8
1 16 Die Geschichtswerkstatt Gallus berichtet Historisches und Aktuelles Ausgabe: April 2014 Der AuschwitzProzess Am 20. Dezember 1963 begann der AuschwitzProzess im Frankfurter Römer. Am 3. April 1964 wurde dieser Prozess in das Bürgerhaus Gallus verlegt. Seit dem 3. April 1964 tagte der AuschwitzProzess in dem neu erbauten Bürgerhaus Gallus. (Bild: ISG)

Der!Auschwitz.Prozess!motorbloeckchen.com/.../2014-04-Auschwitz-Prozess-1963.pdfKonzentrations- und Vernichtungs-lager Auschwitz (1940–1945) Im Konzentrations- und Vernichtungslager

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Der!Auschwitz.Prozess!motorbloeckchen.com/.../2014-04-Auschwitz-Prozess-1963.pdfKonzentrations- und Vernichtungs-lager Auschwitz (1940–1945) Im Konzentrations- und Vernichtungslager

1    

16  

Die  Geschichtswerkstatt  Gallus  berichtet  Historisches  und  Aktuelles  

Ausgabe:  April  2014  

 

 Der  Auschwitz-­‐Prozess    Am  20.  Dezember  1963  begann  der  Auschwitz-­‐Prozess  im  Frankfurter  Römer.  Am  3.  April  1964  wurde  dieser  Prozess  in  das  Bürgerhaus  Gallus  verlegt.  

 

Seit  dem  3.  April  1964  tagte  der  Auschwitz-­‐Prozess  in  dem  neu  erbauten  Bürgerhaus  Gallus.  (Bild:  ISG)  

Page 2: Der!Auschwitz.Prozess!motorbloeckchen.com/.../2014-04-Auschwitz-Prozess-1963.pdfKonzentrations- und Vernichtungs-lager Auschwitz (1940–1945) Im Konzentrations- und Vernichtungslager

2

Vorbemerkung:

Für mich, wie für viele Deutsche, war der Ausch-witz-Prozess die erste Konfrontation mit den Tä-tern. Man stellte mit Entsetzen fest, dass es ganz normale Bürger waren, die dort als Angeklagte sa-ßen. Es fehlte alles Dämonische, das man sich bei solchen Tätern vorgestellt hatte.

Bis zu diesem Prozess konnte man sich in Deutsch-land immer noch mit der Meinung beruhigen – das waren ja andere, das waren ‚Böse‘. Konfrontiert da-mit, dass die Mordfabrik Auschwitz nicht das Pro-dukt eines anonymen Systems war, dass die Mörder unbehelligt unter uns lebten, dass so viele Menschen in unserem Land davon nicht nur gewusst haben, sondern beteiligt waren, war erst einmal ein Schock.

Der Auschwitz-Prozess begann im Dezember 1963 im Frankfurter Römer und wurde am 3. April 1964 in das neu erbaute Bürgerhaus Gallus verlegt. Aus Anlass des 50. Jahrestags am 3. April 2014 führen wir hier im Gallus einige Gedenkveranstaltungen gegen das Vergessen durch.

Für das Geschichts-Info der Geschichtswerkstatt Gallus im April (Nr. 16) konnten wir Werner Renz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer In-stitut, gewinnen. Er hat für uns die folgende Do-kumentation ‚Auschwitz vor Gericht‘ geschrieben. Deutlich wird einerseits die Anstrengung der Justiz, die Verbrechen zu ahnden, andererseits aber auch, wie unzureichend die justizielle Aufarbeitung der NS-Verbrechen war.

Irmgard Lauer-Seidelmann

Auschwitz vor Gericht: Der Frankfurter Auschwitz-Pro-zess (1963–1965)Dokumentation von Werner Renz

Fünfzehn Jahre gingen ins Land der Täter, Mitläu-fer und Zuschauer, ins Land des fleißigen Wieder-aufbaus und des unverhofften Wirtschaftswunders, bis eine bundesdeutsche Staatsanwaltschaft erst-mals systematische und umfassende Ermittlungen gegen SS-Personal des Konzentrations- und Ver-nichtungslagers Auschwitz-Birkenau (1940–1945) einleitete und im Rahmen eines Sammelverfahrens den Versuch unternahm, den Verbrechenskomplex Auschwitz aufzuklären.

