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Der fotografierte Krieg Der Erste Weltkrieg zwischen ... · Der Erste Weltkrieg zwischen Dokumentation und Propaganda. Vorwort 9 Ulrich Herrmann Der Erste Weltkrieg als „Weltkrieg“

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  • Der fotografierte KriegDer Erste Weltkrieg zwischen Dokumentation und Propaganda

  • Tbinger KatalogeHerausgegeben von der

    Universittsstadt Tbingen Fachbereich Kunst und Kultur

    Nr. 98

    Diese Publikation erscheint anlsslich der Ausstellung

    Der fotografierte KriegDer Erste Weltkrieg zwischen Dokumentation und PropagandaStadtmuseum Tbingen

    15. November 2014 1. Mrz 2015

    Eine Kooperation

    mit der Staatlichen Akademie der Bildenden Knste Stuttgart und dem Stadtarchiv Tbingen

    2014

    Universittsstadt Tbingen Fachbereich Kunst und Kultur Stadtmuseum

    Gestaltung: Christiane Hemmerich, Konzeption und Gestaltung

    Satz und Layout: Christopher Blum, Universittsstadt Tbingen

    Scans: Julia Herrmann, Janett Scheibner

    Druck: Gulde Druck, Tbingen

    ISBN 978-3-941818-22-4

    Projektgruppe: Gitta Bertram, Evamarie Blattner, Nils Bttner, Holger Fricke,

    Julia Herrmann, Anne-Katrin Koch, Wiebke Ratzeburg, Jennifer Schlotter

    Katalogredaktion: Jennifer Schlotter, Holger Fricke, Julia Herrmann, Anne-Katrin Koch

    Praktikantinnen: Laura Esser, Julia Feuerbaum, Gianna Kavaliov, Sarah Thum

    Mit freundlicher Untersttzung

  • Herausgegeben von

    Evamarie Blattner

    Nils Bttner

    Wiebke Ratzeburg

    Mit Beitrgen von

    Gitta Bertram

    Evamarie Blattner

    Nils Bttner

    Holger Fricke

    Klaus Gestwa

    Ulrich Hgele

    Ulrich Herrmann

    Anne-Katrin Koch

    Florian Mittelhammer

    Wiebke Ratzeburg

    Jennifer Schlotter

    Georg Wurzer

    Antje Zacharias

    Der fotografierte KriegDer Erste Weltkrieg

    zwischen Dokumentation und Propaganda

  • Vorwort 9

    Ulrich Herrmann

    Der Erste Weltkrieg als Weltkrieg 13

    Ulrich Herrmann

    August 1914 mit Hurra in den Tod. Militarisierung und Kriegsbegeisterung der brgerlichen Jugend 19

    Die Fotografie

    Nils Bttner

    Zur Wahrnehmungs- und Deutungsgeschichte der Kriegsfotografie 19141918 23

    Wiebke Ratzeburg

    Die Technik der Fotografie im 1. Weltkrieg 39

    Gitta Bertram

    Es waren schne Zeiten. Fotografisch illustrierte Frontliteratur in der Reihe Ullstein-Kriegsbcher (oder Wodurch der Krieg begann Sinn zu machen) 45

    Anne-Katrin Koch

    Aus groer Zeit Kriegserinnerungen in Fotoalben aus dem Ersten Weltkrieg 63

    Jennifer Schlotter

    Anbei mal wieder eine hnlichkeit mit mir. Fotografien auf Feldpostkarten 77

    Nils Bttner

    Landschaften des Krieges 95

    Gitta Bertram

    Soldatenportrts im Ersten Weltkrieg 103

    Inhalt

  • Ulrich Hgele

    EtappenschweineBilder aus dem Hinterland der Front 117

    Ulrich Hgele

    Fr den Graben Walter Kleinfeldts Fotografien und Briefe aus dem Groen Krieg 131

    Klaus Gestwa

    Zum historischen Ort der Murmanbahn Aspekte der Lager-, Eisenbahn- und Fotogeschichte 153

    Georg Wurzer

    Zwangsarbeit fr die Murmanbahn Die Erfahrungen der Kriegsgefangenen 167

    Holger Fricke

    Augusterlebnis und Ausmarsch aus Tbingen 173

    Evamarie Blattner

    Wie stehts mit dem Bombenwerfen in Tbingen? 177

    Jennifer Schlotter

    Ehrenamt und Pflicht Das Engagement der Tbinger Brgerschaft whrend des Krieges 183

    Anne-Katrin Koch

    Mobilmachung aller verfgbarer Ressourcen Dokumentation der Tbinger Glockenbeschlagnahmung 193

    Evamarie Blattner

    die Schrecken der Kmpfe ziehen selbst durch die Gassen. Die heile Welt der Lazarette 199

    Holger Fricke

    Die Bilder und die Tbinger Presse im Weltkrieg 19141918 209

    Holger Fricke

    Die Tbinger Studentenschaft im Weltkrieg 221

    Holger Fricke

    Das Tbinger Studentenbataillon 19191920 225

  • Jennifer Schlotter

    Das Ehrenmal EberhardshheGedenken in der Weimarer Republik 233

    Florian Mittelhammer, Antje Zacharias

    Tbingen im Ersten WeltkriegEine Stadtchronik 241

    Dank 296

  • 241

    ber den Ersten Weltkrieg gibt es eine Flle von Literatur. Im Zentrum stehen vielfach

    die Fehler der politisch Handelnden, die verlustreichen Schlachten oder der zermrbende

    Stellungskrieg. Aber wie erlebte man den Krieg zuhause und was geschah in der Heimat?

    Am Beispiel der Universittsstadt Tbingen unternimmt das Stadtarchiv erstmals den

    Versuch, die lokalen Ereignisse und Auswirkungen des Krieges in einen chronologischen

    berblick zu bringen. Die Basis dazu bilden die Jahrgnge der Tbinger Chronik, der da-

    maligen Tageszeitung. Dazu treten weitere Quellen aus dem Stadtarchiv, die zusammen-

    genommen einen Einblick in das Geschehen vor Ort und den entbehrungsreichen Alltag

    der Bevlkerung geben.

    In den Text der Stadtchronik wurden einige Zitate von Pfarrer Theodor Beck eingefgt,

    der eine Kriegschronik der Gemeinde Derendingen verfasst hat. 1922 schrieb Beck dazu ein-

    leitend:

    Am liebsten mchte man alles Erlebte als einen grauenvollen Traum vergessen und aus dem

    Gedchtnis auslschen knnen. Aber es ist Wirklichkeit, und wird Jahrzehnte vielleicht Genera-

    tionen hindurch nachwirken. Sowenig man daher hier wie berall jetzt Lust versprt, Kriegser-

    innerungen aufzufrischen, so gewiss wird man doch in spteren Zeiten fragen: Was hat unsere

    Gemeinde [] in jener denkwrdigen Zeit erlebt?1

    Tbingen im Ersten Weltkrieg Eine Stadtchronik

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

  • 242

    4. Juli 1914.

    Vierhundertjahrfeier des Tbinger

    Vertrags

    1914 wird erstmals eine Jahrhundertfeier

    des Tbinger Vertrags begangen. Abschluss

    und zugleich Hhepunkt der Feierlichkei-

    ten bildet die festliche Neckaruferbeleuch-

    tung. Zu dem Zweck hat das stdtische

    Elektrizittswerk zirka 26.000 Leuchtkr-

    per an die Hausbewohner verteilt, die alle

    gleichzeitig um 21 Uhr entzndet werden.3

    25. Juli 1914.

    Einweihung des Uhlandbades

    Nach einjhriger Bauzeit wird das Uh-

    landbad feierlich erffnet. Gem dem

    Taufspruch, den Oberbrgermeister

    Hermann Hauer in der Erffnungsre-

    de wiederholt, solle das Bad den Namen

    Uhlandbad tragen, zur lebendigen eh-

    renden Erinnerung an den groen Sohn

    und Brger unserer Stadt und um damit

    die sptere Betriebsfhrung als eine ge-

    meinntzige, durch Rcksichten auf das

    Gemeinwohl getragen zu kennzeichnen.4

    25. Juli 1914.

    Hochschulwettkmpfe der Universitt

    140 Studierende nehmen an den Wett-

    kmpfen teil, die, so Rektor Carl Fuchs,

    einen Markstein fr den Betrieb des

    Sports an der Universitt bilden. Weiter

    fhrt er in seiner Erffnungsrede aus:

    Der heutige Tag ist vielleicht auch ein

    Wendepunkt der Vlker. Man wei nicht,

    ob aus dem frhlichen Spiel Blut und

    Ernst wird. Er sollte Recht behalten. Am

    Abend des gleichen Tages wird in Tbin-

    gen die Nachricht vom Bruch zwischen

    sterreich-Ungarn und Serbien empfan-

    gen. Bereits in den ersten drei Monaten

    nach Kriegsausbruch treten etwa 1500

    der 2069 eingeschriebenen Studenten

    in den Militrdienst. Bis zum Juli 1915

    ist die Zahl auf etwa 1850 Studenten

    angewachsen, das sind 89,3 % der im

    Sommerhalbjahr 1914 eingeschriebenen

    mnnlichen deutschen Studenten.5

    26. Juli 1914.

    Reaktionen auf die drohende Kriegsgefahr

    In der Nacht zum 26. Juli veranstalten

    Studenten eine erste patriotische Kund-

    gebung. Unter dem Gesang patriotischer

    Lieder zieht die Menge durch die Uhland-

    strae zum Uhlanddenkmal, es werden

    Ansprachen gehalten. Solche Kundgebun-

    gen finden auch in den kommenden Nch-

    ten statt. Manch einer fhlt sich um seinen

    Schlaf betrogen. Auch in der Stiftskirche

    wird der drohenden Kriegsgefahr gedacht.6

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

    1914. Fort mit Bchern, her mit den Waffen!2

    Das neuerbaute Uhlandbad, 1914, Fotopostkarte.

  • 243

    28. Juli 1914.

    Sozialdemokratische

    Friedensversammlung

    Der SPD-Landtagsabgeordnete Albert

    Pflger (Stuttgart Amt) tritt in einer Rede

    whrend der sozialdemokratischen Ver-

    sammlung im Lwen fr den Frieden

    ein. Die Versammlung wird von Studenten

    gestrt, die daraufhin eine eigene Kundge-

    bung abhalten. Beide Parteien treffen spter

    in der Marktstrae wieder aufeinander.

    Die Polizei brauchte nicht einzugreifen,

    schreibt die Tbinger Chronik. In einem

    Leserbrief aus studentischen Kreisen wird

    an der Rede Pflgers kritisiert, dass in ihr

    Frieden um jeden Preis gefordert werde.

    Nach Auffassung des Studenten sei der

    Friede an sich freilich wnschenswert,

    hher stehe aber die Pflicht Deutschlands,

    fr den Bundesgenossen einzutreten.7

    30. Juli 1914.

    Die Spannung steigt

    Der Weltfriede hngt nur noch an einem

    Spinnenfaden, betont die Redaktion der

    Tbinger Chronik. Am Vortrag traf die

    Depesche zur Teilmobilmachung Russ-

    lands ein. Die Tbinger Einwohnerschaft

    wird ermahnt, Ruhe zu bewahren und

    keine Gerchte zu verbreiten. Auf den

    Straen versammeln sich Brger und

    Studenten und besprechen die Lage.8

    31. Juli 1914.

    Die Verkndung des Kriegszustandes:

    Mars herrscht jetzt!

    Am Nachmittag wird in Tbingen vor-

    schriftsmig mit Trommelschlag und

    Ausruf der Belagerungszustand verkndigt.

    Die Polizeigewalt wird an das Garnisons-

    kommando Tbingen bertragen. Die

    Straen waren auerordentlich belebt,

    ohne dass eine besondere Aufregung zu

    bemerken gewesen wre. Man war ja vor-

    bereitet, berichtet die Tbinger Chronik.9

    Ernstes Staunen, tiefe Bewegung und

    Erschtterung der Gemter berall, aber

    auch Lsung der Spannung durch die end-

    lich gegebene Gewissheit! Jetzt ist der Krieg

    da, der Weltkrieg! ruft man sich zu auf der

    Strasse, im Kaufladen, in der Wirtschaft,

    aus den Fenstern, im Hause. Wie in einem

    gestrten Ameisenhaufen wurde alles le-

    bendig. (Theodor Beck, S. 2)

    cHroniK 1914

    Bekanntmachung des Stadtpolizeiamts in der Tbinger Chronik vom 1. August 1914.

