimmten andere – entweder der Feind auf der ge-genüber liegenden Seite des Schützengrabens oder die eigene Heeresleitung weit hinten 395

in der Etappe. Dann waren sie dem unvorstellbaren, z.T. bis nach Südengland hörbaren, Höllenlärm der Geschütze und der Maschinengewehre und später auch dem Rasseln von Panzerketten ausgesetzt. Ab 1915 mussten sie sich mit Gasmasken gegen ekelhaft stin-kendes Giftgas schützen.

Die Soldaten unterlagen dem Regime von Befehl und Gehorsam – auch wenn sie sich 400

im Kleinen der Kontrolle durch Vorgesetzte zu entziehen suchten. Sie waren vollkom-men fremdbestimmt, was Kleidung, Ernährung, Auftragserfüllung, Aufenthaltsort und Schlaf anging. Wer desertierte, musste mit einem Todesurteil rechnen. In den Situatio-nen existenzieller Angst und Bedrohung waren sie völlig auf die Loyalität und Hilfsbe-reitschaft ihrer Kameraden angewiesen. Dem Druck der Kameradschaft konnten sie 405

Page 20: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 20 von 37

nicht entfliehen, weil sie selbst wussten, bei einer eigenen Verwundung o.ä. selbst davon abhängig zu sein.

Die Soldaten waren vor allem kurz vor Schlachten, aber im Prinzip immer ihrer eige-nen Todesangst ausgesetzt. Vor allem in den Schlachten in den ersten Kriegsmonaten gab es hohe Verluste von bis zu 20%, weil angemessene Schutzkleidung (etwa Stahlhel-410

me) fehlten. Sie konnten sich dem Thema Tod und Verwundung und den Sorgen um ihre Familien nicht entziehen. Die Angst war unausweichlich da.

█ Aufg. 12:

Stelle Dir vor, Du bist jetzt im Herbst 1915 vier Wochen an der Westfront, hast Deine erste Schlacht überlebt und kannst jetzt Deinen ersten Brief an die Familie schreiben.

a. Schreibe einen Brief von ca. 400 Wörtern, in dem Du Deine Lebensumstände und Deine Gefühle beschreibst.

b. Versetze Dich in die Lage des Zensors, der alle Briefe daraufhin prüft, ob sie Ge-heimnisse enthalten oder die Stimmung in der Heimat negativ beeinflussen könnten. Streiche alles durch, was dem Zensor negativ auffallen könnte.

B 2. Handlungen: Was taten die Frontsoldaten?

Zu klärende Wörter: das Trauma; die Meuterei

Auf beiden Seiten der Front erlebten sie unter den genannten Umständen vor allem tödliche Langeweile – denn die Schlachten an der Westfront, an die heutzutage viele vor allem denken, fanden nur an einer Minderheit von Tagen statt. Die Mehrzahl der Tage 415

wurden die Grabensysteme ausgebaut und nächste Angriffe vorbereitet. Die Soldaten langweilten sich, mussten gleichzeitig höchste Aufmerksamkeit bringen, um rechtzeitig Anzeichen feindlicher Angriffe erkennen zu können. Sie tranken sehr viel Alkohol, um die Situation zu ertragen.

In den Schlachten waren sie in ihrem Handeln Täter und Opfer zugleich: Sie betätig-420

ten, oft durch Alkohol ermutigt, als hochgerüstetete Tötungsautomaten die neuen Ma-schinengewehre und die Kanonen, seit 1915 auch die Flammenwerfer für Giftgaseinsät-ze. Sie töteten, kannten aber im Gegensatz zu früheren Kriegen kaum den Nahkampf Mann gegen Mann. Sie waren Täter, die ihre Opfer nicht kannten. Sie waren Opfer, weil jeder sechste im Schnitt von ihnen im Kriege umkam (durch Feindbeschuss, mehr aber 425

noch durch Seuchen und Entkräftung) und weil jeder zwölfte mit einer Kriegsverwun-dung nach Hause kam oder jahrelang als sog. „Kriegszitterer“ an Traumata litt. Insofern waren die einfachen Soldaten Opfer. Manche versuchten sich der Front zu entziehen, in-dem sie sich beim Besuch von Prostituierten im Hinterland absichtlich Geschlechts-krankheiten zuzogen. 430

Erst gegen Ende des Krieges gab es auf beiden Seiten kleinere Meutereien und Be-fehlsverweigerungen, weil die totale Erschöpfung und das Wissen um die wirtschaftliche

Page 21: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 21 von 37

Lage in der ebenfalls erschöpften Heimat es nicht mehr sinnvoll erscheinen ließen, An-griffsbefehle zu befolgen.

█ Aufg. 13:

Stell Dir vor, Du bist jetzt im Herbst 1916 vier Monate an der Westfront, hast einige Schlachten überlebt und kannst jetzt nach Monaten Brief an die Familie schreiben. Deine Frau ist ziemlich ängstlich. Was würdest Du Deiner Frau verheimlichen wollen.

B 3. Fähigkeiten / Ressourcen: Was brachten die Frontsoldaten mit?

Zu klärende Wörter: desertieren; kollektiv; die Produktionskette

In der Regel brachten die Frontsoldaten, die zu einem großen Teil manuell arbeiten-den Bevölkerungskreisen entstammten, ihre Körperkraft und ihre Berufserfahrung als Landwirt, Arbeiter oder Handwerker mit. Junge Offiziere ohne Berufsausbildung bürger-licher (70%) oder adliger (30%) Herkunft brachten da weniger Erfahrung ein.

In die Kameradschaftsverhältnisse im Schützengraben brachten sie die Solidaritäts-435

formen und –erwartungen sog. „kleiner Leute“ ein: Sie kannten aus der Landwirtschaft, dass sie vor allem in der Erntezeit kollektiv zusammenarbeiten mussten, oder sie kann-ten aus der Fabrikarbeit, dass man in der Produktionskette einander zuarbeiten und sich bei Schwierigkeiten helfen musste.

Der – propagandistisch gestärkte – Wille, für das Wohl der Familie in der Heimat zu 440

kämpfen, mobilisierte das Durchhaltevermögen. Das Gefühl, als Gemeinschaft bedroht zu sein, erzeugte Kräfte und Energien, die die Soldaten durchhalten statt desertieren ließen.

B 4. Werte / Glaubenssätze: Mit welchen Glaubenssätzen oder Werten hielten

die Frontsoldaten durch?