Obschon die Strafverfolgungsbehörden von Amts wegen verpflichtet waren, die von Deutschen began-genen Verbrechen zu ahnden, blieben die im Lager Auschwitz verübten Massenmorde bis Anfang der 1960er Jahre weitgehend außer Verfolgung.

Die Gründe für die ausgebliebene Ahndung der Ver-brechen waren vielfältig: Der Tatort Auschwitz lag jenseits aller Zuständigkeit einer bundesdeutschen Staatsanwaltschaft, die Täter waren, sofern es sich nicht um die Funktionsebene der Kommandanten handelte, meist unbekannt. Einige Auschwitz-Täter in einstmals höheren Dienststellungen waren teils abgeurteilt, teils verstorben.

Auskünfte bei Archiven in Polen und der Sowje-tunion, wo die überlieferten Auschwitz-Quellen eventuell Aufschluss über SS-Personal hätten geben können, wurden von deutschen Ermittlern nicht eingeholt bzw. ließen sich infolge der Restriktionen des Kalten Kriegs nicht beschaffen. Auch Überle-benden-Organisationen wurden nicht systematisch um Informationen über NS-Verbrecher gebeten, selbst die publizierten Zeugnisse der Davongekom-menen werteten die Strafjuristen nicht aus.

Konzentrations- und Vernichtungs-lager Auschwitz (1940–1945)

Im Konzentrations- und Vernichtungslager Ausch-witz wurden 965.000 Juden, 75.000 Polen, 21.000 Sinti und Roma (Zigeuner), 15.000 sowjetische An der Backsteinwand rechts hing der Plan von Auschwitz

(Bild: Fritz Bauer Institut)

Page 3: Der!Auschwitz.Prozess!motorbloeckchen.com/.../2014-04-Auschwitz-Prozess-1963.pdfKonzentrations- und Vernichtungs-lager Auschwitz (1940–1945) Im Konzentrations- und Vernichtungslager

3

Kriegsgefangene, 15.000 sonstige Häftlinge ermor-det. Von Anfang 1942 bis November 1944, in rund 900 Tagen, kamen ca. 600, vom Reichssicherheits-hauptamt der SS in Berlin organisierte »Sonderzü-ge« der Deutschen Reichsbahn mit Juden aus ganz Europa in dem Todeslager an. Auf der Rampe selek-tierte die SS, meist Ärzte, die Deportierten. Direkt ins Gas gingen Frauen mit Kindern, Alte und Kran-ke.

Mindestens 865.000 Juden wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermor-det und in Krematorien und Gruben verbrannt. Ins Lager verbracht, nummeriert und tätowiert und zu meist mörderischer Sklavenarbeit gezwungen wur-den 200.000 Juden. Über die Hälfte der registrierten jüdischen Häftlinge überlebte das Lager nicht. Nach der Auflösung von Auschwitz und seiner 40 Neben-lager im Januar 1945 kamen weitere Zehntausende von Häftlingen auf Todesmärschen oder in anderen, im Innern des Deutschen Reiches gelegenen Lagern um.

Die nach Auschwitz deportierten Juden kamen aus folgenden Ländern: Ungarn, Polen, Frankreich, Niederlande, Griechenland, Tschechoslowakei, Bel-gien, Jugoslawien, Italien, Norwegen, Österreich und Deutschland.

8000 Angehörige der SS, darunter 200 Frauen (SS-Gefolge), taten von Mai 1940 bis Januar 1945 Dienst in Auschwitz. Die meisten gehörten den Wachkompanien an, Hunderte aber waren Funkti-onsträger in der Lageradministration und leisteten einen kausalen Tatbeitrag zum Vernichtungsge-schehen.

Etwa 800 Auschwitz-Täter wurden in den ersten Jahren nach der Befreiung des Lagers abgeurteilt, nahezu 700 von polnischen Gerichten.

Vor bundesdeutschen Richtern standen nur rund 60 Angeklagte, neben 43 vormaligen SS-Angehörigen auch 15 Funktionshäftlinge.