  • 244

    2. August 1914.

    Der erste Tag der Mobilmachung

    Die Kirchen sind berfllt, sieben Not-

    trauungen werden durchgefhrt. Auf dem

    Marktplatz stehen die Menschen dicht ge-

    drngt, um die neuesten Informationen zu

    bekommen. Die Angehrigen der Soldaten

    strmen in die Kaserne, um sich zu verab-

    schieden. Da sie zu klein ist, um alle einbe-

    rufenen Mannschaften, Wehrpflichtige und

    die groe Zahl an Kriegsfreiwilligen aufzu-

    nehmen, werden neue Quartiere eingerich-

    tet, so im Schloss, im Evangelischen Stift

    und im Wilhelmsstift. Die Mobilmachung

    des in Tbingen stationierten 10. Wrttem-

    bergischen Infanterie-Regimentes Nr. 180

    ist am 7. August abgeschlossen. Am 8. Au-

    gust um vier Uhr frh erfolgt der Abtrans-

    port der Truppen. Das Regiment besitzt

    eine Verpflegungsstrke von 3256 Mann.10

    Anfang August 1914.

    Spionenangst und Brgerwache

    In den ersten Tagen nach der Mobilma-

    chung entwickelt sich eine regelrechte

    Paranoia. berall vermutet man mgliche

    russische und franzsische Spione. Jeder

    auffllig gekleidete Fremde, der in die Stadt

    kommt, wird verdchtigt, auch wenn er

    sich als Brger des Oberamtes ausweisen

    kann. Als Reaktion auf die herrschende

    Spionenangst werden fr die ersten

    Wochen nach der Mobilmachung Brger-

    wachen zur Erhaltung der ffentlichen

    Ordnung organisiert. Sie haben die Aufga-

    be, Straeneingnge, Telegrafenleitungen,

    Bahnlinien und Brcken zu berwachen

    sowie die Passanten zu kontrollieren.11

    Unvergesslich werden jedem die Eindr-

    cke bleiben, die man vom Krieg in Tbingen

    bekam. Die Garnisonsstadt war der Sam-

    melpunkt fr immer neue Truppen. Ruhig

    und ernst und festen Schrittes sah man die

    brtigen Landwehr- & Landsturmmnner

    durch die Strassen ziehen; nirgends tolles,

    bermtiges Gebaren, nirgends Betrun-

    kenheit. (Theodor Beck, S. 6)

    3. August 1914.

    Grndung des nationalen Frauendienstes

    Auf Initiative des Deutsch-evangelischen

    Frauenbundes und des Vereins fr Frau-

    enbildung und Frauenarbeit wird auch

    in Tbingen eine Ortsgruppe des Natio-

    nalen Frauendienstes gegrndet. Bereits

    wenige Stunden nach der Erffnung der

    Geschftsstelle in der Alten Aula haben sich

    bereits 150 Frauen zur Untersttzung der

    Hilfsarbeit gemeldet. Seine Hauptaufgaben

    sieht der Dienst anfangs vor allem in der

    Familienfrsorge und in der Vermittlung

    von Arbeit und freiwilligen Arbeitskrften.

    Gerade in der Landwirtschaft werden Hel-

    ferinnen bentigt, um die durch die Einbe-

    rufung entstandenen Lcken zu ersetzen.12

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

    Soldaten vor dem Ausmarsch an die Front, 1915,

    Foto: Paul Sinner.Schloss Hohentbingen diente seit der Mobilmachung bis zur Fertigstellung der neuen Kaser-

    ne als militrisches Quartier.

    In der Tbinger Kaserne war seit 1897 das 1. Bataillon des

    10. Wrttembergischen Infante-rieregiments stationiert.

  • 245

    5. August 1914.

    Erste Sammlung des Roten Kreuzes

    Bereits am fnften Tag nach der Verkn-

    dung des Kriegszustandes starten in T-

    bingen die ersten Sammlungen des Roten

    Kreuzes fr Kriegswohlfahrtszwecke.

    Bis Mitte August wird eine Summe von

    35.267 Mark erzielt. Ein so hohes Ergeb-

    nis hatte man nicht erwartet. Zum Ver-

    gleich: Ein Liter Milch kostet im August

    1914 20 Pfennig, ein Kilogramm Mehl

    50 Pfennig. Ein groer Teil der Summe

    wurde von jungen Mdchen zusam-

    mengetragen, die mit Sammellisten von

    Haustr zu Haustr gegangen waren.

    6. August 1914.

    Einrichtung des stdtischen

    Hilfsausschusses

    Auf Anordnung von Oberbrgermeister

    Hermann Hauer wird ein stdtischer

    Hilfsausschuss zur Untersttzung der

    hilfsbedrftigen Haushalte eingerichtet,

    die durch Abwesenheit der einberufe-

    nen Mnner, durch wirtschaftliche und

    materielle Einbuungen aufgrund des

    Krieges in Not geraten. Zugleich soll

    dieser als zentrale Stelle die organisierte

    Hilfsttigkeit in Tbingen koordinieren.13

    7. August 1914.

    Die erste Kriegsbetstunde

    Von diesem Freitag an werden whrend

    der gesamten Kriegszeit und auch darber

    hinaus jede Woche in der Stiftskirche

    Kriegsbetstunden abgehalten. Auch in den

    anderen Tbinger Pfarreien versammelte

    man sich regelmig zur Kriegsbetstunde.14

    7.11. August 1914.

    Italienische Kriegsflchtlinge im Schloss

    Fnf Tage lang werden mehrere hundert

    Italiener, darunter auch viele Kinder, im

    Tbinger Schloss beherbergt. Sie mussten

    aufgrund des Kriegsausbruchs ihre Arbeits-

    sttten in Lothringen verlassen. In Tbingen

    wird ihnen Asyl gewhrt, bis eine sichere

    Abreise ber die Schweiz in ihre Heimat

    organisiert werden kann. Italien ist 1914 als

    Mitglied des Dreibunds noch mit dem deut-

    cHroniK 1914

    Eine bewaffnete Brgerwache kontrolliert aus Angst vor feindlichen Spionen den Stadtzugang auf der Blauen Brcke im August 1914, Foto: Eugen Albrecht.

    Oberbrgermeister Hermann Hauer (18671927), seit 1897 Tbinger Stadtvorstand.

  • 246

    schen Reich verbndet, ehe es dann 1915

    auf Seiten der Entente in den Krieg eintritt.15

    9. August 1914.

    Lazarettstandort Tbingen

    Das Reservelazarett I, das in der Univer-

    sittsturnhalle sowie in den Rumen des

    Museums untergebracht worden ist, wird

    erffnet. Ein zweites Reservelazarett wird

    in den Krankenzimmern der Universi-

    ttskliniken und in Rumen vieler Verbin-

    dungshuser eingerichtet. Am Bahnhof legt

    das Rote Kreuz eine Erfrischungsstation

    an, um die eintreffenden Verwundeten

    schnell versorgen zu knnen. Im Laufe

    des Krieges wurden nicht nur deutsche

    Soldaten, sondern auch einige franzsi-

    sche, englische und russische Verwundete

    in Tbinger Lazaretten behandelt.16

    10. August 1914.

    Erster Tbinger gefallen

    Das II. Bataillon des Infanterieregimen-

    tes Nr. 180 erlitt bereits am 9. August bei

    St. Marie-aux-Mines schwere Verluste.

    Unter diesen war auch der 20-jhrige

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

    Eugen Siegrist aus Tbingen, der schon

    am Tag seiner Ankunft in den Vogesen

    schwer verwundet wurde. Er erliegt am

    10. August im Spital von St. Marie-aux-

    Mines seinen Verletzungen. Etwa drei

    Wochen nach der Mobilmachung er-

    scheinen die ersten wrttembergischen

    Verlustlisten in der Tbinger Chronik.17

    Tief schmerzlichen Eindruck machten die

    ersten Verwundeten- & Gefallenen-Listen des

    Staatsanzeigers und der Tbinger Chronik.

    Die abgekrzten Worte hinter dem Namen:

    l. verw., schw. verw., gef., verm.,

    welch eine Summe von Sorge, Schmerz

    und Trauer schlossen sie in sich.

    (Theodor Beck, S. 10)

    22. August 1914.

    Ankunft des ersten

    Verwundetentransportes

    Um die Mittagszeit trifft der erste Laza-

    rettzug von der Front am Tbinger Gter-

    bahnhof ein, 114 weitere Transporte sollen

    bis zum Ende des Krieges noch folgen.

    Die freiwillige Sanittskolonne rckt wie

    Das Lazarett fr Kieferverletzte befand sich im

    Haus der Verbindung Normannia, Postkarte.

    Das Museum an der Wilhelm-strae mit Rot-Kreuz-Fahnen. Die beiden oberen Sle waren bis Oktober 1916 als Lazarett genutzt. Hinter den Bumen der im Juni 1915 eingeweihte,

    neuerbaute Theatersaal.

  • 247

    geprobt aus, um die 600 verwundeten

    Soldaten, darunter auch Franzosen, in die

    Lazarette zu transportieren. Rasch hat

    auch Tbingen die Kehrseite des Krieges

    an dem ersten Verwundetentransport

    kennengelernt, berichtet die Tbinger

    Chronik. Von 1914 bis 1918 werden mit den

    Lazarettzgen 11.693 Verwundete nach

    Tbingen gebracht und dort behandelt. 18

    15. September 1914.

    Sammlung fr Ostpreuen

    Wie im ganzen Land, so werden auch

    in Tbingen zur Hilfe fr Ostpreuen

    Sammlungen organisiert, um den Wieder-

    aufbau in der Region zu untersttzen. Die

    erste Rate der Tbinger Sammlung, insge-

    samt 6600 Mark, wird am 15. September

    nach Knigsberg gesandt. In den weiteren

    Tagen gehen auch Kleidersammlungen

    nach Knigsberg ab. In Ostpreuen wur-

    den in den ersten Kriegsmonaten durch

    den Einfall des russischen Heeres meh-

    rere Stdte und Ortschaften zerstrt.19

    16. September 1914.

    Karl Otten im Tbinger Zuchthaus

    Der aus der Gegend um Kln stammende

    Schriftsteller und Friedensaktivist Karl Ot-

    ten wird zur Inhaftierung nach Tbingen

    berfhrt. Er wurde wegen antimilitaristi-

    scher Ttigkeit in Straburg verhaftet. Ende

    des Jahres 1915 wird er aus der Haft entlas-

    sen. In seinem autobiographischen Roman

    Wurzeln schreibt er auch von seiner Zeit

    im Gefngnis: Am wichtigsten von allem

    war mir die Erfahrung des Zusammenpralls

    von Nichts und Ego im Gefngnis zu T-

    bingen, zwischen denen es nur eine Brcke

    gab, die mich vor dem Untergang bewahr-

    te Leben und Werk von Hlderlin.20

    cHroniK 1914

    20. September 1914.

    Verabschiedung der ersten

    Kriegsfreiwilligen des Tbinger

    Regiments

    Die ersten Kriegsfreiwilligen ziehen von

    Tbingen aus ins Feld, unter ihnen der

    Vikar Cornelius Breuninger aus Schorn-

    dorf. Die Tbinger Bevlkerung nahm

    beraus herzlichen Abschied, berichtet

    er in seinem ersten Tagebucheintrag.

    Als jngster Tbinger Freiwilliger und

    berhaupt als einer der jngsten Solda-

    ten der deutschen Armee tritt Richard

    Wanner, Sohn des Katastergeometers

    Ein Lazarettzug trifft mit Verwundeten von der Front auf dem Gterbahnhof ein, Okto-ber 1914, Foto: Gebr. Metz.

    Im Gefngnis neben dem Jus-tizgebude war der Friedens-aktivist Karl Otten 1914/1915 inhaftiert, Postkarte.

  • 248

    und privaten Pckchen von den Ange-

    hrigen. Am 25. September kehren die

    Autos beladen mit Briefen der Soldaten

    wieder zurck. In Zusammenarbeit mit

    der Stadt Reutlingen fahren am 13. Okto-

    ber weitere zehn Autos ab, diesmal ber

    Belgien nach Montmdy in Frankreich.23

    24. September 1914.

    Erste Versammlung der Jugendwehr

    Unter der Leitung des Generalmajors

    Max Freiherr von Hgel, der die Jugend-

    wehren im Oberamtsbezirk Tbingen

    organisiert, versammeln sich 16- bis

    20-jhrige Jugendliche zu einer ersten

    Vorbesprechung. Die Jugendwehren sollen

    die jungen Mnner auf den Kriegsdienst

    vorbereiten. Im Dezember 1914 zhlt die

    Tbinger Jugendwehr 80 Mann. Dabei

    wird whrend des weiteren Bestehens der

    Jugendwehr mehrmals in der Tbinger

    Chronik beklagt, dass die Beteiligung der

    Tbinger Jugend im Verhltnis zu anderen

    Stdten uerst schwach ausfalle. So ist

    im Juni 1915 zu lesen: Fast mchte man

    wnschen, da in irgendeiner Weise ein

    Jakob Wanner, im Alter von 15 Jahren im

    September 1914 den Kriegsdienst an.21

    20. September 1914.

    Der Tbinger Zopfabschneider

    Am Bahnhof wird einem jungen Mdchen

    von hinten der Zopf abgeschnitten. Dabei

    handelt es sich keinesfalls um einen Ein-

    zelfall. Die Tbinger Chronik berichtet von

    elf weiteren hnlichen Fllen. Anscheinend

    ist ein Serientter am Werke. Laut den

    Ermittlungen muss dieser etwa 19 Jahre

    alt und in Tbingen wohnhaft sein.22

    21. September 1914.

    Autofrachtfahrt ins Feld

    Auf Anlass der Stadtverwaltung fhrt eine

    Kolonne von fnf Autos von Tbingen

    aus ber Straburg an die Westfront, um

    die Soldaten des Tbinger Bataillons mit

    Gaben aus der Heimat zu versorgen. Die

    Abfahrt musste wegen starker Kmpfe an

    der Front zunchst verschoben werden.

