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Plenarprotokoll 12/211 D eutscher Bundestag Stenographischer Bericht 211. Sitzung Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 Inhalt: Tagesordnungspunkt 9: Beratung des Antrags der Abgeordne- ten Johannes Gerster (Mainz), Heri- bert Scharrenbroich, Peter Kittelmann, Dr. Peter Struck, Peter Conradi, Freimut Duve, Manfred Richter (Bremerhaven), Ina Albowitz, Uwe Lühr, Andrea Lede- rer, Werner Schulz (Berlin) und weiterer Abgeordneter Verhüllter Reichstag Projekt für Ber- lin (Drucksache 12/6767) Peter Conradi SPD 18275 B Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. 18278 A Heribert Scharrenbroich CDU/CSU . . 18278D Dr. Dietmar Keller PDS/Linke Liste . . 18280 C Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 18281 B Manfred Richter (Bremerhaven) F.D.P. 18282A Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . 18283 A Eike Ebert SPD 18286 A Dr. Ulrich B ri efs fraktionslos 18287 B Freimut Duve SPD 18287 D Namentliche Abstimmung 18288 C Ergebnis 18294 A Tagesordnungspunkt 10: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Erster Altenbericht der Bundesregierung (Drucksache 12/5897) Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS 18289 A Lieselott Blunck (Uetersen) SPD . . . . 18290D Walter Link (Diepholz) CDU/CSU . . 18291B, 18305 D Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . 18291 C Klaus Riegert CDU/CSU 18292 C Arne Fuhrmann SPD 18296 A Erika Reinhardt CDU/CSU 18298 D Hans A. Engelhard F.D.P. 18300D Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 18302C Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 18304A Lisa Seuster SPD 18305 C Walter Link (Diepholz) CDU/CSU . . . 18308B Winfried Fockenberg CDU/CSU . . 18310B a) Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) fraktions - los 18311B Tagesordnungspunkt 11: a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes über Sicherheit und Ge- sundheitsschutz bei der Arbeit (Ar- beitsschutzrahmengesetz) (Drucksache 12/6752) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über den Stand der Unfallverhütung und das Unfallgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland: Unfallverhütungsbericht 1992 (Drucksache 12/6429) Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 18312B Manfred Reimann SPD 18313B

Deutscher Bundestagdip21.bundestag.de/dip21/btp/12/12211.pdf · 2020. 5. 20. · Verhüllter Reichstag — Projekt für Berlin — Drucksache 12/6767 — Nach einer interfraktionellen

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Plenarprotokoll 12/211

Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht

211. Sitzung

Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 9: Beratung des Antrags der Abgeordne-ten Johannes Gerster (Mainz), Heri-bert Scharrenbroich, Peter Kittelmann, Dr. Peter Struck, Peter Conradi, Freimut Duve, Manfred Richter (Bremerhaven), Ina Albowitz, Uwe Lühr, Andrea Lede-rer, Werner Schulz (Berlin) und weiterer Abgeordneter Verhüllter Reichstag — Projekt für Ber-lin (Drucksache 12/6767)

Peter Conradi SPD 18275 B

Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. 18278 A

Heribert Scharrenbroich CDU/CSU . . 18278D

Dr. Dietmar Keller PDS/Linke Liste . . 18280 C

Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 18281 B

Manfred Richter (Bremerhaven) F.D.P. 18282A

Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . 18283 A

Eike Ebert SPD 18286 A

Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 18287 B

Freimut Duve SPD 18287 D

Namentliche Abstimmung 18288 C

Ergebnis 18294 A

Tagesordnungspunkt 10: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Erster Altenbericht der Bundesregierung (Drucksache 12/5897)

Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS 18289 A

Lieselott Blunck (Uetersen) SPD . . . . 18290D

Walter Link (Diepholz) CDU/CSU . . 18291B, 18305 D

Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . 18291 C

Klaus Riegert CDU/CSU 18292 C

Arne Fuhrmann SPD 18296 A

Erika Reinhardt CDU/CSU 18298 D

Hans A. Engelhard F.D.P. 18300D

Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 18302C

Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 18304A

Lisa Seuster SPD 18305 C

Walter Link (Diepholz) CDU/CSU . . . 18308B

Winfried Fockenberg CDU/CSU . . 18310B

a)

Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) fraktions

-

los 18311B

Tagesordnungspunkt 11: a) Erste Beratung des von der Bundesre-

gierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes über Sicherheit und Ge-sundheitsschutz bei der Arbeit (Ar-beitsschutzrahmengesetz) (Drucksache 12/6752)

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über den Stand der Unfallverhütung und das Unfallgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland: Unfallverhütungsbericht 1992 (Drucksache 12/6429)

Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 18312B

Manfred Reimann SPD 18313B

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II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Dr. Peter Ramsauer CDU/CSU 18315A

Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 18315D

Petra Bläss PDS/Linke Liste 18316D

Paul K. Friedhoff F D P. 18317 C

Nächste Sitzung 18318D

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . 18319* A

Anlage 2

Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den von den Abgeordneten Johannes Gerster (Mainz), Heribert Scharrenbroich und weiteren Abgeordneten eingebrachten Antrag betr. verhüllter Reichstag — Projekt für Berlin (Tagesordnungspunkt 9)