Nicht die Ahndungsbemühungen einer westdeut-schen Staatsanwaltschaft, sondern die Initiativen von Überlebenden waren es gewesen, die die Er-mittlungen im Falle des Auschwitz-Prozesses in Gang brachten.

Die Vorgeschichte des Frankfurter Auschwitz-Prozesses

Die Vorgeschichte des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses ist exemplarisch für die justizielle Aufar-beitung der NS-Vergangenheit in der Bundesrepu-blik Deutschland der fünfziger Jahre. In aller Deut-lichkeit zeigt sie, wie defizitär in der Adenauer-Ära die juristische Verfolgung der NS-Täter gewesen war.

Ein wegen Betrugs verurteilter, in der Haftanstalt Bruchsal (bei Karlsruhe) einsitzender ehemaliger Auschwitz-Häftling zeigte im März 1958 bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart den vormaligen An-gehörigen der Auschwitzer Lagergestapo, Wilhelm Boger, an. Boger lebte unbehelligt in der Nähe der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Schleppend nur kamen die staatsanwaltschaftli-chen Ermittlungen in Gang. Erst der vom Interna-tionalen Auschwitz-Komitee (IAK) durch seinen Generalsekretär Hermann Langbein (Wien) aus-geübte Druck veranlasste die Stuttgarter Strafver-folgungsbehörde, durch die Vernehmung von Zeu-gen (Auschwitz-Überlebenden) – allesamt von dem Anzeigeerstatter Adolf Rögner und von Hermann Langbein benannt – Beweismittel im Fall Boger herbeizuschaffen. Im Oktober 1958 wurde endlich auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Amtsgericht Stuttgart Haftbefehl gegen Boger erlassen.

Boger war laut Haftbefehl »dringend verdächtig«, in Auschwitz im April 1943 einen Menschen »aus Mordlust« getötet zu haben, »indem er als Ober-scharführer der SS in dem Konzentrationslager bei einer befohlenen Exekution, die er als rechtswidrig erkannt hatte, aus Lust am Töten einen Häftling mit der Pistole erschoss«. Der einstige Angehörige der Lager-Gestapo wurde in Untersuchungshaft ge-nommen.

Im Januar 1959 übergab der Holocaust-Überlebende Emil Wulkan ((1900–1961) dem Journalisten Tho-mas Gnielka (1928–1965) Auschwitz-Dokumente, Schreiben der Auschwitzer Kommandantur sowie des SS- und Polizeigerichts XV in Breslau aus dem Jahr 1942. In der Korrespondenz waren SS-Männer aufgelistet, die Häftlinge angeblich »auf der Flucht« erschossen hatten, sowie die Namen der getöteten Lagerinsassen.

Page 4: Der!Auschwitz.Prozess!motorbloeckchen.com/.../2014-04-Auschwitz-Prozess-1963.pdfKonzentrations- und Vernichtungs-lager Auschwitz (1940–1945) Im Konzentrations- und Vernichtungslager

4

Gnielka erkannte die Bedeutung der Schriftstücke und leitete sie umgehend an den hessischen Ge-neralstaatsanwalt Fritz Bauer (1903–1968) weiter. Bauer war seit 1956 Generalstaatsanwalt in Hes-sen und hatte sich auch zur Aufgabe gemacht, die NS-Verbrechen durch die hessische Justiz zu ahn-den. Zuständig für das in Auschwitz begangene Menschheitsverbrechen war die Frankfurter Staats-anwaltschaft freilich nicht. Um in der Sache tätig werden zu können musste der Bundesgerichtshof (BGH) auf der Grundlage von § 13a Strafprozes-sordnung (StPO) das Landgericht Frankfurt am Main für zuständig erklären. Mit Beschluss vom 17. April 1959 (Gerichtsstandsbestimmung) über-trug der BGH die Untersuchung und Entscheidung in der angestrengten Sache gegen Auschwitz-Täter dem Frankfurter Landgericht.

Die Ermittlungen gegen Auschwitz-Täter

Umfangreiche Ermittlungen gegen über 1.200 Be-schuldigte wurden von den beiden Staatsanwälten Georg Friedrich Vogel (1926–2007) und Joachim Kügler (1926–2012), von Bauer als Sachbearbeiter des Verbrechenkomplexes Auschwitz beauftragt,

eingeleitet. Über 1.000 Zeugen (Überlebende und vormalige SS-Angehörige) wurden im Verlauf des Vorverfahrens (Ermittlungssache und gerichtliche Voruntersuchung) vernommen.