Zu klärende Wörter: der Heros; der Heroismus; paradox

Die Vorstellung von Befehl und Gehorsam und den Zwang zur Loyalität gegenüber den Herrschenden verspürten wohl die meisten, wobei französische, englische, ab 1917 445

auch amerikanische Soldaten sich auch als Verteidiger demokratischer Werte sehen konnten.

Die horizontale Loyalität im Schützengraben, also die „Kameraden nicht im Stich zu lassen“, hielt sich als Glaubenssatz auch dann, als patriotische Formeln und Appelle an den Heroismus jede Glaubwürdigkeit verloren hatten. Insofern hat paradoxerweise der 450

einfache Soldat mit geholfen, den Krieg an der Westfront zu verlängern.

B 5. Identität / Zugehörigkeit: Wem fühlten sich die Frontsoldaten zugehörig?

Page 22: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 22 von 37

Bild 15

Das undatierte Amateur-Foto zeigt deutsche und englische Solda-

ten und Offiziere während des inoffiziellen Waffenstillstands

http://www.dw.com/image/0,,18138116_401,00.jpg (Abruf 21.6.2015)

Zu klärende Wörter: die Solidarisierung; der Landser; einen Soldaten auf den Kaiser vereidigen; der Feldpostbrief

Das Zugehörigkeits-empfinden unterschied sich natürlich je nach Na-455

tionalität und Legitimati-on des Kriegseinsatzes. Es scheint zwischen den Frontsoldaten beider Sei-ten relativ wenig natio-460

nalistischen Hass gege-ben zu haben, sondern in Kampfpausen sogar Solidarisierungsaktionen. Bekannt geworden ist 465

das Weihnachtsfest zwi-schen französischen und deutschen Landsern im Niemandsland 1914 mit Austausch von kleinen 470

Geschenken und gemeinsamem Singen von Weihnachtsliedern. Diese seltenen Momente deuten darauf hin, dass die „Frontschweine“ beider Seiten sich des „Opfer-Seins“ auch des anderen bewusst waren.

An der Südfront in den Alpen und in Oberitalien stellte sich die Zugehörigkeitsfrage für die Soldaten der multiethnischen Habsburgischen Armee anders: Sie waren zwar auf 475

den Kaiser vereidigt, fühlten sich aber zunehmend als Teil eines der vielen Völker der Habsburgischen Monarchie.

Alle Landser, die Familie hatten, empfanden eine starke Loyalität zu Frau und Kin-dern und versuchten die Verbindung zu ihnen durch Feldpostbriefe mehrmals in der Woche aufrechtzuerhalten. Die vermeintlich bedrohte „Heimat“ als kleinräumige Le-benswelt ihrer Familien veranlasste viele Frontsoldaten, immer wieder durchzuhalten. Die Propaganda stellte sich im Laufe der Zeit zumindest teilweise darauf ein, dass die überfamiliären Parolen von „Nation“, „Ehre“ und „Heldentum“ immer weniger überzeug-ten.

█ Aufg. 14: Anhand der Abschnitte B2 bis B5 stelle bitte alle Aussagen zusammen, aus denen Du – als „Frontschwein“ - eine Heldengeschichte für Deine Enkel zusammen-stellen könntest.

a. Du folgst dabei den Fragen: Was habe ich Tolles, Heldenhaftes getan oder gekonnt? Wie habe ich die Tortur durchgehalten?

b. Du versetzt Dich in die Rolle des Enkels Deines Soldatenopas und überlegst: Kann ich Opa wirklich als Helden bewundern? Entwickle ich bestimmte - positive oder negati-ve – Gefühle ihm gegenüber? Wie würde ich diese Gefühle bezeichnen?

Page 23: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 23 von 37

Bild 16

Katholisches Messbuch aus Frankreich. Entstanden nach dem

ersten französischen Sieg im September 1914, dem sog. „Wun-

der an der Marne“. Dieses Missale enthält außer den Texten

zum katholischen Gottesdienst, der Messe, auch kriegsverherr-

lichende Texte. Der französische Sieg wurde vom Verfasser Gott

selbst zugeschrieben.

Aus: R. Rother (Hg.): Der Erste Weltkrieg 1914-1918 – Ereignis und Erinnerung, Ber-

lin/Wolfratshausen 2004, S.199-200.

B 6. Spiritualität:

Woran glaubten die Frontsoldaten?

Zu klärende Wörter: das existenzielle Lebensthema; der exzessive Alkoholgenuss; das kirchliche Ritual; seine Kräfte mobilisieren; die religiöse Deutung des eigenen Le-bens; gegebene Autoritäten bejahen

Die Frontsoldaten waren ja immer mit Verwundung und 480

Tod konfrontiert. Existenziel-le Lebensthemen waren, auch wenn sie oft durch exzessiven Alkoholgenuss für Momente verdrängt wurden, ständig 485

präsent. Insofern ist zu er-warten, dass vor allem religi-ös geprägte Frontsoldaten kirchliche Rituale und Deu-tungen mobilisierten, um mit 490

diesen existenziellen Themen fertigzuwerden. Die Spiritua-lität oder die religiöse Prä-gung hat nur wenige dazu ge-bracht zu desertieren – dazu 495

waren der damalige Protes-tantismus und auch der Ka-tholizismus, ja selbst das Ju-dentum zu sehr auf die Beja-hung gegebener Autoritäten 500

ausgerichtet. Insgesamt ver-blieben die Frontsoldaten in den ihnen vertrauten religiö-sen Praktiken und Haltungen.

Für eine zusammenfas-505

sende Antwort auf die Frage, warum die Frontsoldaten aushielten, deutet sich Folgendes an: Sie hielten durch, weil die meisten ohne innere und äußere Selbstbestimmung in Wehrpflichtarmeen keine Al-ternative zum Weitermachen sahen; sie glaubten, sie müssten ihren Kameraden ihrer Einheit im Schützengraben treu bleiben und somit ihren Familien in der Heimat dienen. 510

Außerdem erschien die Vorstellung eines grundsätzlichen Ungehorsams entweder zu riskant oder wurde gar nicht einmal gedacht.

Page 24: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 24 von 37

Bild 17

Hindenburg, Wilhelm II. und Ludendorff im General-

hauptquartier 1917 in Bad Kreuznach.

Zeitgenössisches offizielles Photo.