Hans-Dirk Bierling CDU/CSU 18320* A

Klaus Bühler (Bruchsal) CDU/CSU . . 18320* B

Hartmut Koschyk CDU/CSU 18320* C

Dr. Norbert Lammert CDU/CSU 18320* D

Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . 18321* B

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/ CSU 18321* C

Dr. Eberhard Brecht SPD 18321* D

Martin Grüner F.D.P. 18322* B

Birgit Homburger F D P 18322* D

Jürgen Türk F.D.P. 18323' A

Anlage 3

Amtliche Mitteilungen 18323* C

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18275

211. Sitzung

Bonn, den 25. Februar 1994

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie ganz herzlich.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes Gerster (Mainz), Heribert Scharren-broich, Peter Kittelmann, Dr. Peter S truck, Peter Conradi, Freimut Duve, Manfred Richter (Bre-merhaven), Ina Albowitz, Uwe Lühr, Andrea Lederer, Werner Schulz (Berlin) und weiterer Abgeordneter

Verhüllter Reichstag — Projekt für Berlin — Drucksache 12/6767 —

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.

Ich weise darauf hin, daß wir nach der Aussprache über den Antrag namentlich abstimmen werden.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge-ordnete Peter Conradi.

Peter Conradi (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute und stim-men am Schluß darüber ab, ob der Künstler Christo das Reichstagsgebäude in Berlin 14 Tage lang mit Stoff umhüllen darf.

(Zuruf von der CDU/CSU: Einwickeln!)

Wir stimmen nicht über Kunst ab.

Adolf Arndt, der Kronjurist der SPD in den fünfziger und sechziger Jahren hat 1960 in seiner großen Rede „Demokratie als Bauherr" dazu gesagt:

Nicht nur ist in einer Demokratie niemand da, der bestimmen kann, was Kunst ist, sondern von ihrem eigenen Wesen her darf keiner da sein, der sich dessen von Staats wegen mit Geltung für alle unterfangen dürfte.

Demokratie, so Adolf Arndt, beruht nicht allein auf Abstimmung, „sondern grundlegend zuerst auf Über-einstimmung hinsichtlich des Unabstimmbaren, wel-che Übereinstimmung die Möglichkeit des Zusam

-

menlebens begründet und das Abstimmbare ausson-dert und zur Wahl freigibt".

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es gibt die letzten Dinge; über die letzten Dinge kann kein Parlament mit Mehrheit entscheiden. Es gibt die vorletzten Dinge, über die wir hier mit Mehrheit verbindlich für alle entscheiden. Das ist Demokratie. Über Kunst kann nicht mit Mehrheit entschieden werden; sie gehört zum Bereich des Unabstimmbaren.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS/

Linke Liste)

Wir sind von unseren Wählerinnen und Wählern als ihre Vertreter hierher gewählt worden, um über Steuern und Straßen, über Waffenexporte und Woh-nungsbau, über Asylrecht und Arbeitslosigkeit abzu-stimmen, nicht über Kunst. Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, macht die Debatte so schwierig; denn wir reden über eine künstlerische Aktion, die dem einen gefällt und dem anderen nicht gefällt. Ich bitte Sie alle, diese Debatte nicht nur in Respekt voreinan-der, sondern vor allem in Respekt vor dem Künstler und vor der Kunst zu führen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS/Linke Liste)

Adolf Arndt empfiehlt dem Bauherrn Demokratie, „sich für das Reifen seiner ihm nicht abnehmbaren Entscheidung — als Bauherr — des sachkundigen Rates ... freier und mit ihrem Namen verantwor-tungsbereiter Bürger ... zu vergewissern". Deshalb lassen wir uns bei öffentlichen Bauten der Gemein-den, der Länder und des Bundes von Preisgerichten, von unabhängigen Fachleuten beraten. Manchmal irren die Preisrichter; das haben sie mit uns Politikern gemeinsam.

Hier, bei dem Projekt Christos, raten die Fachleute, die Künstler und die Kunstkritiker uns mit überwälti-gender Mehrheit — fast ohne Ausnahme —, Ch risto zu gestatten, das Reichstagsgebäude, unser zukünftiges Bundeshaus, zu umhüllen.

Das sind ihre Argumente für das Projekt:

Erstens. Christos Umhüllung des Gebäudes mit Stoff gibt dem Bau eine neue, überraschende ästhetische

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18276 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Peter Conradi

Gestalt. Er eröffnet uns die Chance, diesen Bau in seiner Eigenart anders wahrzunehmen. Die zeitwei-lige Verhüllung wird unsere Sicht schärfen —

Erkenntnis durch Verfremdung.

