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11. Jg. / Nr. 3 September 2004 ALFRED KLAHR GESELLSCHAFT MITTEILUNGEN Der erste Weltkrieg und unsere Zeit HANS HAUTMANN Preis: 1,1– Euro der Türken an den Armeniern und die Ausschreitungen der kaiserlichen Armee Österreich-Ungarns gegenüber den Rut- henen und Serben. Dabei können die letztgenannten Massaker den zweifelhaf- ten Ruf für sich beanspruchen, am unbe- kanntesten geblieben zu sein. Nur die wichtigsten Fakten: Im Som- mer und Herbst 1914 wurden in Galizien an die 30.000 Ruthenen, darunter auch Frauen, exekutiert, wobei die Mehrzahl der Erschießungen und Erhängungen nicht aufgrund eines Urteils in einem feldgerichtlichen bzw. standgerichtli- chen Verfahren erfolgte, sondern will- kürlich, auf den bloßen Verdacht hin, für die Russen spioniert zu haben, an Ort und Stelle, unter Berufung auf die so ge- nannte „Kriegsnotwehr“, die den Offi- zieren der kaiserlichen Armee die Befug- nis gab, solche Tötungen anzuordnen. Dasselbe mit einer geschätzten Opfer- zahl von ebenfalls 30.000 geschah ge- genüber der serbischen Bevölkerung auf dem Balkankriegsschauplatz. (Von bei- den Verbrechen zeugen die zahlreich überlieferten, berüchtigten „Galgenfo- tos“.) Nach dem Landesinneren wurden in Internierungslager Zehntausende „po- litisch Verdächtige“ deportiert, Ruthe- nen, Serben und Italiener. Im Ruthenen- lager Thalerhof bei Graz starb im Winter 1914/15 von den rund 7000 Insassen ein Drittel an Flecktyphus. Mehrere Tausend Tschechen, Ruthenen, Serben, Slowenen und Italiener wurden von Militärtribuna- len als Staatsfeinde zum Tode verurteilt und hingerichtet, wobei die Mehrzahl der Verfahren höchst zweifelhaft war und dem glich, was man üblicherweise „Ju- stizmord“ nennt. Daneben gab es Tausen- de Verurteilungen zu hohen Kerkerstra- fen; Hunderte dieser Delinquenten fanden in den Gefängnissen und in den beiden Militärstrafanstalten Theresienstadt und Möllersdorf, in denen entsetzliche Zu- stände herrschten, den Tod. In den von der österreichisch-ungarischen Armee be- setzten Gebieten Serbiens, Montenegros und Albaniens standen Geiselnahmen und Geiseltötungen auf der Tagesordnung. Land stürzten und in mehreren anderen an den Rand des Abgrunds brachten? Ist damit nicht auch das Trauma verbunden, dass nach dem zweiten Weltkrieg als ei- ner Folge des ersten die Machtpositionen des Kapitalismus eine erneute und dies- mal vervielfachte Einschränkung erfuh- ren? Ist das Weiterverwenden des Be- griffs „Katastrophe“ nicht auch Aus- druck dafür, dass man sich selbst nach dem Verschwinden der sozialistischen Systemkonkurrenz 1989/91 keineswegs sicher im Sattel sitzend fühlt, weil die Widersprüche zwischen Kapital und Ar- beit, die Gegensätze zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft wie in der in- ternationalen Weltarena fortbestehen, sie sich durch die Schläge der Wirtschafts- mächtigen gegen die Rechte der Werk- tätigen und Kriege gegen schwache, aber rohstoffreiche Länder der Dritten Welt wie gegen den Irak verschärfen und da- durch früher oder später bedrohliche Gegenreaktionen hervorrufen müssen? Und überhaupt: Wer war der Schuldige an der „Urkatastrophe“? Nur frivol ver- blendete Diplomaten und kriegslüsterne Militärs? In wessen Interesse wurden vier Jahre lang Ströme von Blut vergos- sen und dabei noch nicht da gewesene Kriegsverbrechen und Verbrechen ge- gen die Humanität begangen? Über diese Fülle an Fragen lohnt es sich Reflexionen anzustellen und sie mit dem marxistischen Instrumentarium historisch zu durchleuchten. Nachfolgend werden drei Themenkomplexe behandelt, die geeignet sind, Kontinuitätslinien vom ersten Welt- krieg in unsere Gegenwart aufzuzeigen. Kriegs- und Humanitätsverbrechen Nicht nur der zweite, schon der erste Weltkrieg war kein Krieg zwischen Armeen in herkömmlichem Sinne mehr. Er war auch ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung, die man blutigen Repressalien unterwarf. Drei große Verbrechen sind im ersten Weltkrieg verübt worden: Die Gräuel der Deutschen in Belgien, der Völkermord D er 90. Jahrestag des Ausbruchs des ersten Weltkriegs hat eine Flut von neuen Büchern, Erinne- rungsartikeln, Fernsehsendungen, Stel- lungnahmen und Einschätzungen ge- bracht. Das, verglichen mit den vergan- genen Jahrzehnten, gesteigerte Interesse ist ein Anzeichen dafür, dass man die zentrale Bedeutung dieses Ereignisses mehr und mehr erkennt – etwas, was für marxistische Geschichtsbetrachter schon immer eine Selbstverständlichkeit war. Die Rede ist von „Ursache aller Ursa- chen“, „Urkatastrophe“, „Ursünde des 20. Jahrhunderts“; „Wir sind, ob wir es wissen wollen oder nicht, noch immer Erben jenes Großen Krieges, der im Sommer 1914 begann“ 1 ; „Auftakt zum Krieg ohne Ende. Alle heutigen Konflik- te des Nahen Ostens gehen zurück auf den Ersten Weltkrieg“ 2 ; „Das hundert- jährige Erbe. Der Erste Weltkrieg be- gann auf dem Balkan. Noch heute er- schüttern seine Schockwellen den Hinter- hof Europas“ 3 ; „Dieser Krieg war der Va- ter aller Dinge, die nachher kamen. Nichts war nach 1918 wie vor 1914. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist nur aus dem Ersten Weltkrieg zu erklären: Alle Entwicklungslinien zielen auf dieses Ereignis wie auf ein Brennglas, von hier strahlen sie weiter, machen das Jahrhun- dert zum blutigsten der Weltgeschichte“ 4 ; „1914 war eine Welt untergegangen: Sie kam nicht mehr zur Ruhe (...) Nach 90 Jahren ist der Erste Weltkrieg immer noch aktuell, als jene Katastrophe, die das ‚kurze‘ 20. Jahrhundert prägte, vom Jahr 1914 bis zum Jahr 1989.“ 5 Alles richtig. Trotzdem bleiben Fragen offen: Für wen war der erste Weltkrieg die „Urkatastrophe“? Sind damit jene ge- meint, für die das tatsächlich zutraf, die Volksmassen, die als Soldaten im Ge- schoßhagel an den Fronten und als Zivi- listen im Hinterland an Hunger und Seu- chen zu Millionen starben? Oder meint man mit „Katastrophe“ nicht auch, ja so- gar vornehmlich das Faktum, dass 1917/18 die Volksmassen gegen die Herrschenden aufstanden, sie in einem

Der erste Weltkrieg und unsere Zeit - Alfred Klahr · Die Gehirnwäsche in der Zeit vor 1914, betrieben von einer ganz neuen Technik zur Erzeugung „öffentlicher Meinung“, von

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11. Jg. / Nr. 3September 2004AALLFFRREEDD KKLLAAHHRR GGEESSEELLLLSSCCHHAAFFTT

MITTEILUNGEN

Der erste Weltkrieg und unsere ZeitHANS HAUTMANN

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der Türken an den Armeniern und dieAusschreitungen der kaiserlichen ArmeeÖsterreich-Ungarns gegenüber den Rut-henen und Serben. Dabei können dieletztgenannten Massaker den zweifelhaf-ten Ruf für sich beanspruchen, am unbe-kanntesten geblieben zu sein.

Nur die wichtigsten Fakten: Im Som-mer und Herbst 1914 wurden in Galizienan die 30.000 Ruthenen, darunter auchFrauen, exekutiert, wobei die Mehrzahlder Erschießungen und Erhängungennicht aufgrund eines Urteils in einemfeldgerichtlichen bzw. standgerichtli-chen Verfahren erfolgte, sondern will-kürlich, auf den bloßen Verdacht hin, fürdie Russen spioniert zu haben, an Ortund Stelle, unter Berufung auf die so ge-nannte „Kriegsnotwehr“, die den Offi-zieren der kaiserlichen Armee die Befug-nis gab, solche Tötungen anzuordnen.Dasselbe mit einer geschätzten Opfer-zahl von ebenfalls 30.000 geschah ge-genüber der serbischen Bevölkerung aufdem Balkankriegsschauplatz. (Von bei-den Verbrechen zeugen die zahlreichüberlieferten, berüchtigten „Galgenfo-tos“.) Nach dem Landesinneren wurdenin Internierungslager Zehntausende „po-litisch Verdächtige“ deportiert, Ruthe-nen, Serben und Italiener. Im Ruthenen-lager Thalerhof bei Graz starb im Winter1914/15 von den rund 7000 Insassen einDrittel an Flecktyphus. Mehrere TausendTschechen, Ruthenen, Serben, Slowenenund Italiener wurden von Militärtribuna-len als Staatsfeinde zum Tode verurteiltund hingerichtet, wobei die Mehrzahl derVerfahren höchst zweifelhaft war unddem glich, was man üblicherweise „Ju-stizmord“ nennt. Daneben gab es Tausen-de Verurteilungen zu hohen Kerkerstra-fen; Hunderte dieser Delinquenten fandenin den Gefängnissen und in den beidenMilitärstrafanstalten Theresienstadt undMöllersdorf, in denen entsetzliche Zu-stände herrschten, den Tod. In den vonder österreichisch-ungarischen Armee be-setzten Gebieten Serbiens, Montenegrosund Albaniens standen Geiselnahmen undGeiseltötungen auf der Tagesordnung.

Land stürzten und in mehreren anderenan den Rand des Abgrunds brachten? Istdamit nicht auch das Trauma verbunden,dass nach dem zweiten Weltkrieg als ei-ner Folge des ersten die Machtpositionendes Kapitalismus eine erneute und dies-mal vervielfachte Einschränkung erfuh-ren? Ist das Weiterverwenden des Be-griffs „Katastrophe“ nicht auch Aus-druck dafür, dass man sich selbst nachdem Verschwinden der sozialistischenSystemkonkurrenz 1989/91 keineswegssicher im Sattel sitzend fühlt, weil dieWidersprüche zwischen Kapital und Ar-beit, die Gegensätze zwischen Arm undReich in der Gesellschaft wie in der in-ternationalen Weltarena fortbestehen, siesich durch die Schläge der Wirtschafts-mächtigen gegen die Rechte der Werk-tätigen und Kriege gegen schwache, aberrohstoffreiche Länder der Dritten Weltwie gegen den Irak verschärfen und da-durch früher oder später bedrohlicheGegenreaktionen hervorrufen müssen?Und überhaupt: Wer war der Schuldigean der „Urkatastrophe“? Nur frivol ver-blendete Diplomaten und kriegslüsterneMilitärs? In wessen Interesse wurdenvier Jahre lang Ströme von Blut vergos-sen und dabei noch nicht da geweseneKriegsverbrechen und Verbrechen ge-gen die Humanität begangen?

Über diese Fülle an Fragen lohnt es sichReflexionen anzustellen und sie mit demmarxistischen Instrumentarium historischzu durchleuchten. Nachfolgend werden dreiThemenkomplexe behandelt, die geeignetsind, Kontinuitätslinien vom ersten Welt-krieg in unsere Gegenwart aufzuzeigen.

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Nicht nur der zweite, schon der ersteWeltkrieg war kein Krieg zwischenArmeen in herkömmlichem Sinnemehr. Er war auch ein Krieg gegen dieZivilbevölkerung, die man blutigenRepressalien unterwarf.

Drei große Verbrechen sind im erstenWeltkrieg verübt worden: Die Gräuel derDeutschen in Belgien, der Völkermord

Der 90. Jahrestag des Ausbruchsdes ersten Weltkriegs hat eineFlut von neuen Büchern, Erinne-

rungsartikeln, Fernsehsendungen, Stel-lungnahmen und Einschätzungen ge-bracht. Das, verglichen mit den vergan-genen Jahrzehnten, gesteigerte Interesseist ein Anzeichen dafür, dass man diezentrale Bedeutung dieses Ereignissesmehr und mehr erkennt – etwas, was fürmarxistische Geschichtsbetrachter schonimmer eine Selbstverständlichkeit war.Die Rede ist von „Ursache aller Ursa-chen“, „Urkatastrophe“, „Ursünde des20. Jahrhunderts“; „Wir sind, ob wir eswissen wollen oder nicht, noch immerErben jenes Großen Krieges, der imSommer 1914 begann“1; „Auftakt zumKrieg ohne Ende. Alle heutigen Konflik-te des Nahen Ostens gehen zurück aufden Ersten Weltkrieg“2; „Das hundert-jährige Erbe. Der Erste Weltkrieg be-gann auf dem Balkan. Noch heute er-schüttern seine Schockwellen den Hinter-hof Europas“3; „Dieser Krieg war der Va-ter aller Dinge, die nachher kamen.Nichts war nach 1918 wie vor 1914. DieGeschichte des 20. Jahrhunderts ist nuraus dem Ersten Weltkrieg zu erklären:Alle Entwicklungslinien zielen auf diesesEreignis wie auf ein Brennglas, von hierstrahlen sie weiter, machen das Jahrhun-dert zum blutigsten der Weltgeschichte“4;„1914 war eine Welt untergegangen: Siekam nicht mehr zur Ruhe (...) Nach 90Jahren ist der Erste Weltkrieg immernoch aktuell, als jene Katastrophe, diedas ‚kurze‘ 20. Jahrhundert prägte, vomJahr 1914 bis zum Jahr 1989.“5

Alles richtig. Trotzdem bleiben Fragenoffen: Für wen war der erste Weltkriegdie „Urkatastrophe“? Sind damit jene ge-meint, für die das tatsächlich zutraf, dieVolksmassen, die als Soldaten im Ge-schoßhagel an den Fronten und als Zivi-listen im Hinterland an Hunger und Seu-chen zu Millionen starben? Oder meintman mit „Katastrophe“ nicht auch, ja so-gar vornehmlich das Faktum, dass1917/18 die Volksmassen gegen dieHerrschenden aufstanden, sie in einem