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f4/Hindenburg_Kaiser_L

udendorff.jpg (Abruf 22.6.2015)

█ Aufg. 15: Stelle Dir vor, Du würdest 15 Jahre nach Kriegsende mit Deinen ca. 15jährigen Kindern darüber sprechen, ob man aus dem Ersten Weltkrieg etwas für die Zukunft lernen kann. Was für Lehren würdest Du Ihnen vermitteln? Wenn Dir spontan nichts einfällt, erstelle eine Mindmap, die den 6 Kriterien dieses Kap. B folgt.

C. Zum Alltag im Großen Generalhauptquartier

Zu klärende Wörter: in einem Palast residieren; einen Palast requirieren; ins Exil gehen; die Waffenruhe vs. der Waffenstillstand; etwas auch faktisch beenden vs. etwas juristisch beenden; die Konstellation; der Akteur

Auf deutscher Seite fanden von Kriegsbeginn die Planungen im 515

Generalhauptquartier statt: Dort planten die ranghöchsten Ent-scheidungsträger selbst die Krieg-führung; zunehmend planten sie aber auch die Kriegswirtschaft, 520

also die Beschaffung von Rohstof-fen sowie den Nachschub an Mu-nition, Waffen und Verpflegung. Im Generalhauptquartier hielten sich der Kaiser und oberste Gene-525

räle sowie einige politische Füh-rungskräfte bzw. deren Vertreter auf. Dieses Generalhauptquartier war zwar ab Mitte August in der Nähe von Kriegsschauplätzen, 530

aber weit weg von der eigentli-chen Front und der frontnahen Etappe mit deren Lazaretten, mitt-leren Kommandostellen und Ver-sorgungsstützpunkten. Es war al-535

so eine eigene abgeschlossene Welt und es wechselte mehrfach den Ort: z.B. im Herbst 1914 ins besetzte Luxemburg, 1915 nach Pless in Oberschlesien, 1917 nach Bad Kreuz-nach und Münster am Stein in der Pfalz sowie zuletzt im März 1918 nach Spa im besetz-ten Belgien. Von hier aus fuhr im November 1918 der deutsche Kaiser Wilhelm II. ins niederländische Exil. Die Personen residierten an diesen Orten in Schlössern und requi-540

rierten Palästen.

Diese Führungsgruppe im Generalhauptquartier hatte die Macht, über Waffenruhen und Waffenstillstände zu entscheiden und damit den Krieg auch faktisch zu beenden. Diese Entscheidung fiel erst Anfang November 1918.

Page 25: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 25 von 37

Diese Konstellation wirft die Sachfrage auf: Warum nutzte die Gruppe, die den Krieg 545

entscheidend mit entfesselt hatte, ihre Macht nicht dazu, den Krieg schon vorher, also vor der unausweichlichen Niederlage, zu beenden? Eine Betrachtung des Generalhaupt-quartiers und seiner Akteure kann dazu einige Hinweise geben:

C 1. Umstände:

Unter welchen unveränderbar scheinenden Umständen entschieden die Akteu-

re?

Zu klärende Wörter: die Konsequenz; improvisieren; die Planungsphantasie; der Tunnelblick; den Chef gegenüber negativen Informationen abschirmen

Die Akteure hielten sich in einer seltsamen Art von freiwilliger Gefangenschaft dort 550

auf: Sie hatten den Kriegsausbruch in der Julikrise zwar mit gefördert; aber sie hatten ihn keineswegs in seinen längerfristigen Konsequenzen politischer und militärtechni-scher Art bedacht und vorgeplant. Sie waren schon in einer frühen Kriegsphase – näm-lich dem Stocken des Angriffs auf Frankreich in Flandern im September 1914 – gezwun-gen zu improvisieren. Das Grundkonzept des auf alten, nunmehr zu optimistischen An-555

nahmen fußenden Schlieffen-Plans von 1905, hat sich schon in den ersten Kriegswochen als brüchig erwiesen. Dessen Idee, ganz schnell erst Frankreich von Norden über Belgien anzugreifen und niederzuwerfen, ehe Russland im Osten einsatzfähig wäre, war sehr gewagt. Außerdem war der Widerstand der völkerrechtswidrig unter deutsche Besat-zung gebrachten Belgier größer als erwartet. 560

Trotz ihrer vergleichsweise luxuriösen höfischen Lebensführung mit erlesenen Me-nus und gehorsamem Dienstpersonal standen die Verantwortlichen unter Dauerstress und waren von den Kriegsereignissen getrieben: Sie konnten keine wirklich konzeptio-nelle Entscheidung treffen, mit der sie aktiv das Geschehen beeinflussen konnten. Sie liefen der Kriegsdynamik immer hinterher. 565

Sie hatten keinerlei direkten Kontakt zu den Soldaten an der Front. Von den Opfern erfuhren sie in Gestalt unvorstellbar hoher, damit also abstrakter Zahlen. Sie lebten trotz der Serien von schlechten Nachrichten in einer Sonderwelt, d.h. sie waren ihren Pla-nungs-Phantasien und ihrem Tunnelblick ausgeliefert. Insbesondere galt dies für den Kaiser, der zunehmend gegen negative Informationen abgeschirmt wurde und gegen-570

über den militärischen Führungskräften (ab 1916 einer Art Diktatur der 3. Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff) weiter entmachtet wurde. Kurzum: Die grundsätzlichen politischen und militärischen Entscheidungen wurden unter einer Käseglocke gefällt, in der höchste Militärs mit schwachen politischen Vertretern isoliert von der übrigen Welt waren. 575

Im Herbst 1918 konnte man auch in dieser Käseglocke „Generalhauptquartier“ die Aussichtslosigkeit der Kriegführung nicht mehr verdrängen. Nun versuchten Hinden-burg und Ludendorff die Verantwortung für die unausweichliche Niederlage und die da-raus folgende Bitte um Waffenstillstand abzuschieben auf bestimmte Politiker des Reichstages. Es waren liberale, katholische und sozialdemokratische Politiker, die in den 580

letzten Monaten seit der Aufwertung des Reichstags innerhalb der Verfassung an Anse-

Page 26: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 26 von 37

Bild 18

Zerstörungen im belgischen Löwen / Leuven 1915

http://fotos.stahlgewitter.com/weltkrieg/_jpgs/0006/0006.jpg (Ab-

ruf 22.6.2015)

hen gewonnen hatten. Unter Nutzung der revolutionären Unruhen ab Anfang November 1918 legten Hindenburg und Ludendorff hier den Keim der Dolchstoßlegende, die spä-ter das Geschick der Weimarer Republik so zerstörerisch bestimmen sollte. D.h.: Kurz nach Kriegsende beschuldigten Hindenburg und Ludendorff genau diese Politiker, der 585

eigentlich ja immer noch unbesiegten kaiserlichen Armee den Dolch in den Rücken ge-stoßen zu haben.