Zweitens. Die Umhüllung mit Stoff ist ein großes Thema der Kunst. Die Griechen umhüllen ihre Sta-tuen mit leichten Gewändern. Streng sind die Gewän-der der gotischen Madonnen, prächtig und üppig ist das Spiel des Stoffs in den Gewändern der Heiligen Drei Könige im Barock. Immer unterstreichen der Stoff und seine Behandlung die Kostbarkeit, den Wert des Umhüllten, so wie ein wertvolles Geschenk durch die Umhüllung wertvoller und nicht weniger wertvoll wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P. — Zuruf von der F.D.P.: Sehr gut!)

Drittens. Christos Umhüllung des Reichstagsgebäu-des kostet den Steuerzahler nichts. Er bezahlt diese Aktion selbst aus den Erlösen seiner Zeichnungen, seiner Bilder, seiner Lithographien, seiner Bücher und Plakate. In einer Welt, in der Kunst vor allem nach ihrem Preis gemessen wird, ist diese Kunstaktion, die man nicht bezahlen kann, die man nicht kaufen kann, eine Erinnerung daran, daß Kunst mehr ist als Ware.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke

Liste)

Viertens. Christos Umhüllung bringt das Element des Zeitlichen, des Vergänglichen in unser Bewußt-sein. Nur 14 Tage dauert die Aktion. Aber sie wird in vielen Bildern festgehalten. Sie wird im Fernsehen, in den Zeitungen um die Welt gehen, und sie wird im kulturellen Gedächtnis der Menschheit so bleiben wie der Running Fence in Kalifornien oder die umhüllte Brücke in Paris.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P.)

Soweit die Argumente der Fachleute, der Kunstkri-tiker und Künstler. Ich will ein politisches Argument anschließen. Bei allen Projekten Christos ist der lange, oft jahrelange Weg von der Idee bis zur Ausführung Teil des Projekts. Die öffentliche Diskussion über seine Arbeit, über deren Sinn und Bedeutung ist unverzichtbares Element seiner künstlerischen Ar-beit. 22 Jahre lang hat Christo mit zahllosen Politikern, mit Journalisten, mit Künstlern, mit Kritikern, mit Bürgerinnen und Bürgern über die Umhüllung des Reichstagsgebäudes gesprochen.

Mich beeindruckt diese Beharrlichkeit,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der F.D.P., der PDS/Linke Liste und des

BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

diese Kraft zur Vision, das unmöglich Erscheinende doch möglich zu machen. Das ist eine politische, ja eine demokratische künstlerische Aktion, die nicht elitär über den Menschen steht, sondern die Men-schen einbezieht. Hätten wir doch in der Politik solche Visionen, solche Beharrlichkeit, so langen Atem und solche Kampagnen!

Meine Fraktion hat zweimal über das Projekt disku-tiert. Wir haben nicht abgestimmt. Es gibt bei uns Befürworter — ich hoffe: viele — und Kritiker — ich hoffe: wenige.

Ich nehme die Einwände gegen das Projekt ernst und will mich mit ihnen auseinandersetzen. Da wird gesagt: Wirtschaftskrise, Staatsverschuldung, rechts-radikale Gewalt, Millionen Arbeitslose, Zukunfts-angst und Resignation — und der Bundestag diskutiert über Kunst. Habt ihr nichts Wichtigeres zu bereden, so werden wir gefragt.

Ich frage dagegen: Soll, weil es Not und Angst gibt, weil es Krieg und Arbeitslosigkeit gibt, nicht mehr über Kunst geredet werden?

(Dr. Dietrich Mahlo [CDU/CSU]: Über Kunst, nicht über Pseudokunst!)

— Herr Mahlo, ich habe am Anfang ausgeführt, daß hier nicht über Kunst entschieden wird. Wir werden nicht hierher gewählt, um zu entscheiden, was Kunst ist. Wir entscheiden hier, ob der Reichstag für diese Aktion freigegeben wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der F.D.P., der PDS/Linke Liste und des

BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Bundeskanzler hat in seiner Hamburger Partei-tagsrede, deren Passagen über die SPD ich natürlich pflichtschuldig mit Abscheu und Empörung zurück-weise — —

(Zurufe von der SPD — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sie waren trotzdem wahr und

richtig!)

— Das müssen Sie mir noch gestatten. Ich will ihn jetzt gleich loben, Herr Rüttgers.

(Weiterer Zuruf des Abg. Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU])

— Geduld, Geduld!

(Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Herr Kohl hat als Parteivorsitzender in seiner Rede die anrührende, schöne Geschichte von Vernon Walters erzählt, der im Elend der Nachkriegsjahre Hoffnung in Deutschland sah, weil eine Familie in einer Keller-wohnung Blumen in einer Schale auf dem Tisch hatte. — Ein schönes Bild.

Damals, im Elend der Nachkriegszeit, blühte die Kunst in Deutschland, blühten Theater, Literatur, Malerei und Kunst. Das alles war für die Menschen lebens-, überlebenswichtig. Die Ruhrfestspiele wur-den nicht in den Zeiten des Wohlstands, sondern damals in der Zeit der Armut gegründet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der F.D.P., der PDS/Linke Liste und des

BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Was ist das für ein armseliges Argument, in einer Zeit der Not, der Krise müsse zuerst auf die Kunst verzich-tet werden? Umgekehrt: Weil es Krieg und Arbeitslo-sigkeit gibt, weil es Angst und Mutlosigkeit gibt, weil es Resignation und Phantasielosigkeit gibt, wollen wir mit dieser Aktion ein positives Zeichen, ein schönes, leuchtendes Signal setzen, das Mut und Hoffnung macht und Selbstvertrauen ausstrahlt.