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Diese Kriegsverbrechen und Verbre-chen gegen die Humanität wurden nach1918 in Österreich nie wirklich aufgear-beitet und sind es bis heute nicht.6 Wieder Verdrängungsprozess vonstatten ging,ist ein eigenes Kapitel, das hier nicht aus-gebreitet werden kann. Sehr wohl mussaber etwas über die Ursachen der Exzessegesagt werden, denn sie erscheinen jedemunbegreiflich, der nach wie vor fest an dasBild glaubt, das die Habsburgermonarchieso bühnenwirksam vor sich herzutragenverstand: dass ihre Parole „leben und le-ben lassen“ geheißen habe und sie dieweltweit einzig patentangemeldete Heim-statt der „Gemütlichkeit“ gewesen sei.Wache Zeitgenossen wie ein Karl Krauswussten aber schon damals, wie es um die„österreichische Seele“ in Wahrheit be-stellt war, welch tiefe Abgründe finster-ster Affekte unter der „feschen“ Ober-fläche lauerten. Ein ungeheures Aggressi-onspotenzial hatten die Jahrzehnte desNationalitätenkampfes gerade bei denenangehäuft, die „Deutschtum“ mit angebo-rener „Höherwertigkeit“ gleichsetzten,die sich vom Aufbegehren der „ge-schichtslosen Völker“ als überlegene undzum Herrschen prädestinierte „Kulturnati-on“ bedroht fühlten. In der Vorkriegszeitnoch unterdrückt und von Konventionengezügelt, verborgen hinter der Maske derVerbindlichkeit, freundlichen Wesensund Charmes, kamen die angestautenRessentiments 1914 explosiv und mitfurchtbaren Folgen zum Vorschein. Daslässt sich auch nicht mit dem Hinweis er-klären, dass es nun einmal zum Wesendes Krieges gehört, bei allen Beteiligtendie Hemmschwelle zur Tötung zu senken.Die Exzesse waren mehr und wurzeltenauf einem umfassenderen Nährboden.Das wirkliche Substrat des Massenterrorswar das jeglicher imperialistischer Macht-politik inhärente sozialdarwinistische undrassistische Weltbild, das bei den Herr-schenden und deren Handlangern die Be-reitschaft wie den Willen auslöste, denNietzsche-Ausspruch „Alles ist erlaubt!“zur Maxime ihrer Behandlung von „Min-

zu lassen. Die Liste umfasste 900 Namen,an der Spitze Kaiser Wilhelm II. AnalogeBestimmungen enthielt der Friede vonSaint-Germain mit Österreich. Auf dervon der Tschechoslowakei, Jugoslawienund Italien eingebrachten Kriegsverbre-cherliste befanden sich die Namen desArmeeoberkommandanten ErzherzogFriedrich, der Generäle Erzherzog Eugen,Erzherzog Joseph, Kövesz, Potiorek, Lüt-gendorf, Krauß, des Obersts Kerchnaweals Stabschef des Militärgouverneurs imbesetzten Serbien, der Kommandantenvon Thalerhof, Theresienstadt und Möl-lersdorf usw.7 Den Auslieferungsbegeh-ren wurde von Deutschland und Öster-reich in keinem einzigen Fall entspro-chen, womit der erste Anlauf zur Veran-kerung völkerrechtlicher Straftatbeständescheiterte. Der zweite, 1945/46 mit deninternationalen Militärtribunalen vonNürnberg und Tokio unternommen,glückte jedoch, nicht zuletzt deshalb,weil die Sowjetunion eine der Haupt-mächte der Anti-Hitler-Koalition war undim Unterschied zu Großbritannien undden USA von Anfang an auf einem or-dentlichen Gerichtsverfahren bestand.8Wichtigster Inhalt der Prozesse waren diedrei „klassischen“ Nürnberger Tatbestän-de: Führen eines Angriffskriegs, Kriegs-verbrechen und Verbrechen gegen dieMenschlichkeit. Sie wurden von den Ver-einten Nationen als Grundlage eines künf-tigen Völkerstrafrechts anerkannt. DirekteVorläufer des Statuts von Rom waren dievom Sicherheitsrat der UNO als Sonder-gerichte 1993 und 1994 eingesetzten Ju-goslawien- und Ruandatribunale.

Hat damit nach fast einem Jahrhundertdie Gerechtigkeit gesiegt? Vom Prinzipher ist der am 1. Juli 2002 konstituierteInternationale Strafgerichtshof mit Sitzin Den Haag als erstes auf Dauer fungie-rendes Weltgericht für Humanitätsver-brechen ein großer Fortschritt. Die Dia-lektik des Geschichtsablaufs hat dazu ge-führt, dass eine der zentralen Normen derbürgerlichen Gesellschaft, die Gleichheitvor dem Gesetz, sich unter bestimmtenBedingungen gegen ihre eigentlichenMachtträger richten kann und nicht bloßgegen ausführende Organe. Davon zeu-gen die Nürnberger Prozesse gegen denFlick-Konzern, Krupp und die IG Far-ben. Das Statut von Rom kann also beiveränderten globalen Kräfteverhältnis-sen durchaus zu einem wirksamen In-strument gegen die wirklich Schuldigenwerden, wirksam deshalb, weil in einemGerichtsverfahren Beweismittel vorzule-gen sind und dadurch die geheimen Ma-chenschaften in den Chefetagen des Mo-

derwertigen“ und „Subversiven“, ja vonBeherrschten generell, zu erheben. Dieunvermeidliche Folge war der Rückfall indie Barbarei. Eine schärfere Anklage ge-gen ein Gesellschaftssystem, das so etwasmöglich machte, ist nicht denkbar.

Das Gesagte zerstört die Idylle, dievom Habsburgerreich, seinen herrschen-den Kreisen und seiner militärischenFührung bis heute dominiert, gründlich.Es blieb eben nicht dabei, dass dieseSchicht die Elemente imperialistischerIdeologie in sich eingesaugt hatte, siehandelte auch danach und exerzierte dieSchwertstreiche im ersten Weltkrieg so-gar radikaler als der deutsche Bünd-nispartner. Das war so, weil sich Öster-reich-Ungarn einem Kardinalproblemgegenübergestellt sahen, das das wilhel-minische Kaiserreich in dieser Formnicht kannte, das aber die Situation Hit-lerdeutschlands in einem wesentlichenPunkt vorwegnahm: Das Problem, im ei-genen Machtbereich nach Millionenzählende „minderwertige“ Völkerschaf-ten, konkret die Slawen, politisch zu be-herrschen, wirtschaftlich auszubeutenund ihre nationalen Unabhängigkeitsbe-strebungen niederzuhalten. Zu einemMittel, dieses Ziel zu erreichen, mussteunter den Bedingungen eines imperiali-stischen Krieges, der sich nicht nur ge-gen den äußeren, sondern auch gegenden inneren Feind richtete, die Anwen-dung nackten Terrors werden.

Im Jahr 1998 stimmten 120 Staatendem Statut von Rom zu, mit dem ein In-ternationaler Strafgerichtshof etabliertwurde, der weltweit ohne Ansehen derPerson die Delikte Völkermord, Kriegs-verbrechen und Verbrechen gegen dieMenschlichkeit (Massenmorde, ethnische„Säuberungen“, Folter, Vergewaltigung)zu verfolgen hat. Der Weg zu ihm warlang und verwickelt; seinen Ausgangnahm er vom ersten Weltkrieg. Im Frie-densvertrag von Versailles wurdeDeutschland verpflichtet, seine Kriegs-verbrecher an die Alliierten auszuliefern,um sie von Militärtribunalen aburteilen

Österreichischer 30,5-cm-Mörser in Galizien

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„heiligen Verteidigungskrieg“ hinzustel-len, seinen räuberischen Charakter zu ver-schleiern und die Volksmassen dazu zumotivieren, sich freiwillig an falschen, ge-gen ihre ureigensten Interessen gerichte-ten Fronten gruppieren zu lassen. Dassdas im Juli/August 1914 gelang, war einerder größten Triumphe, den Herrschendeje feiern, und eine der bittersten Niederla-gen, die Beherrschte je erleiden mussten.

Die orgiastische Kriegsbegeisterung undihr nicht minder pathologisches Pendant,die Spionenhysterie, die in den erstenKriegswochen überall wie eine Seuchegrassierten, erscheinen Historikern bisheute als eines der rätselhaftesten, rationalunerklärlichsten massenpsychologischenPhänomene des 20. Jahrhunderts. Beidewaren aber nur das traurige Ergebnis im-perialistischer Ideologie, einer über Jahrehinweg in gigantischem Maßstab betriebe-nen Manipulierung und Verdummung derMenschen, eines Systems, das zur Einbin-dung der Volksmassen in sein Welt- undGesellschaftsverständnis bewusst auf dieKarte der Schürung von Emotionen undRessentiments setzte, und das zur Stabili-sierung seiner Herrschaft unter allen Um-ständen Feindbilder brauchte.

Die Gehirnwäsche in der Zeit vor 1914,betrieben von einer ganz neuen Technikzur Erzeugung „öffentlicher Meinung“,von der modernen Massenpresse, waraber nichts im Vergleich zu der ungeheu-ren Propagandamaschinerie, die in jedembeteiligten Land während des Kriegesaufgebaut wurde. Um die Leiden undEntbehrungen erträglich scheinen zu las-sen, mussten die Menschen mit Stim-mungsmache über den hehren Zweck desKrieges und den Ruhm, für das Vaterlandzu sterben, bis zur Besinnungslosigkeitüberfüttert werden. Die imperialistischeKunst der Menschenverführung, der Ma-nipulierung und Lüge erreichte eine un-geahnte Perfektionierung.

Die Wahrheit über diesen Krieg habenLenin und andere revolutionäre Marxi-stInnen vom ersten Moment an ausge-sprochen. Österreich kann sich glücklichschätzen, den wortgewaltigsten, konse-quentesten und unbestechlichstenKriegsgegner aus den Reihen des Bür-gertums besessen zu haben: Karl Kraus.Seine Schriften aus dem ersten Welt-krieg und sein dokumentarisches Drama„Die letzten Tage der Menschheit“ ste-hen ohne Vergleich da und sind bleibendaktuelle Lehrstücke für das Erkennen derProduktionsmethoden falschen Bewusst-seins. Die Ereignisse von 1914 bis 1918machten ihm klar, dass die von den Eli-ten verkündeten Leitbilder lediglich die

ideologische Tarnung für einen ökono-misch motivierten Expansionskrieg ab-gaben. Der Krieg war für ihn die Folgeder „Unterwerfung der Menschheit un-ter die Wirtschaft“.10 Die „Helden“ wer-den an die Fronten geschickt, um den„Händlern“ ihre Märkte zu sichern. „Ichweiß genau, dass es zu Zeiten notwen-dig ist, Absatzgebiete in Schlachtfelderzu verwandeln, damit aus diesen wiederAbsatzgebiete werden“.11

Aus den Erfahrungen der herrschendenKlasse mit der Waffe der psychologi-schen Kriegführung im ersten Weltkriegzogen der Faschismus, nach seiner Nie-derwerfung die „Kalten Krieger“ gegenden Weltsozialismus und gegenwärtig die„Globalisierer“ die Konsequenzen. Aus-gestattet mit dem noch wirksameren Mas-senmedium des Fernsehens wuchert dasEinhämmern falscher Begrifflichkeitenüppiger denn je: „Reform“ für die Kür-zung von Sozialleistungen und für dieAbschaffung einstens erkämpfter wirkli-cher Reformen; „Mitarbeiter“ für diemehrwertschaffenden Lohnabhängigen,die aufs Pflaster geworfen werden, sobaldsie für die Verwertungsbedürfnisse einesder „Mitarbeiter“ entweder überflüssigoder zu teuer sind; der uralte Hut „Unter-nehmer schaffen Arbeitsplätze“, denenman für diesen selbstlosen Dienst am All-gemeinwohl gefälligst Dank abzustattenhat, usw. Wie massenhaft das wirkt, zei-gen Meinungsumfragen, wonach dieMehrheit der Betroffenen das Argumentder im Dienst der Industriellenvereini-gung agierenden „Experten“ wie Rürupund Marin nachredet, die Pensions“re-form“ sei unverzichtbar, weil wir immerälter werden und immer weniger Kinderkriegen, zu lange „über unsere Verhältnis-se“ gelebt haben, wir uns das jetzige Sy-stem „nicht mehr leisten können“ und be-stehende „Ungerechtigkeiten“ durch„Harmonisierung“ zu beseitigen sind. „Inunserer reflexionsreichen und räsonieren-den Zeit muss es einer noch nicht weit ge-bracht haben, der nicht für alles, auch dasSchlechteste und Verkehrteste, einen gut-en Grund anzugeben weiß. Alles, was inder Welt verdorben ist, das ist aus gutenGründen verdorben worden“.12

Massenmanipulation ist heute dieHauptwaffe der herrschenden Klasse, sowirksam, dass sie wirkliche Waffen nichtoder vorerst nur in Ausnahmefällen ein-zusetzen braucht. In sie Breschen zuschlagen, wird von allen Aufgaben dieschwerste, dafür aber auch die mit deneffektivsten Ergebnissen sein. Die Ge-schichte des ersten Weltkriegs zeigt, dassdas möglich ist und so kommen kann.

nopolkapitals vor den Augen der Weltöf-fentlichkeit ans Tageslicht kommen.

Genau aus diesem Grund hat der Inter-nationale Strafgerichtshof einen erbitter-ten Feind, die USA. Sie gehörten zu je-nen sieben Staaten, die gegen das Rom-Statut stimmten, und sie behindern dieArbeit des Gerichts, wo sie nur können.Präsident George W. Bush hat im August2002 sogar ein Gesetz unterzeichnet, dasStaaten, die mit dem InternationalenStrafgerichtshof kooperieren, Sanktionenandroht und das die Befreiung von US-Bürgern in den Niederlanden unter Ein-satz von Militär erlaubt, die in Den Haagangeklagt und in Haft sind.9 Aber wiesingt doch die Wirtin Kopecka inBrechts „Schweyk im Zweiten Welt-krieg“?: „Es wechseln die Zeiten. Dieriesigen Pläne der Mächtigen kommenam Ende zum Halt. Und gehen sie einherauch wie blutige Hähne, es wechseln dieZeiten, da hilft kein Gewalt.“

PPrrooppaaggaannddaa uunndd MMaasssseennmmaanniippuullaattiioonn

Der Krieg, der 1914 begann, erhöhtedie Rolle des imperialistischen Staatessprunghaft und gab ihm eine noch nichtda gewesene, überwältigende Macht. Ererlaubte ihm, den Mann aus Familie undBeruf zu reißen, den Sohn den Eltern,den Vater den Kindern wegzunehmenund sie auf dem „Altar des Vaterlandes“zu opfern; er eröffnete ihm die Möglich-keit, die von der Verfassung garantiertenGrund- und Freiheitsrechte zu suspen-dieren und das politische Leben zu kne-beln; er gestattete ihm, dem Landwirtvorzuschreiben, wie viel er abzuliefernhatte, dem Arbeiter, bei wem und fürwelchen Lohn er arbeiten musste, demKonsumenten, was und wo er kaufen,wie viel Brot er täglich essen, wie vielKohle er verheizen durfte.

