8
HNO 2013 · 61:327–334 DOI 10.1007/s00106-012-2592-0 Online publiziert: 12. April 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 A. Blödow 1  · R. Helbig 1  · N. Wichmann 1  · M. Bloching 1  · L.E. Walther 2, 3 1    Klinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Plastische Chirurgie und Kommunikationsstörungen,  Helios-Klinikum Berlin-Buch, Berlin 2  HNO-Universitätsklinik Mannheim 3  HNO-Gemeinschaftspraxis, Main-Taunus-Zentrum, Sulzbach (Taunus) Der Video-Kopfimpulstest Erste klinische Erfahrungen Der klinische Kopfimpulstest (KIT) nach Halmagyi und Curthoys [9] ist ein obli- gater Bestandteil bei der Diagnostik von Schwindel und Gleichgewichtsstörun- gen. Damit können Informationen über die Integrität des vestibulookulären Re- flexes (VOR) gewonnen und Störungen der Blickstabilisierung diagnostiziert wer- den. Die Methode hat den Vorteil einer seitengetrennten, dynamischen Analyse: Die induzierte Reizantwort liegt mit etwa 5–7 Hz im alltagsüblichen Arbeitsbereich der Bogengänge und des VOR. Objektives Korrelat für eine Störung des VOR sind kompensatorische Rück- stellsakkaden (Refixationssakkaden), die bei impulsartiger Bewegung des Kopfes in den 3 Arbeitsebenen der Bogengänge auf- treten. Sie können in Form sog. verdeck- ter Rückstellsakkaden („catch-up covert saccades“, während der Kopfbewegung) und offener Rückstellsakkaden („catch-up overt saccades“, nach der Kopfbewegung) vorkommen. Während offene Rückstell- sakkaden für den Untersucher beim kli- nischen KIT sichtbar sind, entziehen sich jedoch die verdeckten Rückstellsakkaden der visuellen Beurteilung. Sie sind in der Kopf-Augen-Bewegung und somit im VOR „verborgen“ [18]. Mit dem Video-Kopfimpulstest (vKIT) steht jetzt eine Methode zur Verfügung, bei der computergestützt eine Visualisie- rung des VOR in seinem zeitlichen Ver- lauf erfolgen kann. Damit ist eine Objek- tivierung sowie zeitliche Einordnung al- ler erwähnten Formen von Rückstellsak- kaden und im Gegensatz zur qualitati- ven Einschätzung des VOR mit dem kli- nischen KIT auch die Quantifizierung einer Rezeptorfunktionsstörung des ge- prüften Bogengangs möglich [12]. Zudem trägt die Methode wesentlich dazu bei, beim akuten vestibulären Syndrom zwi- schen peripheren oder zentral beding- ten Schwindelursachen zeitnah zu unter- schieden [13]. Im Schrifttum gibt es bis- her nur wenige Mitteilungen über die An- wendung des vKIT [4, 14, 19]. Ziel dieser Arbeit war es, den vKIT bei Patienten mit akuten und chronischen vestibulären Stö- rungen einzusetzen und hinsichtlich sei- ner Methodik, diagnostischen Wertigkeit und Praktikabilität sowie möglicher Ein- flussfaktoren bei der Testung des horizon- talen VOR (hVOR) in Klinik und Praxis zu analysieren und zu bewerten. Patienten und Methoden Patienten Im Rahmen der hier durchgeführten Stu- die wurden 142 Patienten (66 Frauen und 76 Männer, Altersmedian 53,2 ±14,7 Jah- re) untersucht. Einschlusskriterium war das Vorhandensein einer akuten oder chronischen Schwindelsymptomatik als Primärsymptom. Nach einer ausführlichen Anamnese und klinischen Untersuchung wurde zu- nächst der vKIT für den hVOR durchge- führt. Im Anschluss erfolgte je nach Ver- dachtsdiagnose eine individuelle vesti- buläre Funktionsprüfung und eine Ein- teilung definierter Diagnosen in 3 Grup- pen (. Tab. 1). Im Einzelnen handelte es sich um folgende peripher-vestibulä- re Störungen: Neuritis vestibularis: n=52; M. Menière: n=22; benigner paroxysma- ler Lagerungsschwindel (BPLS): n=18; bi- laterale Vestibulopathie: n=5 sowie Pa- tienten mit zentral vestibulärer Schwin- delsymptomatik (n=10) oder ätiologisch nicht einzugrenzender Schwindelsym- ptomatik (n=35). Die Diagnose der Neuritis vestibularis stützte sich auf die folgenden Kriterien: Drehschwindelsymptomatik, horizontal- Originalien Tab. 1Störungen mit akutem oder chronischem Symptom „Schwindel“, Häufigkeit des  Auftretens eines normalen bzw. pathologischen Video-Kopfimpulstests Diagnose Patienten Normaler vKIT Pathologischer vKIT Anzahl n Anzahl n Anteil (%) Anzahl n Anteil (%) Neuritis vestibularis 52 3 5,8 49 94,2 M. Menière 22 10 45,5 12 54,5 BPLS 18 16 88,8 2 11,1 Bilaterale Vestibulopathie 5 0 0 a 10 100 a Zentrale Störung 10 8 80 2 20 Unklare Ätiologie 35 33 94,3 2 5,7 Alle Erkrankungen 142 70 47,6 77 52,4 a Beide Seiten kalkuliert. BPLS benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel; vKIT Video-Kopfimpulstest. [1] Redaktion P.K. Plinkert, Heidelberg 327 HNO 4 · 2013|