█ Aufg. 16: Nimm Stellung zu folgender Behauptung: „Die Führungseliten können für das Kriegselend und den Kriegsverlauf von der Nachwelt nicht verantwortlich gemacht werden – denn sie wussten nicht, was sie taten.“

C 2. Handlungen:

Welche Handlungen führten die Akteure verantwortlich durch?

Für welche Handlungen können wir sie verantwortlich machen?

Zu klärende Wörter: analog zu;

Im Generalhauptquartier fielen die Ent-scheidungen über die großen Angriffe und über die logistischen und schließ-590

lich auch deren volkswirtschaftlichen Folgen. Insofern sind hier – analog auch zu Entscheidungen im österreichischen oder französischen Generalhauptquar-tier – die Verantwortlichkeiten für die 595

hohen Opferzahlen vor allem in den Schlachten 1914/1915 zu benennen – aber auch Konsequenzen, wie die Ver-besserung der Ausrüstung von Front-soldaten, z.B. durch die Einführung des 600

Stahlhelms. Hier sind auch Verantwort-lichkeiten zu nennen für militärische Fehlentscheidungen, die auch nach dem fachlichen Ermessen der Zeit als solche im Voraus erkennbar waren. Auch die Verantwortung für den Einsatz neuer Waffen, ins-605

besondere des Giftgases, für den völkerrechtswidrigen Einsatz von belgischen Zivilisten als Zwangsarbeiter, oder für die Brutalisierung der Besatzungspraxis in Ober-Ost (heute Ostpolen, Litauen, Lettland) wären hier zu nennen.

Im Verlauf des Krieges entstanden die Maßnahmen und Ideen, um die „Heimatfront“, also die in Deutschland verbliebene Bevölkerung möglichst aller Altersgruppen, immer 610

stärker für die Kriegführung zu benutzen. Mit den erweiterten Kompetenzen der 3. OHL seit 1916 (mit Hindenburg als Nachfolger Falkenhayns und mit Stellvertreter Luden-dorff als faktischem Entscheider) kam es zur Regelung allgemeiner Dienstpflicht u.ä. im Hilfsdienstgesetz. Ludendorff sah nicht nur die Schlachtfelder und Besatzungsgebiete als

Page 27: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 27 von 37

Bild 19

Wahlplakat der rechtsnationalistischen Deutschnationalen

Volkspartei anlässlich der ersten Reichstagswahlen nach dem

Krieg 1919. Es setzt die Dolchstoßlegende ins Bild.

http://www.hassia-

judaica.de/Themen/1919_Antisemitismus_mit_dem_Stimmzettel_Teil2/xdeutschn.j

pg (Abruf 22.06.2015)

Ort der Kriegführung, sondern 615

auch das vom Kriegsgeschehen eigentlich unberührte Binnen-land: Auch Frauen und Kinder sowie nicht zum Militär einge-zogene Männer sollten aktiv 620

zum Sieg beitragen. Auch das gesamte Wirtschaftsleben war der Kriegführung unterworfen. Ludendorff sprach vom „totalen Krieg“. 625

Die Strategie, den Nach-kriegsstaat durch die Dolch-stoßlegende schon vor seinem Entstehen, sozusagen vorge-burtlich, zu schwächen, ver-630

antworten ebenfalls Personen im Generalhauptquartier.

█ Aufg. 17: Überprüfe Dein Ergebnis zu Aufg. 16 und passe es aufgrund der Infos von C 2. an.

C 3. Fähigkeiten / Ressourcen:

Welche Fähigkeiten, Kompetenzen und Denkspielräume brachten die Entschei-

dungsträger in die Situationen ein?

Zu klärende Wörter: die Kadettenanstalt; einen Soldaten reaktivieren; die techni-sche Ressource; das Denkmuster; die völkische Ideologie

Die Personen brachten i.d.R. die alte, noch von den Erfahrungen des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 geprägte Militärausbildung an preußischen, z.T. auch sächsischen, bayerischen und württembergischen Kadettenanstalten mit. Ältere, wie 635

etwa der reaktivierte pensionierte General von Hindenburg (*1847), waren noch von den Kriegen des 19. Jahrhunderts geprägt. Die Bedeutung neuartiger technischer Res-sourcen für die Kriegführung und die neuen Möglichkeiten der Verflechtung von Kampf-geschehen und „Heimatfront“ waren ihnen bei Kriegsausbruch keineswegs klar. Nicht nur politisch, sondern auch im engeren Sinne militärtechnisch waren die Entscheidungs-640

träger inkompetent und in nicht zeitgemäßen Denkmustern gefangen.

Page 28: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 28 von 37

Bild 20

Vorparade auf dem Exerzierplatz der Kadettenanstalt Groß-Lichterfelde (heute Berlin) 1910. Zeitge-

nössische Postkarte.

http://www.antik-falkensee.de/catalog/images/2012/1000lf113.JPG (Abruf 22.6.2015)

Im Verlauf des Krieges war es der militärisch ausgebildete, aber kriegsunerfahrene Ludendorff (*1865), der die Neuartigkeit der militärtechnischen Anforderungen begriff und auf dem Höhepunkt seiner faktischen politischen Macht entsprechende Konsequen-zen zog. Er verband zunehmend völkische, rassistische Ideologie mit Konzepten zur 645

Führung „moderner“, „totaler“ Kriege.

In allen Staaten, die in der Julikrise 1914 agierten, fehlten klar definierte Kriegsziele. Eine in großen Teilen der veröffentlichten Meinung verbreitete Stimmung, die aufgelau-fenen Spannungen müssten sich irgendwann in einem Krieg entladen, und die damit verbundene Erwartung trug die Entscheidungsträger über gewisse Hemmschwellen 650

hinweg, beantwortete aber nicht die Frage: Was wollen wir mit diesem Krieg politisch erreichen? Damit war man dem Diktat rein militärtechnisch begründeter Forderungen ausgeliefert. Politische Kriegsziele formulierten die Entscheidungsträger erst ab Herbst 1914, als die national unterschiedlichen Ausprägungen von „Burgfrieden“ die Loyalität der Massen gegenüber den Eliten schon gestärkt hatten. 655

█ Aufg. 18: Entscheide auf einer Skala von 1-10, ob die Kriegführung der deutschen Führungsgruppen auf Unfähigkeit (0) oder Absicht (10) beruht. Deine Argumente fin-dest Du in den Kap. C 1 bis C 3.