Begleitet war das von einem ohren-betäubenden Propagandagetöse. Tonnenan Druckerschwärze wurden in dieSchlacht geworfen, um die Gehirne derMenschen dahin zu bringen, den Zustandals Notwendigkeit zu empfinden, ja ihnals Überwindung alter Klassenschrankenund -gegensätze, als Hoch und Nieder diegleichen Pflichten abverlangende „Volks-gemeinschaft“ gutzuheißen. Zum Lohnfür diese Bekennerhaltung wurde verspro-chen, dass Österreich aus dem Krieg „er-neuert“ und „verjüngt“ hervorgehen wer-de, worunter sich jeder das vorstellenkonnte, was ihm als Ideal gesellschaftli-chen Zusammenlebens vorschwebte.Ganze Tintenmeere wurden aber auchverspritzt, um den Krieg als gerechten,

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„„DDeerr HHaauuppttffeeiinndd sstteehhttiimm eeiiggeenneenn LLaanndd!!““

Als Hugo Haase am 4. August 1914 imNamen der Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands vor dem Reichstag erklärte:„Wir lassen in der Stunde der Gefahr daseigene Vaterland nicht im Stich“, ordneteer wie die Führungen aller großen sozial-demokratischen Parteien Europas die In-teressen der Arbeiterschaft denen der im-perialistischen Bourgeoisie unter. Mit demÜberbordwerfen der Prinzipien des prole-tarischen Klassenkampfes und der interna-tionalen Solidarität gaben die Reformistenden Herrschenden die Sicherheit im Inne-ren des Landes, die sie für einen Erobe-rungskrieg nach außen brauchten. Leninschrieb damals: „Der Sozialchauvinismusist der vollendete Opportunismus. Er istreif geworden zu einem offenen, oft or-dinären Bündnis mit der Bourgeoisie undden Generalstäben. Es ist eben diesesBündnis, das ihm eine große Macht unddas Monopol des legal gedruckten Wortes,der Irreführung der Massen gibt“.13

Für den enormen Effekt der imperiali-stischen „Volksgemeinschafts“-Propa-ganda steht die Tatsache, dass man dieSchläge, die die Industrie- und Finanzo-ligarchie, die Regierung und das Militärim ersten Weltkrieg den Beherrschtenverabreichten, lange Zeit mit kaum insGewicht fallenden Ausnahmen stummund ohne Gegenwehr hinnahm – was inDeutschland und Österreich auch wider-spiegelte, wie stark hier die Unterta-nenmentalität verbreitet war.

Ein Teil, und zwar der entscheidende,scherte jedoch in Österreich um die Jah-reswende 1916/17 aus der Front der Re-gimeloyalität aus: die Arbeiterschaft. Sieschüttelte die ihr von den Machthabern,der Sozialdemokratischen Partei und derGewerkschaftsführung verpasste Zwangs-jacke des „Burgfriedens“ ab, besann sichauf ihre kämpferischen Traditionen undbegann mit dem Mittel des Streiks gegenEntrechtung und Unternehmerwillkür,für Frieden und Brot offensiv auf denPlan zu treten. Sie war es, die im Hal-tungsspektrum des österreichischenVolkes den Faktor des Aufbegehrensfortan verkörperte. Mehr noch: Sie brach-te im Massenstreik des Jänners 1918 dieHerrschaftsordnung ins Wanken undÖsterreich an einen Punkt, der näher ander Möglichkeit der sozialen Revolutionlag als je zuvor und danach in seiner Ge-schichte. Und unter den nationalen Pro-letariaten des Habsburgerreiches war siees, die 1917/18 das aktivste Elementdarstellte und die Rolle einer Avantgar-de für sich beanspruchen konnte.

Am 18. Mai 2004 gab der Diözes-anbischof von St. Pölten, Dr. Kurt

Krenn, in seiner Eigenschaft als Präsi-dent der Kaiser-Karl-Gebetsliga fol-gende Erklärung ab:

„Mit Dank gegen Gottes weise Vorse-hung ist es mir als Präsident der Kaiser-Karl-Gebetsliga eine aufrichtige Freudebekannt zu geben, dass der heilige Va-ter, Papst Johannes Paul II., die Aufnah-me des Dieners Gottes, Kaiser Karl vonÖsterreich, in die Schar der Seligen amSonntag, den 3. Oktober 2004, in Romvornehmen wird. Für alle Mitgliederder weltweit verbreiteten Kaiser-Karl-Gebetsliga und für alle Menschen gut-en Willens ein Grund, den zu loben,der letztlich alles Gute und Edle imDiener Gottes und in uns bewirkt undvollendet, Gott, unser Herr.

Nach genauer Prüfung des Lebensund Sterbens Kaiser Karls von Öster-reich ist das Urteil der Kirche nunmehrendgültig: Kaiser Karl ist ein hero-isches Vorbild an christlichen Tugen-den, die er in einem verantwortungs-vollen Leben als Mensch, Staatsmann,Ehemann und Familienvater erworbenhat und die bis zu seinem Tod in derVerbannung zu leuchtenden Zeichender Christusnachfolge geworden sind.

Über seinem Schicksal, hingestelltin die Wirren der damaligen Zeit, stehtdas Wort des Evangeliums: ‚Dein Wil-le geschehe'. Auch in den dunklen,trostlosen und schweren Stunden sei-nes Lebens war dies sein festes Ziel.Auf seinem Totenbett sagte KaiserKarl: ‚Ich muss so viel leiden, damitmeine Völker wieder zusammenfin-den'. Heute, Jahrzehnte später, habenseine Völker eine neue Form des Mit-einanders gefunden. Mögen sie imneuen Seligen, der ihnen allen nahewar, auch einen himmlischen Helfererkennen und ein Vorbild finden, dasihnen Licht auf dem Weg in die Zu-kunft ist, in eine Zukunft der Verant-wortung vor Gott und der Achtung derWürde jedes Menschen.“1

Die meisten seiner Zeitgenossen wa-ren da anderer Meinung. Eine davon,die von Karl Kraus, soll hier als heilsa-mer Dämpfer zum Tamtam, das dieösterreichischen Medien am 3. Oktober2004 rund um den neuen Seligen so si-cher wie das Amen im Gebet veranstal-ten werden, zur Präsentation kommen.

HANS HAUTMANN

„Der monarchische Gedanke beruht auf demMißverhältnis zwischen persönlicher Minder-wertigkeit und der Verfügung über dasSchicksal von Millionen, deren letzter mehrwert ist als jener Erste. Er entwickelt sich, so-lange einer an der Krücke ihrer Wahnideenfortschreitenden Menschheit dieses Mißver-hältnis nicht zur Anschauung gelangt ist; erschwindet mit einer Erkenntnis dahin, die dieprimitivste Sicherung des Lebensrechts be-deutet. An und für sich vermag die Möglich-keit, daß der Monarch ein Trottel ist, der Idee,die ihm, seiner Sippe, seinem Troß und An-hang die Existenz auf der Basis der Unsi-cherheit aller anderen Existenzen gewährlei-stet, keinen Abbruch zu tun. Es darf nur nichtso weit kommen, daß man es ihm beweisenkann, oder vielmehr (da die Beweisführungsolange es ihn gibt die Existenz am schwer-sten bedroht) daß der Drang es zu beweisenzum unwiderstehlichen Zwang wird, dessenBeherrschung der staatlichen Konstitutionungesund ist; es darf nicht so weit kommen,daß es, irgendwo auf dem Erdenrund ausge-sprochen, mit jener Ruchbarkeit in das Be-wußtsein des Volkes eindringt, die beinahedie Kraft hat, als hörbarer Chorus jede Re-gentenhandlung zu begleiten. In solchenEpochen schließt sich an die Resignation, diedamit vorlieb nimmt, daß der Erste nicht auchder Weiseste ist, der Zweifel, warum es aus-gerechnet der Dümmste sein muß.“2

„Gewiß, ein Monarch kann auf Regierungs-dauer ein Trottel sein, das widerstreitet nichtdem monarchischen Gedanken. Wenn ersich aber auch in der Zeit, da er kein Mon-arch mehr ist, wie ein Trottel benimmt, näm-lich durch die Art, wie er wieder Monarchwerden möchte, so sollte man doch meinen,daß auch die Anhänger des monarchischenGedankens ihm die Eignung hiezu abspre-chen müßten. Freilich huldigen ja die Anhän-ger des monarchischen Gedankens auch derAnschauung, daß ein Trottel, der einmalMonarch war, gar nicht aufgehört habe, einerzu sein, nämlich ein Monarch, so daß ihn derUmstand, daß er sich auch während der Un-terbrechung als ein solcher gezeigt hat, näm-lich als ein Trottel, nicht hindern könne, einMonarch zu werden, der er immer war undist. Woraus ferner hervorgeht, daß auch dieAnhänger des monarchischen Gedankensnie aufhören, das zu sein, was sie sind undimmer waren, nämlich Anhänger des monar-chischen Gedankens.“3

1/ www.beatificationemperorcharles.info/Deutsch/Ankündigung.htm, download Sep-tember 20042/ „Er hat so Heimweh gehabt“, in: DieFackel, Nr. 568-571, Mai 1921, S. 43/ „Epilog. Gesprochen am 30. Oktober“, in:Die Fackel, Nr. 577-582, November 1921, S.27. Unmittelbarer Anlass für diese Aus-führungen von Karl Kraus waren die beidengescheiterten Restaurationsversuche desExkaisers in Ungarn.

Karl Kraus über Österreichs letzten Kaiser

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kampf, Erringung von ökonomischenEinflusssphären, Kapitalexport usw.) Ja,sie gibt es, seit sie um die Wende vom 19.zum 20. Jahrhundert in der Donaumonar-chie entstand, sie ist nie verschwunden,höchstens in ihrer Wirkungsmöglichkeitzeitweilig eingeschränkt gewesen, undsie ist heute, nach der ab 1985 erfolgtenZerschlagung des verstaatlichten Wirt-schaftssektors, stärker denn je.14 Wie sieihre Kapitalanlagesphären ausdehnt, wis-sen Nachbarstaaten wie die Slowakischeund Tschechische Republik, Slowenien,Ungarn und neuerdings das ErdöllandRumänien bereits. Und wie sie bei unsagiert, haben die arbeitenden Menschennebst „unproduktivem Ballast“ wie Leh-rerInnen, StudentInnen, PensionistInnenund SozialhilfeempfängerInnen in denletzten Jahren drastisch erleben müssen.Sie gilt es vorrangig zu bekämpfen. Nurso kann man an konkrete Bedürfnisse,Ängste, Sorgen, Wünsche der Menschenan der Basis der Gesellschaft anknüp-fen, dadurch etwas in Bewegung brin-gen und ihr Ohnmachtsgefühl überwin-den. Erfüllen alle antiimperialistischenKräfte ihre Aufgaben zuerst im eigenenHaus, wird das der wirksamste Beitragzur Renaissance des Prinzips der inter-nationalen Solidarität sein.

Anmerkungen:1/ So der konservative deutsche HistorikerMichael Stürmer in: Die Welt, 4. August 20042/ So der amerikanische Historiker David From-kin in: Die Zeit, 29. Juli 20043/ So der deutsche Historiker Stefan Troebst in:Die Zeit, 29. Juli 20044/ So der österreichische Publizist AlexanderMarinovic in: Die Presse, 24. Juli 20045/ So der österreichische Sozial- und Wirt-schaftshistoriker Roman Sandgruber in: DiePresse, 24. Juli 20046/ Der Autor bereitet darüber schon seit länge-rem eine Monographie vor. An bisherigen Veröf-fentlichungen sind zu nennen: Hans Hautmann,Bemerkungen zu den Kriegs- und Ausnahmege-setzen in Österreich-Ungarn und deren Anwen-dung 1914-1918, in: Zeitgeschichte, Heft 2, Wi-en-Salzburg 1975; Kriegsgesetze und Militärju-stiz in der österreichischen Reichshälfte1914–1918, in: Erika Weinzierl/Karl R. Stadler(Hrsg.), Justiz und Zeitgeschichte = Veröffentli-chungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Ge-schichte der Gesellschaftswissenschaften 1, Wi-en-Salzburg 1977; Prozesse gegen Defätisten,Kriegsgegner, Linksradikale und streikende Ar-beiter im Ersten Weltkrieg, in: Karl R. Stadler(Hrsg.), Sozialistenprozesse. Politische Justiz inÖsterreich 1870-1936, Wien-München-Zürich1986; Blutgemütliches Etwas. Die Habsburger-monarchie, in: Fin de siècle. Hundert Jahre Jahr-

hundertwende. Bilder-Lese-Buch ElefantenPress, Berlin 1988; Als die k.k. Österreicher überdie Serben herfielen, in: Weg und Ziel, Nr. 10,Wien 1991; Zum Sozialprofil der Militärrichter imErsten Weltkrieg, in: Erika Weinzierl/Oliver Rath-kolb/Siegfried Mattl/Rudolf G. Ardelt (Hrsg.),Richter und Gesellschaftspolitik. Symposion Ju-stiz und Zeitgeschichte. 12. und 13. Oktober1995 in Wien = Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte und Gesell-schaft, Wien-Salzburg, Band 28, Innsbruck-Wien1997; Die Verbrechen der österreichisch-ungari-schen Armee im Ersten Weltkrieg und ihre Nicht-Bewältigung nach 1918. Referat auf der 23. Jah-restagung der amerikanischen „German StudiesAssociation“ in Atlanta/USA 1999, in:www.doew.at/thema/content.html , download August 2004; gemein-sam mit Claudia Kuretsidis-Haider: Judical Cri-mes as an Instrument of Internal Warfare andSubject of Post-War Justice in Austria: a Com-parison of WWI and II, in: The Second WorldWar in 20th Century History. Oslo – August 11-12, 2000. 19th International Congress of Histori-cal Sciences = Bulletin du Comité internationald’histoire de la Deuxième Guerre mondiale, n°30/31 – 1999/2000, Cachan 2000; Die öster-reichisch-ungarische Armee auf dem Balkan, in:Franz W. Seidler/Alfred M. de Zayas (Hrsg.),Kriegsverbrechen in Europa und im NahenOsten im 20. Jahrhundert, Hamburg-Berlin-Bonn2002. Das Thema behandeln mehr oder wenigerausführlich auch: Claus Gatterer, Unter seinemGalgen stand Österreich. Cesare Battisti. Porträteines „Hochverräters“, Wien-Frankfurt-Zürich1967; Christoph Führ, Das k.u.k. Armeeober-kommando und die Innenpolitik in Österreich1914-1917, Graz-Wien-Köln 1968; Eduard Ra-bofsky/Gerhard Oberkofler, Verborgene Wurzelnder NS-Justiz. Strafrechtliche Rüstung für zweiWeltkriege, Wien-München-Zürich 1985; Ger-hard Oberkofler/Eduard Rabofsky, Tiroler Kai-serjäger in Galizien, in: Historische Beiträge.Festschrift für Johann Rainer = InnsbruckerBeiträge zur Kulturwissenschaft 25, Innsbruck1988; Rudolf Jerabek, Potiorek. General imSchatten von Sarajevo, Graz-Wien-Köln 1991;Michael Pesendorfer, Die Militärjustiz Öster-

Für das bis heute übliche Erklärungs-schema über den Untergang Österreich-Ungarns bedeutet das sehr viel. DieHabsburgermonarchie ist im Herbst 1918keineswegs nur deshalb zerfallen, weildie nichtdeutschen Völker sich von ihrlostrennten. Auch die Österreicher hattendaran ihren Anteil. Es waren die öster-reichischen Arbeiterinnen und Arbeiter,die mit ihren Protestaktionen, Streiks undMassenbewegungen mindestens ebensoviel wie die beherrschten Nationalitätendazu beitrugen, das Regime zu unter-höhlen und zum Einsturz zu bringen.