    Die Fracht besteht vor allem aus warmer

    Kleidung, Schokolade, Wurst und Schnaps

    sowie Ausgaben der Tbinger Chronik

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

    Postkartengru eines Tbinger Soldaten an

    seine kleine Tochter, 1915.

    Generalleutnant Max Freiherr von Hgel (18511939). Er

    feierte im September 1917 sein 50-jhriges Dienstjubilum.

    Der Tbinger Karl Fuchs war Kriegsfreiwilliger im

    Infanterieregiment Nr. 180. Er fiel im Juli 1916 in der Schlacht an der Somme.

  • 249

    gelinder Zwang auf die Jugend von 1519

    Jahren ausgebt werden knnte.24

    26. September 1914.

    Kinematographische Aufnahmen

    vom Kriegsschauplatz

    Erstmals sind im Tbinger Lichtspiel-

    haus bewegte Bilder von der Front zu

    sehen. Der Film wird als neues Medium

    der Propaganda entdeckt. Neben den

    aktuellen Spielfilmen nimmt die Kriegs-

    schau einen festen Platz im Programm

    des Tbinger Lichtspielhauses ein.25

    7. Oktober 1914.

    Ausstellung zum Massengrab

    bei St. Blaise

    Im Schaufenster der Buchhandlung

    Osiander werden mehrere Fotos von der

    Grabsttte der bei St. Blaise gefallenen

    Soldaten des Tbinger Regiments aus-

    gestellt. Die Ausstellung wird zudem

    mit einigen Fundsachen von der Front

    ergnzt, die ein Onkel, der auf der Suche

    nach dem Grab seines Neffen war, vom

    Schlachtfeld nach Tbingen gebracht hat.26

    21. Oktober 1914.

    Stdtische Kriegsbeihilfe fr Familien

    ausmarschierter Soldaten

    Der Tbinger Gemeinderat beschliet,

    neben der staatlichen Kriegsbeihilfe die

    Familien ausgezogener Soldaten ber die

    Stadtkasse monatlich zu untersttzen.27

    25. Oktober 1914.

    Oberamtmann von Soden gefallen

    Von 1907 bis 1914 war Theodor Freiherr

    von Soden Oberamtmann des Tbinger

    Bezirks. Nach knapp zwei Wochen im Feld,

    im Rang eines Hauptmanns der Landwehr,

    wird er in Belgien tdlich verwundet.28

    11. November 1914.

    Der Krieg ist ein gttliches Liebeswerk

    Anstelle der jhrlich stattfindenden Luther-

    feier veranstaltet die evangelische

    Gemeinde angesichts der gegenwrtigen

    Verhltnisse einen Kriegsabend. Einen

    Hhepunkt dieses Abends bildet dabei der

    Vortrag des Stadt- und Garnisonspfarrers

    Dr. Otto Meyer. Im Zentrum seines Vor-

    trags steht die Frage nach der Legitimation

    des Krieges von Seiten der Kirche. Der

    Redner argumentiert mit Verweis auf

    Luther, dass Krieg fr Christen legitim sei,

    insofern er das Bse bekmpfe. Der Krieg

    ist ein gttliches Liebeswerk, denn er will

    dem Frieden dienen, so Pfarrer Meyer.29

    13. November 1914.

    Ein Briefkasten fr die Feldpost

    Am Hauptpostamt wird ein separater

    Briefkasten fr Feldpostsendungen ange-

    legt, um die Abwicklung der zahlreichen

    Sendungen zu erleichtern. Um sicher zu

    stellen, dass die Feldpostpakete richtig

    zugestellt werden, wird Ende November

    1914 vom Roten Kreuz eine Feldpost-

    hilfe im Museum eingerichtet, die ber

    die richtige Adressierung bert.30

    2. Dezember 1914.

    Tbinger Verluste vier Monate

    nach Ausbruch des Krieges

    Die von der Stadtverwaltung erhobe-

    ne Statistik zu den Tbinger Verlusten

    ergibt folgende Ergebnisse: 1475 orts-

    ansssige Tbinger dienen im Militr,

    davon sind 1082 im Feld. 43 Brger sind

    bereits gefallen. Die nicht aus Tbingen

    stammenden Studenten wurden nicht

    einberechnet. Die Statistik wurde mit der

    Absicht angelegt, ein Gedenkbuch her-

    auszugeben. Erst 1954 gelingt es, solch

    ein Gedenkbuch fertig zu stellen, das

    alle im Weltkrieg gefallenen Tbinger

    auffhrt. Verffentlicht wurde es nie.31

    cHroniK 1914

    Eine extra Marke und ein Sol-datenbriefstempel kennzeichne-ten diese Postkarte als Feldpost.

  • 250

    den. Sie drfen nicht an einen bestimmten

    Soldaten im Feld adressiert sein, aber einen

    Brief mit Namen und Adresse des Spenders

    enthalten. In der Tbinger Zentrale des Ro-

    ten Kreuzes werden Musterpckchen ausge-

    stellt, nach denen sich die Spender zwecks

    angemessener Befllung richten knnen.33

    25. Dezember 1914.

    Weihnachten im Schtzengraben

    Ein Tbinger Soldat berichtet ber die

    Weihnachts-berraschung im Schtzen-

    graben:

    Und dann kam das Christkindle. Whrend

    am Baum unsere Regimentsmusik die alten

    schnen Weihnachtslieder spielte, breiteten

    sich auf den Brettern die Liebesgaben aus.

    [] Man sah gleich, die Sachen waren mit

    viel Liebe zusammengestellt. Kein Wunder,

    sie kamen aus Tbingen und Umgebung.

    Die Redaktion der Tbinger Chronik mahnt

    aber auch zur Vorsicht im Schtzengraben

    am Weihnachtsabend. Zwischen Franzosen

    und Deutschen habe sich stellenweise ein

    lebhafter brieflicher Verkehr von Graben

    zu Graben ausgebildet, bergroes Ver-

    trauen knne aber ausgentzt werden.34

    3. Dezember 1914.

    Kriegsvortrge an der Universitt

    Mit dem Vortrag Warum und wofr wir

    kmpfen von Geschichtsprofessor

    Johannes Haller startet an der Universitt

    im Wintersemester 1914/15 eine Vorle-

    sungsreihe mit elf Vortrgen, fr Hrer

    aller Fakultten und sonstige Hrer. Dies

    ist die erste Vorlesungsreihe der Universitt

    Tbingen, die der gesamten ffentlich-

    keit zugnglich ist. Die interdisziplinr

    angesetzten Vortrge sollen in die Ge-

    dankenwelt des Krieges einfhren und

    geistige Erfrischung und Strkung fr die

    schwere Kriegszeit gewhren. 1915 werden

    sie in einem Sammelband publiziert. 32

    8. Dezember 1914.

    Die groe Weihnachts-

    Liebesgabensendung des Roten Kreuzes

    Zu der vom Landesverband des Roten Kreu-

    zes in Stuttgart organisierten groen Lie-

    besgabensendung fr Weihnachten trgt

    auch Tbingen mit 5000 Pckchen seinen

    Anteil bei. Ziel ist es, jedem wrttembergi-

    schen Soldaten ein Weihnachtspckchen zu-

    kommen zu lassen. Die vorgefertigten lee-

    ren Pakete sollen beim Roten Kreuz erwor-

    ben und dann gefllt wieder abgegeben wer-

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

    Weihnachten im Kriegslazarett in der Frauenklinik,

    Foto: Eugen Albrecht.

    Weihnachten im Kriegslazarett in der Frauenklinik, 1914. Die Namenstafeln hinter

    den Betten sind mit einem Tannenzweig geschmckt,

    Foto: Eugen Albrecht.

  • 251

    1915. Die Hungerblockade zeigt erste Auswirkungen

    19. Januar 1915.

    Erffnung der Volkskche

    Die Volkskche wird unter der Leitung des

    frheren Forellenwirts Moritz Reichmann

    in der Schulstrae 3 als Einrichtung des

    stdtischen Hilfsausschusses erffnet.

    Mit der Untersttzung des Nationalen

    Frauendienstes werden hier ab sofort be-

    drftige mit Mahlzeiten versorgt. Gegen

    Vorlage eines Berechtigungsscheines

    wird fr 25 Pfennig pro Portion ein kom-

    plett zubereitetes Mittagessen gereicht.

    Whrend des Krieges steigen die Besu-

    cherzahlen stetig an: Werden im Jahr 1915

    durchschnittlich noch 135 Portionen pro

    Tag ausgegeben, sind es 1917 schlie-

    lich durchschnittlich 450 Portionen.35

    20. Januar 1915.

    Einschrnkung der Backwaren

    Nach der Bundesrat-Verfgung

    vom 5. Januar 1915 mssen auch die

    Tbinger Bckereien ihr Warenangebot

    zur Einsparung von Getreide beschrnken.

    Ab sofort drfen nur noch Kriegswe-

    cken (Doppelwecken von zweimal 40

    Gramm unter Beimischung von Schwarz-

    mehl), Blechwecken und Kriegsbrot

    (Schwarzbrot) gebacken werden.36

    Beim Frhstck trat in manchen Husern

    an Stelle des altgewohnten Kaffees Brei

    vonGerstengrtze, Buchweizengrtze und

    Maismehl. Die Frhstckswecken sind bis

    heute (Jan. 1922) noch nicht wiedergekehrt.

    (Theodor Beck, S. 29)

    13. Februar 1915.

    Ein russischer Gefangenentransport

    Auf dem Weg in ein neues Gefange-

    nenlager passiert ein Zug mit 2000

    gefangenen russischen Soldaten den

    Tbinger Bahnhof. Eine groe Anzahl

    Schaulustiger eilt herbei, um sich ein

    Bild von den russischen Soldaten zu

    machen. Die Tbinger Jugend singt

    unaufhrlich patriotische Lieder.37

    21. Februar 1915.

    Schauschwimmen des Schwimmvereins

    Zusammen mit dem Schwimmverein

    Reutlingen zeigt der Schwimmverein

    Tbingen im Uhlandbad eine Schwimm-

    vorstellung zu Gunsten der Hinterbliebe-

    nen. Dies ist ein Beispiel fr die zahlrei-

    chen Benefizveranstaltungen im Rahmen

    der Kriegsfrsorge, die whrend der

    Kriegsjahre im groen Mae das Tbinger

    Kulturleben bestimmen. Unter den

    cHroniK 1915

    Blick in die Tbinger Volks-kche, die von dem frheren Forellenwirt Moritz Reichmann (ganz rechts) geleitet wurde, Foto: Paul Sinner.

  • 252

    Konzerten, Vortragsabenden oder Thea-

    terauffhrungen bildet das Schauschwim-

    men freilich eine kleine Besonderheit.38

    25. Februar 1915.

    Grndung des Nationalen

    Studentendienstes

    An der Universitt wird zur Grndung

    des Nationalen Studentendienstes auf-

    gerufen. Tbingen ist damit die erste

    Universitt, an der ein solcher Dienst

    eingerichtet wird. Dieser bernimmt im

    Laufe der Zeit verschiedene Aufgaben der

    Kriegsfrsorge, darunter die Mithilfe bei

    den Verwundetentransporten, bei den Un-

    terrichtsstunden fr Verwundete, bei der

    Verteilung von Nahrungsmitteln sowie bei

    der Freiwilligenarbeit in der Landwirtschaft.

    Spter werden auch eine Theatergruppe

    und eine Musikgruppe gegrndet, die den

    Verwundeten Unterhaltung bieten soll.39

    Mrz 1915.

    Der englische Aushungerungsplan

    Mit einem Vortrag zum Thema Der eng-

    lische Aushungerungsplan soll ber die

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

    Sicherstellung unserer Volksernhrung

    whrend des Krieges und die ernster wer-

    dende Versorgungslage aufgeklrt werden.