Als nach vierjähriger intensivster Arbeit der Staats-anwälte Vogel und Kügler sowie des Untersuchungs-richters Heinz Düx (*1924) (von Juli 1961 bis Okto-ber 1962) die Frankfurter Staatsanwaltschaft (Vogel, Kügler und ihr Kollege Gerhard Wiese (*1928) ver-fassten die Anklage) die Anklageschrift gegen 24 Angeschuldigte beim Landgericht (LG) Frankfurt am Main im April 1963 eingereicht und mit Be-schluss des LG Frankfurt am Main vom 7.10.1963 das Hauptverfahren eröffnet wurden, sodann Ende Dezember 1963 die Hauptverhandlung gegen nun-mehr 22 Angeklagte begann, war die »Strafsache gegen Mulka u.a.« (Az.: 4 Ks 2/63) mehr als nur ein Strafprozess wegen Mordes bzw. wegen Beihilfe zum Mord.

Neben dem Nachweis von Tatumfang und Tatschuld der einzelnen Angeklagten war es das erklärte Ziel der Strafverfolger, über die menschheitsgeschicht-lich präzedenzlose Massenvernichtung in Ausch-witz im Rahmen eines Sammelverfahrens gegen Holocaust-Täter aufzuklären, das Gesamtgeschehen in Auschwitz zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Durch das Verfahren wollten die Ankläger einen Beitrag zur Bildung eines neuen, durch den Nazismus und die »Verstrickung« der Tätergene-ration so schwer beschädigten Rechtsbewusstseins leisten.

Die Angeklagten hatten sich vor einem Schwurge-richt zu verantworten, das sich aus drei Berufs- und sechs Laienrichtern (Geschworene) zusammen-setzte. Hinzu kamen noch zwei Ersatz- bzw. Ergän-zungsrichter und drei Ersatzgeschworene.

Die Hauptverhandlung (20.12.1963–20.8.1965)

Der Auschwitz-Prozess dauerte 20 Monate und be-gann am 20. Dezember 1963 im Saal des Stadtparla-ments im Frankfurter Rathaus (Römer). Die Räum-lichkeiten waren der Justizverwaltung von der Stadt Frankfurt am Main großzügiger Weise zur Verfü-gung gestellt worden, weil die Justiz selbst keinen Raum von der erforderlichen Größe besaß.

Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen (Bild: Fritz Bauer Institut)

Page 5: Der!Auschwitz.Prozess!motorbloeckchen.com/.../2014-04-Auschwitz-Prozess-1963.pdfKonzentrations- und Vernichtungs-lager Auschwitz (1940–1945) Im Konzentrations- und Vernichtungslager

5

Angeklagt waren zwei Adjutanten des Kommandan-ten (Robert Mulka und Karl Höcker), ein Schutz-haftlagerführer (Franz Hofmann), drei SS-Ärz-te (Franz Lucas, Willy Frank, Willi Schatz), ein SS-Apotheker (Victor Capesius), ein Rapportführer (Oswald Kaduk), Angehörige der Lager-Gestapo/Politische Abteilung (Wilhelm Boger, Pery Broad, Klaus Dylewski, Hans Stark, Johann Schoberth), Sanitätsdienstgrade (Josef Klehr, Emil Hantl, Her-bert Scherpe, Gerhard Neubert), zwei Blockführer (Heinrich Bischoff, Stefan Baretzki), ein Arrestauf-seher (Bruno Schlage) und ein Angehöriger der Abt. Verwaltung (Arthur Breitwieser). Auch ein Funkti-onshäftling (Emil Bednarek) stand vor Gericht.

Den Angeklagten zur Seite standen Wahl- und Pflichtverteidiger. Ein Angeklagter hatte zwei Rechtsbeistände. Ein Anwalt konnte mehr als einen Angeklagten vertreten.