Indem sie das taten, handelten siespontan im Einklang mit der LosungKarl Liebknechts, dass der „Hauptfeindim eigenen Land“ steht. Was war der In-halt dieser Losung? Der Arbeiterschaft,die im „Burgfrieden“ und im Propagan-danetz der Notwendigkeit der „Vater-landsverteidigung“ gefangen war, klar zumachen, dass es keinen „besseren fried-fertigen“, weil parlamentarisch-demo-kratischen, und keinen „schlechterenkriegerischen“, weil monarchisch-auto-ritären Imperialismus gibt (vice versa,denn für die Ebert, Scheidemann undKonsorten war natürlich der deutscheImperialismus der „bessere friedferti-ge“), dass er überall das gleiche Primär-ziel verfolgt, die Volksmassen ökono-misch und politisch in Botmäßigkeit zuhalten und es deshalb unstatthaft ist, füreine der rivalisierenden imperialistischenSeiten Partei zu ergreifen.

Hat die Orientierung, dass der „Haupt-feind im eigenen Land“ steht, heute nocheine Bedeutung? In einer Zeit, in der nurnoch Imperialismen mit „freiheitlich-de-mokratischer“ politischer Ordnung exi-stieren, die nunmehr – wie man es täg-lich zu hören bekommt – die zivilisierteMenschheit vor den Gefahren des „Ter-rorismus“ beschützen, im Zeichen derGlobalisierung und der europäischen In-tegration? Kann man den Kapitalismuswirksam nicht mehr im beschränkten na-tionalen Rahmen bekämpfen, sondernnur mehr auf internationaler Ebene? Die-se Frage ist auch für Österreich aktuell,ein Land, das seit 1995 Vollmitglied derEuropäischen Union ist und als Klein-staat in deren Machthierarchie gewissnicht die erste Geige spielt.

Die Frage muss aber so gestellt wer-den: Gibt es in Österreich eine imperiali-stische Bourgeoisie? (Imperialistisch imSinne Hilferdings und Lenins verstanden,als zum Finanzkapital verschmolzenes,monopolistisches Bank- und Industrieka-pital mit der Fähigkeit eigenständigenHandeln im kapitalistischen Konkurrenz-

www.klahrgesellschaft.at

– Sämtliche Beiträge aus den „Mitteilun-gen“der Jahrgänge 1994–2003– diverse Referate von Symposien undVeranstaltungen im Volltext– Übersicht über aktuelle und bisherigeVeranstaltungen der AKG– Informationen über die Sammlungendes Archivs der AKG– Beiträge und Bibliographien zur Geschichte der KPÖ– Publikationen der AKG

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um und der Theologie an der Jesuitenfa-kultät nach Innsbruck geschickt, wo er am14.7.1926 mit der Dissertation „Ehe undFamilie im Rechte Assyriens und Israels“zum Dr. theol. promovierte und am 26.Juli 1926 zum Priester geweiht wurde. Ander Innsbrucker Universität erwarb er am15.7.1933 mit einer staatswissenschaftli-chen Dissertation über die Soziologie desFranz Suarez (1548–1617) auch den Dr.rer. pol.. Das Studium an der Juristenfa-kultät half Kleinhappl bei seiner Schriftüber die Eigentums- und Staatslehre desScholastikers Ludwig Molina (1535–1600), mit welcher er sich im Winterse-mester 1932/33 an der Theologischen Fa-kultät für Scholastische Philosophie mitEinschluss der Sozialethik habilitierte.Die Auseinandersetzung mit der Wirt-schaftsethik der spanischen Spätscholasti-ker stand also am Beginn von KleinhapplsForschungen. Sein Denken haben dannbesonders die Arbeiten des westfälischen„roten Pastors“ Wilhelm Hohoff(1848–1923), der eine Verbindung zwi-schen der Arbeitswertlehre des Thomasvon Aquin mit der von Karl Marx herge-stellt hatte, aber auch von Karl von Vo-gelsang (1818–1890) beeinflusst. Vor al-lem aber hat sich Kleinhappl mit denWerken von Marx selbst beschäftigt,nicht einmalig, sondern immer wiederund noch im Alter studierte er intensivseine Werke. Kleinhappl war sich sicher,dass die „soziale Frage“ auf der Grundla-ge des weiter bestehenden kapitalistischenPrivateigentums an Produktionsmittelnnicht gelöst werden kann. KatholischesZirkelgeplauder, wie es heute wieder vondiversen katholischen Erneuerungsbewe-gungen forciert wird, war ihm zutiefst zu-wider. Das brachte ihn in Widerspruchzur offiziellen, das Privateigentum gleich-sam als „Naturrecht“ ansehenden päpstli-chen Enzyklika „Quadragesimo anno“von 1931, die, als Reaktion auf das Erstar-ken der revolutionären Arbeiterbewegungverfasst, starken Einfluss auf die austrofa-schistische „Ständestaatsideologie“ nahm.Konflikte mit den einflussreichen proka-pitalistischen Interpreten der Katholi-schen Soziallehre wie Owald von Nell-Breuning (1890–1991) oder JohannesMessner (1891–1984) waren abzusehen.Für Johannes Messner hat der WienerErzbischof Christoph Kardinal Schönborn2002 einen Seligsprechungsprozess ein-geleitet, auch das eine für die Gegenwartgedachte triumphale Restauration der ka-tholischen Apologeten des Kapitalismus,

der, wie Kleinhappl formulierte, „sinn-und sittenwidrigen Rechtfertigung des ka-pitalistischen Eigentumrechts durch einfehl definiertes Naturrecht“.

Die Katholisch Theologische Fakultätder Universität Innsbruck wurde 1938 vonden Nazis aufgehoben, der Versuch der Je-suiten, das Innsbrucker Canisianum alsStätte der Ausbildung in Form einer päpst-lichen Fakultät noch zu retten, scheiterte.Kleinhappl wurde während der Nazizeit inWien von seinem Orden als Lehrer derMoraltheologie, des Kirchenrechts und derDogmatik für Scholastiker der Gesell-schaft Jesu eingesetzt. Nach der Befreiungund der Wiedererrichtung der InnsbruckerTheologischen Fakultät nahm Kleinhapplseine Vorlesungen in Innsbruck wiederauf, zuerst als Privatdozent. Aufgrund sei-ner in der Einschätzung von Kapital undArbeit immer deutlicher werdenden christ-lich marxistischen Positionen wurde er in-nerhalb des Jesuitenordens als nicht mehrauf dem Boden der Katholischen Sozial-lehre Kirche stehend denunziert. Der vonder Ordensleitung der Jesuiten in Rom imFrühjahr 1947 als Visitator nach Öster-reich geschickte holländische Jesuiten-pater Peeter von Gestel (1897–1972) eröffnete Kleinhappl zu Ostern (6.April 1947), dass gegen seine Anschauun-gen, wie er sie in den Vorlesungen vertre-te, ernste Bedenken vorgebracht würden.Wer die Ankläger waren und was bean-standet wurde, wurde Kleinhappl nichtmitgeteilt. Bis zur Abklärung der Angele-genheit wurde Kleinhappl jedes öffentli-che Auftreten verboten, auch sollte ernichts veröffentlichen. Das amtliche Ver-fahren seiner eingeleiteten und vom Orts-bischof Paul Rusch (1903–1980), derKleinhappl sichtlich Sympathien entge-genbrachte, gerne unterstützten Ernen-nung zum ordentlichen Professor für Mo-raltheologie an der Innsbrucker Theologi-schen Fakultät konnte vom Orden ohneEklat nicht unterbrochen werden. So er-folgte zum 1. Oktober 1947 seine Ernen-nung zum ordentlichen Professor für Mo-raltheologie an der Innsbrucker Theologi-schen Fakultät und Kleinhappl begann dasWintersemester 1947 mit einer vierstündi-gen Lehrveranstaltung Ethica generalisund mit einer einstündige Exercitatioscholastica. Am 25. Dezember 1947 eröff-nete ihm der Provinzial der österreichi-schen Ordensprovinz, er müsse über Wei-sung der Ordensleitung der Jesuiten inRom seine Vorlesungen sofort einstellen,Innsbruck verlassen und nach Wien

reich-Ungarns im 1. Weltkrieg, Diss., Salzburg1994; Oswald Überegger, Der andere Krieg. DieTiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg,Innsbruck 2002; Martin Moll, Kein Burgfrieden.Studien zum deutsch-slowenischen National-konflikt in der Steiermark vor dem und im ErstenWeltkrieg, Graz 2002; Anton Holzer, Augenzeu-gen. Der Krieg gegen Zivilisten. Fotografien ausdem Ersten Weltkrieg, in: Fotogeschichte.Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Foto-grafie, 22. Jg., Heft 85/86, Marburg 20027/ Hans Hautmann, Die Verbrechen der öster-reichisch-ungarischen Armee, a.a.O.8/ Siehe dazu: Claudia Kuretsidis-Haider, Dievon der Moskauer Konferenz 1943 verabschie-dete „Erklärung über die Verantwortlichkeit derHitleranhänger für begangene Gräueltaten“.Genese, Kontext, Auswirkungen und Stellen-wert, in: Alfred Klahr Gesellschaft. Mitteilungen,10. Jg., Nr. 4, Wien 2003, S. 7-149/ www.inidia.de/internationaler_strafgerichts-hof.htm, download August 2004 10/ Karl Kraus, In dieser großen Zeit, in: DieFackel, Nr. 404, 5. Dezember 1914, S. 811/ Ebenda, S. 412/ Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Encyklopä-die der philosophischen Wissenschaften imGrundrisse, 1. Teil: Die Logik, in: Werke, Band6, Berlin 1840, S. 249. Hervorhebung im Origi-nal. Die Erstauflage dieses Werks und mithindas Zitat stammen aus dem Jahr 1812.13/ W.I. Lenin, Der Opportunismus und der Zu-sammenbruch der II. Internationale, in: W.I. Lenin,Gegen den Revisionismus, Berlin 1959, S. 27314/ Eine marxistische Analyse dazu legte schonvor zwanzig Jahren Hans Kalt vor, damals Mit-glied des Politbüros der KPÖ: Hans Kalt, DasFinanzkapital in Österreich, Wien 1985

Eine Erinnerung an den Moraltheologen Johannes Kleinhappl

Johannes Kleinhappl, im etwa vorzwei Jahrzehnten aufgelassenen stei-rischen Bergbaurevier Maria Lanko-

witz (Bezirk Voitsberg) als Sohn einerBergarbeiterfamilie am 26. August 1893geboren, war von früher Jugend an auf-grund des Schicksals seiner Familie un-mittelbar mit Fragen von Eigentum, Pro-duktionsmitteln und Lohnarbeit konfron-tiert. Der Jesuitenorden hat den hochbe-gabten Jugendlichen entdeckt und ihm ei-ne sehr gute Ausbildung vermittelt. Eswar die Zeit, in der die Katholische Kir-che spezielle Kader entwickelte, die imDienste ihrer Soziallehre gegen die sozia-listische Arbeiterbewegung tätig werdensollten. Nach der Matura am Privatgym-nasium der Jesuiten Kalksburg (1918)wurde Kleinhappl zum Studium der scho-lastischen Philosophie im Jesuitenkollegi-

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einer Strafpension in den zeitlichen Ru-hestand Die Universität Innsbruck hat,wie sollte es auch anders sein, nichts ge-gen diese offenkundige Verletzung derForschungs- und Lehrfreiheit in ihremBereich unternommen. Versuche vonKleinhappl, über den Verfassungs- undVerwaltungsgerichtshof im Amtswegedoch noch seine Professur wahrnehmenzu können, scheiterten.

Kleinhappl, der Priester blieb, musstein Wien die Aufgaben eines Advokatenbeim Erzbischöflichen Metropolitange-richt übernehmen. Für jeden, der das in-trigante, jeden Tratsch, und sei dieserauch noch so banal und nieder, aufgrei-fende Umfeld des katholischen Lebenskennt, weiß, dass diese Arbeiten zeitauf-wendig und strapaziös gewesen sein müs-sen. Im Thomaskolleg in der Habsburger-gasse Nr. 7 lebte Kleinhappl in einer sehrbescheidenen, straßenseitigen Zelle, bei-nahe ohne Tageslicht. Der Autor durfteihn dort seit Ende der 60er Jahre bis zuseinem Tode gelegentlich besuchen. Eswar dies für den Autor immer ein beson-ders schönes und herausforderndes Erleb-nis. Als der Autor 1974, also vor dreißigJahren, eine Arbeit über den Februar1934 (Innsbruck) verfasst hatte, schriebihm Kleinhappl am 9. Juli 1974: „/…/ Ichhabe Ihre Arbeit in einem Zuge gelesen,sie hat mich nicht früher losgelassen.Man bekommt aus ihr ein wirkliches Bildder damaligen Vorgänge und vor allemvon den Ursachen, die zu den damaligenVorgängen geführt haben. /…/ Für michist es bedrückend zu sehen, wie Amtskir-che und Bürgertum, trotz allem, immereinig sind, wenn es für das Eigentum undgegen die Arbeit geht. Darin hat sich lei-der auch heute noch nichts geändert./…/.“ Aus Anlass eines Artikel über die

Katholische Soziallehre in Weg und Ziel(1975, 129-131) schreibt ihm Kleinhapplam 9. März 1975: „/…/ Messner ist eingescheiter Mann, der weiß auf welcherSeite man heute stehen muss. Er ist nichtso rückständig wie ein Hohoff, der, ob-wohl katholischer Priester, es gewagt hatfür Karl Marx einzutreten. Es wurde ihm,wie er es verdient hat, auch heimgezahlt.Übrigens hat die Wiener ArbeiterzeitungP. Oswald von Nell-Breuning, der am8.3.1975 sein 85stes Lebensjahr vollen-det hat, hoch gefeiert. Es ist also, wie Siesehen, sehr gefährlich solche Männer wievon Nell-Breuning und Messner nichtgenügend zu achten und zu ehren. Ich binwirklich besorgt um Sie. /…/“

Kleinhappl hat in Wien weiterhin ver-sucht, in seinen wissenschaftlichen Ar-beiten weiterhin kämpferisch und kom-promisslos für die Anliegen der Arbeiter-klasse einzutreten. Natürlich ohne jedeöffentliche Anerkennung, auch wenn1962 der Europa Verlag in der Reihe„Europäische Perspektiven“ sein Büchl-ein „Arbeit – Pflicht und Recht. Fragender Wirtschaftsethik“ veröffentlichte.Aufgrund seiner Ausbildung und seinesWissens wäre Kleinhappl eine von derveröffentlichten Meinung akklamierteKarriere offen gestanden, so wie seinenOrdensbrüdern Nell-Breuning oder Her-wig Büchele. Letzterer hat als Professorfür Christliche Gesellschaftslehre an derInnsbrucker Universität die NATO-Bom-bardierung am Balkan ausdrücklich be-grüßt und ist deshalb auch als „Bomben-Büchele“ bekannt geworden. Kleinhapplaber verzichtete auf Karriere, er blieb Hu-manist und der Arbeiterklasse treu. DieKirche und mit die ÖVP schwieg ihn des-halb tot, die Wiener Sozialdemokratenleisteten in ihrem erbärmlichen Opportu-nismus sogar vor Nell-Breuning und Jo-hannes Messner ihren Kotau. Vor 25 Jah-ren, am 2. September 1979, verstarb Jo-hannes Kleinhappl. Er liegt in der Prie-stergrabstätte des Wiener Zentralfriedho-fes begraben. Seine ohne gelehrte Verzie-rungen geschriebenen Arbeiten sind esimmer noch wert, das über sie nachge-dacht wird. Diese sind heute im übrigenleicht zugänglich, denn sie wurden vonErnst van Loen in fünf Bänden gesam-melt und in den 90er Jahren im WienerHerder-Verlag und im Innsbrucker Tyro-lia-Verlag mit einer umfangreichen Bio-graphie (das ist der abschließende Band5) herausgegeben: Johannes Kleinhappl:Werkausgabe Band 1-5 (Band 1: HerderWien 1991, Band 2-5: Tyrolia Innsbruck– Wien 1992–1996) herausgegeben.