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18277

Peter Conradi

Übrigens: Das Projekt schafft ja Arbeit. Der Stoff muß gewebt werden; die Bahnen werden genäht, Bauarbeiter, Studenten, sogar Alpinisten werden dort beschäftigt.

Und so wie in Frankreich, wo Chirac zuerst das Projekt der Umhüllung des Pont Neuf als Marotte einer elitären Minderheit abtun wollte und dann, als Hunderttausende, ja Millionen sich daran begeister-ten, immer schon dafür war, so werden auch bei uns die Kritiker von heute morgen von der Schönheit und Kraft dieses Projekts begeistert sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Andere sagen: Dafür gibt es Geld, aber bei Arbeits-losen und Kindergärten spart ihr. Noch einmal: Chri-sto finanziert das Projekt selbst, ohne öffentliche Mittel. Ich habe übrigens nicht gehört, daß irgend jemand gefordert hat, wir sollen wegen der Arbeitslo-sen die Oper oder die Museen schließen.

Ich verstehe, daß einige von uns Sorge, ja Angst vor den Wählern haben, sie könnten diese Aktion mißver-stehen. Doch es liegt zuerst an uns selbst, den Men-schen diese Aktion zu erklären,

(Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Warum denn?)

dafür um Verständnis zu werben, ihnen deutlich zu machen, daß diese Umhüllung weder die deutsche Geschichte noch das Reichstagsgebäude beleidigt, sondern daß diese Umhüllung ein schönes künstleri-sches Zeichen für unseren Neuanfang in Berlin ist, und das alles ohne Steuergelder.

Wer hat hier Angst vor dem Wähler? Angst ist kein guter Ratgeber, weder in der Kunst noch in der Politik. Hier ist Mut gefragt, nicht Kleinmut.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

Wieder andere sehen die Würde des Hauses in Gefahr. Ist es denn Angst vor dem Ungewohnten, vor dem Neuen? Warum sollten wir uns nicht 14 Tage lang einer neuen Erfahrung aussetzen? Kunst ist oft neu, ist oft ungewohnt. Auch Politik sollte das gelegentlich sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sind wir als Politiker nicht bereit, an dem Ort, an dem wir einmal arbeiten werden, etwas Neues, Unge-wohntes zuzulassen? Was soll diese Angst um die Würde des Hauses, die durch die Umhüllung mit Stoff gefährdet sein soll? Da wüßte ich vieles andere, das die Würde, das Ansehen des Parlaments eher beschä-digt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der PDS/Linke Liste sowie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ

-

NEN)

Die Würde unseres Hauses sei gefährdet, so befürchteten einige, als wir nach dem Auszug aus dem Wasserwerk dort drüben Kabarett machen wollten. Ohne falsche Bescheidenheit: Ich glaube, „wir Was-serwerker" haben mit unseren lockeren Reden und Liedern über das Parlament mehr für das Ansehen des

Parlaments getan als mancher Würdenträger mit ver-giftenden Reden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der PDS/Linke Liste sowie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ

-

NEN)

Wie brüchig, fragt Wolfgang Rainer in der „Stutt-garter Zeitung", muß unser demokratisches Selbst-verständnis sein, wenn es von der Umhüllung des Reichstagsgebäudes durch Stoff verletzt wird? Es geht nicht um ein „ironisches Verhältnis des deutschen Volkes zu seiner Geschichte", wie die „Fr ankfurter Allgemeine Zeitung" grämlich befürchtet. Christos Umhüllung des Reichstagsgebäudes markiert einen Neubeginn, einen neuen Abschnitt in der Geschichte dieses Gebäudes, das danach unser Bundeshaus sein wird, ein neues Kapitel in der Geschichte der deut-schen parlamentarischen Demokratie, und das kann ein Zeichen werden für ein selbstbewußtes, gelasse-nes, tolerantes Parlament, offen für Neues, neugierig auf Ungewohntes, mutig in einer Zeit verbreiteter Verzagtheit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der F.D.P., der PDS/Linke Liste und des

BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ein sanftes Zeichen wird es sein in einer Zeit, in der die Bilder von Gewalt geprägt sind. Wenn die Bilder vom umhüllten Reichstagsgebäude im Fernsehen um die Welt gehen, werden das andere, bessere, friedlichere Bilder von Deutschland sein als die Bilder der Gewalt von Rostock, Mölln, Solingen und Hoyerswerda.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke

Liste)

22 Jahre lang bin ich Mitglied dieses Hauses, so lange, wie Christo an diesem Projekt arbeitet.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD sowie der CDU/CSU — Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Was machen Sie denn, wenn Sie

keine Mehrheit finden?)