Page 29: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 29 von 37

Bild 21

Werbung eines Kölner Hotels im frühen 20. Jh.

http://www.aski.org/portal2/images/10_kb320024.jpg (Abruf: 22.6.2015)

C 4. Glaubenssätze / Werte:

Welche impliziten und expliziten Werte trieben die Akteure an?

Zu klärende Wörter: der Alltagsantisemitismus; der Wertehaushalt; implizites vs. explizites Urteil

In dem geschlossenen Milieu der Abkömmlinge kaiserzeitlicher Kadet-tenanstalten galt der alte Wertehaushalt preußi-660

scher Militärtugenden mit entsprechenden Phantasien: Die jungen Soldaten träumten von männlichem Heldentum, 665

sie deuteten Pflicht als blinden Gehorsam gegen-über jeglichem Befehl und sie bejahten unkri-tisch die Monarchie. Die-670

ser Wertehaushalt hat sich durch nationalisti-sche Propaganda noch verfestigt. Ebenso war auch hier der zeittypische Alltagsantisemitismus verbreitet. Für diese Leute gehörte es sich, pazifistischer, demokratischer und sozialistischer Wertevor-675

stellungen von vornherein abzulehnen, ohne sich zuvor damit inhaltlich auseinanderzu-setzen. Die Radikalisierung des Krieges verfestigte diese Werte und das entsprechende Vokabular.

Der einfache Soldat mit seiner Lebenswelt z.B. im Schützengraben oder auch in seiner heimatlichen Ortschaft, Familien- und Arbeitswelt waren in der Käseglocke dieser Ent-680

scheidungsträger nicht präsent. Der Tod eines Frontsoldaten oder die Trauer einer Krie-gerwitwe drangen in dieses Wertesystem nicht veränderungswirksam ein.

C 5. Identität / Zugehörigkeit: „Welche Zughörigkeitsgefühle bestimmten die

Entscheidungen und das Handeln der Entscheidungsträger?“

Zu klärende Wörter: der Korps-Geist; die Friedensresolution

Die räumliche und soziale Abgeschlossenheit dieser Gruppe ist bei den vorangegan-genen Punkten schon angeklungen. Es herrschte der Korps-Geist einer kleinen sozialen Gruppe, die überproportional dem Adel entstammte oder schon früh die adlig-685

militärischen Werte aufgesaugt hatte, die sich im Lauf des Krieges eher verfestigten.

Page 30: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 30 von 37

Bild 22

Deutsches Koppelschloss (Gürtelschnalle) im Ersten Weltkrieg

https://www.landeskirche-

hannovers.de/imaging/content_img_grid_12/dms/evlka/frontnews/2014/08/01/31-03-

thema-oestereicher-a/31-03-thema-oestereicher-a.jpg?1406803003 (Abruf 22.06.2015)

Dementsprechend groß war auch das Unverständnis gegenüber den Hungerprotesten und Friedensresolutionen der letzten beiden Kriegsjahre.

C 6. Spiritualität:

Was trug die Entscheidungsträger in ihrem Leben und in Schlüsselsituationen?

Zu klärende Wörter: der Realitätsverlust; die konventionelle Religiosität; das Ver-satzstück; der Fanatismus

Hier kann man eine kon-ventionelle Oberschichten-690

Religiosität (verinnerlichtes für „Gott, König und Vater-land“) annehmen. Dazu kam eine – individuell durchaus unterschiedlich gut verstan-695

dene – Mischung aus Ver-satzstücken verschiedener Philosophien: fanatischer Nationalismus, der Traum von an keine sozialen Werte 700

gebundenen Superhelden im Sinne des Philosophen Friedrich Nietzsche (die Idee vom „Übermenschen“) und Phantasien von der Erlösung 705

der Welt nur durch eine große Katastrophe im Sinne mancher Opern Richard Wagners. Es gab durchaus die Sehnsucht nach der großen Katastrophe.

Im Ergebnis zeigt dieser Abriss, dass die Entscheidungsträger in Politik und Militär von Anfang an nicht die Kompetenzen hatten, den Krieg zu verhindern, ihn professionell 710

zu beginnen oder rechtzeitig zu beenden: Ihre milieubedingte Beschränktheit und Ab-schottung gegenüber den Lebenswelten anderer Bevölkerungsgruppen führte zu einem schon 1914 bestehenden, in der Folge zunehmenden Realitätsverlust. Besonders bei deutschen und österreichischen Entscheidungsträgern zeigte sich ein Unvermögen, den Situationen entsprechend verantwortungsvoll zu handeln. Der Titel eines neueren Bu-715

ches zum Kriegsausbruch von Christopher Clark bringt diese Beschränktheit und Unfä-higkeit auf einen Begriff: Er bezeichnet die Entscheidungsträger als „Schlafwandler“.

█ Aufg. 19: Verteile insgesamt 20 Punkte entsprechend den Anteilen, die Deiner Ansicht

nach Führungseliten und einfache Soldaten jeweils an der langwierigen Fortsetzung des

Krieges haben. Dazu verwendest Du Zwischenergebnisse und Informationen aus den Kapi-

teln B. und C.

Page 31: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 31 von 37

Bild 23

Lebensmittelkarte und –marken für Fleisch 1916

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/aa/Fleischkarte1916.jpgFleisc

hkarte1916.jpg (Abruf 22.06.2015)

█ Aufg. 20: Du sitzt als Experte für Führungsgruppen im 20. Jahrhundert in einer Podi-

umsdiskussion zu dem Thema „Kann man aus der Geschichte lernen?“ Neben Dir sitzen His-

toriker, die sich in anderen Epochen auskennen. Du sollst anhand der deutschen Führungs-

gruppen im Ersten Weltkrieg (ggf. inkl. Julikrise) entscheiden, ob wir aus deren Verhalten

und Umständen für heute etwas lernen können. Führe Deine Argumente in einer Pro-

Contra-Argumentation auf.