    Als Reaktion auf erste Versorgungsengpsse

    gibt der Nationale Frauendienst zudem

    Kurse zum kriegsgemen Kochen in der

    Volkskche. Die Preissteigerungen vor al-

    lem im Fleisch- und Getreidemarkt wirken

    sich zunehmend auch auf den Tbinger

    Handel aus. Neben sich hufender Kritik

    an den Wucherpreisen von Seiten der

    Verbraucher, kritisieren die Hndler wie-

    derum das bermige Sparen an den

    falschen Stellen, so zum Beispiel beim

    Kauf von Konfirmationsgeschenken.40

    10. Mrz 1915.

    Einfhrung der Brot- und Mehlkarten

    Aufgrund der erwarteten Getreideknapp-

    heit werden im Frhling 1915 im gesamten

    deutschen Reich Lebensmittelmarken fr

    Brot und Mehl eingefhrt. Der Verbrauch

    an Mehl wird auf 225 Gramm pro Kopf und

    Tag beschrnkt. In Tbingen knnen Brot

    und Mehl ab dem 10. Mrz 1915 nur noch

    gegen Vorlage der entsprechenden Karten

    Tbinger Bezugsmarken fr Weizenmehl oder Weizenbrot,

    gltig Mrz/ April 1915.

    Kartenausgabestelle des stdti-schen Lebensmittelversorgungs-

    amts im Rathaus (spterer Groer Sitzungssaal), Tuschezeichnung von

    A. Hegelmaier, Februar 1917.

  • 253

    bezogen werden. Das Tbinger Warenhaus

    P. Stilz & Sohn entdeckt hier sogleich eine

    kleine Marktlcke: Knapp zwei Wochen

    spter werden die ersten Brot-Karten-

    Tschchen zum Aufbewahren derselben

    zum Preis von 5 Pfennig angeboten.41

    Ueber diese Mehl- & Brotverordnungen

    entstanden wie anderwrts so auch hier im

    Februar unter den Bauern grosse Erregung,

    man drohte mit Revolution, wenn sie nicht

    gendert werden. 240 gr Mehl auf den Kopf

    und Tag fr Bauern und 225 gr fr die brige

    Bevlkerung war freilich wenig.

    (Theodor Beck, S. 27)

    1. April 1915.

    Einfhrung des Flaschenpfandes in den

    regionalen Brauereien

    Auch die Brauereien haben mit der Man-

    gelwirtschaft zu kmpfen. Immer mehr

    Bierflaschen werden missbruchlich als

    Aufbewahrungsmittel fr Erdl und hn-

    liches verwendet. Eine Gegenmanahme

    bildet die Einfhrung des Flaschenpfandes

    in Hhe von 10 Pfennig pro Flasche. Laut

    Anzeige der Brauereien war Tbingen

    einer der letzten Orte Wrttembergs, an

    dem es noch kein Flaschenpfand gab.42

    16. April 1915.

    Studierendenzahlen im zweiten

    Kriegssemester

    Unter Universittsrektor Dr. Robert Gaupp,

    der gleichzeitig auch als Oberstabsarzt im

    Militrdienst steht, wird das neue Som-

    mersemester mit nur 344 Studierenden,

    davon 291 Mnner und 53 Frauen, erffnet.

    Inzwischen sind etwa 1700 Studenten der

    Universitt in vaterlndischen Diensten.43

    18. April 1915.

    Sonntagsspaziergang zum

    Schtzengraben

    Am Truppenbungsplatz auf der Waldhu-

    ser Hhe werden getreu ihrer Originale an

    der Westfront Schtzengrben errichtet. Die

    Modelle bilden fr viele Tbinger ein loh-

    nendes Ziel fr ihren Sonntagsspaziergang.

    Die Besucher gewannen so einen kleinen

    theoretischen Einblick in den Schtzengra-

    benkrieg, berichtet die Tbinger Chronik.44

    3. Mai 1915.

    Hindenburg und die Jugend

    Nach Ankunft einer Siegesnachricht aus

    Westgalizien werden Tbinger Schler

    fr eine Kundgebung zu Ehren

    Hindenburgs mobilisiert. Zunchst

    sind es 50 bis 60 Schler, die unter der

    Fhrung einer Lehrkraft durch die T-

    binger Straen ziehen und im Lied von

    Hindenburg von dessen Erfolgen im

    Osten singen. Nach und nach wchst der

    Zug schlielich auf 300 Snger an.45

    10. Mai 1915.

    Die Lusitania in Tbingen

    Im Schaufenster der Tbinger Chronik gibt

    es eine Postkarte zu bestaunen, auf der der

    britische Dampfer Lusitania abgebildet

    ist. Die Karte wurde direkt aus Newport

    von einem Leser an die Redaktion gesandt.

    Die Versenkung der HMS Lusitania am

    cHroniK 1915

    Stolz tragen die Brder Hilde-brandt aus der Uhlandstrae die Uniformen des Militrs, Foto: Eugen Albrecht.

    Mdchen mit Pickelhaube und Sbel im Fotografenatelier Rhle am Haagtor, neben ihr der Hund des Fotografen, Foto: Eugen Rhle.

  • 254

    23. Juni 1915.

    Siegesfeier

    Bei greren Erfolgen der deutschen

    Truppen werden in Tbingen Siegesfeiern

    abgehalten, so zum Beispiel auch anlsslich

    der Wiedereroberung Lembergs am 22. Juni

    1915. Die Siegesfeiern erfolgen dabei meis-

    tens nach hnlichem Muster: Die Glocken

    der Stiftskirche sowie Bllerschsse knden

    vom Sieg, die Schler bekommen siegfrei.

    Auf der Neckarinsel versammeln sich die

    Feiernden, dort gibt die Musikkapelle des

    Regiments ein Siegeskonzert. Abends wer-

    den in den Kirchen Gedenkgottesdienste ab-

    gehalten. Auf dem Marktplatz versammeln

    sich Brger und Regimentsangehrige zum

    groen Zapfenstreich. Es werden Kund-

    gebungen abgehalten und unter Begleitung

    der Musikkapelle patriotische Lieder ange-

    stimmt. Whrenddessen wird das Schloss

    mit Bengalischem Feuer beleuchtet.48

    Ende Juni 1915.

    Eine Gedenksttte fr Hlderlin

    Fritz Eberhardt, der Besitzer des Hlderlin-

    turmes, plant aufgrund groer Nachfrage,

    das Zimmer im Erdgeschoss der Bursagas-

    se 6 wie zu Hlderlins Zeit herzurichten.

    Immer wieder baten Touristen und Lieb-

    haber des Dichters auf ihrem Tbingen-

    besuch bei Eberhardt um Einlass in die

    Dichterstube. Bisher wohnten Studenten

    dort. Da der Hlderlinturm nach dem

    Brand von 1875 ein vllig neues Gesicht

    bekam und auch Hlderlins Originalm-

    bel sptestens seit dem Feuer nicht mehr

    vorhanden sind, wird das Projekt aufgrund

    der mangelnden Authentizitt von Kunst-

    historiker Konrad Lange stark kritisiert.

    1920 stiftet der Buchhndlerverein Insel

    dem Hlderlinzimmer zum 150. Geburts-

    tag Hlderlins ein Fremdenbuch.49

    7. Mai 1915 durch ein deutsches U-Boot

    leitet eine Wende in der amerikanischen

    Auenpolitik ein, die letztendlich zum

    Kriegseintritt der USA im Jahr 1917 fhrt.46

    11. Juni 1915.

    Ein neuer Theatersaal fr das Museum

    Mit Goethes Torquato Tasso weiht das

    Stuttgarter Hoftheater das neue Haus

    des Museums nach 14 Monaten Bauzeit

    ein. Seitens der Tbinger Chronik wird die

    groe Leistung hervorgehoben, solch ein

    Bauwerk whrend des Krieges fertig zu

    stellen. Dennoch gelingt es der Museums-

    gesellschaft nicht, gengend Abonnements

    fr die kommende Winterspielzeit zu

    verkaufen, um das geplante Programm

    zu finanzieren. Infolge dessen knnen

    nur einige wenige Liederabende und klei-

    nere Schauspiele stattfinden. Der Krieg

    mit seinen mancherlei Begleiterschei-

    nungen ist ja kein Freund der Musen,

    kommentiert die Tbinger Chronik.47

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

    Der neue Theatersaalanbau des Museums am Stadt-

    graben, Foto: Paul Sinner.

    Der Hlderlinturm mit der Aufschrift F. Eber-

    hardt Bad-Anstalt, Foto: Franz Fues/ E. Viadagola.

  • 255

    cHroniK 1915

    6. Juli 1915.

    Erffnung der Obstkche

    Auch dieses Jahr wird vom Nationalen

    Frauendienst wieder eine Obst- und Gem-

    severwertungsstelle eingerichtet, dieses Mal

    unter Mitwirkung des Roten Kreuzes. Sie ist

    im stdtischen Elektrizittswerk in der Non-

    nengasse untergebracht. Nach einem Monat

    Betrieb kann die Obstkche auf eine erfolg-

    reiche Bilanz blicken: Es wurden zum Bei-

    spiel bereits 900 Flaschen Saft an die Tbin-

    ger Lazarette abgegeben. Neben Saft werden

    in der Kche Marmeladen, Mus und Pasten

    produziert. Im Herbst 1915 wird die Obst-

    kche auch fr private Haushalte die Obst-

    und Gemseverwertung bernehmen, um

    die Vorrte fr den Winter zu sichern.50

    14. Juli 1915.

    Stuttgarter Ferienkinder

    Der Verband des Nationalen Frauendienstes

    Stuttgart mchte Stuttgarter Grostadtkin-

    der fr den Sommer an Familien in der

    Region Tbingen vermitteln. Der Landur-

    laub solle ihnen etwas Erholung geben. Es

    stellt sich aber als sehr schwer heraus, in

    Tbingen Familien zu finden, die sich bereit

    erklren, Stuttgarter Kinder aufzunehmen.51

    1. und 2. August 1915 .

    Jahrestag der Mobilmachung

    Zum Jahrestag der Mobilmachung finden

    hier im Gegensatz zu Stuttgart keine Feiern

    statt. Stattdessen werden aber Gedenk-

    gottesdienste gehalten. Zudem wird ein

    Benefiz-Fuballspiel veranstaltet, dessen

    Erls an die Witwen- und Waisenkasse des

    13. Armeekorps gehen soll. Der Landesver-

    band des Roten Kreuzes ruft zu einem All-

    gemeinen Opfertag auf, an dem gefastet

    werden soll. Die dadurch gewonnenen Ein-

    sparungen ergeben fr das Rote Kreuz in

    Tbingen einen Betrag von 15.776 Mark.52

    16. September 1915.

    Mittelstandshilfe fr Wrttemberg

    Aufgrund der wachsenden Existenznot

    mittelstndischer Betriebe, darunter

    viele Handwerker, wird in Stuttgart der

    Verein Mittelstandshilfe fr Wrttem-

    berg gegrndet. Oberbrgermeister

    Hauer betont die Not des Handwerks

    auch in Tbingen: Die Ertrge seien in

    den meisten Fllen gleich null, da die

    Betriebe nur noch mit erhhten Aufwen-

    dungen oder aber mit ungengender

    Geschftserfahrung seitens der Frauen

    der Ausmarschierten fortgefhrt werden

    knnten. Die Stadtverwaltung bewilligt

    der Mittelstandshilfe 11.400 Mark.53

    25. September 1915.

    Kriegs-Kinderkrippe

    Der seit 1913 bestehenden Kinderkrippe

    wird ber die Dauer des Krieges unentgelt-

    lich ein neuer Raum berlassen, um alle

    Kinder unterbringen zu knnen. Die Kin-

    derzahl der in der ehemaligen Spitalscheuer

    eingerichteten Krippe hat sich whrend des

    ersten Kriegsjahres mehr als verdoppelt.

    Nun kmmern sich drei Schwestern und

    ein Dienstmdchen um die 30 Kinder.54

    Die Kinder und Schwestern der Kinderkrippe haben sich um den Brunnen im Spitalhof gruppiert, Foto: Paul Sinner.

  • 256

    der Wiederholungen als eine Kindervor-

    stellung angesetzt ist. Das groe Interesse

    seitens der Bevlkerung an der Darbietung

    erklrt die Tbinger Chronik mit ihrem

    Authentizittsgehalt: Alle Mitwirkenden

    htten das, was sie auf der Bhne wieder-

    gaben, drauen im Feld selbst erlebt.58

    Wintersemester 1915/16.