Der Video-Kopfimpulstest; The video head impulse test;

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HNO 2013 · 61:327–334DOI 10.1007/s00106-012-2592-0Online publiziert: 12. April 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

A. Blödow1 · R. Helbig1 · N. Wichmann1 · M. Bloching1 · L.E. Walther2, 3

1  Klinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Plastische Chirurgie und Kommunikationsstörungen, 

Helios-Klinikum Berlin-Buch, Berlin2 HNO-Universitätsklinik Mannheim3 HNO-Gemeinschaftspraxis, Main-Taunus-Zentrum, Sulzbach (Taunus)

Der Video-KopfimpulstestErste klinische Erfahrungen

Der klinische Kopfimpulstest (KIT) nach Halmagyi und Curthoys [9] ist ein obli-gater Bestandteil bei der Diagnostik von Schwindel und Gleichgewichtsstörun-gen. Damit können Informationen über die Integrität des vestibulookulären Re-flexes (VOR) gewonnen und Störungen der Blickstabilisierung diagnostiziert wer-den. Die Methode hat den Vorteil einer seitengetrennten, dynamischen Analyse: Die induzierte Reizantwort liegt mit etwa 5–7 Hz im alltagsüblichen Arbeitsbereich der Bogengänge und des VOR.

Objektives Korrelat für eine Störung des VOR sind kompensatorische Rück-stellsakkaden (Refixationssakkaden), die bei impulsartiger Bewegung des Kopfes in den 3 Arbeitsebenen der Bogengänge auf-treten. Sie können in Form sog. verdeck-ter Rückstellsakkaden („catch-up covert saccades“, während der Kopfbewegung) und offener Rückstellsakkaden („catch-up overt saccades“, nach der Kopfbewegung) vorkommen. Während offene Rückstell-sakkaden für den Untersucher beim kli-nischen KIT sichtbar sind, entziehen sich jedoch die verdeckten Rückstellsakkaden der visuellen Beurteilung. Sie sind in der Kopf-Augen-Bewegung und somit im VOR „verborgen“ [18].

Mit dem Video-Kopfimpulstest (vKIT) steht jetzt eine Methode zur Verfügung, bei der computergestützt eine Visualisie-rung des VOR in seinem zeitlichen Ver-lauf erfolgen kann. Damit ist eine Objek-tivierung sowie zeitliche Einordnung al-ler erwähnten Formen von Rückstellsak-kaden und im Gegensatz zur qualitati-ven Einschätzung des VOR mit dem kli-

nischen KIT auch die Quantifizierung einer Rezeptorfunktionsstörung des ge-prüften Bogengangs möglich [12]. Zudem trägt die Methode wesentlich dazu bei, beim akuten vestibulären Syndrom zwi-schen peripheren oder zentral beding-ten Schwindelursachen zeitnah zu unter-schieden [13]. Im Schrifttum gibt es bis-her nur wenige Mitteilungen über die An-wendung des vKIT [4, 14, 19]. Ziel dieser Arbeit war es, den vKIT bei Patienten mit akuten und chronischen vestibulären Stö-rungen einzusetzen und hinsichtlich sei-ner Methodik, diagnostischen Wertigkeit und Praktikabilität sowie möglicher Ein-flussfaktoren bei der Testung des horizon-talen VOR (hVOR) in Klinik und Praxis zu analysieren und zu bewerten.

Patienten und Methoden

Patienten

Im Rahmen der hier durchgeführten Stu-die wurden 142 Patienten (66 Frauen und

76 Männer, Altersmedian 53,2 ±14,7 Jah-re) untersucht. Einschlusskriterium war das Vorhandensein einer akuten oder chronischen Schwindelsymptomatik als Primärsymptom.

Nach einer ausführlichen Anamnese und klinischen Untersuchung wurde zu-nächst der vKIT für den hVOR durchge-führt. Im Anschluss erfolgte je nach Ver-dachtsdiagnose eine individuelle vesti-buläre Funktionsprüfung und eine Ein-teilung definierter Diagnosen in 3 Grup-pen (. Tab. 1). Im Einzelnen handelte es sich um folgende peripher-vestibulä-re Störungen: Neuritis vestibularis: n=52; M. Menière: n=22; benigner paroxysma-ler Lagerungsschwindel (BPLS): n=18; bi-laterale Vestibulopathie: n=5 sowie Pa-tienten mit zentral vestibulärer Schwin-delsymptomatik (n=10) oder ätiologisch nicht einzugrenzender Schwindelsym- ptomatik (n=35).