D. Zum Alltag in der Heimat – Beispiel Großstadt-bewohner

Zu klärende Wörter: der Brennstoff

In Deutschland lebten zu Be-ginn des Ersten Weltkrieges ca. 720

20% der Menschen in Großstäd-ten über 100.000 Einwohner. Diese Konzentration von Men-schen auf engem Raum hatte zwei Konsequenzen: Einerseits 725

konnten staatliche und militäri-sche Behörden diese Menschen besonders leicht kontrollieren, erfassen und mit ihren Propa-gandamaßnahmen erreichen; 730

andererseits hatten Großstädter wenig bis keine Möglichkeiten, sich Nahrung und Brennstoff durch Eigenarbeit zu beschaf-fen. Die bäuerliche Bevölkerung 735

konnte demgegenüber immer noch etwas beiseite legen – auch wenn die Militärbehörden versuchten, sie zur Abgabe von Nahrungsmitteln zu festgeleg-740

ten Niedrigpreisen zu zwingen. Daher kann man am Beispiel von Großstädten gut ermessen, was der Krieg mit einer Gesell-schaft macht. 745

Page 32: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 32 von 37

Bild 24

Spanische Grippe. Notkrankenhaus in Fort Riley / Kansas

(USA).

Zeitgenössisches Foto.

http://polpix.sueddeutsche.com/bild/1.586758.1357297438/860x860/spanische-

grippe.jpg (Abruf 22.06.2015)

D 1. Umstände

Unter welchen Umständen mussten die Großstadtbewohner ihren Alltag bewäl-

tigen?

Großstadtbewohner hatten schon ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn, also im Winter 1914/15, damit zu kämpfen, dass Nahrungsmittel und Brennstoffe knapp und teuer wurden. In Deutschland z.B. erhielten sie seit 1916 Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Brot, Butter und Zucker nur gegen Lebensmittelmarken; diese Marken sahen pro Kopf 750

nur bestimmte, im Lauf des Krieges immer geringere Mengen vor. Kleidungsstücke bei-spielsweise wurden aus Ersatzstoffen wie Papier hergestellt, weil die Baumwolle den Uniform-Schneidereien für die Armee zugeteilt wurde. Viele lebenswichtige Gegenstän-de gab es nur noch auf dem Schwarzmarkt zu überhöhten Preisen. Normale Mütter mussten sich mit Schmugglern abgeben, um Nahrungsmittel, Kleidung und Spielsachen 755

für ihre Kinder zu besorgen. Insgesamt stiegen die Preise durch eine starke Inflation, weil die Regierung in Deutschland die Kriegskosten durch das Drucken von Geld und nicht – wie in England – durch das ehrliche Erheben von Steuern finanzierte.

Seit 1916 unterlagen in Deutschland alle arbeitsfähi-760

gen Menschen der Dienst-pflicht: Sie wurden z.T. bis zu 80 Stunden wöchentlich zur Arbeit in Fabriken, insbeson-dere Rüstungsfabriken, und 765

auf Feldern zum Einbringen der Ernte gezwungen. Schlech-te Ernährung, stellenweise auch Hunger, sowie Überar-beitung führten zur körperli-770

chen Schwächung der großen Mehrheit der Bewohner. Ge-genüber der Spanischen Grip-pe, die ab 1918 in mehreren Wellen über Europa und die 775

Welt schwappte, waren sie wehrlos: In Preußen und in der Schweiz schätzte die Poli-zei, dass 2/3 der Bevölkerung erkrankt waren. Mindestens 780

25 Millionen Menschen, vor allem in Europa, sind an dieser

Grippe gestorben – mehr als die 10 Millionen Gefallenen des Krieges. Man sah in Mittel-europa prozentual und absolut die größten Menschenverluste seit dem Dreißigjährigen Krieg knapp 300 Jahre zuvor. 785

█ Aufg. 21: Großstädter fühlten sich in den Jahren des Ersten Weltkrieges zunehmend

als Spielball der Geschichte oder zumindest der Umstände. Stelle dieses graphisch oder bild-

lich dar.

Page 33: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 33 von 37

Bild 25

"Deutsche Frauen arbeitet im Heimatheer!"

Deutsches Propagandaplakat aus dem Ersten Weltkrieg.

http://www.dw.com/image/0,,17623799_303,00.jpg (Abruf: 22.06.2015)

Bild 26

Frauen in Männerberufen, hier als Schweißerinnen

Zeitgenössisches Photo

http://www.dw.com/image/0,,17625804_401,00.jpg (Abruf: 22.06.2015)

D 2. Handlungen

Was taten die Großstädter zur Lebensbewältigung?

Zu klärende Wörter: sein Leben fristen; die Emanzipation (z.B. von Frauen)

Den Großstädtern war es erschwert, mit legalen Mitteln ihr Leben zu fristen. Regelver-stöße wie Schwarzmarkthan-del und Diebstahl nahmen zu. 790

Die Prostitution vor allem von Frauen erhöhte sich um ein Vielfaches – nicht nur, weil die eigenen Männer im Krieg wa-ren, sondern auch und vor al-795

lem wegen materieller Gegen-leistungen (Geld oder wertvol-le Schwarzmarktgüter). Auch Mütter haben sich prostituiert, um ihre Kinder ernähren zu 800

können. Was früher als verbo-ten und unanständig galt, präg-te jetzt den Alltag auch norma-ler, braver Bürger. Insofern hat der Krieg Menschen verwil-805

dern lassen.

Dass Frauen nunmehr als al-leinige Ernährerinnen ihrer Kinder in Fabriken, Büros und in anderen sog. Männerberufen 810

arbeiteten, war für die meisten von ihnen eine neue Erfahrung. Sie wurden allerdings vorher nicht danach gefragt, ob sie ei-nen solchen Rollenwechsel 815

überhaupt wollten bzw. sich vorstellen konnten. Nur weni-ge haben darin einen Schritt zur Emanzipation gesehen. Die meisten waren einfach über-820

fordert.

Man sah also zunehmend Menschen, die zuhause und in der Öffentlichkeit Dinge ta-ten, die sie noch im Sommer 1914 für verboten gehalten hatten oder sich überhaupt nicht hatten vorstellen können. Dies galt im Prinzip für alle beteiligten europäischen Länder. 825

Page 34: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 34 von 37

█ Aufg. 22: Erstelle einen Cluster mit Karteizetteln (oder eine Collage mit passenden Bil-

dern aus dem Internet), damit man auf einen Blick die Verhaltensänderungen an der „Hei-

matfront“ erkennen kann.

D 3. Ressourcen / Fähigkeiten

Mit welchen persönlichen Mitteln bewältigten die Großstadtbewohner die

Kriegssituation an der sog. ‚Heimatfront‘?