    Verwundete Soldaten an der Universitt

    Zustzlich zu den Vorlesungen fr einen

    weiten Hrerkreis, die auch von den aus-

    gangsfhigen Verwundeten der Tbinger

    Lazarette besucht werden drfen, werden

    auch besondere Kurse fr die Verwundeten

    eingerichtet, die sogenannten Mann-

    schaftskurse. Neben der Invalidenschule,

    die auf Handwerk und spezielle Berufs-

    ausbildung ausgerichtet ist, sollen die

    Kurse der Universitt der erweiterten und

    vertieften Allgemeinbildung dienen.59

    6. November 1915.

    Vereinsleben

    Wie drastisch der Einschnitt auch fr das

    Vereinsleben vor Ort ist, wird zum Beispiel

    an den Mitgliederzahlen des Turnerbunds

    deutlich, die auf der Versammlung am

    6. November bekannt gegeben werden.

    Von den insgesamt 135 Mitgliedern sind

    108 einberufen, wobei zehn Einberufun-

    gen noch ausstehen. 13 Turner sind bereits

    gefallen. Seit Ausbruch des Krieges prgen

    Vortrge zur gegenwrtigen Situation sowie

    Benefizveranstaltungen das Vereinsleben.

    Trotz groer Anstrengungen gelingt es

    den einzelnen Vereinen kaum, ihre fr-

    heren Aktivitten aufrechtzuerhalten.

    15. November 1915.

    Einrichtung der Preisprfungsstelle fr

    die Gemeinde Tbingen

    Aufgrund einer Bekanntmachung des Bun-

    desrats Ende September 1915 wird nun auch

    in Tbingen eine Stelle zur berwachung

    Anfang Oktober 1915.

    Stdtische Nahrungsmittelfrsorge

    Da das rtliche Gewerbe immer mehr

    Schwierigkeiten hat, den Bedarf an

    Lebensmitteln zu decken, bestellt die

    Stadtverwaltung grere Mengen an

    Fleischwaren, Fisch und Erbsen, um die

    Nahrungsmittel zu ermigten Preisen

    an die Bevlkerung abzugeben. Der Ver-

    kauf erfolgt in der Volkskche. Das ganze

    Jahr ber wurden bereits Kartoffeln dort

    verkauft, um der seit Frhjahr 1915 herr-

    schenden Kartoffelnot entgegenzutreten.55

    13. Oktober 1915.

    Aufschub der Gemeinderatswahlen

    Laut Verfgung des Ministeriums des

    Innern vom 6. Februar 1915 kann eine Ge-

    meinderatswahl infolge des Krieges bis auf

    weiteres verschoben werden. Von diesem

    Recht nimmt auch die Tbinger Stadtver-

    waltung Gebrauch. Die nchste Gemein-

    deratswahl findet am 18. Mai 1919 statt.56

    18. Oktober 1915.

    Dondrisch druf!

    Der Gedichtband Dondrisch druf! von

    Matthias Koch erscheint im Verlag der

    Buchhandlung Kloeres. Der aus der

    Tbinger Region stammende Mundart-

    dichter wurde mit seinem Gedichtband

    Kohlraisle auch berregional bekannt. In

    Dondrisch druf! sind ausschlielich schw-

    bische Kriegsgedichte abgedruckt.57

    31. Oktober 1915.

    Lebende Bilder aus dem Krieg

    Im Rahmen einer Wohlttigkeitsvorstellung

    im Neuen Museumssaal stellen Verwun-

    dete aus den Lazaretten Szenen aus dem

    Frontalltag nach. Die einzelnen Bilder

    haben Titel wie Leb wohl, Kamerad,

    Verwundet oder Im Schtzengraben.

    Aufgrund des groen Erfolges wird die

    Vorstellung dreimal wiederholt, wobei eine

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

  • 257

    cHroniK 1915

    Gedenktafel des Turnerbundes an seine im Ersten Weltkrieg gefallenen Mitglieder,Postkarte.

    Wochenmarkt mit Rot-Kreuz-Stand vor dem Marktbrunnen, um 1914.

  • 258

    der Preisbildung im Gebiet des notwen-

    digen Lebensbedarfs eingerichtet. Seit

    Kriegsbeginn sind die Lebensmittelpreise

    um etwa 3040% gestiegen (Stand: Septem-

    ber 1915). Die Preisprfungsstelle bert den

    Gemeinderat hinsichtlich der Festsetzung

    und Hhe von Hchstpreisen. Bereits im

    Winter 1914 wurden Hchstpreise ber

    Kartoffeln, Mehl und Brot verhngt. Zur

    Bekmpfung der bermigen Preisstei-

    gerung und wucherlichen Ausbeutung der

    Bevlkerung wird Anfang Dezember ein

    Gesetz erlassen, das bewusst herbeigefhrte

    Preiserhhung unter strenge Strafe stellt.60

    1. Dezember 1915.

    Kriegskrankenfrsorge im Bezirk

    Tbingen

    Es wird eine Krankenkasse fr Familien der

    Kriegsteilnehmer, Arbeitslose, Kinder und

    Frauen bedrftiger Mitglieder eingerichtet.61

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

    25. Dezember 1915.

    Zweite Kriegsweihnacht

    An den Adventsonntagen 1915 strmen

    trotz der Kriegszeit Menschen aus dem

    ganzen Bezirk fr ihre Weihnachtseinkufe

    in die Stadt. Dennoch fllt der Umsatz der

    Hndler sehr gering aus. Zu Weihnach-

    ten wird eine Ausnahmeregelung zum

    Kuchenback-Verbot erlassen: Das Backen

    von Springerlen bleibt verboten, erlaubt

    ist nun aber die einmalige Herstellung von

    Honiglebkuchen und Schnitz- oder Hutzel-

    brot. Um den Kindern der Ausmarschier-

    ten auch eine Weihnachtsbescherung zu er-

    mglichen, wird hnlich wie im letzten Jahr

    eine Sammlung von Spielsachen gestartet.62

    Der im Verlag der Buch-handlung Kloeres erschienene Weihnachtsgru der Univer-sitt wurde an die Studenten im Feld geschickt. Er enthielt

    Textbeitrge von Tbinger Professoren.

    Familie unterm Weihnachts-baum im Atelier des Fotografen

    Eugen Rhle. Die Aufnahme war wohl fr Verwandte in der Fremde oder im Feld bestimmt,

    Foto: Eugen Rhle.

  • 259

    1. Januar 1916.

    Kanonendonner am Neujahrstag

    Nach einer ruhigen Neujahrsnacht drhnt

    am Neujahrstag den ganzen Tag Kano-

    nendonner der westlichen Kriegsfront

    bis nach Lustnau hinber. Es ist keine

    Seltenheit, dass das Feuern der Geschtze

    in Tbingen zu vernehmen ist meistens

    jedoch nur an erhhten Stellen wie auf

    dem sterberg. Der genaue Ursprung des

    Kanonendonners ist schwer zu lokali-

    sieren. Meist wird vermutet, dass er aus

    den Kmpfen in den Vogesen stammt.63

    15. Januar 1916.

    Fugngerunterfhrung am Bahnhof

    erffnet

    Mit der Erffnung der Unterfhrung gehrt

    der Bahnbergang in der Karlsstrae der

    Vergangenheit an. Die moderne und mus-

    tergltige Anlage wird als Markstein

    bei den Umbauarbeiten des Bahnhofs be-

    zeichnet. Die Treppenabgnge sind durch

    hbsche Fachwerkbauten berdacht.

    Tagsber sorgen Oberlichter, abends

    elektrische Lampen fr Beleuchtung. 64

    24. Januar 1916.

    Trkisch fr Anfnger

    Im Einvernehmen mit der Deutsch-

    Trkischen Vereinigung, Landesverband

    Wrttemberg, beginnt an der Universi-

    tt bei Professor Christian Seybold ein

    Trkisch-Sprachkurs fr Studierende,

    Heeresangehrige und Jedermann aus

    der Stadt. An zwei Abenden in der Woche

    wird unterrichtet. Die Kursgebhr wird

    dem Roten Halbmond gespendet. Auf

    1916. Luftangriff ohne Vorwarnung

    Das Gedicht stammt von Theodor Haering, die Zeich-nung von Otto Ubbelohde. Die Seite erschien im Weih-nachtsgru der Universitt Tbingen 1915.

    Blick in die Karlstrae, 1919. Links im Bild die beiden Fachwerkhuschen der neuen Fugngerunterfhrung, Foto: Haus der Geschichte Baden-Wrttemberg Sammlung Gebr. Metz.

    wirtschaftlichem Gebiet werden die Kon-

    takte zum Bndnispartner Osmanisches

    Reich dadurch gestrkt, dass Lehrlinge

    nach Deutschland vermittelt werden. In

    Tbingen sind drei Handwerksmeister

    und eine Brauerei bereit, trkische Jugend-

    liche ab Mitte Juni 1917 auszubilden.65

    cHroniK 1916

  • 260

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

    24. Januar 1916.

    Beschlagnahmung von Kupfer und

    Messing

    Nachdem am 28. Juli 1915 die Beschlagnah-

    mung von Kupfer, Messing und Reinnickel

    vom Stellvertretenden Generalkommando

    verfgt worden war, konnten die betreffen-

    den Haushaltsgegenstnde bis jetzt freiwillig

    gegen Bezahlung abgeben werden. Nun

    erfolgt die Enteignung. Die Besitzer werden

    vom 24. Januar bis 31. Mrz straenweise zur

    Ablieferung aufgerufen. Bei Nichtablieferung

    droht eine Gefngnisstrafe bis zu einem

    Jahr oder eine Geldstrafe von bis zu 10.000

    Mark. Nach Ablauf der Sammelaktion gehen

    zahlreiche Verlngerungsgesuche fr die

    Abgabefrist bei der Metallsammelstelle ein,

    denn den Tbingern fehlt es an Ersatzgefs-

    sen fr tglich gebrauchte Metallgegenstnde

    wie Kupferkessel und Messingpfannen.66

    21. Februar 1916.

    Nagelung eines Eisernen Kreuzes

    Der Mnnerverein Freundschaft veran-

    staltet im Gasthaus zum Ren (Mnz-

    gasse 7) einen vaterlndischen Abend

    und ldt zur Nagelung eines Eisernen

    Kreuzes ein. Gegen eine Spende werden

    Ngel in eine hlzerne Vorlage geschla-

    gen, wodurch ein Nagelbild entsteht.

    Der Erls fliet dem Roten Kreuz und

    dem Stdtischen Hilfsausschuss zu.67

    Mrz 1916.

    Bezug der neuen Kaserne

    Etwa 200 Soldaten beziehen die neuer-

    baute und fast fertig gestellte Kaserne

    links der Hechinger Strae (seit 1938

    Lorettokaserne). Die Soldaten, die bald

    ins Feld ziehen werden, waren zuvor

    im Schloss untergebracht. Nach ihrem

    Ausrcken wird die Kaserne Unterkunft

    fr die 19-jhrigen Rekruten sein.68

    2. April 1916.

    Konfirmation

    An einem herrlichen Frhlingssonntag

    werden in Tbingen 118 Knaben und 137

    Mdchen konfirmiert. Auch zu diesem

    Fest ist Privathaushalten das Kuchenba-

    cken aufgrund der Lebensmittelknappheit

    verboten. Der stdtische Hilfsausschuss

    Haushaltsgegenstnde aus Kupfer und Messing, die 1915

    freiwillig an die Tbinger Metallsammelstelle abgegeben wurden, Foto: J. W. Hornung.

    Mit diesem Nagelbild wurden Spenden gesammelt, Postkarte.

  • 261

    cHroniK 1916

    Die neue Kaserne (spter Lorettokaserne) und das dazugehrige Lazarett wurden in den Jahren 1914 bis 1916 erbaut, Postkarte.

    Familienbild anlsslich der Konfirmation des ltesten Sohnes von Familie Kehrer in Lustnau.

    Landfrauen auf dem Tbinger Wochenmarkt. Das Angebot war 1913 noch grer als die Nachfrage.

  • 262

    von Eiern erlassen. Zudem sollen den Kin-

    dern rohe Eier zu Ostern geschenkt und

    sie dazu angehalten werden, diese den La-

    zaretten zu spenden. Die Stadtverwaltung

    verkauft in einer Sonderaktion eine Woche

    vor Ostern Eier zu 14 Pfennigen das Stck.

    Einige Wochen zuvor, am 5. April, blieb

    eine Buerin wegen berhhter Preise auf

    ihrer Ware sitzen. 22 Pfennige verlangte

    sie pro Ei. Kommentar einer anderen Bau-

    ersfrau: Mer sollt so einem unverschmta

    Weib ihre Eier an den Kopf na werfa!71

    Die Hhner liessen im Eierlegen sehr

    nach und gingen zum Teil ein. Es fehlte

    an Futter, namentlich an Kleie. Da galt es

    mit den Eiern sparsam hauszuhalten.