Die Diagnose der Neuritis vestibularis stützte sich auf die folgenden Kriterien: Drehschwindelsymptomatik, horizontal-

Originalien

Tab. 1  Störungen mit akutem oder chronischem Symptom „Schwindel“, Häufigkeit des Auftretens eines normalen bzw. pathologischen Video-Kopfimpulstests

Diagnose Patienten Normaler vKIT Pathologischer vKIT

Anzahl n Anzahl n Anteil (%) Anzahl n Anteil (%)

Neuritis vestibularis 52 3 5,8 49 94,2

M. Menière 22 10 45,5 12 54,5

BPLS 18 16 88,8 2 11,1

Bilaterale Vestibulopathie 5 0 0a 10 100a

Zentrale Störung 10 8 80 2 20

Unklare Ätiologie 35 33 94,3 2 5,7

Alle Erkrankungen 142 70 47,6 77 52,4aBeide Seiten kalkuliert. BPLS benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel; vKIT Video-Kopfimpulstest. [1]

RedaktionP.K. Plinkert, Heidelberg

327HNO 4 · 2013  | 

rotatorischer Spontannystagmus, Gang-störung und ipsiversive Fallneigung, Er-brechen sowie eine pathologische Sei-tendifferenz bei der thermischen Prü-fung von >25% (Wasser von 44 und 30°C, 50 ml in 30 s)

Die Diagnose des M. Menière erfolgte entsprechend der aktuellen Kriterien der American Academy of Otolaryngology–Head and Neck Surgery (AAO-HNS; [7]).

Bei Patienten mit einem BPLS wur-den die diagnostischen Lagerungsmanö-ver zur Identifizierung des betroffenen Bogengangs durchgeführt. Die Diagnose-stellung erfolgte entsprechend den Krite-rien der AAO-HNS [8]. Es handelte sich um Fälle, bei denen nur ein Kanal bzw. eine Seite betroffen war (posteriorer Bo-gengang: n=12; horizontaler Bogengang: n=6).

Als Kontrollgruppe dienten 20 gesun-de Probanden (10 Frauen und 10 Män-ner, Altersmedian 53,5±12,5 Jahre). Ein-schlusskriterien waren eine unauffällige Anamnese hinsichtlich vestibulärer Stö-rungen sowie eine normale thermische Erregbarkeit bei Warm- und Kaltspü-lung. Personen mit der Einnahme zent-ral dämpfender bzw. die Vigilanz beein-flussender Medikamente oder Alkohol-einnahme <72 h wurden von der Studie ausgeschlossen. Die Evaluierung von op-timalen Untersuchungsbedingungen, von Einflussfaktoren und Fehlermöglichkei-ten erfolgten in einer Pilotstudie (n=5). Für die vorliegende Untersuchung lag eine Zustimmung der Ethikkommission vor.

Video-Kopfimpulstest

Durchführung für den hVORFür die Messungen wurde bei allen Pa-tienten und Probanden ein EyeSeeCam-Videookulographie-System (University of Munich Hospital, Clinical Neurosci-ence) verwendet. Der vKIT wurde dabei wie folgt durchgeführt:

Der Patient trug eine modifizierte, fest sitzende, rutschsichere Videookulogra-phiebrille (Abtastrate von 250 Hz, Ge-wicht 100 g), die Messung der Kopfbe-wegung erfolgte mit integrierten Mini-gyroskopen. Nach der Kalibrierung des Messsystems wurde der Patient aufgefor-dert, ein nahes stationäres Blickziel (etwa 1,20 m Entfernung) zu fixieren. Der Kopf des Patienten wurde dann aus der Mit-telposition heraus ohne Seitenprädiktion impulsartig (150–200°/s) etwa 10- bis 20-mal nach links bzw. nach rechts bewegt, wobei eine maximale horizontale Auslen-kung zwischen 10 und 20° erfolgte. Dabei wurde die Winkelgeschwindigkeit (Ω) des Auges (monokuläre Ableitung links oder rechts) als Antwort auf die impulsartige Bewegung des Kopfs in der Horizontal-ebene gemessen, die Winkelgeschwindig-keit von Kopf bzw. Auge wurden online aufgezeichnet. Das Auge und die automa-tische Pupillenerkennung der VOG-Bril-le wurden über ein Videofenster auf dem Bildschirm beobachtet und kontrolliert.

AuswertungDie Winkelgeschwindigkeit der Augen- und Kopfbewegung (in °/s) wurde zu den Zeitpunkten 40, 60 und 80 ms nach Start des Kopfimpulses ermittelt. Der durch-

schnittliche Verstärkungsfaktor (Gain) des hVOR entsprach dem Mittelwert und der Standardabweichung aus diesen 3 Zeitpunkten. Der vKIT für den hVOR wurde als pathologisch gewertet, wenn der Gainwert kleiner als der Mittelwert der gesunden Probanden minus 2 Stan-dardabweichungen (SD, „standard de-viation“) war und Rückstellsakkaden auf-traten. Rückstellsakkaden bei normalem Gainwert bzw. ein pathologischer Gain-wert ohne Rückstellsakkaden waren kein Kriterium für einen pathologischen vKIT bei Prüfung des hVOR und wurden als „normal“ bewertet.