Den Angeklagten gegenüber standen die Vertreter der Strafverfolgungsbehörde, insgesamt vier Staats-anwälte. Im Interesse der Opfer und ihrer Angehö-rigen vertraten drei Rechtsanwälte, Henry Ormond (1901–1973) und Christian Raabe (*1934) (Frank-furt am Main) und Friedrich Karl Kaul ((1906–1981) (Ost-Berlin) Nebenkläger.

Als von Ormond und Raabe vertretene Nebenkläger waren 15 Überlebende bzw. Angehörige von Opfern aus denjenigen Ländern zugelassen, aus denen Ju-den nach Auschwitz deportiert worden waren. Der Ost-Berliner Anwalt Kaul vertrat sechs Überleben-de bzw. Opferangehörige aus der Deutschen Demo-kratischen Republik (DDR).

Nach der Vernehmung der 22 Angeklagten zu Per-son und Sache (15 Sitzungstage) und der von der Strafprozessordnung vorgeschriebenen Verlesung des Eröffnungsbeschlusses (3. Verhandlungstag), in dem die gegen die Angeklagten vorliegenden Tat-vorwürfe aufgeführt waren, trugen zu Beginn der Beweisaufnahme Historiker umfassende, von der Anklagebehörde in Auftrag gegebene Gutachten vor.

Die Sachverständigen stellten die Terrorherrschaft der SS, das KZ-System, die nationalsozialistische Polen- und Vernichtungspolitik (Holocaust) sowie die Verbrechen an Angehörigen der Roten Armee (Kommissarbefehl) dar.

Im Verlauf der Beweisaufnahme, die von Febru-ar 1964 bis Mai 1965 dauerte, wurden 360 Zeugen vernommen. Darunter waren 211 Auschwitz-Über-lebende und 54 vormalige Angehörige der Ausch-witzer SS.

Die davongekommenen Opfer der nationalsozia-listischen Vernichtungspolitik konfrontierten die deutsche Gesellschaft mit Taten, die zu verdrängen und zu vergessen die Bundesbürger so erfolgreich bemüht gewesen waren. Täter standen vor einem Schwurgericht, die sich nach 1945 umstandslos in das Nachkriegsdeutschland hatten integrieren kön-nen.

Die Angeklagten leugneten nahezu gänzlich jegliche Beteiligung an den Verbrechen. Den Völkermord in Auschwitz stellten sie allerdings nicht in Abrede, die Massenvernichtung insbesondere von Juden stritten sie keineswegs ab. Eigene Tatbeiträge gestanden sie aber nur selten ein. Hatten sie mitgemacht, dann nur auf Befehl und gezwungenermaßen. Mitverantwor-tung an den Verbrechen wiesen sie weit von sich.

Urkunden (Dokumente), die die individuelle Schuld der Angeklagten hätten beweisen können, gab es in dem Verfahren so gut wie keine. Sachbeweise stan-den mithin kaum zur Verfügung. Die Zeugen, meist Verbrechensopfer, waren das Beweismittel, auf das sich das Gericht in seiner Schuldfeststellung stützen musste. Obgleich der Zeitabstand zur Tat mit rund 20 Jahren ungewöhnlich groß, die Beweisvergäng-lichkeit mithin genauestens zu berücksichtigen war, konnte sich das Gericht bei seiner »Erforschung der Wahrheit« auf eine Vielzahl von glaubwürdigen und verlässlichen Zeugen stützen.

Das Urteil

Das Gericht verurteilte die Angeklagten Hofmann, Kaduk, Boger, Klehr, Baretzki und Bednarek, de-nen nichtbefohlene, also eigenmächtige Tötungen – meist aus niedrigen Beweggründen und grausam verübt – nachgewiesen werden konnten, wegen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus, den Angeklag-ten Stark wegen auf Befehl begangenen gemein-schaftlichen Mordes (in mehreren Fällen) in An-wendung von § 105 Jugendgerichtsgesetz zu zehn Jahren Jugendstrafe, da der Angeklagte zur Tatzeit noch unter 21 Jahren gewesen war.