    (Theodor Beck, S. 29)

    1. Mai 1916.

    Zeitumstellung

    Zum 1. Mai 1916 wird in Deutschland zur

    Lichtersparnis erstmals die Sommerzeit

    eingefhrt. Leserbriefschreiber bemn-

    gewhrte den Kriegerkindern finanzielle

    Untersttzung und hatte bereits im Februar

    zu Kleider- und Stoffspenden zur Fertigung

    von Konfirmationskleidung aufgerufen.69

    17. April 1916.

    Einfhrung von Fleischkarten

    Die durch den Kommunalverband zuge-

    teilte Fleischration betrgt in der Woche

    800 Gramm, fr Kinder unter sechs

    Jahren die Hlfte. Dienstags und freitags

    wird kein Fleisch verkauft. Eine Zulage

    wird auch fr Kranke nicht gewhrt. Sol-

    daten an der Front erhalten die 2--fache

    Menge. In der Bevlkerung mehren sich

    die Beschwerden ber die chaotische Aus-

    gabesituation. Es wird kritisiert, dass eine

    Ausgabestelle fr Lebensmittelmarken fr

    eine Stadt wie Tbingen zu wenig sei.70

    23. April 1916.

    Rohe Eier zu Ostern

    Der Eiermangel wird zu Ostern besonders

    deutlich. Es wird ein Verbot zum Frben

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

    Halbe Fleischkarte fr Kinder mit Bezugsmarken, gltig vom

    17. April bis 5. Mai 1916.

    In der Verwundetenschule werden die zur Ausstellung

    entworfenen Plakate prsen-tiert. Links im Bild ein junger

    Kriegsinvalide mit Hand-prothese, Foto: Christian Barth.

  • 263

    geln den frhen Unterrichtsbeginn fr

    Schulkinder um sieben Uhr morgens

    und die damit erforderliche frhere Zu-

    bettgehzeit bei Tageslicht. Manche Kinder

    kommen eher zu spt ins Bett, da sie bis

    zum Einbruch der Nacht bei der Feldarbeit

    mithelfen mssen. In Derendingen lutet

    deshalb tglich die Abendbetglocke um

    21 Uhr, allerdings ohne den gewnschten

    Erfolg fr die Bettruhe der Kinder.72

    27. Mai 1916.

    Ausbau des Elektrizittswerks

    Das Elektrizittswerk in der Hinteren

    Grabenstrae hat von der Firma Gebr-

    der Haur in Ebingen ein Heidampflo-

    komobil mit 300 PS erworben. Fr die

    Aufstellung im Kesselhaus werden eine

    Reihe maschineller und baulicher Ma-

    nahmen erforderlich. Der Ausbau wur-

    de bereits 1914 beschlossen, aufgrund

    des Krieges jedoch aufgeschoben.73

    18.26. Juni 1916.

    Ausstellung der Verwundetenschule

    Die Verwundetenschule der Kriegsinva-

    lidenfrsorge Tbingen prsentiert im

    Gebude der Gewerbeschule (Schmiedtor-

    strae 4) schriftliche, zeichnerische und

    handwerkliche Arbeiten von Kriegsin-

    validen, hauptschlich Einarmigen.

    Neben interessierten Tbingern besu-

    chen auch der Knig und die Knigin

    die Ausstellung und die Werksttten.

    Die 1915 erffnete Verwundetenschule

    diente der beruflichen Ausbildung und

    Integration von Kriegsverletzten.74

    28. Juni 1916.

    Der Knig empfngt Verwundete

    Knig Wilhelm II. empfngt 150 Ver-

    wundete aus den Tbinger Lazaretten in

    Bebenhausen. Im Kreuzgang werden sie

    mit Kaffee und Kuchen, Bier und Zigarren

    bewirtet. Zur Unterhaltung tragen Mit-

    cHroniK 1916

    Das Knigspaar (Bildmitte) empfngt im Schloss Beben-hausen Verwundete aus den Tbinger Lazaretten, 1916. Fotopostkarte: J. W. Hornung.

  • 264

    Gebude in neuem, hellen Gewande

    [sic!], whrend im Innern noch gearbeitet

    wird. Die Schalterhalle ist im Rohbau fertig

    gestellt. Mit der Einrichtung der Wartesle

    im westlichen Flgel wurde begonnen. Die

    Bahnsteighalle und die Bahnsteigunterfh-

    rung sind bereits mit geflligem Putz und

    Plattenbelag versehen. Im Laufe des nch-

    sten Monats soll der Ausbau des Bahnsteigs

    2 samt Bahnsteigdach beginnen, nachdem

    schon im letzten Jahr der berdachte

    Bahnsteig 3 in Betrieb genommen werden

    konnte. In Wegfall kommt knftig die Uhr

    im Dachgiebel ber dem Haupteingang.76

    15. Juli 1916.

    Brunsstrae erhlt ihren Namen

    Der Gemeinderat beschliet die Liststra-

    e, an der die Brunssche Villa steht, in

    Brunsstrae umzubenennen. Er ehrt

    damit den im Juni verstorbenen Tbin-

    ger Professor der Chirurgie, Dr. Paul von

    Bruns, welcher fr seine Heimatstadt

    immer lebhafte Sympathie bettigt und

    stets reges, opferwilliges Verstndnis fr

    stdtische Fragen gezeigt hat. Die dem

    allgemeinen Hilfsfonds und stdtischen

    Hilfsausschuss von der Witwe vermachten

    Spenden sollen fr die Einrichtung einer

    groen Drranlage fr Obst und Gemse

    verwendet werden. Im September kann die

    Anlage im Elektrizittswerk erffnen.77

    16. Juli 1916.

    Jugendturntag in Tbingen

    Die Schwbische Turnerschaft veranstaltet

    fr die noch nicht militrpflichtige Ju-

    gend eine Art Heerschau in Verbindung

    mit einem Turnwettbewerb. ber 300

    Jugendturner aus dem Bezirk Tbingen

    marschieren in stattlichem Zuge auf den

    Spielplatz der Turngemeinde, wo sie unter

    dem schneidigen Kommando des Real-

    lehrers Himmelreicher die allgemeinen

    Freibungen durchturnen. Danach findet

    glieder des Hoftheaters und die Tbinger

    Garnisonsmusik bei. Zum Andenken erhlt

    jeder Gast Ansichten von Bebenhausen. Au-

    erdem entsteht im Schlosshof ein Grup-

    penfoto mit dem Knigspaar. Auch 1915

    und 1917 finden solche Empfnge statt.75

    28. Juni 1916.

    Bahnhof modernisiert

    Mitten im Krieg wird der Tbinger Haupt-

    bahnhof modernisiert. Die Tbinger Chronik

    berichtet ber den Stand der Umbauar-

    beiten. Von auen prsentiert sich das

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

    Der Hauptbahnhof nach der im Jahr 1916 fertig gestellten Erweiterung, Fotopostkarte:

    Paul Sinner.

    Jugendturntag 1917. Freibun-gen auf dem Platz der Turnge-

    meinde, Foto: Reichert.

  • 265

    ein Wettbewerb in verschiedenen Diszipli-

    nen der Leichtathletik sowie in Steinweit-

    wurf, Bocksprung und Klettern statt.78

    31. Juli 1916.

    Erste Versammlung des

    Hausfrauenvereins

    Auf der ersten Mitgliederversammlung

    des Hausfrauenvereins spricht Mathilde

    Brlocher ber ein hochaktuelles Thema,

    das Einmachen ohne Zucker. Der Mitte

    Juli gegrndete Hausfrauenverein zhlt

    bereits ber 200 Mitglieder. Der Verein

    mchte die Frauen ber land- und haus-

    wirtschaftliche Themen informieren und

    die Zusammenarbeit zwischen Erzeugern

    und Verbrauchern frdern. In der Kro-

    nenstrae hat er eine Verkaufsstelle fr

    landwirtschaftliche Produkte aus dem Um-

    land und aus Privatgrten eingerichtet.79

    August 1916.

    Kriegszeitung der Universitt

    Die Universitt hat wie schon im letzten

    Jahr ihren Studenten im Feld eine Kriegs-

    zeitung gewidmet. Diese enthlt neben

    Reaktionen der Studenten auf die erste

    Ausgabe auch einen Bericht von Universi-

    ttssekretr Albert Rienhardt ber Univer-

    sitt und Stadt im vierten Kriegssemester.

    Knapp ein Viertel der 400 anwesenden

    Studierenden sind inzwischen Frauen. Die

    Zahl der Todesopfer unter den Studenten

    ist bis Mitte Juli auf 280 angewachsen.80

    10. August 1916.

    Ausflug auf den Hohenzollern

    Rund 250 Verwundete der Tbinger Laza-

    rette fahren mit einem Extrazug unter der

    Leitung von Universittskanzler Dr. Max

    von Rmelin und Angehrigen des Ro-

    ten Kreuzes bis zur Station Zollern. Nach

    einer Strkung im Brielhof marschieren

    sie mit der Militrkapelle auf die Burg.

    Aushalten bis zum letzten Mann lautet

    Rmelins Appell an die Soldaten, dann

    wird unser Sieg auch nicht ausbleiben.81

    11. August 1916.

    Manahmen zur Fliegerabwehr

    Die Stadtverwaltung gibt die teilweise

    schon im Frhjahr 1915 verffentlichten

    Schutzmanahmen bei Fliegerangriffen

    bekannt. Beim Herannahen der Flugzeu-

    ge werden vom Stiftskirchenturm die alte

    Feuerglocke gelutet und Hupensignale in

    cHroniK 1916

    Den Umschlag der Kriegszei-tung gestaltete Julie Reischle.

    Ausflug der Verwundeten der Tbinger Lazarette auf die Burg Hohenzollern im August 1916, Fotopostkarte.

  • 266

    Er steht am unteren Waldrand des Kirn-

    bergs, einige hundert Meter nordstlich

    des Schlosses. Knig Wilhelm II. ist damit

    einverstanden, dass dieser Waldteil den

    Namen Knig-Wilhelms-Hain erhlt.85

    31. August 1916.

    Der Knig in Tbingen

    Knig Wilhelm II. und seine Tochter

    Pauline Frstin zu Wied sind zu privaten

    Besorgungen in der Stadt. Kinder und

    Erwachsende bleiben freudig bewegt

    und mit ehrfurchtsvollem Gru un-

    willkrlich stehen. Welch glckliches

    Verhltnis ist es doch schreibt die T-

    binger Chronik, Frst und Volk so nahe

    und treu verbunden zu wissen.86

    7. September 1916.

    Sammlung von Knochen

    Das Stadtschultheienamt fordert die

    Tbinger Haushalte auf, anfallende

    Knochen zu sammeln und an die Alt-

    hndler Kaiser und Klaiber gegen eine

    angemessene Entschdigung abzuliefern.

    Die Knochen sind zur Gewinnung von

    Fettstoffen von grter Wichtigkeit.87

    10. September 1916.

    Schweres Kriegsopfer einer Familie

    Oberprzeptor Karl Essig fllt in der

    Sommeschlacht. Nach seinen Brdern

    August und Hermann ist er der dritte

    und letzte Sohn der Witwe des Pfarrers

    Gustav Essig, der den Heldentod frs

    Vaterland gestorben ist. Karl Essig war

    1911 Stellvertreter von Professor Eugen

    Ngele am Gymnasium gewesen.88

    6. Oktober 1916.

    25-jhriges Regierungsjubilum

    des Knigs

    Vor 25 Jahren bestieg Knig Wilhelm II.

    den wrttembergischen Thron. Zu sei-

    nem Regierungsjubilum erhalten das

    alle Richtungen gegeben. Der Probealarm

    am Nachmittag erweist sich als unzulng-

    lich. Die zu leisen Glockenschlge sollen

    deshalb knftig durch Kanonenschsse

    der Alarmkanone auf dem Schloss unter-

    sttzt werden. Erst nach dem Luftangriff

    im Oktober werden weitere Manahmen

    ergriffen. Im November wird auerdem

    auf dem Stiftskirchenturm eine elektrische

    und drehbare Alarmsirene installiert, die

    in allen Stadtteilen deutlich hrbar ist.82

    15. August 1916.

    Tbingen als Ruhesitz

    Die Tbinger Chronik meldet, dass Tbin-

    gen sich dank seiner herrlichen Lage

    und sonstigen Vorzgen in steigendem

    Mae dem Zuzug und der Niederlas-

    sung von Pensionren erfreut.83

    24. August 1916.

    Erdl auf Bezugsschein

    Das Oberamt teilt mit, dass wieder eine

    beschrnkte Menge Erdl fr Heimarbei-

    ter, Landwirte und in besonderen Fllen

    zur allgemeinen Beleuchtung erhltlich

    ist. Das Erdl kann gegen Marken bei

    bestimmten Firmen gekauft werden. Das

    Schultheienamt Lustnau hat seinen Br-

    gern nahegelegt, in den Husern noch

    in den Sommermonaten eine elektrische

    Beleuchtung einrichten zu lassen. Wie

    im Vorjahr ist auch in diesem Winter er-

    neut mit Erdlknappheit zu rechnen. 84

    27. August 1916.

    Knig-Wilhelm-Stein geweiht

    Aus Anlass des 25-jhrigen Regierungsju-

    bilums des Knigs wird in Bebenhausen

    der Knig-Wilhelm-Stein eingeweiht. Der

    ber 200 Zentner schwere Findling aus

    dem Schnbuch wird dem Jubilar als Eh-

    renmal von den Schnbuchgemeinden,

    dem Verschnerungsverein Tbingen und

    dem Schwbischen Albverein gestiftet.