— Darüber entscheiden nicht Sie, sondern die Wäh-ler.

Ich halte das Parlament für eine großartige, für eine wunderbare Einrichtung, in der wir über das Zusam-menleben der Menschen, die uns hierher geschickt haben, debattieren und abstimmen. Ich bin sicher, die Umhüllung unseres zukünftigen Parlamentsgebäu-des, des Reichstagsgebäudes auf seinem Weg zum Bundeshaus wird dem Gebäude, wird dem Deutschen Bundestag und der deutschen Demokratie nach innen und außen gut tun.

Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung zu diesem Projekt.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der

F.D.P.)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Kollege Dr. Burkhard Hirsch.

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18278 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gehört allmählich Mut dazu, zu bekennen, daß es in diesem Land etwas geben sollte, das den p rivaten Vergnü-gungen entzogen ist, und daß es wichtig ist, daß der Reichstag dazu gehört.

Es erfüllt mich nicht mit Freude, daß wir als Bun-destag und in dieser Zeit durch eine namentliche Abstimmung, also in höchster Bewertung, zu einem Teil einer PR-Kampagne werden.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und der PDS/Linke

Liste)

Es mißfällt mir, wie leichthin — bis hin zu einem Aids-Plakat — diejenigen abqualifiziert werden, die gegen das Projekt von Christo sind. Es mißfällt mir, daß die Antragssteller mit keinem Wo rt auf die Belie-bigkeit der Argumente des ideologischen Überbaus eingehen, mit denen dieses Projekt begleitet und begründet wird, bis hin zur Verhüllung aus Scham wegen des Dritten Reiches oder Verhüllung, weil es nicht gebraucht wird, oder eine Plastikplane, damit es schön über die Mauer scheinen möge.

(Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.])

Wir entscheiden in der Tat nicht über Kunst, wir entscheiden auch nicht über den offenbar beliebigen ideologischen Überbau, sondern wir entscheiden über den altehrwürdigen Reichstag. Das Gebäude ist noch nach über 100 Jahren in seiner geschlossenen Fassade eindrucksvoll geblieben.

Selbst seine Lage ist ein politisches Symbol: jenseits der alten Stadtgrenze, jenseits des Brandenburger Tors errichtet, mit der Fassade abgewendet vom damaligen Machtzentrum und dem deutschen Volk gewidmet. Es gibt kein Bauwerk in der Bundesrepu-blik, in dem sich Glanz und Elend eines deutschen Parlamentes und die deutsche Geschichte der letzten 120 Jahre so widerspiegeln wie dort.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)

Dort haben Bismarck, Bebel, Eugen Richter, Lasker und viele andere einen mühsamen, vierzig Jahre dauernden Weg in die parlamentarische Demokratie begonnen. Dort hat Scheidemann die Republik ausge-rufen. Von dort haben Rathenau und S tresemann Deutschland in die Völkergemeinschaft zurückge-führt.

Ich sehe Marinus van der Lubbe, der für dieses Symbol sein Leben aufs Spiel gesetzt hat. Ich sehe Göring mit seinen feixenden uniformierten Abgeord-neten. Ich sehe die Erstürmung durch die Rote Armee und 40 Jahre danach, am 3. Oktober 1990, die Feier der Wiedervereinigung, bei der wir auf der Treppe vor dem Reichstagsgebäude standen und sich manche die Hand gegeben haben.

Nun kommt Herr Christo und verpackt alles. Es wird beruhigend versichert, daß es nichts koste und daß es im übrigen für Berlin eine famose Reklame sein solle, für die die Besucher 500 Millionen DM ausgeben werden. Was für Argumente! Wenn ich das lese: Das

ist nicht einmal unsere Zeit, das ist schlechter Stil, das ist stillos.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)

Warum verpacken wir nicht auch das Brandenbur-ger Tor, wenn es dem Künstler einfiele? Sollte der Bundestag nicht auch deswegen in das Reichstagsge-bäude einziehen, weil dieses Gebäude für uns eine einzigartige historische Bedeutung hat? Da ist nichts zu verpacken, und da ist nichts zu verhüllen.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Wenn Herr Christo vorschlagen würde, das Capitol, das Parliament Building oder die Assemblée Na tio-nale einzupacken, dann würde ein Sturm der öffentli-chen Entrüstung ihn und das Projekt hinwegfegen.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

So hat jeder seine eigenen Maßstäbe.

Noch etwas: Selbst wenn man viele Menschen von dem künstlerischen Wert des Unternehmens überzeu-gen könnte, was ist dann eigentlich mit den vielen anderen, zu denen auch ich gehöre, die dadurch das Parlament und unsere Vergangenheit eher unwürdig behandelt sehen?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ist Ihnen, die für das Projekt sind, das Vergnügen,

das Sie empfinden mögen, so viel wert, daß Sie einfach über die Verletzung des Empfindens der anderen hinweggehen, die die Einfälle des Herrn Christo bestenfalls für amüsant, aber nicht für wichtig hal-ten?