Page 6: Der!Auschwitz.Prozess!motorbloeckchen.com/.../2014-04-Auschwitz-Prozess-1963.pdfKonzentrations- und Vernichtungs-lager Auschwitz (1940–1945) Im Konzentrations- und Vernichtungslager

6

Die Beteiligung von Hofmann, Kaduk und Stark an der von der verbrecherischen Staatsführung befoh-lenen Massenvernichtung von Juden sowie von Sinti und Roma (»Zigeuner«) wertete das Gericht gleich-falls als (gemeinschaftlichen) Mord, es qualifizierte diese drei Angeklagten als Mittäter. Sie hatten nach Auffassung des Schwurgerichts die angeordneten Taten als eigene gewollt, hatten sich mit den Ver-nichtungszielen des NS-Regimes identifiziert. Diese vom Gericht festgestellte »innere Einstellung« der Angeklagten zu den befohlenen Tötungen qualifi-zierte Hofmann, Kaduk und Stark als Mittäter. Sie hatten also mit Täterwillen gehandelt.

Die Teilnahme der Angeklagten Boger, Klehr, und Baretzki an auf Befehl durchgeführten Vernich-tungsaktionen beurteilte das Gericht hingegen als Beihilfehandlungen. Nach Würdigung aller Bewei-se gelangten die Richter in Bewertung der »inneren Einstellung« der Angeklagten zu den Taten bzw. ih-rer »Willensrichtung« zu dem (umstrittenen) Urteil, dass diese drei SS-Angehörigen – ansonsten (wie oben ausgeführt) wegen eigeninitiativer, befehlslo-ser Tötungen als Mörder abgeurteilt – im Falle der befohlenen Massenmorde die Taten nicht als eigene, vielmehr als fremde gewollt hatten. Sie hatten dem Gericht zufolge nur mit Gehilfenwillen gehandelt, waren also nicht Mittäter wie Hofmann, Kaduk und Stark, sondern nur Beihelfer.

Auch die übrigen Angeklagten (Mulka, Höcker, Capesius, Frank, Lucas , Dylewski, Broad, Schlage, Scherpe und Hantl), in zum Teil höheren Dienst-

und Rangstellungen, hatten nach Auffassung des Schwurgerichts ausschließlich auf Befehl und ohne Täterwillen an den Verbrechen mitgewirkt. Die Frankfurter Richter verurteilten sie in Übereinstim-mung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BGH) folglich als bloße Gehilfen, nicht als Mittäter. Der des Mordes überführte Angeklagte, als Täter oder Mittäter qualifiziert, war nach dem in den 1960er Jahren geltenden Gesetz zu lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen. Auch gegen den Mord-gehilfen konnte diese Freiheitsstrafe ausgesprochen werden. Beim Gehilfen aber ließen sich bei der rich-terlichen Strafzumessung Strafmilderungsgründe geltend machen. Durchweg hat das Gericht dies bei den als Gehilfen qualifizierten Angeklagten getan. Die verhängten zeitigen, meist milden Zuchthaus-strafen (dreieinviertel Jahre bis 14 Jahre) waren keine schuldangemessene »Sühne« (als Strafzweck im Urteil genannt) für ihre Teilnahme an dem vom deutschen Verbrecherstaat angeordneten Völker-mord. Einen gerechten Schuldausgleich stellten die geringen Strafen nicht dar. Das Gerechtigkeits- und Rechtsempfinden der Opfer der nationalsozialisti-schen Verfolgungspolitik und ihrer Angehörigen ist durch das niedrige Strafmaß fraglos empfindlich verletzt worden.

Bei den Angeklagten, die Angehörige der Waffen-SS gewesen waren, hatte das Gericht noch festzustellen, ob sie bei den befohlenen Tötungen als sogenannte Untergebene für die Taten mitverantwortlich waren. Nach einer Verordnung aus dem Jahre 1939 unter-stand die SS der Militärgerichtsbarkeit. Nach dem Militärstrafgesetzbuch (MStGB, § 47) ist bei Befeh-len in Dienstsachen, die ein Strafgesetz verletzen, der Vorgesetzte zur Verantwortung zu ziehen, nicht der ausführende Befehlsempfänger, das heißt: der Untergebene. Im Falle aber, wenn ein erteilter Be-fehl ein allgemeines oder militärisches Verbrechen oder Vergehen bezweckt und dem untergebenen Befehlsausführenden der verbrecherische Zweck des Befehls bekannt ist, trifft ihn als Mitverantwort-licher die Strafe des Teilnehmers.