GERHARD OBERKOFLER

übersiedeln. Kleinhappls dem Visitatornach Rom mitgegebene, für den Druckvorbereitete Arbeit über „Die SozialeFrage der Gegenwart“ sei von zwei Zen-soren des Ordens überprüft und als be-denklich abgelehnt worden.

Die Einwände der bestellten Zensorengingen vor allem darauf hinaus, dass dieAnschauungen von Kleinhappl mit dempäpstlichen Rundschreiben Quadragesimoanno nicht vereinbar seien. Eine Gelegen-heit, in eine Diskussion mit den Behaup-tungen der Zensoren, die Kleinhappl, wieim Orden usus war, nicht bekannt gemachtwurden, einzutreten, wurde nicht gegeben.Einer der beiden Dunkelmänner dürfte je-denfalls Nell-Breuning gewesen sein.

Für das Studienjahr 1948/49 kamKleinhappl auf Weisung seiner Vorgesetz-ten im Orden um Beurlaubung ein, wasder damalige klerikale UnterrichtsministerErnst Kolb (1912–1978) mit einem Akten-vermerk so zur Kenntnis nahm: „Nachpersönlicher Rücksprache des Herrn Sekt.Chefs mit Herrn Dekan der TheologischenFakultät wird dem ordentlichen ProfessorDr. Kleinhappl, der nicht mehr auf seineLehrkanzel zurückkehren wird, für dieDauer des kommenden Studienjahres einUrlaub unter Gewährung des Weiterbezu-ges seiner Bezüge gewährt“. Kleinhapplkam zur Überzeugung, dass er als Jesuitseine wissenschaftliche Überzeugungnicht mehr vertreten werden könne, undreichte im Herbst 1948 im Vatikan um dieErlaubnis, aus dem Orden auszutreten ein,was ihm am 19. November 1948 bewilligtwurde. Kleinhappl, dem Bischof Ruschdie missio canonica nicht entzogen hatte,dachte daran, mit dem Studienjahr1949/50 seine Vorlesungen wieder aufzu-nehmen, doch bedeutete ihm der mächtigeInnsbrucker Jesuitenpater und Professorfür Kirchenrecht an der Innsbrucker Theo-logenfakultät Gottfried Heinzel(1903–1968): „Sie können lesen, werdenaber keine Hörer haben, außer ein paarAuswärtige“. „Kirche und Toleranz“ – solautet der Titel der Inaugurationsrede, dieHeinzel bei Amtsantritt als Rector ma-gnificus der Innsbrucker Universität ze-lebrierte. Auch der zuständige Sektions-chef im Unterrichtsministerium Otto(Baron) Skrbensky bedrängte Kleinhap-pl, seine Absicht nicht zu verwirklichen:„Sie lesen einfach nicht“. Kleinhapplblieb weiterhin beurlaubt.

Unterrichtsminister Heinrich Drimmel(1912–1991) versetzte Kleinhappl,wahrscheinlich auf Betreiben der Inns-brucker Theologischen Fakultät, mitWirkung vom 31. Dezember 1954 ohneVeranlassung und ohne Begründung mit

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Alfred Klahr über einige Grundfragen des Kampfes fürdie Unabhängigkeit Österreichs

Wir setzen im Klahr-Gedenkjahr 2004 die Reihe derBeiträge über ihn und von ihm mit einem Artikel fort,

den er unter dem Pseudonym P. Rudolf im Herbst 1937 ver-öffentlichte.1 Darin sind die Ergebnisse seiner großen Pio-nierarbeit, der Analyse der nationalen Frage in Österreich2,zusammengefasst; darüber hinaus geht Alfred Klahr auf eini-ge weitere Aspekte des Kampfes zur Verteidigung der Unab-hängigkeit Österreichs ein.

Der Artikel – von mir etwas gekürzt – ist in mehrfacher Wei-se bemerkenswert. Zu allererst kann er als Musterbeispieldafür gelten, ein komplexes Phänomen prägnant und allgemeinverständlich darzulegen. Weiters frappiert er durch die Scharf-sicht, mit der Ergebnisse vorhersagt werden, die infolge derAggressivität Hitlerdeutschlands und der Haltung jener herr-schenden Kreise in Österreich, welche die Schuschnigg-Regie-rung stützten, im Februar/März 1938 und danach tatsächlicheintreten sollten. Dem bis heute zu hörenden Vorwurf, dieösterreichischen Kommunisten und Kommunistinnen hättensich in der nationalen Frage mit den konservativen, katholi-schen und legitimistischen Kräften des Ständestaates verbün-det und seien in deren Fahrwasser gesegelt, gibt er eine ge-bührende Antwort und Abfuhr. Was Alfred Klahr dazu sagt,behält auch zur Widerlegung des 2004 von der ÖVP erneut un-

ternommenen Versuchs, Dollfuß zum Österreich-Patrioten parexcellence und Protagonisten der entschiedensten antinational-sozialistischen Gegenwehr hochzustilisieren, seine Gültigkeit.Und nicht zuletzt sind die Ausführungen zur Frage, an welcheTraditionen angeknüpft werden muss, um dem verquerenösterreichischen Identitätsverständnis das richtige entgegen zuhalten, von unverminderter Bedeutung.

Man geht nicht fehl in der Annahme, dass Alfred Klahr dieseanalytischen Fähigkeiten neben seiner hohen Intelligenz undBildung auch deshalb besessen hat, weil er fest auf dem Bodendes Marxismus und Leninismus stand.

HANS HAUTMANN

Anmerkungen:1/ P. Rudolf, Die nationale Frage und die Stellungnahme der Kommuni-sten in Österreich, in: Kommunistische Internationale. Zeitschrift des Exe-kutivkomitees der Kommunistischen Internationale, Heft 10, Strasbourg1937, S. 939-946. Nachgedruckt in: Alfred Klahr, Zur österreichischen Na-tion. Mit einem Beitrag von Günther Grabner herausgegeben von derKPÖ, Wien 1994, S. 45-592/ Rudolf, Zur nationalen Frage in Österreich, in: Weg und Ziel, Jg. 2(1937), Nr. 3, S. 126-133 und Nr. 4, S. 173-181. Nachgedruckt in: AlfredKlahr, Zur österreichischen Nation, a.a.O., S. 11-44

Seit dem Machtantritt Hitlerskämpft das österreichische Volkeinen erbitterten Kampf um die

Erhaltung seiner Unabhängigkeit ge-genüber den Annexionsbestrebungendes deutschen Faschismus. Die Kom-munistische Partei Österreichs vertei-digt die Unabhängigkeit Österreichs.

Genosse Dimitroff hat auf dem VII.Kongress der Komintern unterstrichen,dass wir Kommunisten „keine Anhän-ger des nationalen Nihilismus sind undniemals als solche auftreten dürfen“. Erhat ein ernstes Herantreten an die natio-nale Frage verlangt, die eine der wich-tigsten Waffen im Arsenal der faschi-stischen Demagogie ist. Die Kommuni-stische Partei Österreichs hat alle mitdem Kampf um die Unabhängigkeit desLandes verbundenen Fragen einer ein-gehenden prinzipiellen Prüfung unter-zogen. Welches sind die Hauptgesichts-punkte bei unserer Beantwortung dernationalen Frage in Österreich?

Wir Kommunisten kämpfen prinzipi-ell gegen jede nationale Unterdrückungund verteidigen das Recht jedes Volkesauf die nationale Selbstbestimmung,das das Recht auf die selbständigestaatliche Existenz einschließt.

Das Interesse der Arbeiterschaftverlangt die Erhaltung der Unabhän-

gigkeit Österreichs, denn ihre Ver-nichtung würde der Arbeiterschaft einnoch grausameres Joch auferlegen, alses der österreichische Faschismus zutun vermag. Mit der UnabhängigkeitÖsterreichs verteidigen die Kommuni-sten nicht nur die Gegenwart, sondernauch die Zukunft der österreichischenArbeiterbewegung. Die Erfahrungender letzten Jahrzehnte der Arbeiterbe-wegung zeigen deutlich, dass derGang der revolutionären Ereignisse inÖsterreich doch eigenartig, den be-sonderen Bedingungen des Landes an-gepasst, verläuft und dass eine demo-kratische oder sozialistische Umwäl-zung in Österreich nur das Ergebniseines selbständigen revolutionärenProzesses sein kann, nicht aber ein-fach ein Teil der kommenden deut-schen Revolution, wie in einer belie-bigen Provinz des deutschen Reiches.Deswegen hat unsere Partei auchschon vor der Machtergreifung Hitlersdie von den sozialdemokratischenFührern vertretenen Losung des An-schlusses an ein kapitalistischesDeutschland abgelehnt und entgegendieser Losung, die die Massen vomKampf gegen die eigene Bourgeoisieablenkte, den Kampf um den Sturz dereigenen Bourgeoisie als einzigen Aus-

weg propagiert. Die UnabhängigkeitÖsterreichs wird es der österreichi-schen Arbeiterklasse erleichtern, ihredemokratische und sozialistische Auf-gabe gegenüber dem österreichischenVolke zu erfüllen. Vom Standpunktder revolutionären Perspektive inÖsterreich selbst ist es also absolutrichtig und notwendig, dass die Kom-munisten für die weitere selbständigenationale Entwicklung des öster-reichischen Volkes kämpfen – und dasist das Entscheidende.

Das Interesse des ganzen österreichi-schen Volkes verlangt die Aufrechter-haltung der Unabhängigkeit Öster-reichs. Andernfalls würde Hitler inÖsterreich hausen wie in einer erober-ten Provinz. Er würde nicht nur die so-ziale Unterdrückung des Volkes stei-gern, sondern er würde auch ein Regi-me der nationalen Unterdrückung auf-richten. Braune Gleichschalter aus demdeutschen Reich würden in alle wichti-gen Ämter als Statthalter Hitlers einge-setzt werden. Hitler würde jede Spurvon selbständigen Organisationen desVolkes vernichten, alles österreichi-sche Kulturleben ausrotten, den reli-giösen Hader entfachen. Hitlers Siegwäre der Beginn der Entfesselung desKrieges in Mitteleuropa.

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Ebenso verlangt das Interesse desWeltkampfes für Freiheit und Frieden,gegen den deutschen Faschismus, die-sen Todfeind jeder demokratischen undsozialistischen Regung in allen Län-dern, die Erhaltung der UnabhängigkeitÖsterreichs. Siegt Hitler in Österreich,dann ist die Selbständigkeit der Tsche-chen und Ungarn, der Schweizer undBelgier, der Holländer und Dänen aufsärgste bedroht, dann sind die antifaschi-stischen Kräfte in Deutschland selbstzurückgeschlagen. An der Unabhängig-keit Österreichs hingegen können dieräuberischen Expansionspläne Hitlersin Mittel- und Südosteuropa scheitern.

So ist unser Kampf um die Unabhän-gigkeit Österreichs ein Kampf um dieLebensinteressen des österreichischenVolkes in Gegenwart und Zukunft, umdie Unabhängigkeit aller kleinen Natio-nen in Europa, um die Erhaltung desWeltfriedens. „Wenn wir zur Verteidi-gung der nationalen Interessen des ei-genen Volkes auftreten, zur Verteidi-gung seiner Unabhängigkeit und seinerFreiheit, so werden wir nicht zu Natio-nalisten, zu bürgerlichen Patrioten, son-dern tun dies als proletarische Revolu-tionäre und treue Söhne des eigenenVolkes“ (Dimitroff), tun wir dies alsproletarische Internationalisten.

Unser Kampf um die nationale Selbst-bestimmung des Volkes ist unlösbar ver-bunden mit der Erringung seiner politi-schen Freiheit und Selbstbestimmung.

Eine der stärksten Waffen der auto-ritären Diktatur gegen das Volk warund ist ihre Demagogie in der Frage derUnabhängigkeit. Die Schuschnigg-Dik-tatur missbraucht den Willen desVolkes zur Unabhängigkeit und lügtihm vor, dass die Niederhaltung der Ar-beiterklasse, die Vernichtung aller Frei-heitsrechte des Volkes notwendig seizur Erhaltung der UnabhängigkeitÖsterreichs. Erst jüngst, Mitte Juni1937, erklärte Schuschnigg in einergroßen Rede an die Arbeiter in heuch-lerischem Tone, die Arbeiter müssten„zur Erhaltung der SelbständigkeitÖsterreichs manche Opfer an Freiheitdes Wortes und der Bewegung in politi-schen Dingen bringen!“ Das autoritäreSchuschnigg-Regime, das die politi-sche Herrschaft eines Häufleins von re-aktionären Finanzmagnaten und Groß-grundbesitzern im Bunde mit den Kir-chenfürsten darstellt, bekennt sich inWorten zwar zur UnabhängigkeitÖsterreichs, versteht jedoch tatsächlich

darunter die Unabhängigkeit ihrerHerrschaft vom österreichischen Volke.Die herrschenden Reaktionäre sprechenvon der Selbständigkeit Österreichsund meinen die Selbständigkeit derAusplünderung des österreichischenVolkes für ihre eigenen Taschen. Des-wegen bauen sie die Unabhängigkeitdes Landes nicht auf die Kraft desVolkes, sondern auf den Schacher mitden faschistischen Diktaturen Hitlers

und Mussolinis. Die Zerschlagung derfreien Arbeiterorganisationen, die Ver-folgung der Antifaschisten, die Ver-nichtung jeder Demokratie, der Paktvom 11. Juli 1936 mit Hitler-Deutsch-land und die dadurch den Nationalso-zialisten gewährte Bewegungsfreiheit,all das ist Verrat an der Unabhängigkeitdes Landes, all das erleichtert denAgenten Hitlers in Österreich ihr Zer-störungswerk. Erst vor kurzem hatSchuschnigg ein so genanntes „volks-politisches Referat“ beim Generalsekre-tariat der „Vaterländischen Front“ ge-schaffen und an dessen Spitze ein Mit-glied der Deutschnationalen Partei ge-stellt. Gleichzeitig hat er einen Natio-nalsozialisten in den Staatsrat berufen.Auf diese Weise will Schuschnigg zurStützung seiner Diktatur die so genann-ten „national betonten Kreise“, d.h. diemehr oder minder maskierten national-sozialistischen Gruppen der Bourgeoi-sie seinem Regime eingliedern. Die Par-tei zeigt den Massen auf, dass, solangedas Regime der autoritären Diktatur be-steht, solange das Schicksal Österreichsvon einer Handvoll Herren eigenmäch-tig „autoritär“ verschachert werdenkann und nicht vom Volke selbst ent-schieden wird, Österreichs Unabhängig-

keit in Gefahr ist. Solange das Volk ge-fesselt ist, kann es leicht die Beute Hit-lers werden. Nur die politische Freiheitdes Volkes garantiert seine nationaleFreiheit, seine Unabhängigkeit.