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)

Es sollte und es muß in unserem Land noch Dinge geben, die für p rivate Vergnügungen nicht zur Verfü-gung stehen. Es ist wichtig, daß der Reichstag dazu-gehört.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD — Peter Conradi [SPD]: Ein echter Liberaler war das! — Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Ja, das

werden Sie nie begreifen!)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Kollege Heribert Scharrenbroich.

Heribert Scharrenbroich (CDU/CSU): Frau Präsi-dentin! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte festhalten — etwas anderes würden sicher fast alle von uns ablehnen —: Der Bundestag entschei-det heute nicht über Kunst. Wir entscheiden nur, ob wir zulassen, daß sich an diesem Monument der deutschen Geschichte Kunst darstellt. Nur um diese Erlaubnis geht es heute, um nichts anderes.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

Ich möchte, sehr verehrter Herr Kollege Hirsch, auch auf Ihre Argumente eingehen. Sie sagen, Sie wundern sich, daß die Beliebigkeit der Argumente hier so einfach hingenommen wird. Ich glaube, es ist

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18279

Heribert Scharrenbroich

doch gerade typisch für ein Kunstwerk, daß die Zuschauer, die Betrachter, diejenigen, die sich für die Kunst begeistern, das Recht haben, das Kunstwerk auch anders zu interpretieren, als der Künstler es selbst getan hat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD, der PDS/Linke Liste und des

BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wie oft haben wir die Gedichte des alten Goethe interpretiert und sicher vieles hineininterpretiert, woran dieser gar nicht gedacht hatte. Das ist doch das Recht desjenigen, der sich mit Kunst befaßt.

Ich danke Herrn Kollegen Hirsch auch dafür, daß er auf die Geschichte eingegangen ist, die mit diesem Gebäude verbunden ist. Auch wenn ich gerne meine Begeisterung für dieses Kunstwerk als Sprecher der doch beachtlichen Zahl von Unionsabgeordneten dar-stellen möchte, die für das Projekt sind,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/

DIE GRÜNEN)

obwohl ich sehr gerne über die Ästhetik sprechen möchte, möchte ich jetzt als Politiker darstellen, wel-ches Interesse wir als Deutscher Bundestag daran haben sollten, daß diese Verhüllung stattfindet. Den Zweiflern in der Bevölkerung kann man sehr wohl darstellen, welch großen Nutzen diese Verhüllung für uns hat — für den Parlamentarismus, für Deutschl and und für Berlin. Man kann es festmachen an der Frage, die ja immer wieder gestellt wird, sehr wahrscheinlich auch heute — Herr Hirsch hat es auch gesagt —: Warum nicht das House of Parliaments, warum nicht das Capitol?

(Zuruf von der F.D.P.: Warum nicht das Brandenburger Tor?)

Nun, erstens hat der Künstler das Recht, das Objekt selber vorzuschlagen,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und wir können ihm nicht vorschlagen, was er zu verhüllen hat und was er für seine Kunst für adäquat hält.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Aber wir können nein sagen!)

— Wir können nein sagen, natürlich. Das steht heute zur Debatte. Herr Kollege Rüttgers, wenn Sie das jetzt so dazwischenrufen, dann möchte ich auch auf einen anderen Einwurf des Herrn Kollegen Hirsch einge-hen. Auch ich bedaure es, daß wir heute in dieser Frage, die wir eigentlich mit etwas mehr Leichtigkeit diskutieren sollten, von den Gegnern des Projekts zu einer namentlichen Abstimmung gezwungen wer-den. Ich halte das nicht für gut.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der PDS/ Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE

GRÜNEN)

Vielleicht sollte man bei der Abstimmung auch diese Stilfrage mit bedenken.

(Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Wer hat denn den Antrag eingebracht? — Dr. Jürgen

Rüttgers [CDU/CSU]: Wer hat denn angefan

-

gen?)

— Es ist doch wohl unser gutes Recht, daß wir uns mit den Gedanken des Künstlers befassen. Herr Rüttgers, das dient auch dem Ruf dieses Parlaments.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich möchte auch ein anderes Mißverständnis auf-klären. Es wird so oft gefragt: Hat denn dieser Deut-sche Bundestag nichts Wichtigeres zu tun? Darüber kann man streiten. Aber ich möchte hier klarstellen, daß alle Befürworter der Auffassung waren, darüber sollte der Ältestenrat entscheiden. Diejenigen, die das Projekt ablehnen, waren der Auffassung, daß wir es hier diskutieren sollten. Das kann m an so sehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD, der PDS/Linke Liste und des

BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist sicher gut, daß man meint, man sollte vor der Öffentlichkeit die Argumente darlegen, warum man dafür ist bzw. warum man dagegen ist. Diese Gele-genheit wollen wir jetzt nutzen.

(Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Und dann abwarten!)

Erstens. Warum nicht die anderen Parlamentsge-bäude? — Nur der Reichstag ist das Parlamentsge-bäude eines Staates, der seine Spaltung überwunden hat.

(Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Deswe

-

gen muß man ihn zudecken?)