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

    Die alte Feuerglocke auf dem Stiftskirchenturm von 1598

    wurde beim Anflug feindlicher Flieger gelutet. Im Juni 1917

    musste auch sie fr Kriegs-zwecke gespendet werden,

    Foto: Paul Sinner.

    Bezugsmarke fr Erdl.

    Der Knig-Wilhelm-Stein bei Bebenhausen,

    Foto: Paul Sinner.

  • 267

    Militr dienstfrei und die Schulen einen

    freien Tag. Auf Wunsch des Knigs wer-

    den nur schlichte Feiern abgehalten. Der

    Gemeinderat schickt telegraphisch einen

    Huldigungsgru und Glckwunsch an

    seine Majestt. Fr die Knig-Wilhelm-

    Jubilumsspende werden im Oberamt

    Tbingen rund 21.000 Mark gesammelt.

    Die Spende ist fr Familien, die durch den

    Krieg in Not geraten sind, bestimmt.89

    12. Oktober 1916.

    Fliegerangriff auf Tbingen

    Ohne jegliche Vorwarnung erreichen an

    einem sonnigen Herbstnachmittag zwi-

    schen 16 und 17 Uhr zwei feindliche Flug-

    zeuge die Stadt und werfen sechs Bomben

    ab. Drei Erwachsene und zwei Kinder sind

    sofort tot, ber 20 verwundete Personen

    werden in die Chirurgische Klinik gebracht.

    Groe Schden gibt es vor allem an den

    Gebuden in der Frosch- und Hirschgasse.

    Die Dcher des Wilhelmsstifts und der

    Nachbarhuser sind teilweise zerstrt und

    die bunten Fenster der nahen katholi-

    schen Kirche vom Luftdruck zertrmmert.

    Gastwirt Paul Haug berlebt wie durch

    ein Wunder im Schankraum seines Gast-

    hofes zum Hirsch, dessen untere Rum-

    lichkeiten sich in einen Trmmerhaufen

    verwandelt haben. Mitte Januar 1917

    kann das Lokal wiedererffnet werden.90

    [In Derendingen] hrte man das Surren

    von 2 Fliegern ber Tbingen. Sie befanden

    sich in groer Hhe, wurden aber deut-

    lich gesehen () Kfer Mohl, der gerade

    in Urlaub war, erkannte ein Flugzeug als

    ein franzsisches, das andere grere war

    ein englisches. Man wollte es nicht glauben,

    obgleich das Surren einen anderen, hhe-

    ren Ton hatte als den gewohnten unserer

    Flugzeuge. Erst als man einen Schuss von

    Tbingen her hrte, wurde man von der

    Gefahr berzeugt. Der Knall rhrte von

    einer Bombe her, deren Abwerfen gleichfalls

    von hier aus beobachtet worden war. ()

    Da konnten wir einigermaen verstehen

    lernen, was unsere Krieger vor dem Feinde

    durchzumachen haben, die tglich von

    solchen Schrecknissen umgeben sind; ihre

    Friedenssehnsucht fand bei uns tieferes Ver-

    stndnis. (Theodor Beck, S. 51)

    cHroniK 1916

    Die Knigliche Familie in Bebenhausen: Knig Wilhelm II. mit Ehefrau Charlotte (rechts), Tochter Pauline und den Enkeln.

    Hirschgasse mit Gasthof zum Hirsch nach dem Luftangriff vom 12. Oktober 1916, Foto: Paul Sinner.

  • 268

    15. November 1916.

    Tropenklinik erffnet

    Die ersten Patienten beziehen das 1914

    bis 1916 erbaute Tropengenesungsheim

    (heute Paul-Lechler-Krankenhaus). Es sind

    Missionare, die von den Englndern aus

    Indien ausgewiesen wurden. Die Klinik

    verfgt ber 38 Rume und 50 Betten.

    Zimmer, deren Einrichtungen gestiftet

    wurden, erhalten die Namen der Geldgeber.

    Mit Spenden von Tbinger Brgern und

    einem Beitrag aus der Stadtkasse wird der

    Gartensaal Hohentbingen ausgestattet.94

    6. Dezember 1916.

    Obstsammlung fr die Verwundeten

    Die Obstbausektion zieht Bilanz der

    von ihr initiierten Spendenaktion. Von

    Anfang September bis Mitte November

    konnten 6436 kg Tafelobst und 221 kg

    Fallobst an die rtlichen Reservelazarette

    geliefert werden. Auch die im Anschluss

    durchgefhrte Weihnachtssammlung

    bringt ein sehr gutes Ergebnis.95

    30. Dezember 1916.

    Geringe Kartoffelvorrte

    Die Stadtverwaltung gibt bekannt, dass

    sie nur noch eine sehr bescheidene

    Menge Kartoffeln verteilen kann. Bis

    April 1917 ist mit keinen weiteren Lie-

    ferungen zu rechnen. Sie empfiehlt der

    Einwohnerschaft dringend, mit den

    noch vorhandenen Kartoffeln sparsam

    zu wirtschaften und sich ersatzweise

    mit Bodenkohlraben einzudecken.96

    16. Oktober 1916.

    Rckgabe goldener Preismedaillen

    Die Tbinger Chronik meldet, dass das

    Rektorat der Universitt ehemalige Stu-

    denten um Rckgabe ihrer goldenen

    Preismedaillen bittet. Diese sollen gegen

    ein eisernes oder bronzenes Exemplar

    ausgetauscht werden. Fr eine groe

    Medaille erhalten die Studenten 150 Mark

    Entschdigung, fr eine kleine etwa 40

    Mark. Der Aufruf ist erfolgreich. Bis An-

    fang Dezember werden 21 groe und

    31 kleine Medaillen mit einem Goldwert

    von etwa 4200 Mark bergeben und dem

    Goldbestand des Reichs zugefhrt.91

    28. Oktober 1916.

    Knig leistet Erste Hilfe

    Unter dem Titel Herzensgte unseres

    Knigs berichtet die Tbinger Chronik

    von einem auergewhnlichen Vorfall,

    der sich vor einiger Zeit in Bebenhausen

    zugetragen hat. Als in einem Waldstck

    eine ltere Frau einen Schlaganfall erlei-

    det, ist der Knig zufllig zur Stelle. Er

    kmmert sich um die Versorgung der

    Betroffenen, indem er seinen Leibarzt zur

    Unfallstelle schickt. In einer Hofkutsche

    wird die Frau nach Lustnau gebracht und

    der Knig lsst ihr zur Nachkur ein an-

    sehnliches Geldgeschenk berreichen.92

    12. November 1916.

    Oberammergauer Passionsspiele

    Im Museumssaal gastieren ab heute,

    eine Woche lang, die weltberhmten

    Oberammergauer Passionsspiele. Schon

    die erste Auffhrung bringt ein volles

    Haus. Der Theaterkritiker lobt die Dar-

    steller und die stimmungsvollen Sze-

    nerien. Ein Teil der Einnahmen kommt

    der Tbinger Kriegswohlfahrt zugute.93

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

    Das Tropengenesungsheim (heute Paul-Lechler-Klinik)

    im Rohbau, Anfang des Jahres 1916, Foto: Eugen Albrecht.

  • 269

    5. Januar 1917.

    Bodenkohlraben treffen ein

    Auf dem Gterbahnhof knnen die bei der

    Stadt bestellten Bodenkohlraben (Steckr-

    ben) gegen Barzahlung abgeholt werden.

    Der Zentner kostet drei Mark. Der Speise-

    plan vieler Haushalte besteht nun haupt-

    schlich aus Gerichten mit Steckrben, wel-

    che die fehlenden Kartoffeln ersetzen. Der

    Steckrbenwinter 1916/17 geht als Hun-

    gerwinter in die deutsche Geschichte ein.

    Viele Menschen sterben an Unternhrung.97

    Wie waren wir so froh, als wir wieder

    mehr Erdl hatten, um mitten im tiefsten

    Winter an den langen Abenden diesen und

    jenen Raum erhellen zu knnen, dem das

    elektrische Licht noch fehlte! Und wie war

    man erleichtert, als im Januar endlich die

    ersten Bodenkohlraben ankamen, 75 Zent-

    ner. Das war ein Hauptnahrungsmittel in

    diesem Jahr und bis zum berdruss kam

    es als Ersatz fr die fehlenden Kartoffeln

    auf den Tisch. (Theodor Beck, S. 57)

    9. Januar 1917.

    Tod von Auguste Quenstedt

    Im 66. Lebensjahr stirbt Auguste Quenstedt,

    eine edle Menschenfreundin und Wohl-

    tterin der Armen. Die Tochter von

    Professor Friedrich August Quenstedt

    kmmerte sich mit offener Hand und

    offenem Herzen um Arme und Kranke,

    Kriegerfrauen und -kinder. Die Klavier- und

    Sprachlehrerin war Grnderin des Lad-

    nerinnenvereins des Evangelischen Frau-

    enbundes und des Vereins fr weibliche

    Angestellte im kaufmnnischen Gewerbe.98

    cHroniK 1917

    1917. Eisiger Hungerwinter

    Einfache Lebensverhltnisse in der Tbinger Unterstadt. Fa-milie Hartmaier, Ammergasse, beim gemeinsamen Essen.

  • 270

    19. Januar 1917.

    Kunstausstellung Karl Biese

    In der Buchhandlung Kloeres beginnt eine

    Ausstellung mit Werken des Kunstmalers

    Karl Biese. Von den gezeigten lgeml-

    den, Aquarellen und Lithographien kann

    der Knstler 24 Werke verkaufen. Im Lauf

    des Jahres sind im Ausstellungsraum

    der Buchhandlung auch Bilder von

    Wilhelm Laage und Heinrich Seufferheld

    zu sehen. 1918 erwirbt die Stadtverwaltung

    aus der Ausstellung des Landschafts-

    malers Albert Kappis zwei Bilder fr

    die stdtische Gemldesammlung.100

    29. Januar 1917.

    Neckar zugefroren

    Der Neckar ist zwischen Stauwehr und

    Eberhardsbrcke fest zugefroren und

    wird eifrig von Schlittschuhlufern ge-

    nutzt. Die strenge Klte dauert bis Mitte

    Februar an. Wegen Kohlenmangels muss

    das Lichtspielhaus seine Filmvorfhrun-

    gen einstellen. Bis in den April hinein

    bleibt es winterlich. Der erste wirkli-

    che Frhlingstag ist der 29. April.101

    14. Februar 1917.

    Sammlung von Frauenhaaren

    Das Rote Kreuz bittet die Frauen um

    berlassung von ausgefallenen und

    ausgekmmten Frauenhaaren. Spenden

    werden in den Geschften von Friseur

    Karl Herrmann, Neue Strae, und Friseur

    Adolf Fritsch, Uhlandstrae, entgegenge-

    nommen. Das Haar dient als Ersatz fr

    kaum noch erhltliches Kamelhaar und

    wird an Industriebetriebe verkauft. Mit

    den Einknften bessert das Rote Kreuz

    seine knappen Finanzmittel auf.102

    25. Februar 1917.

    Knigsfeier der Reservelazarette

    Am Geburtstag von Knig Wilhelm II.

    findet auf Einladung von Garnisonspfarrer

    15. Januar 1917.

    Vergrerte Volkskche erffnet

    Die baulich erweiterte Volkskche in der

    Schulstrae 3 (heute Sozialamt) nimmt

    ihren Betrieb auf. Sie hat zustzliche Kes-

    sel und Herde angeschafft sowie mehrere

    Abgabestellen eingerichtet, wodurch eine

    Massenspeisung fr etwa 600 Perso-

    nen tglich mglich wird. Jetzt knnen

    dort auch Angehrige des Mittelstands

    oder in Not geratene Einzelpersonen

    eine Mahlzeit fr 40 Pfennige pro Por-

    tion beziehen. Ab Mitte Dezember kann

    das Essen im beheizten Industriesaal

    (Schulstrae 1) eingenommen werden.99

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

    Die Neckarfront in einer Feder-zeichnung von Karl Biese.

    Der Winter 1916/1917 war besonders eisig. Der zugefrorene

    Neckar bot lange Gelegenheit zum Schlittschuhlaufen, eine

    willkommene Abwechslung im tristen Kriegsalltag,

    Fotopostkarte.