Theoretische Vorbetrachtungen und physiologischer Hintergrund

Der VOR gewährleistet ein scharfes reti-nales Abbild und damit eine Blickstabili-sierung v. a. unter Belastungen [6]. Ist der VOR intakt, verläuft bei einer impulsarti-gen Kopfdrehung die kompensatorische Augenbewegung einerseits entgegen der Kopfbewegung und andererseits mit et-wa der gleichen Geschwindigkeit wie die Kopfbewegung (normaler KIT). Bei einer Drehbewegung des Kopfes wird durch das Push-pull-Prinzip mit gleichzeitiger ipsilateraler Erregung und kontralatera-ler Hemmung der gereizten Bogengänge (Exzitation/Inhibition des Ruhepotenzials vestibulärer Haarzellen) eine Nervenant-wort generiert. Die Weiterleitung des Ge-schwindigkeitssignals über den Vestibu-larnerv nach zentral in das Vestibularis-kerngebiet und Umschaltung auf die Ab-duzenz- und Okulomotoriuskerngebiete führt zu einer Kontraktion der entspre-

°/s °/s300

100

200

300 ms100 200–300

–100

–200

Kopf nach links Kopf nach links

Kurve oben:Kopfbewegung

Kurve unten:Augenbewegung

Kurve oben:Kopfbewegung

Kurve unten:Augenbewegung

0

300

100

200

–300

–100

–200

0VOR VOR

0 300 ms100 2000

a b

Abb. 1 9 a Normaler hVOR bei Kopfimpuls um 15° nach links, Winkelge-schwindigkeit (ΩAuge und 

Kopf) etwa 200°/s (roter Pfeil), Impulsdauer etwa 160 ms. b Normaler hVOR mit vereinzelten physio-logischen Sakkaden (roter Pfeil), Gain 0,97±0,04

328 |  HNO 4 · 2013

Originalien

chenden Augenmuskeln mit Einnahme einer neuen Augenposition [1]. In dieser neuen Position muss das Auge entgegen den elastischen Rückstellkräften der Or-bita gehalten werden. Dafür wird aus dem Geschwindigkeitssignal durch zen-trale Prozessierung ein zeitlich entspre-chendes Positionssignal für die Augen ge-neriert (Integration von Geschwindigkeit zu Position). Dieser Prozess erfolgt u. a. im neuralen Integrator für Augenbewe-gungen, der für horizontale Augenbewe-gungen im Bereich des Nucleus vestibu-laris medialis und des medial davon ge-legenen Nucleus praepositus hypoglossi liegt [11, 15]. Unter physiologischen Bedin-gungen funktioniert dieser Reflex im Fre-quenzbereich bis zu etwa 10 Hz, also auch bei höheren dynamischen Beanspruchun-gen. Das visuelle System ist in diesem Be-reich nicht in der Lage, eine Blickstabili-sierung zu realisieren. Das unterstreicht die Bedeutung der Integrität des VOR als wichtigster anatomischer Struktur des vestibulären Systems. Störungen können als „Schwindel“ interpretiert werden. Bei einem gestörtem hVOR ist die Bewegung des Auges im Vergleich zum Kopf zu lang-sam und eine Objektfixation kann nicht mehr erfolgen. Um diesen „Verlust“ aus-zugleichen, wird eine kompensatorische Rückstellsakkade entgegen der getesteten Drehrichtung generiert [2].

Beim vKIT erfolgt die Darstellung von Augen- und Kopfbewegung graphisch als Geschwindigkeit einer Drehbewe-gung über die Zeit (Winkelgeschwindig-keit ΩAuge/Kopf ; . Abb. 1). Das mathema-tische Verhältnis der Winkelgeschwindig-keit (Ω) von Auge zu Kopf (Verstärkungs-faktor/Gain) ermöglicht eine Quantifizie-rung des hVOR [4].

Ergebnisse

Gesunde Probanden

Der durchschnittliche Gain bei gesun-den Probanden (n=20) betrug für Kopf-impulse nach rechts 0,96±0,08 und nach links 0,97±0,09. Vereinzelt traten klei-ne physiologische Rückstellsakkaden um 300 ms auf, die eindeutig von pathologi-schen Rückstellsakkaden unterschieden werden konnten (. Abb. 1b). Der vKIT wurde als pathologisch gewertet, wenn

eine Gainreduktion des VOR von <0,79 (MittelwertNormal–2 SD) vorlag und repro-duzierbare Rückstellsakkaden auftraten.

Patienten

Die Einschlusskriterien erfüllten 142 Pa-tienten. Für den hVOR wurde ein patho-logischer vKIT in 52,4% und ein norma-

ler vKIT in 47,6% ermittelt. In der Grup-pe der 97 Patienten (68,4%) mit peripher-vestibulärer Störung handelte es sich um eine Neuritis vestibularis (n=52), einen M. Menière entsprechend den Kriterien der AAO-HNS ([7]; n=22), einen BPLS (n=18) sowie bilaterale Vestibulopathien (n=5). Bei 10 Patienten (7%) mit dem Pri-märsymptom Schwindel wurde eine zent-

Zusammenfassung · Abstract

HNO 2013 · 61:327–334   DOI 10.1007/s00106-012-2592-0© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