Die Partei kämpft im Namen desFriedens und der UnabhängigkeitÖsterreichs gegen die Außenpolitik desherrschenden Regimes, die auf den Pro-tokollen von Rom und dem Juli-Paktmit Berlin beruht. Diese Außenpolitiktreibt Österreich in das Lager der fa-schistischen Kriegstreiber. Schusch-nigg verpflichtete sich im Pakt mit Ber-lin, die Außenpolitik Österreichs „unterBedachtnahme auf die friedlichen (!)Bestrebungen der Außenpolitik desDeutschen Reiches zu führen“. Auf die-se Weise spannen Schuschnigg und sei-nesgleichen Österreich vor den Kriegs-karren des deutschen Faschismus.Demgegenüber kämpft die Kommuni-stische Partei für die EinreihungÖsterreichs in die internationale Frontder Mächte des Friedens, kämpft siefür die kollektive Sicherheit.

So ergibt sich: Die Partei erfüllt so dennationalen Kampf um die nationale Un-abhängigkeit Österreichs mit einem de-mokratischen antifaschistischen Inhalt,dessen Schärfe sich gegen den Faschis-mus aller Farben, gegen den deutschenwie gegen den österreichischen, richtet.

Der betont-demokratische antifaschi-stische Inhalt unseres nationalen Kamp-fes erleichtert der Partei die scharfe Ab-grenzung gegen den bürgerlichen Natio-nalismus und Chauvinismus, von wel-cher reaktionären Gruppe der Bourgeoi-sie er auch ausgehe. Schuschniggs Lo-sung „Österreich – der zweite deutscheStaat“ hat eine merkwürdige Zustim-mung aller faschistischen und reak-tionären Gruppen in Österreich gefun-den, weil sich dahinter alle möglichenchauvinistischen und imperialistischenBestrebungen verbergen lassen.

Wir Kommunisten bekämpfen dieseThese, weil sie die Grundlage des Pak-tes vom 11. Juli 1936 mit Hitler-Deutschland ist und das österreichischeVolk noch fester an die KriegsachseBerlin – Rom ketten soll.

Wir Kommunisten bekämpfen dieseThese, weil sie das Werk der National-sozialisten zur Zerstörung der Unab-hängigkeit Österreichs erleichtert. Die-se These unterstützt die nationalsoziali-stische Auffassung der angeblichen„Einheit der deutschen Nation“ in den„zwei deutschen Staaten“. Diese These

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unterstützt alle jene Bestrebungen, dieÖsterreich zu einem Vorposten desdeutschen Imperialismus gegen diekleinen Staaten und Nationen des Do-nauraumes machen wollen.

Wir Kommunisten bekämpfen dieseThese, weil hinter ihr sich auch diephantastisch scheinenden reaktionärenBestrebungen monarchistischer Kreiseverbergen, anstelle des heutigen Deut-schen Reichs und Österreichs das „Hei-lige Römische Reich deutscher Nation“wieder aufleben zu lassen, in dem diekatholisch-habsburgische Vorherr-schaft, gestützt auf monarchistisch-par-tikularistische Gruppen in Süddeutsch-land, gesichert werden soll. Daher un-terstützen die monarchistischen Kreisein Österreich diese These Schuschniggs.

Gegenüber dieser verräterischen The-se Schuschniggs, die zum Gemeingutaller Totengräber der politischen undnationalen Freiheit des österreichischenVolkes wurde, erklärt die Kommunisti-sche Partei: Österreich ist nicht der„zweite deutsche Staat“, ist nicht eineFiliale Hitler-Deutschlands, darf nichtdas Ausgangsfeld von der Geschichtelängst verurteilter Habsburger-Träumesein. Österreich ist der Staat des öster-reichischen Volkes, das eine selbständi-ge staatliche und nationale Entwick-lung hinter sich hat, das sein weiteres

Schicksal selbst bestimmt und aus eige-ner Kraft seine Lebensfähigkeit sichernwill. Das freie österreichische Volk, eindemokratisches Österreich im Bundemit den demokratischen Friedensmäch-ten der Welt, wird stark genug sein, mitallen Feinden seiner Freiheit undSelbständigkeit im Innern wie vonAußen fertig zu werden. Dem Chauvi-nismus der Habsburg- und Hitleragita-toren setzt die Partei die Propagandades proletarischen Internationalismusentgegen, die Propaganda des solidari-schen Kampfes des österreichischenVolkes mit den antifaschistischen Kräf-ten in Deutschland und in den Nachbar-staaten, gegen Schuschnigg und Habs-burg, Hitler und Mussolini.

Genosse Koplenig – der Leiter derösterreichischen Kommunistischen Par-tei – hat in seiner Rede auf der Reichs-konferenz des KJV, in der er ausführ-lich über die nationale Frage in Öster-reich sprach, hervorgehoben, dass derKampf um „die Herstellung der politi-schen und nationalen Selbstbestimmungund Unabhängigkeit des Volkes nichtim Widerspruch zur geschichtlichenEntwicklung Österreichs steht, sondernin dieser Entwicklung begründet ist“.Die Partei analysiert gegenwärtiggründlich die Geschichte der nationalenEntwicklung des österreichischenVolkes und popularisiert sie in denMassen. Dabei enthüllt sie sowohl dieFälschungen der so genannten „gesamt-deutschen Geschichtsauffassung“ derNationalsozialisten als auch die Habs-burger-Legenden des „vaterländischen“Lagers und schmiedet neue ideologi-sche Waffen für den politischen Kampfin der heutigen Zeit. Die Partei wird da-mit eine Aufgabe erfüllen, die der VII.Kongress der Komintern allen kommu-nistischen Parteien aufgetragen hat,nämlich „der Vergangenheit des eige-nen Volkes historisch treu, in wirklichmarxistischem, leninistisch-marxisti-schem, in lenin-stalinschem Geiste zubeleuchten, um ihren gegenwärtigenKampf mit den revolutionären Traditio-nen des Volkes in der Vergangenheit zuverknüpfen“ (Dimitroff).

Diese Überprüfung der Geschichtehat gezeigt, dass das österreichischeVolk niemals ein Teil der deutschenNation war, so wenig wie das deutschsprechende Schweizer Volk. (…)

Nur eine Minderheit des österreichi-schen Volkes fordert auch weiterhinden Anschluss an Deutschland. Aber

auch bei diesem Teil, so weit es sichum werktätige Menschen handelt, spieltdas nationale Gefühl der Zugehörigkeitzur deutschen Nation keine entschei-dende Rolle. Ihre Anschlussforderungist auch ein Ausdruck ihres irregeleite-ten Strebens nach einem Ausweg ausihrem wirtschaftlichen und sozialenElend im Österreich der autoritärenDiktatur. Es ist klar, dass auch dieseSchichten des werktätige Volkes denFrieden und eine Besserung ihrer Lage,nicht aber den Krieg wollen, den ihnenHitler bringt. Daher muss die Partei inihrer Arbeit unter diesen Massen be-sonders an ihre soziale Nöte anknüpfen,muss die Zerstörung der besten Kräfteder deutschen Nation und der deut-schen Kultur durch Hitler brandmarkenund betonen, dass das österreichischeVolk seine deutsche Sprache liebt undsich aufs innigste mit allen friedlieben-den und fortschrittlichen Vertretern dergroßen deutschen Kultur verbundenfühlt. Ein erfolgreicher Vormarsch derösterreichischen Volksfront, ein demo-kratisches, unabhängiges Österreichwird durch seine dem Frieden und demVolke dienende Politik auch die Werk-tätigen aus dem Lager der alldeutschenOrientierung gewinnen können.

Die Habsburg-Agitatoren verbreitenunter dem Schlagwort der „sozialenVolksmonarchie“ Märchen über die„Volksfreundlichkeit“ Habsburgs undstellen die Restauration der Habsburgerals Garantie der Unabhängigkeit Öster-reichs dar, um die Massen zu ködern.Im österreichischen Volk leben die Tra-ditionen zahlreicher revolutionärerSchlachten gegen die Monarchie derHabsburger. Die österreichischen Bau-ernkriege des 16. und 17. Jahrhunderts,die heldenhaften Gestalten der Bauern-führer vom Schlage eines Gaismair, Fa-dinger, Zeller sind noch wach in der Er-innerung der Bauern. Die Nachfolgerjener „adligen Herren“ haben Heka-tomben Blutes der besten Söhne desLandes, der Bauern, der Arbeiter undBürger 1526, 1626, 1848 und spätervergossen, um ihre Herrschaft über dasunterjochte Volk aufrechtzuerhalten,und gerade sie sind es, die am lautestendie Wiedereinsetzung Habsburgs ver-langen. Die spärlichen demokratischenRechte, die es in den letzten Jahrzehn-ten der Habsburg-Monarchie gab, wa-ren keine Gabe der „Volksfreundlich-keit“ dieser volksfremden Dynastie, siemussten einer volksfeindlichen Dynastie

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durch einen jahrzehntelangen, überauszähen, überaus opferreichen Freiheits-kampf des Volkes Schritt um Schritt ab-gerungen werden. Die österreichischeArbeiterklasse blickt auf eine reiche re-volutionäre Geschichte zurück: auf dieRevolution 1848, auf die Freiheits-kämpfe der 70er Jahre des vorigen Jahr-hunderts, die Wahlrechtskämpfe, denJanuarstreik 1918, den Sturz der Habs-burger, die Revolution 1918-1919, aberauch auf die zahlreichen Kämpfe imNachkriegs-Österreich bis zu den Fe-bruar-Kämpfen 1934.

Die Kommunistische Partei über-nimmt die großen Traditionen allerrevolutionären Bewegungen desösterreichischen Volkes und seinerArbeiterklasse, und sie erfüllt derenpolitisches Vermächtnis, wenn siesich heute an die Spitze des Kampfesum die Unabhängigkeit, um die poli-tische und nationale Freiheit desösterreichischen Volkes stellt.

Manche Parteigenossen sprachen beider Behandlung der nationalen Fragedie Ansicht aus, dass die Partei zur Er-haltung der Unabhängigkeit Öster-reichs die Losung der Schaffung einer„Antinationalsozialistischen Front“ausgeben müsse. Die KommunistischePartei lehnt diese Losung ab, weil sieihrem Wesen nach zu einer opportuni-stischen Annäherung an das Schusch-nigg-Lager führen muss. Die Volks-front, die wir anstreben, ist eine Frontdes Kampfes um Brot, Frieden undFreiheit, eine Front der Erhaltung derösterreichischen Unabhängigkeit durchErringung der Demokratie im Landeund durch Erhaltung des Friedens imBunde mit allen Friedenskräften in Eu-ropa. Sie kann daher nur mit fort-schrittlichen und friedliebenden Kräf-ten geschlossen werden. Es ist ausge-schlossen, dass in dieser Volksfront re-aktionär-konservative und legitimisti-sche Kräfte aus dem Schuschnigg-La-ger Platz haben, wie sehr sie auch „an-tinationalsozialistisch“ gesinnt seinmögen, wie sehr sie auch in Worten dieUnabhängigkeit Österreichs „anerken-nen“. Die Losung der „Antinationalso-zialistischen Front“ ist falsch: denn er-stens hilft sie vor allem den reak-tionären, monarchistischen Bestrebun-gen und untergräbt damit die Unabhän-gigkeit Österreichs, sie widersprichtdem demokratischen Inhalt des Kamp-fes für die Unabhängigkeit, und zwei-tens würde sie die werktätigen Anhän-

ger des Nationalsozialismus in Öster-reich abstoßen. Die Partei aber mussdiese Leute im Gegenteil in die Volks-front zum gemeinsamen Kampf fürBrot, Freiheit und Frieden einbeziehen.

Auf der anderen Seite muss die Par-tei gegen einen nationalen Nihilismuskämpfen, der das österreichische na-tionale Moment im Kampfe um dieUnabhängigkeit Österreichs zu leug-nen versucht. (…)

Jeder nationale Nihilismus, wie er sichauch maskieren möge, führt dazu, dasswir der österreichischen DiktaturSchuschniggs weiterhin den Missbrauchdes nationalen Unabhängigkeitswillensdes Volkes überlassen, anstatt diesenWillen in eine demokratische Waffe ge-gen den Faschismus zu verwandeln.

Die Stellung der Partei in der natio-nalen Frage ist ein unlösbarer Bestand-teil ihres Gesamtkampfplanes für diedemokratischen Rechte und Freiheitendes Volkes. Sie ist daher eine wichtigeGrundlage der Schaffung der Volks-front für die freie, unabhängige, demo-kratische Republik Österreich.

Vor kurzem haben die gewähltenVertrauensmänner von über 100.000Angestellten, darunter zahlreicherGroßbetriebe, der Regierung eineDenkschrift überreicht, in der sie imInteresse der Verteidigung der Unab-hängigkeit Österreichs die Wiederher-stellung der demokratischen Volks-rechte verlangen. Diese bedeutsamepolitische Willensäußerung zeigt, dassdie Politik der Kommunistischen Par-tei in der nationalen Frage beginnt, inden Massen Fuß zu fassen.

Der aktive Kampf der Arbeiter aufder Grundlage der richtigen Linie derPartei schafft günstige Bedingungendafür, dass das Proletariat sich an dieSpitze der Freiheitsbestrebungen allerTeile des Volkes stellt, der hoch orga-nisierten, auf starke demokratischeTraditionen zurückblickenden Bau-ernschaft, der besten Teile des öster-reichischen Kleinbürgertums und derIntelligenz und der jungen GenerationÖsterreichs. Denn nur die Führungder Arbeiterklasse in diesem Kampfsichert die Verwirklichung des ge-meinsamen Zieles der heutigen Peri-ode: „Österreich aus einem Vorpostendes Faschismus Mussolinis und Hit-lers in einen Vorposten der Freiheit,des demokratischen Fortschritts unddes Friedens in Mitteleuropa zu ver-wandeln“ (Koplenig).