Deswegen ist es für mich so interessant, daß dieses Gebäude verhüllt wird. Das ist gerade der Gedanke von Christo, der aus dem Ostblock geflüchtet ist, daß er dieses Parlament, dieses Gebäude verhüllen wi ll , weil es früher an der Nahtstelle zwischen Ost und West stand. Dem gegenüber sollten wir uns meines Erachtens aufgeschlossen zeigen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD, der PDS/Linke Liste und des

BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt befindet sich dieses Gebäude an der Dreh-scheibe zwischen West und Ost.

Ich sage auch: Dieses Parlament verkörpert wie kein anderes Tiefen und Höhen auf dem Weg zur Demo-kratie. Gerade in der jetzigen dramatischen Situation, in der Länder in Ost- und Mitteleuropa um den Aufbau der Demokratie ringen, kann man an diesem Beispiel doch darstellen, wie schwierig es ist, zur Demokratie zu kommen. Die Verhüllung wird eine grandiose Gelegenheit sein, daß wir über den Parlamentarismus diskutieren und daß wir unsere Bevölkerung einla-den, mit uns über den Parlamentarismus zu diskutie-ren. Diese Chance sollten wir nicht vorübergehen lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste sowie bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sollten daran erinnern — das wird in diesen Tagen geschehen, es ist aber auch schon vorher

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18311

Walter Link (Diepholz)

sie in der Opposition sind. Wenn sie in der Regierung sind, sind sie nicht in der Lage, dies umzusetzen.

Ich will noch etwas zur Stiftung sagen, Frau Kollegin Seuster, weil Sie der Ministerin hier einen Vorwurf gemacht haben. Sie haben sich ja bei der Stiftung „Mutter und Kind" sehr schwergetan. Sie haben lange dagegengeredet, anschließend die segensreiche Tä-tigkeit dieser Stiftung festgestellt und sich dann Jahr für Jahr im Ausschuß der Stimme enthalten, anstatt gut und vernünftig mitzuarbeiten.

(Lisa Seuster [SPD]: Wir sind für Rechtsan

-

sprüche; das stimmt! Wir sind gegen Almo

-

sen!) Wenn Frau Rönsch, die fast ständig — es vergeht

kaum eine Woche — in den neuen Ländern ist und dort erfährt, wie elendig die Menschen in den letzten 40 Jahren und zum Teil noch immer in den Altenhei-men leben, den Mut hat, eine Stiftung ins Leben zu rufen — diese Stiftung baut bereits die ersten Alten-heime —, dann sollten Sie sie unterstützen. Die finanzstarken Leute im Westen unserer Republik sollten ihr Geld zur Verfügung stellen, um diesen Menschen zu helfen, nicht nur immer kritisieren.

(Beifall bei der CDU/CSU — Lisa Seuster [SPD]: Wir brauchen keine Almosenpoli

-

tik!) Abschließend hoffe ich, daß aus diesem Altenbe-

richt eine neue, eine noch bessere Politik für unsere Senioren hervorgeht. Unsere Senioren in Deutschland haben eine gute Politik verdient.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans A. Engelhard [F.D.P.])

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Krause (Bonese) das Wort .

Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kapitel des Altenberichtes sind handwerklich wirklich sehr sau-ber, lesbar, übersichtlich und wissenschaftlich fun-diert gearbeitet. Er weist aber erhebliche Lücken auf, soweit es sich um die Lage der Senioren in den neuen Ländern handelt, und ist weitgehend materiell ausge-richtet.

Der Mensch lebt nun nicht vom Brot allein, unsere Rentner schon gar nicht. Lassen Sie mich daher bitte nur eines zur materiellen Situation sagen: Bei der Rentendiskussion vor einem Dreivierteljahr hatte ich bereits mein Entsetzen darüber zum Ausdruck gebracht, daß ganze Bevölkerungsgruppen, die in der gesetzlichen Rentenversicherung 1,8 Entgeltpunkte beanspruchen dürfen, pauschal, ohne Einzelfallprü-fung, quasi als gesellschaftliche Sippenhaftung auf 1,0 herabgestuft werden.

Es ist sehr makaber, wenn der 20 bis 30 Jahre als LPG-Vorsitzende tätig gewesene Christ, der zum Teil in der Kirchenleitung tätig war, der seine Familie immer existentiell gefährdet hat, jetzt für diese Jahre in der Rente auf 1,0 Entgeltpunkte herabgestuft wird, der Pastor aber, dem er die ganze Zeit geholfen hat, jetzt die volle Rentenpension bekommt, wie sie kei-nem Arzt, keinem Lehrer und anderen Vergleichba

-

ren in den neuen Ländern gegönnt wird. Nein, sie werden noch von 1,8 Entgeltpunkten auf 1,0 herun-tergestuft. Das hat mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun. Das sind ideologische Überbleibsel einer Pauschalverurteilung, die, so hoffe ich, in der näch-sten Legislaturperiode beendet werden wird — durch wen auch immer.