A. Blödow · R. Helbig · N. Wichmann · M. Bloching · L.E. Walther

Der Video-Kopfimpulstest. Erste klinische Erfahrungen

ZusammenfassungHintergrund.  Die Funktion der vestibulä-ren Bogengangsrezeptoren und die Integ-rität der vestibulookulären Reflexwege las-sen sich neuerdings mit dem Video-Kopfim-pulstest (vKIT) seitenspezifisch analysieren. Es gibt bisher nur geringe klinische Erfahrungen an einer größeren Patientenzahl.Material und Methoden.  In dieser Stu-die wurde mithilfe des vKIT der horizontale VOR (hVOR) bei 142 Patienten mit einer aku-ten oder chronischen Schwindelsymptomatik (68,4% peripher-vestibulärer Schwindel, 7% zentraler Schwindel, 24,6% unklare Ursache) sowie bei Gesunden (n=20) als Kontrollgrup-pe untersucht.Ergebnisse.  Bei Gesunden (n=20) war ein Verstärkungsfaktor (Gain) von 0,97±0,09 nor-mal, als pathologisch wurde ein Gain von <0,79 ermittelt. Ein regelrechter vKIT fand sich in 47,6%, in 52,4% fand sich ein patholo-

gischer vKIT. Bei einer peripher-vestibulären Schwindelursache traten isolierte Rückstell-sakkaden als offene (37%) und als verdeckte Rückstellsakkaden (13,7%) auf, am häufigs-ten fanden sich kombinierte Rückstellsakka-den (49,3%).Schlussfolgerung.  Mithilfe des vKIT ist es möglich, in kürzester Zeit eine seitenspezi-fische und quantitative Aussage über den hVOR zu erhalten. Die Methode ist bettsei-tig durchführbar und prüft den hVOR unter dynamischen bzw. physiologischen Bedin-gungen.

SchlüsselwörterVideo-Kopfimpulstest · Schwindel ·  Gleichgewichtsstörungen · Neuritis  vestibularis · M. Menière · Bilaterale  Vestibulopathie

The video head impulse test. First clinical experiences

AbstractBackground.  Side-specific test procedures are mandatory in order to assess the func-tion of peripheral vestibular receptors. Semi-circular canals (SCC) and vestibulo-ocular re-flex (VOR) can be tested by the Halmagyi and Curthoy head impulse test (HIT) and recent-ly by means of the video head impulse test (vHIT). The vHIT procedure is a new meth-od to measure eye and head velocity dur-ing brief and rapid head impulses. This meth-od provides objective information of VOR and detects both overt and covert catch-up sac-cades.Materials and methods.  As clinical expe-riences with vHIT are limited, in this study the horizontal VOR (hVOR) was examined by means of the vHIT in 142 consecutive pa-tients with acute or chronic vestibular syn-drome. Results.  A total of 20 healthy volunteers served as a control group and exhibited a 

normal average VOR gain of 0.97±0.09 with-out re-fixation saccades. In patients, 47.6% showed a pathological vHIT whereas 52.4% revealed a normal test result. Covert catch-up saccades could be revealed in 13.7% by means of vHIT whereas in 86.3% overt catch-up saccades alone or in combination with co-vert catch-up saccades were found in the ma-jority of catch-up saccades in peripheral ves-tibular disorders. Conclusions.  By means of the vHIT it is pos-sible to obtain a side-specific and quantita-tive assessment of hVOR. Video-head impulse test is a reliable tool for vestibular testing even in bedside examinations of patients suf-fering from dizziness.

KeywordsVideo-head impulse test · Vertigo · Dizziness · Vestibular neuritis · Meniere’s disease ·  Bilateral vestibulopathy

330 |  HNO 4 · 2013

Originalien

ral-vestibuläre Ursache diagnostiziert und in einer anschließenden neurologischen Konsiliaruntersuchung bestätigt. Bei 35 Patienten (24,6%) konnte die Ursache des Schwindels keiner definierten Diagnose zugeordnet werden (. Tab. 1).

Zeitverlauf und Amplitude von Kopfimpuls und hVOR

Wird der Kopf beim vKIT mit einer Win-kelgeschwindigkeit von etwa 150–200°/s um etwa 15–20° gedreht, kann bei intak-tem hVOR eine Augengeschwindigkeit von etwa 150–200°/s generiert werden und die vestibulookuläre Reflexantwort dauert dann etwa 150 ms (. Abb. 1a). Um bei einem pathologischen vKIT eine visuell ausreichende Rückstellsakkade zu erreichen, sollte mindestens eine Winkel-

geschwindigkeit von 150°/s appliziert wer-den, Kopfbeschleunigungen von weniger als 100°/s erbrachten keine eindeutig inter-pretierbaren Ergebnisse (. Abb. 2a,b).

Zeitliches Auftreten der Rückstellsakkaden

Hinsichtlich des zeitlichen Auftretens las-sen sich vier wiederkehrende Typen von kompensatorischen Rückstellsakkaden be-obachten (. Abb. 3, 4). Folgende Klassifi-kation kann nach der bisherigen Evalua-tion zur Einteilung vorgeschlagen werden:F  isoliert auftretende verdeckte Rück-

stellsakkaden („catch-up covert sac-cades“): Typ 1 und 2

F  isoliert auftretende frühe und späte offene Rückstellsakkaden („catch-up overt saccades“): Typ 3 und 4

F  kombiniert auftretende offene und verdeckte Rückstellsakkaden: Typ 2 und Typ 3 oder 4

Bei peripher-vestibulärer Ursache der Schwindelbeschwerden fanden sich Typ-1- und -2-Sakkaden in 13,7% der Fälle. Sie traten im Mittel um 142±25 ms auf und waren durchschnittlich etwa 10–30 ms vor Ende der Kopfbewegung sichtbar. Unter den Fällen mit zentralem Schwin-del fanden sie sich nicht. Sakkaden vom Typ 3 und Typ 4 wurde bei Patienten mit peripher-vestibulären Störungen in 37% der Fälle beobachtet und traten im Mit-tel nach 240±46 ms auf. Durchschnitt-lich waren sie etwa 100 ms nach Ende der Kopfbewegung sichtbar. Kombinier-te Rückstellsakkaden kamen in 49,3% der Fälle mit pathologischem vKIT vor (. Tab. 2). Eine Abhängigkeit des Sak-kadentyps von einer spezifischen Erkran-kung oder von der durchschnittlichen Er-krankungsdauer konnte nicht nachgewie-sen werden.