Zu klärende Wörter: das Varieté; dekadent; der Arbeitsschutz; die Gewerkschaft

Aufgrund der Knappheit an Zeit, an Kraft und –inflationsbedingt – an Geld mussten die Menschen, vor allem Frauen, Neues tun (s.o). Sie waren auf sich gestellt – und hatten gleichzeitig Angst um ihre Männer im Militär.

Wer jedoch Sachwerte oder Fabriken, vor allem als Zulieferer für die kaiserliche Ar-mee, besaß oder wer durch den Schwarzhandel zu Vermögen kam, konnte durch Tausch 830

und enorme Geldeinnahmen als sog. Kriegsgewinnler ein Leben in Saus und Braus füh-ren – mit Champagner an Bars vornehmer Hotels, Varieté-Besuchen und Vergnügungen in Nachtbars. Für diese Kreise war das berühmte dekadente Nachtleben in Berlin wäh-rend des Krieges noch vergnüglicher als zuvor. Die Klasse der Besitzenden konnte ihre Ressourcen und Privilegien während des Krieges ausbauen. 835

Die ca. 40% Arbeiter an der deutschen Gesamtbevölkerung hatten ja schon vor dem Krieg allmählich Lohnsteigerungen für sich und ihre Familien durchsetzen können. Sie lebten zwar immer noch einfach in überfüllten schlechten Wohnungen mit Außentoilet-te und hatten kaum Chancen, aus ihrer Lage herauszukommen; aber sie erlitten nicht mehr das Elend der Kinderarbeit und des Hungers schon in Friedenszeiten wie 50 Jahre 840

zuvor. Die Arbeiter hatten sich als soziale Klasse organisiert – mit ihrer Partei, z.B. der SPD in Deutschland, mit Wander-, Kleingarten- und Sportvereinen, mit Unterstützungs-kassen und Hilfswerken (wie den noch heute existierenden AWO und ASB).

Sie kannten trotz ihres ärmlichen Lebens so etwas wie gemeinsame Solidarität. Sie wussten, dass es ihnen in Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich und England bes-845

ser ging als ihren Vorfahren und dass sie Möglichkeiten hatten, langsam weitere Verbes-serungen durchzusetzen. Das veranlasste in Deutschland ihre eigentlich kriegsfeindli-chen (pazifistischen) Parteiführer und Abgeordneten, der Kriegsfinanzierung durch Kredite im Reichstag ab 1914 zuzustimmen – also loyal zum Kaiserhaus zu stehen (sog. Burgfrieden). So und durch den Einsatz an der Front und in der Rüstungsindustrie wur-850

den sie unentbehrlich und konnten in den gut 4 ½ Kriegsjahren weitere Lohnerhöhun-gen, Arbeitsschutzgesetze, gegen Ende sogar legale gewerkschaftliche Zusammenschlüs-se durchsetzen. Den Belastungen an der Front und in den Familien standen gemein-schaftliche Gewinne der Arbeiterschaft in der Politik gegenüber.

Kinder wurden weniger beaufsichtigt, organisierten sich vermehrt in Banden und 855

Gangs – oft auch zum Zweck von Kleinkriminalität. Sie waren häufiger auf sich allein ge-stellt, ältere Geschwister mussten Elternaufgaben wie das Schlangestehen vor Bäckerei oder Fleischerei und die Beaufsichtigung jüngerer Geschwister verstärkt übernehmen. In der Schule waren sie unterernährt und übermüdet, ausgesetzt prügelnden Lehrkräf-

Page 35: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 35 von 37

ten, die patriotische Propaganda über angebliches Heldentum an der Front verbreiteten, 860

welche in die Lebenswelt der Kinder so gar nicht passte. Ängste und Trauer um nicht heimkehrende Väter, in einigen Städten auch schon Zerstörungen durch Artilleriebe-schuss (wie in Flandern) und erste Bombardierungen in (wie Freiburg im Breisgau), prägten den Gefühlshaushalt von Kindern länderübergreifend. Dieser Krieg schuf eine Generation überforderter und unterversorgter Kinder und Jugendlicher – insbesondere 865

in den unteren und mittleren Schichten.

█ Aufg. 23: Nimm Stellung anhand von D 2 und D 3 zu folgender Behauptung: „Der

Mensch wächst an seinen Herausforderungen. Das Verhalten der Menschen an der 'Heimat-

front' belegt diesen Spruch.“

D 4. Glaubenssätze / Werte:

Was bedeutete der Krieg die für die expliziten und impliziten Wertesysteme

der Großstädter?

Zu klärende Wörter: explizite vs. implizite Urteile; einen (ethischen) Wert praktizie-ren; das Denken brutalisiert sich; die Disziplin in der Klasse gerät ins Rutschen

Insofern die Menschen den Zusammenbruch bisheriger gesellschaftlicher Praktiken, Rituale und Regeln erlebten, gerieten auch unverrückbar geglaubte ethische Werte ins Rutschen. Je mehr Werte sichtlich nicht mehr praktiziert wurden, desto mehr schob sich ein allgemeiner Kampf ums Dasein in den Vordergrund. Die Brutalisierung an der Front 870

schlug sich auch im Denken in der Heimat nieder: Die Gewalt nahm zu.

Bisher gültige ethische Vorstellungen gerieten also nicht nur an der Front mit ihren kämpfenden Soldaten ins Rutschen, sondern auch im Inland. Nach 4 ½ Jahren Krieg er-kannten viele Menschen die ethischen Werte, mit denen sie groß geworden waren, nicht mehr an – oder folgten ihnen kaum noch. 875

Insgesamt erlebten in allen Ländern viele Menschen eine moralische Entwurzelung.

D 5. Identität / Zugehörigkeit

Wie beeinflusste der Krieg die Zugehörigkeitsgefühle und Loyalitäten von

Großstädtern?

Zu klärende Wörter: die Klassenschranke; der Kriegsgewinnler; das Herkunftsmili-eu

In der Arbeiterklasse festigte sich das Bewusstsein, einer sozialen Klasse anzugehö-ren, weiter – und äußerte sich seit 1917 auch stärker in Demonstrationen und Protest-aktionen. Dies galt besonders in Russland, wo im Februar und Oktober 1917 gleich zwei 880

Revolutionen ausbrachen und sich schließlich auch durchsetzten.