Für die in Auschwitz auf Befehl verübten Verbre-chen waren demnach auch die Befehlsausführenden zur Rechenschaft zu ziehen, denn nach Erkenntnis der Richter hatten die Angeklagten gewusst, dass die erteilten Befehle Verbrechen zum Zweck hat-ten. Sie hatten das für die Feststellung ihrer Schuld

Die Angeklagten Wilhelm Boger (untere Bildmitte) und Victor Capesius (mit Sonnenbrille) im Römer. (Bild: Fritz Bauer Institut)

Page 7: Der!Auschwitz.Prozess!motorbloeckchen.com/.../2014-04-Auschwitz-Prozess-1963.pdfKonzentrations- und Vernichtungs-lager Auschwitz (1940–1945) Im Konzentrations- und Vernichtungslager

7

erforderliche Unrechtsbewusstsein, das heißt: sie wussten um die Rechtswidrigkeit der erteilten Be-fehle. Den Angeklagten waren somit die Taten zu-zurechnen.

Strafverbüßung

Zur Frage der Verbüßung der ergangenen Freiheits-strafen lassen sich folgende Feststellungen treffen:

Hofmann (geb. 1906, Untersuchungshaft seit 1959, Strafhaft in anderer Sache seit 1962) und Boger (geb. 1906, Untersuchungshaft seit Oktober 1958) sind 1973 bzw. 1977 in Strafhaft gestorben.

Klehr (geb. 1904, Untersuchungshaft seit Septem-ber 1960) wurde 1988, Kaduk (geb. 1906, Unter-suchungshaft seit Juli 1959) 1989 entlassen. Klehr starb 1988, Kaduk 1997.

Baretzki (geb. 1919, Untersuchungshaft seit April 1960) beging 1988 in Strafhaft Selbstmord.

Bednarek (geb. 1907, Untersuchungshaft seit No-vember 1960) ist nach einer Gnadenentscheidung 1975 aus der Haft entlassen worden und 2001 ge-storben.

Stark (geb. 1921, Untersuchungshaft von April 1959 bis Oktober 1963 sowie ab Mai 1964) erhielt 1968 Haftverschonung. Er starb im Jahr 1991.

Mulka (geb. 1895, Untersuchungshaft von Novem-ber 1960 bis März 1961, Mai bis Dezember 1961, Februar bis Oktober 1964 und ab Dezember 1964) kam wegen Haftunfähigkeit im Jahre 1968 aus der Untersuchungshaft frei und starb 1969.

Höcker (geb. 1911, Untersuchungshaft ab März 1965) ist 1970 bedingt aus der Strafhaft entlassen worden und 2000 gestorben.

Capesius (geb. 1907, Untersuchungshaft seit De-zember 1959) wurde Anfang 1968 aus der Untersu-chungshaft entlassen, Tod im Jahr 1985.

Frank (geb. 1903, Untersuchungshaft seit Oktober 1964), 1970 aus Strafhaft entlassen, starb 1989.

Lucas (geb. 1911, Untersuchungshaft seit März 1965), wurde im März 1968 aus der Untersuchungs-

haft entlassen, im Oktober 1970 vom LG Frankfurt am Main (Neuverhand-lung) freigesprochen. 1994 gestorben.

Broad (geb. 1921, Untersuchungshaft von April 1959 bis Dezember 1960, November 1964 bis Feb-ruar 1966) erlangte 1966, Dylewski (geb. 1916, Un-tersuchungshaft von April bis Mai 1959, Dezember 1960 bis März 1961 und ab Oktober 1964) 1968 die Freiheit. Broad starb 1994, Dylewski 2012.

Schlage (geb. 1903, Untersuchungshaft seit April 1964) erhielt 1969 Strafaufschub und starb 1977.

Scherpe (geb. 1907, Untersuchungshaft seit August 1961) und Hantl (geb. 1902, Untersuchungshaft seit Mai 1961) wurden am 19. August 1965 nach der Ur-teilsverkündung auf freien Fuß gesetzt. Hantl starb 1984, Scherpe 1997.