Gainreduktion des hVOR

Bei peripher-vestibulärer Schwindelursa-che fand sich bei pathologischem vKIT (n=73) eine Reduktion des Gain der er-krankten Seite auf 0,43±0,2 mit Gain-werten zwischen 0,1 und 0,77. In 12 Fäl-len (16,4%) war zusätzlich eine Reduktion des Gain auf der nichtbetroffenen Gegen-seite zu verzeichnen. Diese kontralaterale Gainreduktion betrug 0,72±0,07, auf der erkrankten Seite war der Gain dann auf

o/so/s300

100

200

300 ms100 200–300

–100

–200

Kopf nach rechtsKopf nach rechts

Kurve oben:Augenbewegung Kurve oben:

Augenbewegung

Kurve unten:Kopfbewegung

Kurve unten:Kopfbewegung

0

300

100

200

–300

–100

–200

0

0 300 ms100 2000

a b

Abb. 2 8 a,b Video-Kopfimpulsteste bei einem Patienten mit Neuritis vestibularis rechts. a Normales Testergebnis bei Kopf-impulsen von etwa 100 bis 150°/s, (Verstärkungsfaktor 1,01±0,06, keine kompensatorische Rückstellsakkade). b Erst Kopfim-pulse von etwa 150–200°/s führen zu einer Reduktion des Verstärkungsfaktors auf 0,65±0,06 und zum Auftreten von offenen Rückstellsakkaden bei 200 ms

o/s

300

200

100

0

1

2

3

4

75 150 225 300 375ms

*

Abb. 3 9 Mögliche Ty-pen kompensatori-scher Rückstellsakka-den beim Video-Kopf-impulstest. Blau Kopf-bewegung, grau ver-deckte Sakkaden (Typ 1 und 2), rot frü-he (Typ 3) und spä-te (Typ 4) offene Sak-kaden, grün physiolo-gische Rückstellsak-kaden

331HNO 4 · 2013  | 

0,36±0,20 reduziert. Dabei handelte es um folgende Krankheitsentitäten: Neuritis vestibularis (n=11) und M. Menière (n=1).

Praktikabilität des Systems

Die Dauer der gesamten Untersuchung inklusive Kalibrierung betrug etwa 5 min. Durch die Verfolgung von Online-Mess-spuren konnte eine erste Abschätzung über die Qualität der applizierten Im-pulse oder über das Auftreten von Rück-stellsakkaden erfolgen. Einschränkungen oder Komplikationen bei der Testdurch-führung waren nicht zu beobachten. Auf-grund der geringen Größe (leichte VOG-Brille und Notebook) ist ein Einsatz bett-seitig möglich.

Einflussfaktoren und Fehlermöglichkeiten

In einer Pilotstudie bei Freiwilligen (n=5) zeigte sich, dass ungünstige Beleuchtungs-verhältnisse die Untersuchung stören. Bei einem Abstand zum Fixationsobjekt von etwa 1 m traten keine Fixationsprobleme auf. Bei höhergradigen Fehlsichtigkeiten (Myopien) kam es durch Objektunschär-

fe zu Fixationsverlusten. Berührungen der VOG-Brille, Fixierband oder Datenkabel während der Applikation des Kopfimpul-ses induzierten kleine Relativbewegun-gen von Brille zu Kopf, dies verursachte fehlerhafte Aufzeichnungen von Augen- und Kopfgeschwindigkeiten. Diese Unre-gelmäßigkeiten waren bei der Auswertung des VOR-Verlaufs ebenso wie Blinzel-artefakte von kompensatorischen Rück-stellsakkaden jedoch gut zu unterschei-den. Die Kopfbeweglichkeit sollte vor der Untersuchung geprüft werden. Der Kopf-impuls sollte für den Patienten nicht vor-hersehbar und nicht seitenprädiktiv aus-gelöst werden. Um ausreichend valide Daten zu erhalten, waren etwa 10 Kopf-impulse in jede Richtung erforderlich.

Diskussion

Mit dem vKIT etabliert sich gegenwär-tig eine neue diagnostische Methode, mit der eine rezeptorspezifische und quanti-tative Analyse in einem physiologischen Arbeitsbereich des VOR (etwa 5–7 Hz) und damit eine Objektivierung von Be-einträchtigungen der Blickstabilisierung möglich ist [4, 12, 19].

Unsere Untersuchungen zeigen, dass der vKIT bei akuten und chronischen Störungen mit dem Symptom „Schwin-del“ wichtige Ergebnisse liefert, die auf eine Rezeptorfunktionsstörung, in diesem Fall des horizontalen Bogengangs, schlie-ßen lassen. Bei den diagnostisch sicher zuzuordnenden Diagnosen dominier-ten in der vorliegenden Studie solche Stö-rungen, denen eine periphere Vestibulo- pathie zugrunde lag, zentrale Störungen waren vergleichsweise selten. Ursache hierfür ist möglicherweise die HNO-ärzt-liche Ausrichtung der untersuchenden Einrichtungen.