Willi Weinert:„Mich könnt ihr löschen,

aber nicht das Feuer“Ein Führer durch den Ehrenhain der Grup-pe 40 am Wiener Zentralfriedhof für diehingerichteten WiderstandskämpferInnen(Mit einem Beitrag von Heimo Halbrainer)

Aus dem Inhalt:Auf dem Weg in den Tod / Vom Erin-nern: „... später wird es Gewohnheit unddarüber hinaus vergessen.“ / Hinrichtun-gen im Wiener Landesgericht / ZumUmgang mit den Leichen der Hingerich-teten / Die Gruppe 40 – eine kurze Chro-nik / Lebensdaten von mehr als 500 Per-sonen der Gruppe 40 Anhang: Steirer als Opfer der WienerBlutjustiz 1942/43 (Heimo Halbrainer) /Im Schatten des Fallbeils. Die Hinrich-tungen im Grauen Haus (Ewald Sator) /Ich war sieben Monate in der Todeszelle(Edith Schober) / Ihre Söhne starben fürÖsterreich (Berta Brichacek) / Briefeund Kassiber von Oskar Klekner

192 S., ca. 400 Abbildungen (davon 350Porträts der Hingerichteten); Lageplanund Gräberverzeichnis der Gruppe 40Euro 15.- (erscheint Mitte Oktober)

Vorbestellungen an: [email protected] oder die AlfredKlahr Gesellschaft, Drechslergasse 42,1140 Wien ([email protected] per FAX an 01/982 10 86/18).

Vorankündigung

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angetriebenen Verfolgungen von Kom-munisten in den USA einsetzten, kam esauch zu einer Kampagne gegen MitjaRapoport und seine Frau Inge. Das An-sinnen, sie sollten ihren Auffassungenabschwören, lehnten sie entschieden ab.Als sich dann Verhöre und – bei Verwei-

gerung von Aussagen – Inhaftierung ab-zeichneten, verließ das Ehepaar Rapo-port mit drei kleinen Kindern und einemungeborenen vierten die USA.

Die Versuche Mitja Rapoports, eineseiner Qualifikation entsprechende An-stellung in Wien zu erlangen, scheiter-ten. Die US-Besatzungsbehörden setztendie antikommunistischen Aktionen fortund intervenierten bei den Funktionärender Wiener Universität, Rapoport dürfenicht angestellt werden. Aktennotizenüber diese Interventionen wurden inzwi-schen von amerikanischen Archiven zumTeil freigegeben. So entschloss sich Ra-poport, der gerne in Wien geblieben wä-re, die Berufung nach Berlin, DDR, andas Institut für Biochemie der Hum-boldt-Universität anzunehmen.

Es folgten nahezu drei Jahrzehntefruchtbarer wissenschaftlicher Tätigkeit.

Ein modern eingerichtetes Institut wurdeaufgebaut. Sein Lehrbuch „MedizinischeBiochemie“ erschien in zahlreichen Auf-lagen und wurde in mehrere Sprachenübersetzt. Es wurde zum Standardwerkfür die biochemische Ausbildung derMediziner in der DDR. Schüler Rapo-

ports wurden auf Lehrstühle anUniversitäten der DDR berufen.

Nach dem Ende der DDRübernahm Rapoport, inzwi-schen im Ruhestand, nochmalsein wichtiges Amt. Im Zuge derLiquidation von DDR-Institu-tionen wurde auch die Akade-mie der Wissenschaften derDDR aufgelöst; es wurden ihralle Forschungsinstitute undFonds entzogen. Ihre Mitgliedersollten aus dem wissenschaftli-chen Leben ausgeschaltet wer-den. Doch eine Gruppe vonAkademiemitgliedern beschloss,ihre Tätigkeit, ihren wissen-schaftlichen Gedankenaustauschdurch Gründung der „Leibniz-Societät“ fortzusetzen. Rapoportübernahm die Präsidentschaftdieser Gelehrtengemeinschaft,und übte diese Funktion für na-hezu zehn Jahre aus. Auch wenndie staatlichen deutschen Stellendie Societät ausgrenzen, ist sieweiter aktiv und ist auch weitergewachsen, nämlich durch Zu-wahl jüngerer Wissenschaftler,wobei auch Gelehrte aus den„alten“ Bundesländern diese

Wahl angenommen haben.Die große Beteiligung an der Trauer-

feier für Mitja Rapoport am 12. Augustin Berlin – zu der auch Freunde ausÖsterreich gekommen waren – war einAusdruck der großen Wertschätzungseiner hervorragenden wissenschaftli-chen Leistungen, seines gesellschaft-lich-politischen Engagements und sei-ner menschlichen Qualitäten.

Im Geist Rapoports standen auf derTraueranzeige die Worte seines Freun-des Jura Soyfer:Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde,Voll Leben und voll Tod ist diese Erde,In Armut und in Reichtum grenzenlos.Gesegnet und verdammt ist diese Erde,Von Schönheit hell umflammt ist dieseErde,Und ihre Zukunft ist herrlich und groß!

THOMAS SCHÖNFELD

M it dem Tod von Professor MitjaRapoport am 7. Juli 2004 inBerlin verliert die wissenschaft-

liche Welt einen hervorragenden Gelehr-ten und Lehrer und die Alfred Klahr Ge-sellschaft einen Freund und Genossen.Rapoport, der von Anfang der 1950erJahre das Institut für Biochemieder Humboldt Universität zuBerlin, DDR, leitete, verfolgtedie Tätigkeit der Alfred KlahrGesellschaft mit großem Inter-esse, stand in persönlichemKontakt mit einigen ihrer Vor-standsmitglieder und leistetezuletzt im Jahr 2001 einenwertvollen Beitrag zum Sym-posium der Gesellschaft überWalter Hollitscher (1911–1986), mit dem er insbesonderein Hollitschers Berliner Zeit oftzusammentraf.

Rapoport wurde auf dem Ge-biet der heutigen Ukraine ge-boren und kam mit seinen El-tern Anfang der 1920er Jahrenach Wien. Hier absolvierte erdie Mittelschule und studiertedann Medizin. Er trat dem Ver-band Sozialistischer Mittel-schüler bei, doch als er und an-dere Mitglieder der Gruppe –unter ihnen Jura Soyfer, mitdem er eng befreundet war –das Versagen der Sozialdemo-kratischen Partei erkannnten,schlossen sie sich der bereitsillegal tätigen kommunisti-schen Bewegung an. Der Wunsch, fürdie Sache des Sozialismus zu wirken,blieb für Rapoport Leitmotiv bis ansein Lebensende.

Nach Abschluss des Medizinstudiumsging er auf Grund eines Stipendiums fürweitere Studien in die USA. Seine medi-zinisch-chemischen Forschungsarbeitenam Kinderspital von Cincinnati, damalseine führende Institution in den USA,fanden große Anerkennung. In der Fol-gezeit gelang ihm eine bahnbrechendeEntwicklung: Die Haltbarkeit von Blut-konserven konnte wesentlich verlängertwerden, womit ein wichtiger Fortschrittfür die Versorgung von Kriegsverwun-deten erreicht wurde. Rapoport wurdemit dem höchsten an Zivilisten vergebe-nen Orden der USA ausgezeichnet.

Als mit dem Beginn des Kalten Krie-ges die von US-Senator McCarthy vor-

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SSaammuueell MMiittjjaa RRaappooppoorrtt ((11991122––22000044)) –– IInn mmeemmoorriiaamm

Samuel „Mitja“ Rapoport als Referent am Symposium derAlfred Klahr Gesellschaft zu Ehren von Walter Hollitscheram 20. Oktober 2001

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Am 19. Juni 2004 veranstaltete dieAlfred Klahr Gesellschaft im Be-ratungszentrum der Arbeiterkam-

mer Wien in Ottakring in Zusammenar-beit mit der Arbeiterkammer Wien undmit Unterstützung der Sitour – Innsbruck(Prof. Peter Schröcksnadel) ein Sympo-sium zur Erinnerung an Eduard Rabofs-ky (1911–1994). Da in der Ge-genwart die von Arbeiternehme-rInnen seit dem 19. Jahrhundertunter großen Opfern erkämpftensozialen Errungenschaften aus-gehöhlt und zurückgedrängtwerden sowie sich die arbeits-rechtlichen Auseinandersetzun-gen in den Betrieben verschär-fen, widmete sich das Symposi-um dem Thema „Arbeitsrecht inder Krise“. Es referierten Prof.Dr. Hermann Klenner (Berlin),Hon. Prof. Dr. Josef Cerny (Wi-en), o. Univ. Prof. Dr. Johann J.Hagen (Salzburg), em. o. Univ.Prof. Dr. Dr. h.c. mult. TheoMayer-Maly (Salzburg/Inns-bruck) sowie Rechtsanwalt Dr.Alois Obereder (Wien). Univ.Doz. Dr. Peter Goller (Inns-bruck), der ebenfalls als Refe-rent vorgesehen war, konnteaufgrund familiärer Verpflich-tungen seinen Beitrag demzahlreich erschienenen Publikum sei-nen Beitrag „Eduard Rabofsky über Le-nin als Arbeitsrechtler“ lediglich inSchriftform zur Verfügung stellen.

Alle Referenten haben einen speziel-len Bezug zu Eduard Rabofsky – sei espolitischer oder beruflicher oder auch„bergsteigerischer“ Natur –, der sich inihren Beiträgen widerspiegelte.

Hermann Klenner hob in seinem Ein-leitungsbeitrag die enge politische undfreundschaftliche Verbundenheit mitdem Rechtspraktiker E.R. hervor, derihn in den 1960er Jahren ersuchte, beider Erarbeitung gewisser Grundlagen-probleme der Rechtswissenschaft be-hilflich zu sein. Dass hier „Eulen nachAthen“ getragen wurden, war schnellklar, als sich E.R. der Analyse der He-gelschen Rechtsphilosophie zuwandteund selbst unter alteingesessenen Hege-lianer mit seinen Referaten und Diskus-sionsbeiträge im Rahmen der Kongresseder Internationalen Hegel-Gesellschaftbewunderndes Staunen hervorrief. Inder wissenschaftlichen Auseinanderset-

sich die Arbeits- und Sozialgerichte imRahmen des Möglichen um eine sozialeRechtsanwendung. Abschließend stell-te Cerny noch einige Reformvorschlä-ge, die den Weg aus der Krise des Ar-beitsrecht, die für ihn in einer Krise derRechtsdurchsetzung besteht, weisensollen, in den Raum.

Johann Hagen widmete sich inseinem Vortrag der Arbeit alsLebenswelt und wählte damiteinen bewusst anderen Zugangzur Thematik Arbeit. Dabeizeigte Hagen auf, dass Men-schen die Arbeitssituation nachallgemein menschlichen undnicht, wie Manager dies aus ih-rer Sicht tun, nach ökonomisch-technischen Gesichtspunktenbeurteilen. Dies resultiere, soHagen, im Bestreben der Men-schen, ihren Arbeitsplatz häus-lich zu gestalten, was zu Kon-flikten mit den Arbeitgebern füh-re. Mayer-Maly analysierte inseinem Beitrag das ABGB undArbeitsvertragsrecht im rechts-wissenschaftlichen Denken vonEduard Rabofsky und ging damitauf einen der arbeitsrechtlichenKlassiker – „ABGB und Arbeits-vertragsrecht“ – ein, der von Ra-bofsky, Csebranyak und Geppert

1953 verfasst wurde, ein. Insbesonderehob Mayer-Maly die Kommentierungvon § 1155 ABGB durch Rabofsky her-vor, in der dieser den Anspruch desDienstnehmers auf Entgelt auch beiTeilstreiks und mittelbarer Arbeits-kampfbetroffenheit bejahte.

Alois Obereder nahm das Publikumauf einen Streifzug durch die tagtägli-chen Probleme der ArbeitnehmerInnenbei der Durchsetzung ihrer Rechtsan-sprüche vor den österreichischen Ar-beits- und Sozialgerichten mit. So zeigteer auf, dass im Unterschied zur Rechts-durchsetzung vor noch zehn Jahren, dieArbeitnehmer zum Großteil nicht mehrwissen, bei wem sie beschäftigt sind, dasie von einer insolventen Firma zurnächsten abgeschoben werden.

Die im Rahmen des Symposiums ge-haltenen Vorträge werden demnächst ineinem von der Berichterstatterin be-treuten und von der Alfred Klahr Ge-sellschaft herausgegebenen Buch ver-öffentlicht werden.

ANJA OBERKOFLER

zung mit Hegel ging es – wie HermannKlenner betonte – ebenso wie in derFrage des Verhältnisses zwischen einermarxistisch betriebenen Jurisprudenz zuden beiden Grundströmungen bürgerli-chen Rechtsdenkens, dem Rechtspositi-vismus einerseits und andererseits derNaturrechtslehre, Eduard Rabofsky im-

mer um den konkreten Bezug und Nut-zen für die Arbeiterklasse. Klennerschloss seine Überlegungen mit einerKurzanalyse der derzeitigen gesell-schaftlichen Verhältnisse, in der er die„sozialen Bewegungen“ insofern in diePflicht nahm, als diese zuweilen überse-hen, dass „man die Armut nicht ausrot-tet, wenn man den Armen lediglichhilft, etwas weniger arm zu sein“.

Josef Cerny ging in seinem Podiums-beitrag auf den Titel des Symposiums –Krise des Arbeitsrechts – ein. Cerny hieltfest, dass es eine aktive und offensiveSozialpolitik in der Arbeitsrechtsgesetz-gebung kaum noch gibt und die letztenarbeitsrechtlichen Gesetze, die einenFortschritt im Sinne einer emanzipatori-schen Arbeitsrechtspolitik gebracht ha-ben, aus den 1970er Jahren des vorigenJahrhunderts stammen. Die Arbeits-rechtsgesetzgebung der letzten vier Jah-re, so prangerte Cerny an, sei eindeutigim Zeichen des Sozialabbaus und derUmverteilung zugunsten der Unterneh-mer gestanden. Demgegenüber bemühen

SSyymmppoossiiuumm zzuurr EErriinnnneerruunngg aann EEdduuaarrdd RRaabbooffsskkyy

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1144 Rezension

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Walter Schuster/Wolfgang Weber (Hg.),Entnazifizierung im regionalen Ver-gleich (Historisches Jahrburch der StadtLinz 2002), Linz 2004, 726 S., 29 Euro

Der vorliegen-de Sammel-

band – der fünfteeiner Publikati-onsreihe des Ar-chivs der StadtLinz zur Aufar-beitung des Na-tionalsozialismusin Oberösterreich– beschäftigt sichprimär mit Formen und Vorgangsweiseder (bürokratischen) Entnazifizierungin Österreich und den angrenzendensüddeutschen Ländern Bayern, Badenund Württemberg-Hohenzollern in denJahren 1945 bis 1948.