  • 271

    Faber und Lazarettpfarrer Professor Otto

    Scheel eine Feier im groen Museumssaal

    statt. Saal und Galerie sind mit Verwunde-

    ten und Kranken, rzten und Schwestern

    bis auf den letzten Platz gefllt. Es gibt ein

    vielfltiges Programm mit musikalischen

    Beitrgen, Gedichtsrezitationen, Mundart-

    erzhlungen und zwei Theaterstcken.103

    29. Mrz 1917.

    Kriegskinderheim wird eingerichtet

    Die Bevlkerung wird zur berlassung

    von Kinderbetten, Bettwsche und Kinder-

    kleidung aufgerufen. Diese sind fr das

    Kriegskinderheim bestimmt, das als Filiale

    des schon bestehenden Suglingsheims

    auf dem Fhrberg eingerichtet wird. Aufge-

    nommen werden Kinder, deren Mtter sich

    nicht ausreichend um ihren Nachwuchs

    kmmern knnen, da sie entweder schwer

    erkrankt oder in der Landwirtschaft bezie-

    hungsweise Fabrik ttig sind. Dank der ein-

    gehenden Sach- und Geldspenden ziehen

    schlielich 20 Kinder im Alter von acht

    Monaten bis vier Jahren in das Heim ein.

    Dieses befindet sich zunchst im unteren

    Stockwerk des Bibelkreis-Studentenhauses,

    ab Dezember direkt im Suglingsheim.104

    21. April 1917.

    Goldschmuck frs Vaterland

    Die Vaterlndische Goldankaufstelle

    im Gebude der Oberamtssparkasse,

    Mhlstrae 18, gibt bekannt, dass der

    dort eingegangene Goldschmuck nun

    den Gegenwert von 50.000 Mark erreicht

    hat. Dies war Anlass fr eine schlichte

    Feier, bei welcher der letzten Einlieferin

    eines Schmuckstcks, einer einfachen

    Frau aus dem Volke, als Ehrengabe ein

    prchtiges Kaiserbild berreicht wur-

    de. Die Bevlkerung ist zur freiwilligen

    Abgabe von Goldschmuck aufgerufen,

    um damit Devisen zur Weiterfhrung

    des Krieges beschaffen zu knnen.105

    28. April 1917.

    Rappschle ffnet lnger

    Die Kleinkinderschule in der Rappstrae

    gibt bekannt, dass sie ab Mai nun tglich,

    auch an den Mittwoch- und Samstagnach-

    mittagen, bis 19 Uhr geffnet hat. Das

    Angebot besteht nur fr die Kinder, deren

    Mtter nachweislich erwerbsttig sind.

    Der Nationale Frauendienst hatte dies

    angeregt, um der Gefahr der mangeln-

    den Beaufsichtigung der Vorschulkinder

    durch die zunehmende Frauenarbeit

    entgegenzuwirken. Im Mrz 1918 stel-

    len sich rund 360 Kinder tglich bei den

    vier Schwestern in der Rappstrae ein.

    Der Kindergarten in der Paulinenstrae

    wird von etwa 60 Kindern besucht.106

    cHroniK 1917

    Im Suglingsheim auf dem Fhrberg wurde ein Kriegskin-derheim fr Kinder im Alter von acht Monaten bis vier Jah-ren untergebracht, Postkarte.

    Mit Fahnen geschmckter Eingang zur Goldankaufsstelle, Mhlstrae 18.

    Der Kindergarten in der Pau-linenstrae 34. Vorne auf der Bahre mimt der sptere Ober-brgermeister Hans Gmelin (Jg. 1911) einen Verwundeten, welcher von vier kleinen Rot-kreuzschwestern umsorgt wird.

  • 272

    2. Mai 1917.

    Patriotische Sammlungen der Schler

    Die Oberrealschler und ihre Lehrer

    begeben sich mit Grabwerkzeugen und

    Wgelchen ins Freie, um Brennnesseln

    zu sammeln. Die Pflanzen sollen bei

    Gppingen wieder in die Erde gesetzt

    werden, um aus ihren Fasern Stoffe fr

    Kriegszwecke zu gewinnen. Die Brenn-

    nesseln dienen als Ersatz fr Baum-

    wolle, deren Einfuhr durch den Krieg

    unterbrochen ist. Die Schulen sammeln

    whrend des Krieges auch Altpapier, alte

    Filzhte, Steinobstkerne, Hagebutten,

    Eicheln, Kastanien und Bucheckern.108

    10. Mai 1917.

    Andrang vor den Metzgereien

    Das Stadtschultheienamt versucht den

    Andrang vor den Tbinger Metzgerl-

    den amtlich zu regeln, indem bestimmte

    ffnungszeiten festgesetzt werden, das

    Anstehen vor ffnungsbeginn verboten

    und zum Mahalten aufgerufen wird.

    Dennoch berichten Leserbriefschreiber

    eine Woche spter von Paraden vor

    den Metzgerlden und einem sich re-

    gelmig wiederholenden Kampf ums

    Fleisch. Etliche Kunden gehen leer aus

    und bringen hchstens einige Beulen mit

    heim. Ab Mrz 1918 werden Kundenli-

    sten bei den Metzgerlden eingefhrt.109

    Manche gute Stunde versumten unsere

    Hausfrauen mit Warten vor den Tren der

    Metzger- und Kauflden, und gingen sie

    endlich auf, dann gings im Sturm und

    Drang hindurch. (Theodor Beck, S. 43)

    19. Mai 1917.

    Die Sommeschlacht im Kino

    Das Tbinger Lichtspielhaus zeigt die

    Kriegsdokumentation Bei unseren Hel-

    den an der Somme, die von der amtli-

    chen militrischen Film- und Fotostelle

    Mai 1917.

    Verbotene Liebe

    Das Tbinger Schffengericht verhan-

    delt unter Ausschluss der ffentlichkeit

    den Fall einer auf dem Krebacher Hof

    beschftigten Schweizerin, die sich mit

    einem russischen Kriegsgefangenen

    eingelassen hatte. Sie wird zu zwei Mo-

    naten Gefngnis verurteilt. Die Strafe

    fllt wegen ihrer Kinder und der fremden

    Staatsbrgerschaft milder aus. Der Staats-

    anwalt hatte sechs Monate beantragt.107

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias

    Die Erinnerungen des Regimentskommandeurs Alfred Vischer an die Sommeschlacht

    sind 1917 erschienen. Der Bucheinband zeigt das zerstrte

    Schloss Thiepval.

  • 273

    erstellt wurde. Der Propagandafilm ber

    die verlustreichste Schlacht des Ersten

    Weltkriegs endet mit einem Sieg der

    Deutschen. Der Film ist fr Kinder frei-

    gegeben und bis zum 25. Mai tglich im

    Kino zu sehen. Tatschlich wurde bei den

    Kmpfen 1916 keine militrische Ent-

    scheidung herbeigefhrt. Die Hauptlast

    trugen auf deutscher Seite die wrttem-

    bergischen Divisionen, unter ihnen das

    Tbinger Infanterieregiment Nr. 180.

    Ebenfalls 1917 werden die Erinnerungen

    des Regimentskommandeurs Alfred Vi-

    scher zu dieser Schlacht publiziert.110

    9.Juni 1917.

    Freiwillige Erntehelfer gesucht

    Die Vermittlungsstelle fr lndliche

    Hilfe im Kornhaus offeriert Landwirten

    wie schon in den beiden Vorjahren

    freiwillige und unbezahlte Helfer fr die

    Heuernte. ber 100 Studentinnen und

    Studenten werden bei der diesjhrigen

    Heuernte angefordert und beschftigt.

    Auch Schler und Schlerinnen des

    Gymnasiums werden fr Arbeiten in

    der Landwirtschaft herangezogen.111

    11. Juni 1917.

    Franzosenbrcke freigegeben

    Die neue Straenberfhrung ber die

    Bahngleise westlich des Hauptbahnhofs

    wird fr den allgemeinen Verkehr freige-

    geben. Sie ersetzt den schienengleichen

    bergang der Derendinger Allee. Da beim

    Bau franzsische Kriegsgefangene beteiligt

    waren, gibt ihr der Volksmund den Namen

    Franzosenbrcke (Abbruch 1978).112

    25. Juli 1917.

    Wucherpreise fr Bohnen

    Auf dem Wochenmarkt schreitet die

    Polizei ein, da die amtlich festgesetzten

    Hchstpreise fr Einmachbohnen ber-

    schritten werden. Jede Preisberschreitung

    wird mit einer Geldstrafe geahndet, seit

    die Hchstpreise auf dem Wochenmarkt

    auf Tafeln bekannt gemacht werden.113

    4. August 1917.

    Protest gegen Verstndigungsfrieden

    In der Tbinger Chronik erscheint eine

    Protesterklrung gegen die Friedensre-

    solution der Reichstagsmehrheit vom

    19. Juli 1917. Sie ist namentlich von

    rund hundert Mnnern aus Tbingen,

    Derendingen, Lustnau und Hagelloch

    cHroniK 1917

    Heuernte in Weilheim, 1917. Eine anstrengende Arbeit, bei der jede Hand gebraucht wurde.

    Sdliche Auffahrt zur Fran-zosenbrcke. Die 1917 fertig gestellte Brcke fhrte ber die Bahngleise westlich des Haupt-bahnhofs, Foto: Reichert.

  • 274

    Stimmung in der Gemeinde war gegen das

    Abnehmen und Hergeben der Glocken.

    (Theodor Beck, S. 64)

    22. August 1917.

    Flchtige Kriegsgefangene

    Um ein Uhr in der Frhe trifft der

    Lustnauer Obsthter Fritz Wulle beim

    Adler auf vier russische Kriegsgefangene,

    die aus dem Gefangenenlager in Mannheim

    entwichen sind. Als er sie auf das Rathaus

    fhren will, flchten zwei in Richtung Ort

    und zwei in Richtung Bebenhausen. Die

    letzteren verfolgt er. Einen Mann verletzt

    Wulle bei der Gefangennahme so schwer,

    dass dieser in die Chirurgische Klinik ge-

    bracht werden muss. Immer wieder werden

    flchtige Kriegsgefangene aufgegriffen. Oft

    halten sie sich tagsber im Schnbuch

    versteckt und versuchen, im Schutze

    der Nacht ihre Flucht fortzusetzen.116

    16. September 1917.

    Weitere Luftangriffe

    Am Sonntagvormittag ist Tbingen wie-

    der Ziel feindlicher Flieger. ber dem

    sterberg wird ein Luftkampf beobachtet.

    Wegen des lang andauernden Sirenenge-

    heuls muss der Gottesdienst eingestellt

    werden. Der Angriff gilt dem Gterbahn-

    hof, wo vorbergehend 1.600 Zentner

    Munition lagern. Zum Glck wird blo ein

    benachbartes Grundstck getroffen. Die

    Bombe kann spter andernorts gesprengt

    werden. Eine weitere Bombe explodiert

    im Neckar beim Stauwehr. Am 2. Oktober

    gibt es einen letzten, nchtlichen Luftan-

    griff. Der Sachschaden bleibt gering.117

    In Tbingen fielen angeblich 14 Bomben,

    wovon eine ein Huslein an der Strae

    nach Waldhausen bis in den Keller hinunter

    durchschlug, ohne den schlafenden Besitzer

    zu beschdigen. (Theodor Beck zum Luft-

    angriff vom 2. auf den 3. Oktober 1917, S. 67)

    unterzeichnet. Der nicht genannte Ver-

    fasser dieser Tbinger Erklrung stand

    bisher der Fortschrittlichen Volkspartei

    nahe. Die Mitunterzeichner gehren kei-

    ner bestimmten Parteirichtung an.114

    8. August 1917.

    Abtransport der Glocken

    Auf dem Westbahnhof werden insgesamt

    52 Glocken aus Tbingen und den Bezirks-

    gemeinden mit einem Gesamtgewicht von

    10.880 kg verladen und fr Kriegszwecke

    abtransportiert. Zuvor macht Hoffotograf

    Christian Barth ein Erinnerungsbild mit

    47 Glocken. Die lteste von 1410 stammt

    aus dem stdtischen Spital, die jngste

    von 1910 von der Eberhardskirche. Die

    grte Glocke mit 1.110 kg kommt aus

    Gnningen. Die Glocken wurden im Laufe

    des Juni und Juli abgenommen und zur

    Metallsammelstelle gebracht. 1918 wer-

    den nochmals sechs Glocken abtranspor-

    tiert, die letzte am 1. November 1918.115

    Unter allen Opfern, die der Krieg verlangte,

    war nach den Menschenopfern wohl das

    schwerste fr unsere Gemeinde der Verlust

    der Kirchenglocken. [] Die fast allgemeine

    tbingen im ersten weltKrieg. eine staDtcHroniK

    florian mittelhammer antJe zacharias