Die zügige Einordnung des Symptoms „Schwindel“ ist v. a. in der Akutdiagnostik bei der Differenzierung peripher-vestibu-lärer Erkrankungen und zentral-nervö-ser Pathologien mit Notfallcharakter von Bedeutung [13]. Die hier durchgeführten ersten Untersuchungen zeigen, dass der vKIT schnell und auch bettseitig durch-führbar ist und unmittelbar zu Ergebnis-sen führt, die ggf. eine weitere Differen-zialdiagnostik erfordern. Damit konnte bestätigt werden, dass die Methode der bisher für die Objektivierung des VOR genutzten Magnetspulentechnik („scleral

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Kopf nach linksKopf nach links

Kopf nach linksKopf nach rechts

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Typ 3Typ 4

Typ 1 Typ 2

a b

c d

Abb. 4 9 a–d Typen der Rückstellsalkkaden im Vi-deo-Kopfimpulstest.  a,b Typ 1 und 2: verdeck-te (Catch-up-covert-)Rück-stellsakkaden. c,d Typ 2 und 3: frühe und späte of-fene (Catch-up-overt-)Rückstellsakkaden

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Originalien

search coil“) in der praktischen Handha-bung eindeutig überlegen ist [12].

Die Ergebnisse in der Kontrollgruppe weisen auf eine stabile Arbeitsweise des hVOR unter physiologischen Bedingun-gen hin. Die ermittelten Referenzbereiche des Gain bei Gesunden und Kranken mit vestibulären Funktionsstörungen ermög-lichen eine Quantifizierung des hVOR in der klinischen Anwendung. Die mit dem vKIT in der vorliegenden Arbeit ermittel-ten Gainwerte sind dabei vergleichbar den bisherigen Literaturangaben zur Magnet-spulentechnik [16, 18, 20].

Die Ergebnisse zeigen, dass bei der Neuritis vestibularis in den meisten Fäl-len ein pathologischer hVOR vorliegt und damit auf eine Störung des oberen An-teils des N. vestibularis hinweist. Bei Pa-tienten mit einem M. Menierè könnte sich der geringere Prozentsatz des pathologi-schen hVOR dadurch erklären, dass sich die Funktion des hVOR im anfallsfreien Intervall bereits wieder normalisiert hat, während der hVOR in einigen Fällen be-reits eine dauerhafte Beeinträchtigung aufweist. Das Auftreten eines pathologi-schen hVOR beim BPLS des lateralen Bo-gengangs könnte sich aus einer Beein-trächtigung der Cupulafunktion durch an dieser angelagerte Otokonienbruchstü-cke oder im Bogengangskanal flottieren-de Otokonienteilchen erklären.

Die Ergebnisse zeigen auch, dass bei zentralen Störungen in seltenen Fäl-len ein pathologischer hVOR auftreten kann. Damit spricht ein pathologischer vKIT zumindest für den hier untersuch-ten hVOR für eine Affektion zentral-ves-tibulärer Regionen. Somit ist in jedem Fall die in der Literatur beschriebene Akutdia-gnostik zu empfehlen [13]. Hierzu eignet sich in der klinischen Praxis der Wechsel-

abdecktests die Evaluierung eines Blick-richtungsnystagmus sowie eine Sensibi-litätsprüfung, um einen Schlaganfall mit Beteiligung vestibulärer Stukturen auszu-schließen. Beim Auftreten eines patholo-gischen hVOR bei Fällen unklarer Ätio-logie könnte es sich damit einerseits um periphere, seltener aber auch um zentrale Störungen handeln.

Die Reduktion des Verstärkungsfak-tors auf durchschnittlich 44% des Norm-werts bei einer peripher-vestibulären Funktionsstörung ist Ausdruck eines ge-störten Push-pull-Mechanismus und stel-len ein objektives Zeichen eines gestörten hVOR dar, ohne das daraus auf eine de-finierte Diagnose geschlossen werden kann. Diese Gainreduktion ist als wesent-liche Voraussetzung zum Erzeugen einer kompensatorischen Rückstellsakkade zu werten. Die Rückstellsakkade gleicht die nicht ausreichend schnelle Augenbewe-gung und damit den Fixationsverlust bei Kopfdrehung aus [2]. Je geringer der Ver-stärkungsfaktor des hVOR während des Kopfimpulses ist, umso größer muss die Amplitude einer einzelnen Rückstellsak-kade sein bzw. umso mehr kleinamplitu-dige Rückstellsakkaden müssen zur Refi-xation erfolgen [20]. Für die klinische Be-urteilbarkeit einer Rückstellsakkade ist ihre Amplitude von entscheidender Be-deutung; je größer die Rückstellsakkade, umso leichter lässt sie sich erkennen. Da-bei ist es erforderlich, definierte Unter-suchungsbedingungen einzuhalten, ins-besondere eine Kopfbeschleunigung von mehr als 150°/s, Kopfdrehungen von ma-ximal 15–20° sind i. d. R. ausreichend.