Page 36: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 36 von 37

Gleichzeitig begann die Arbeiterbewegung auch in Deutschland zu zersplittern, weil sich einige gegen die Beibehaltung des Burgfriedens sowie gegen das Ja zur Kriegsfinan-zierung wehrten und schließlich eine eigene Partei, die USPD, gründeten.

Die Klassenschranken haben sich während des Krieges aber verfestigt – auch wenn 885

der eine oder andere Kriegsgewinnler in die höheren Kreise emporkommen konnte.

Die meisten Menschen blieben ihrem geschlossenen Herkunftsmilieu treu.

D 6. Spiritualität

Inwieweit beeinflusste der Krieg die Gewissheiten, die die Großstädter durch

das Leben trugen?

Zu klärende Wörter: die Entkirchlichung in den Köpfen; die Weltdeutung; das Trauma; die traumatische Belastung; die post-traumatische Belastungsstörung

Die Kirchen, denen auch in Großstädten noch eine Mehrheit angehörte, verloren an Autorität, weil sie sich mit ihren Predigten weitgehend in den Dienst der Kriegspolitik 890

ihrer Regierung stellten. Die Entkirchlichung in den Köpfen nahm weiter zu, vor allem in den protestantisch geprägten Städten.

Intellektuelle, die schon vor dem Krieg nach anderen religiösen Formen und Weltdeu-tungen – z.B. Buddhismus - gesucht hatten, setzen ihre z.T. verworrene und heftige Su-che nach Sinn und Orientierung im Leben und nach einer tragenden Grundlage fort. Die 895

Kriegserlebnisse verstärkten diese Suche noch. Gerade in meinungsbildenden Kreisen gab es einen großen Markt an Sinnangeboten: Diese wollten die wachsende Angst, Ver-störtheit und post-traumatische Belastung in den Kriegsgesellschaften mildern. Ethische Verwilderung und Suche nach neuen tragfähig scheinenden Sinnangeboten gab es ne-beneinander. 900

Die Zeit nach dem Krieg wurde von vielen auch mit utopischen Vorstellungen eines guten oder besseren Lebens gefüllt. Ein Markt für wuchtige, der Intensität postraumatischer Belastung gewachsen scheinende Sinnangebote war entstanden.

█ Aufg. 24: Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) sprach schon einige Jahrzehn-

te vor dem Ersten Weltkrieg von einer „Umwertung aller Werte“. Er verstand dies als Be-

obachtung seiner Zeit und als Voraussage für das 20. Jahrhundert. Überprüfe anhand von D

4 bis D 6, ob und wie die Großstädter, vor allem in Deutschland, während des Krieges ein

solche Umwertung erlebten. Formuliere auf einzelnen Karteizetteln Aussagesätze, die be-

ginnen mit: „Die Großstadtbewohner/innen bemerkten eine Werteveränderung, wenn sie …

taten / sahen.“ Lege alle diese Sätze zu einem Cluster zusammen.

█ Aufg. 25: Seit einigen Jahrzehnten interessiert sich die Geschichtsforschung nicht nur

für die politischen Eliten, sondern auch für „ganz normale Menschen.“ Folglich muss man

auch fragen, in welchem Maße ganz normale Menschen für die Fortdauer des Krieges mit

verantwortlich sind. Verteile 0 – 10 Verantwortungspunkte a. für die Soldaten an der Front

(Kap. B) und b. für die Menschen an der „Heimatfront“ (Kap. D)

Page 37: Der Erste Weltkrieg Die Katastrophenerfahrung am …friedemann-scriba.de/.../Erster-Weltkrieg_Narration-nach-Dilts.pdf · Gemeint ist der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der mit

Seite 37 von 37

█ Aufg. 26: Stelle Dir vor, Du wärest eine Großstadt-Mutter in der Zeit des Ersten Welt-

krieges gewesen und könntest nun als 130-Jährige zu uns sprechen. Was würdest Du uns er-

zählen und was würdest Du uns lehren? Schreibe dazu einen Brief an die Nachwelt.

E. Schluss

„Der verstümmelte Sieg“ – so kritisierte die nationalistische Rechte in Italien die Ergeb-905

nisse des Krieges. Von der Teilnahme am Krieg auf Seiten der Entente habe Italien nicht

genügend profitiert – vor allem, was Gebietsgewinne an der östlichen Adria (im heutigen

Slowenien) anginge. Die Leiden der Soldaten und der Heimatfront würden sich so trotz

des Sieges als sinnlos erweisen. Diese Befindlichkeit machte sich vor allem die neue Be-

wegung der Faschisten unter Mussolini zu eigen – das Vorbild der deutschen National-910

sozialisten und anderer gewaltbereiter rechtsextremer Parteien.

Ob verstümmelter Sieg oder Niederlage: Für die Lebensführung der Masse der ehemali-

gen Soldaten und der Menschen an den sog. Heimatfronten zeigte dies kaum einen Un-

terschied. Sie waren mit den Kriegsfolgen gleichermaßen konfrontiert: zusammenge-

brochene Versorgung an Nahrung und Brennstoffen, eine große Zahl von unterstüt-915

zungsbedürftigen Kriegsinvaliden mit körperlichen und/oder seelischen Schäden, viele

demobilisierte, nach Arbeit suchende Soldaten, Inflation wegen der Zerrüttung der

Staatsfinanzen, in einigen Gebieten die Zerstörung von Gebäuden und Infrastruktur so-

wie die unfreiwillige Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen. In manchen Fällen fanden

sich die Menschen in neu gegründeten Staaten wie Polen oder wie die Tschechoslowakei 920

wieder.

Nach dem Ersten Weltkrieg standen alle vor der Herausforderung, mit den Lebensum-

ständen einer großen Nachkriegskrise zurechtzukommen. Diese Situation sollte in Eu-

ropa die nächsten zwei Jahrzehnte bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 be-

stimmen. 925

█ Aufg. 27: Stelle Dir vor, Du wärest ein Experte für den Ersten Weltkrieg und sollst an

einer Podiumsdiskussion teilnehmen: „Der Erste Weltkrieg – wirklich eine Urkatastrophe?“

Du wirst vom Moderator mit der Aussage konfrontiert: „Der Erste Weltkrieg wusste nicht,

was folgen würde. Also ist der Spruch von der 'Urkatastrophe' logischer Unsinn.“ Nimm Stel-

lung, indem Du die Ergebnisse aus den Kapiteln B. bis E. nach Pro und Contra auflistest und

abwägst. Formuliere einen kurzen, knackigen Ergebnissatz.