Rückblick auf die Geschichte der Ahndung der NS-Verbrechen

Die Ära der Ahndung der NS-Verbrechen ist bis heute nicht abgeschlossen. Ermittlungsverfahren gegen Wachleute von Auschwitz sind bei Staatsan-waltschaften anhängig. Doch die Prozesse gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher sind heu-te weitgehend Gegenstand der historischen For-schung. Zieht man Bilanz, so müssen die Anstren-gungen der bundesdeutschen Justiz, den Holocaust, das deutsche Verbrechen an der Menschheit (so der Philosoph Karl Jaspers), auf der Grundlage des zur Tatzeit geltenden Strafrechts (Reichsstrafgesetzbuch von 1871) zu ahnden, als gescheitert gelten.

Der Bonner Gesetzgeber unterließ in den 1950er Jahren rechtspolitische Schritte, eine den Verbre-chen angemessene Verfolgung der Täter zu ermög-lichen. Die von den Alliierten in den Nürnberger Prozessen erarbeiteten Rechtsgrundlagen haben deutsche Rechtspolitiker und Rechtswissenschaftler aus rechtsgrundsätzlichen Erwägungen (Rückwir-kungsverbot) und aus politischen Gründen verwor-fen. Die höchstrichterliche Judikatur in Karlsruhe (Bundesgerichtshof) erschwerte jegliche Rechts-schöpfung. So konnten auch die Frankfurter Richter im Auschwitz-Prozess Gerechtigkeit nicht walten lassen. Das deutsche Strafrecht und die herrschende Rechtsprechung standen dagegen.

Page 8: Der!Auschwitz.Prozess!motorbloeckchen.com/.../2014-04-Auschwitz-Prozess-1963.pdfKonzentrations- und Vernichtungs-lager Auschwitz (1940–1945) Im Konzentrations- und Vernichtungslager

8

50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess im Bürgerhaus Gallus

Im Rahmen der „Gallus-Erinnerungsarbeit“ vom 25. März bis 14. April 2014 finden zahlreiche Ver-anstaltungen im Gallus statt, die im Flyer der Koordinierungsgruppe im Einzelnen aufgeführt sind. Ziel der Veranstaltungen ist, die Erinnerung an die Folgen von Ausgrenzung und Rassismus wach zu halten: So etwas darf nie wieder geschehen.

Die zentrale Veranstaltung wird am 3. 4. 2014 im Bürgerhaus Gallus stattfinden. Dabei wird Trude Simonsohn, eine Auschwitz-Überlebende, zu uns sprechen, und der ehemalige Untersuchungsrichter, Heinz Düx, wird von der Ermittlungsarbeit zum Prozess berichten. Und es gibt ein Gespräch mit Zeit-zeugen - mit Prof. Dr. Steinacker, Andrezj Bodek und Irmgard Lauer-Seidelmann - die Moderation hat Ulrike Holler. Das Sinti- und Roma-Orchester wird diese Veranstaltung musikalisch gestalten. Zum Abschluss werden Jugendliche aus der Paul-Hindemith-Schule an in Auschwitz ermordete Menschen aus unserem Stadtteil erinnern.

Für den Abschluss der Gallus-Erinnerungsarbeit konnte die Geschichtswerkstatt Gallus Werner Renz zu einem Vortrag im Gallus-Theater gewinnen:

Der Auschwitz-Prozess Vorgeschichte und Ermittlungsarbeit

Werner Renz

Montag, 14. April 2014, um 19.00 Uhr Gallus-Theater, Kleyerstraße 15

Wir laden alle Interessierten zu dieser Veranstaltung ein. Werner Renz bietet Gelegenheit zur Diskussion.

Literatur: Raphael Gross, Werner Renz (Hrsg.): „Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1961- 1965). Kommentierte Quellenedition. Mit Abhandlungen von Sybille Steinbacher und Devin O. Pendas, mit historischen Anmerkungen von Werner Renz und juristischen Erläuterungen von Johannes Schmidt. 2 Bde, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013.

Herausgeber: Geschichtswerkstatt Gallus, Frankenallee 166, 60326 Frankfurt. V.i.S.d.P.: Irmgard Lauer-Seidelmann, ([email protected]) Der Druck des „INFOS“ wird vom Caritas Quartiersmanagement „Soziale Stadt Gallus“, von der Druckerei „bueround-Copy.de“, vom Autohaus Gruber GmbH und anderen un-terstützt.