Seit der 1981 von Dieter Stiefel verfas-sten Monografie „Entnazifizierung inÖsterreich“ und dem Sammelband ausdem Jahr 1986 „Verdrängte Schuld, Ver-fehlte Sühne. Entnazifizierung in Öster-reich 1945–1955“ gibt es nur wenigeForschungen über die bürokratischenEntnazifizierung. Zudem waren in den1980er Jahren aufgrund der damals gel-tenden Archivsperren umfangreiche Ar-chivalien im Österreichischen Staatsar-chiv und in den Landesarchiven nur teil-weise oder gar nicht zugänglich.Schwerpunkte der einzelnen Beiträgedes Sammelbandes bilden daher nichtnur die Erforschung des Prozesses derEntnazifizierung unter regionalen Gege-benheiten – für manche Bundesländersind dies sogar erste Forschungsberichte– sondern auch die Nennung und Be-schreibung von Quellen für künftigeForschungsvorhaben in diversen Natio-nal- und Landesarchiven in Deutsch-land, Frankreich, Großbritannien, Öster-reich, den USA und Russland.

In Österreich wurden für die Entnazifi-zierung Bundesgesetze geschaffen; inden süddeutschen Ländern erließen dieLänder und die französische bzw. ameri-kanische Besatzungsmacht Gesetze. Imersten Teil des Sammelbandes werdendie unterschiedlichen Situationen in denBundesländern unmittelbar nach der Be-setzung und die jeweiligen Entnazifizie-rungsmaßnahmen beleuchtet (Beiträgevon Wolfgang Weber, Wilfried Beim-rohr, Oskar Dohle, Walter Schuster, Elis-abeth Schöggl-Ernst, Wilhelm Wadl,Klaus-Dieter Mulley, Gerhard Baum-gartner, Brigitte Rigele und Bernd Vo-gel). Die statistischen Auswertungen der

die Entnazifizierung betreffenden Regi-strierungsakten in den einzelnen Regio-nen und die quantitative In-Beziehung-Setzung der unter die Entnazifizie-rungsbestimmungen fallenden Personenzur Gesamtbevölkerung verdeutlichenAusmaß und Umfang der Entnazifizie-rung. Sie geben aber auch einen Ein-druck davon, welche Konsequenzen –wären die Entnazifizierungsbestimmun-gen rigoros angewandt worden – diesfür die Nachkriegsgesellschaft nachsich gezogen hätten. Hiezu wären aller-dings tiefergehende Forschungen not-wendig, zu denen dieser SammelbandAusgangspunkte bietet.

Der Sammelband veranschaulicht so-wohl die Erfolge als auch das Scheiternder Entnazifizierung: Durch die Regi-strierung der Nazis gelang es, NS-Elitenund Mitglieder namhaft zu machen. Al-lerdings bedingten die berufliche Quali-fikation und der zumeist hohe sozialeStatus der NS-Eliten, dass diese baldwieder in die Nachkriegsgesellschaft re-integriert wurden. Anhand zahlreicherBeispiele zeigen die AutorInnen, dass ei-ne „moderate Haltung,“ von Bevölke-rung und Wirtschaft gefordert und derPolitik schließlich umgesetzt, eingenom-men wurde. Die „wirtschaftliche Ver-nunft“ und das Credo des Wiederaufbaussiegten schließlich über das demokrati-sche Erfordernis der Entnazifizierung.Interessant ist aber auch, dass der Sam-melband auf die Nazifizierung der Re-gionen und Bundesländer während derNS-Zeit eingeht und somit die Bedin-gungen und Voraussetzungen für dieEntnazifizierung darlegt. Beispielsweisezeigt Wilfried Beimrohr, dass in Tirolder Anteil der Registrierungspflichtigenzwar sehr hoch war, sich unter jenen abernur wenige illegale Nazis befanden. Ur-sache dafür lag darin, dass aufgrund der„Politik der offenen Arme“ von Gaulei-ter Franz Hofer Tirol schließlich diegrößte Dichte an NSDAP-Mitgliedernaufwies, obwohl hier der Nationalsozia-lismus vor 1938 nur wenig verankert war(S. 98-116). Auch Salzburg weist einigeSpezifika auf: Einerseits war Salzburgdas einzige vollkommen unter amerika-nischer Kontrolle stehende Bundesland,zum anderen gab es hier aufgrund derNähe zum „Altreich“ viele Deutsche inder NS-Bürokratie. Da die Entnazifizie-rung auch eine „Entpreußung“ beinhalte-te, verursachten diese Entlassungen einePersonalnot in der öffentlichen Verwal-tung, die oftmals eine konsequente Säu-berung verhinderte (S. 118-156). Bis Fe-bruar 1946 wurden in Kärnten 67 % der

Beamten aufgrund ihrer NS-Vergangen-heit aus dem Dienst der Landesregierungentlassen, was auch aus einem außenpo-litischen Kalkül erfolgte – die jugoslawi-sche Propaganda brandmarkte Österreichund v. a. Kärnten als Hort des Nazismus,um Forderungen bei den Staatsvertrags-verhandlungen zu unterstützen. WilhelmWadl weist nach, dass sowohl SPÖ alsauch ÖVP die Entnazifizierung in Kärn-ten mit Amnestie gleichsetzten (S. 257-259). Am Beispiel der Entnazifizierungin Niederösterreich verweist Klaus-Die-ter Mulley u.a. auf eine sehr interessante,aber weitgehend unerforschte kulturge-schichtliche Fragestellung: Die Aktender Entnazifizierung sind bedeutsamesozial- kultur- und politikwissenschaftli-che Quellen, die etwa „Identitätskon-struktionen“, welche sich Nationalsozia-listen in den 1930er bis 50er Jahren ba-stelten, offen legen (S. 301). Evidentwird dabei, dass entsprechende sozialhi-storische Untersuchungen bislang aus-stehen und beispielsweise die Personen-daten der von der Entnazifizierung Be-troffenen für eine sozialwissenschaftli-che Untersuchung fruchtbar gemachtwerden könnten. Doch TäterInnenfor-schung weist in Österreich immer nochkrasse Leerstellen auf.

Der Sammelband skizziert des Weite-ren die Entnazifizierungsmaßnahmen derAlliierten in Österreich und den süddeut-schen Bundesländern (Beiträge von KurtTweraser, Siegfried Beer, Barbara Stelz-Marx, Jürgen Klöckler sowie Paul Hoser).Die AutorInnen beschreiben die unter-schiedlichen Vorgangsweisen der Alliier-ten und deren Entnazifizierungskonzepte:Von der „auto-épuration“ der Franzosenunter Einbindung einheimischer Wider-standsgruppen über die sozialrevolu-tionären Konzepten der Briten und Ame-rikaner, die einen vollkommenen Eliten-austausch erreichen wollten, bis hin zuden sowjetischen Entnazifizierungsvor-stellungen, die fast ausschließlich öster-reichische Behörden mit der Administrati-on betrauten. Auffallend ist, dass die Alli-ierten in ihrer Entnazifizierungspolitiksehr deutlich zwischen Deutschland undÖsterreich unterschieden.

Den letzten Teil des Sammelbandesbilden über das Kernthema der bürokra-tischen Entnazifizierung hinausgehendeBeiträge. Interessant ist der Artikel vonWinfried R. Garscha, der sich mit derbislang kaum untersuchten Rolle der Si-cherheitsexekutive bei der Entnazifizie-rung beschäftigt. Er weist auf die Proble-matik hin, dass zahlreiche Bestände ausdem Innenministerium sowie Akten der

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Bundespolizeidirektion „in Verstoß ge-raten“ sind. Bis heute haben die zustän-digen Behörden allerdings kein Interessedaran, die Rolle der Sicherheitsexekutivezu beleuchten, wie die Skizzierung eines– wenngleich vom damaligen Innenmini-ster Löschnak im Jahr 1994 initiierten,dann aber aufgrund der mangelnden Ko-operation der zuständigen Abteilungen –gescheiterten Projektes zeigt (S. 551-562). Claudia Kuretsidis-Haider be-schreibt mit der Volksgerichtsbarkeit inÖsterreich zwischen 1945–1955 die ju-stizielle Säule der Entnazifizierung. Siewar sie aber zugleich Teil der bürokrati-schen Entnazifizierung, zumal zahlreicheTäterInnen auch wegen des Formalde-likts der Illegalität oder des Registrie-rungsbetrugs (Falschangaben oder unter-lassene Registrierung) verurteilt wurden.Besonders interessant ist die Auflistungund Kurzbeschreibung der 43 vor denVolksgerichten ergangenen Todesurteilegegen NS-Verbrecher (S. 569-579).Konstantin Putz berichtet exemplarischanhand der EDV-mäßigen Erfassung derAkten des Volksgerichtes Linz im OÖLandesarchiv über die Bedeutung derGerichtsakten für die historische For-schung (S. 603-636). Der Beitrag vonMarion Wisinger geht, basierend aufdem Broda-Nachlass, auf die (In-)Akti-vität der österreichischen Justiz bei derVerfolgung der NS-Verbrecher in den1960er und 70er Jahren ein und weistdarauf hin, dass die Ursachen und Grün-de für die faktische Einstellung der Ver-folgung von NS-Straftaten in den 70erJahren weitgehend im Dunkeln liegen(S. 637-50). Martin Polaschek be-schreibt in seinem abschließenden Bei-trag die rechtlichten Aspekte bei der Ar-beit mit Entnazifizierungsakten und Da-tenschutzbestimmungen (S. 651-662) –und beinhaltet unabdingbares Wissenfür jede/n Forscher/in, der/die sich mitdiesem Thema beschäftigt.

Wenngleich ein einführendes Kapitelüber die strukturellen und gesetzlichenVoraussetzungen der Entnazifizierungs-maßnahmen die Übersicht erleichternund ein Grundverständnis – besondersfür den/die mit dem Thema nicht ver-trauten LeserIn – erzeugen würde, bildetdieser Band ein Standardwerk zum The-ma der politischen Säuberung nach 1945in Österreich. Der Verdienst des Sam-melbandes besteht zudem darin, eineForschungslücke zu befüllen und zahl-reiche Hinweise auf und Anregungen zuneuen Ansätzen bzw. weitergehendenForschungen zu geben.

SABINE LOITFELLNER

Samstag, 16. Oktober 2004, 10.00–14.00Universitätscampus Altes AKH, ehem. Kapelle

Spitalgasse 2-4/Hof 2, 1090 Wien(Linie 5, 33, 43, 44 Lange Gasse)

Programm

Eröffnung: Univ. Prof. Dr. Hans Hautmann (UniversitätLinz, Präsident der Alfred Klahr Gesellschaft):

„Alfred Klahr und Österreich wie es ist und wie es seinsollte“

Univ. Prof. Dr. Wolfgang Häusler (Institut für Österreichi-sche Geschichtsforschung, Universität Wien):

„Konvergenz und Differenz. Alfred Klahr und Ernst KarlWinter“

Dr. Winfried R. Garscha (Dokumentationsarchiv des öster-reichischen Widerstandes, Zentrale österreichische For-schungsstelle Nachkriegsjustiz):

„Klahrs theoretische Begründung der österreichischenNation in der Tradition marxistischer Theoriebildung zurnationalen Frage“

Univ. Prof. Dr. Félix Kreissler (Österreichisches Studien-und Forschungszentrum, Universität Rouen/Frankreich):

„Die Auswirkungen auf Politik und Geschichtsschreibungder Zweiten Republik“

Alfred Klahr (1904–1944)und die „Erfindung“ derösterreichischen Nation

Deutschnationale, Austrofaschisten und Kommunistenim Kampf um die österreichische Identität

Symposium der Alfred Klahr Gesellschaft

„Österreich ist der Staat des österreichischen Volkes,das eine selbständige staatliche und nationale Entwicklunghinter sich hat, das sein weiteres Schicksal selbst bestimmtund aus eigener Kraft seine Lebensfähigkeit sichern will.“

Alfred Klahr im Oktober 1937

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Mitteilungen der ALFRED KLAHR GESELLSCHAFT

Herausgeber und Medieninhaber:ALFRED KLAHR GESELLSCHAFTPräsident: Univ.Prof. Dr. Hans Hautmannweitere MitarbeiterInnen dieser Ausgabe:Sabine Loitfellner, Anja Oberkofler, GerhardOberkofler, Thomas SchönfeldLayout: Manfred MugrauerAdresse: Drechslergasse 42, 1140 WienTel.: (+43–1) 982 10 86FAX: (+43–1) 982 10 86 DW 18e–mail: [email protected]: www.klahrgesellschaft.atVertragsnummer: GZ 02 Z 030346 SP.b.b., Verlagspostamt 1140 Wien

Bestellungen:Alfred Klahr Gesellschaft, Drechslergasse 42,A-1140 Wien, FAX: (+43–1) 982 10 86/18e-mail: [email protected]

NeuerscheinungPeter Goller:

Geschichte der Arbeitsrechtswissenschaft in ÖsterreichStudien über Isidor Ingwer (1866–1942) und

Eduard Rabofsky (1911–1994)Wien 2004 (Quellen & Studien, hg. von der Alfred Klahr Gesell-schaft, Sonderband 5), 112 Seiten, 10.– Euro, ISBN 3-9501204-9-1

Verschärfte Arbeitskämpfe in Österreich, im November 2003 erfolgte Dro-hungen, streikende Eisenbahner zu entlassen, aggressiver werdende Eingrif-

fe in Rechte der Arbeiterklasse führen zur Frage, wie sich die Ende des 19. Jahr-hunderts an den österreichischen Hochschulen entstehende Arbeitsrechtswissen-schaft zum Koalitions- und Streikrecht gestellt hat. Wie arrangierte sich die bür-gerlich-universitäre Rechtswissenschaft mit der „Werkgemeinschaftsideologie“des Austrofaschismus, der „nationalen Arbeitsordnung“ des NS-Faschismus?

In vorliegender Abhandlung von Univ.Doz. Dr. Peter Goller (Universität In-nsbruck) wird die Geschichte der österreichischen Arbeitsrechtswissenschaft

seit Ende des 19. Jahrhunderts aus der Sicht zwei-er Juristen der Arbeiterklasse – dem 1942 im KZTheresienstadt ermordeten Arbeiteranwalt IsidorIngwer (1866–1942) und dem von der Gestapo alsMitglied der kommunistischen Widerstandsgrup-pe „Soldatenrat“ verhafteten, späteren Wiener Ar-beiterkammerjuristen Eduard Rabofsky (1911–1994) – beschrieben.

An dieser Stelle möchten wir uns erneut anunsere FreundInnen mit der Bitte wenden,Materialien aller Art (Bücher, Zeitungen,Zeitschriften, Dokumente, Flugblätter, Ab-zeichen, Fotos, Gegenstände usw.), diedie Sammeltätigkeit der Alfred Klahr Ge-sellschaft betreffen, dieser zu übergeben,bzw. es uns zu ermöglichen, diese zu sich-ten und eventuell Kopien anzufertigen.

Im Land der Berge und am Strome

Freitag, 24. September 2004, 19.00Saal der Alfred Klahr GesellschaftDrechslergasse 42, 1140 Wien(erreichbar mit U3 Hütteldorfer Str., Linie 49/S 45 Breitensee)

Alfred Klahr GesellschaftArchiv- und Bibliotheksverein

www.klahrgesellschaft.at

Texte von Karl Krausüber die Treuhänder

„echten“ Österreichertums

ausgewählt und gelesenvon Hans Hautmann