Die bei akuten und chronischen Fäl-len regelmäßig auftretenden Rückstell-sakkaden lassen sich in 4 Typen eintei-len (. Abb. 3). Sie können in der Form

von isolierten verdeckten bzw. offenen oder kombinierten kompensatorischen Rückstellsakkaden in Relation zum Be-ginn bzw. Ende des Kopfimpulses auftre-ten. Sie müssen dabei von physiologischen Sakkaden abgegrenzt werden, die bei nor-malem Gain eine vergleichsweise niedrige Amplitude aufweisen.

In den meisten Fällen präsentieren sich in der klinischen Praxis offene oder kombiniert auftretende Rückstellsakka-den. Bemerkenswert war, dass sich in et-wa jedem 8. Fall eines peripher-vestibulä-ren Schwindels eine nur isoliert auftreten-de, verdeckte Rückstellsakkade diagnosti-zieren ließ. Da sie vor dem Ende der Kopf-Augen-Bewegung stattfindet, entzieht sie sich der visuellen Diagnostik beim klini-schen Kopfimpulstest, der Test kann in solchen Fällen als falsch-negativ fehlinter-pretiert werden. Diese Erkenntnis unter-streicht die Bedeutung und die Wertig-keit des vKIT. Gerade für die Diagnostik von Schwindelbeschwerden in akuten Fäl-len ist dies von Bedeutung, da sich im Fall einer zentralen Ursache der Beschwerden hier u. U. wichtige weitere diagnostische und therapeutische Konsequenzen erge-ben. Es unterstreicht aber auch die Not-wendigkeit eines interdisziplinären Zu-sammenwirkens bei der Abklärung des Symptoms „Schwindel“ [10].

Unseren Erfahrungen nach ist das Sys-tem praktikabel und in der klinischen Praxis einsetzbar, wenn Randbedingun-gen (Visus, Beleuchtung, Kopfauslen-kung, Kopfbeschleunigung, Artefaktver-meidung) berücksichtigt werden. Damit steht für die Diagnostik des vestibulä-ren Systems eine objektive Methode zur Verfügung, welche zudem quantifizier-bare Ergebnisse liefert, die im Frequenz-bereich täglicher körperlicher Beanspru-

Tab. 2  Häufigkeit von isolierten oder kombiniert auftretenden Rückstellsakkaden bei peripher-vestibulären Erkrankungen

Diagnose Sakkaden  gesamt

Sakkaden isoliert verdeckt Sakkaden isoliert offen Sakkaden kombiniert

Anzahl n Anzahl n Anteil (%) Anzahl n Anteil (%) Anzahl n Anteil (%)

Neuritis vestibularis 49 8 16,3 17 34,7 24 49

M. Menière 12 2 16,7 4 33,3 6 50

BPLS 2 0 0 2 100 0 0

Bilaterale  Vestibulopathiea

10 0a 0a 4 40a 6 60

Alle Erkrankungen 73 10 13,7 27 37 36 49,3aBeide Seiten kalkuliert. BPLS benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel.

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chung liegen. Gleichzeitig können Befun-de im Rahmen der dynamischen Rezep-torfunktionsanalyse in der Synopsis bes-ser eingeordnet und bewertet werden. Obwohl sich die hier untersuchte Me-thode nur auf die Testung des über den N. vestibularis superior laufenden hVOR beschränkt, erfasst die Objektivierung je-doch die Mehrzahl der Störungen bei pe-ripher-vestibulären Läsionen [3]. Die Me-thode überzeugt aufgrund ihrer Einfach-heit und Plausibilität sowie der Möglich-keit einer sofortigen Befunddemonstra-tion und Videoaufzeichnungen. Sie kann darüber hinaus in der Fort- und Weiter-bildung sowie der universitären Lehre eingesetzt werden.

Fazit für die Praxis

F  Der Video-Kopfimpulstest (vKIT) ist ein obligates diagnostisches Inst-rument bei der Diagnostik von Be-schwerden mit dem Symptom „Schwindel“, da er schnell, einfach und bettseitig einsetzbar ist und ob-jektiv den physiologischen Arbeitsbe-reich des VOR prüft.

F  Der vKIT für den hVOR liefert wichti-ge differenzialdiagnostische Informa-tionen im Rahmen der Diagnostik des akuten und chronischen vestibulären Syndroms: Der Nachweis einer kom-pensatorischen Rückstellsakkade und eines pathologischen Verstärkungs-faktors spricht für eine Beeinträchti-gung des hVOR, meistens für einen defekten Bogengangsrezeptor und selten für eine zentrale Störung des Reflexbogens.

F  Der vKIT ist damit dem klinischen Kopfimpulstest überlegen: In etwa je-dem 8. Fall mit akuten oder chroni-schen peripher-vestibulären Schwin-delbeschwerden liegt bei Prüfung des hVOR eine verdeckte Rückstellsakka-de vor, die mit dem klinischen Kopf-impulstest nicht nachweisbar ist.

Korrespondenzadresse

Dr. A. BlödowKlinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde,  Plastische Chirurgie und  Kommunikationsstörungen,  Helios-Klinikum Berlin-BuchSchwanebecker Chaussee 50, 13125 [email protected]

Interessenkonflikt.  Der korrespondierende Autor gibt für sich und seine Koautoren an, dass kein Interes-senkonflikt besteht.

Literatur

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