Nun aber zu den ideellen Dingen. Der Kollege Walter Link hat es wenigstens kurz angesprochen, aber als einziger. Die Kriminalitätsexplosion betrifft die Alten existentie ll . Sie haben Angst. Es gibt wohl Täterstatistiken, aber es gibt keine Opferstatistiken. Wenn — wie gestern die beiden Innenminister sag-ten — die Kriminalität von 4 1/2 Millionen Straftaten auf jetzt über 7 Millionen gewachsen ist, wobei es sich vor allem um Kleinkriminalität durch importierte Krimi-nelle handelt, dann trifft das vor allem die alte Generation. Es gehört auch zu einer verantwortungs-vollen Altenpolitik, wieder eine solche Kriminalpoli-tik zu machen, die den alten Menschen die Angst nimmt, zu Hause Einbrecher anzutreffen, und die dafür sorgt, daß sie sich wieder auf die Straße trauen.

Zum nächsten ideellen Punkt: Der kulturelle Alltag unserer alten Menschen wird weitgehend vom Fern-sehen bestimmt. Es ist eine Beleidigung für unsere alten deutschen Männer und Frauen, wenn sie dort ständig Pornographie und Gewalt zu sehen bekom-men. Es ist eine große Fehlleistung unserer Gesell-schaft, daß sie nichts dafür tut, daß diese Gewalt- und Pornographiewelle wieder aus den Fernsehprogram-men verschwindet. Wo sind die deutschen Märchen? Wo sind die deutschen Volkslieder? Wo sind die Heimatfilme? Wo ist das, was bei den alten Menschen eine positive Erinnerung hervorruft? Es fehlt fast völlig.

Ein weiterer Punkt hierzu: Im Fernsehen und in den anderen Medien ist immer stärker eine einseitige Besudelung der deutschen Vergangenheit, aber auch eine Fehldarstellung der DDR-Vergangenheit festzu-stellen. Für viele Menschen sind weite Teile ihrer Erinnerung schön, gut, anständig und edel, aber sie dürfen es nicht in den Medien miterleben. Alles, was früher war, war schlecht; alles, was in der DDR war, war schlecht — so wird es dargestellt. Aber so ist es wirklich nicht. Meine Familie und ich, wir hatten zwei Jahre unter „Berufsverbot" — so sagt man heute — zu leiden. Aber auch da gab es viele schöne Tage und viele schöne Wochen. Es gibt jedoch keine Chance, daß dieser Alltag der deutschen Vergangenheit auch positiv dargestellt wird.

Ein letztes: Zum lebenswerten Leben gehört eben auch die Ehrfurcht vor dem Leben, die Ehrfurcht vor dem ungeborenen Leben genauso wie die Ehrfurcht vor dem Alter. Das Beispiel Holland zeigt ja, daß es Zusammenhänge zwischen der Freigabe der Abtrei-bung und der Freigabe der Euthanasie gegenüber Alten gibt. Es sind Tausende, die in Holland gegen ihren Willen euthanasiert werden.

Die „Bild-Zeitung" lügt, wenn sie von der „Märki-schen Zeitung" abschreibt, ich würde in solchen Positionen andere Auffassungen vertreten als die katholische Kirche. Lassen Sie mich sagen: In der Frage des lebenswerten Lebens, sowohl was das Alter

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18280 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Heribert Scharrenbroich

geschehen —, daß im Reichstag das Parlament der Monarchie die Demokratie abgetrotzt hat, daß in ihm die braunen Despoten die Demokratie geknebelt haben und daß in ihm Geschichte geschrieben wurde, die dann wiederum Grundlage für unser Grundgesetz wurde, eine der besten Verfassungen dieser Welt. Diese Erfahrungen sind in diesem Gebäude konzen-triert.

Deswegen sage ich: Geben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Weg frei, daß sich unsere Bürge-rinnen und Bürger mit unserer Geschichte auseinan-dersetzen können, daß sie dazu eingeladen werden und vielleicht sogar von der Weltöffentlichkeit dazu gezwungen werden. Die Geschichte wird enthüllt, wenn der Reichstag verhüllt wird. Endlich gelangt das Parlament in das Interesse der Öffentlichkeit.

Für uns Befürworter ginge überhaupt nicht die Welt unter, wenn die Entscheidung heute negativ ausfiele. Wir diskutieren, ob Kunst zugelassen wird. Deswegen bitte ich aber auch die Gegner, daß sie sich ruhiger mit diesen Argumenten auseinandersetzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wir sollten Deutschland und Berlin die Chance geben, wieder auf die Weltbühne der Kunst zurück-zukehren. Vielleicht ist das der Grund, warum sich alle Regierenden Bürgermeister von Berlin, ob Sozial-demokraten oder Christdemokraten, für dieses Pro-jekt eingesetzt haben. Das sollten wir doch zur Kennt-nis nehmen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ

-

NEN sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

Die Begeisterung, die eigentlich bei allen Kunstwer-ken Christos, nachdem sie vollzogen worden sind, auch die Gegner erfaßt hat —

(Peter Conradi [SPD]: So ist es!)

denken Sie einmal an die Geschichte mit dem Pont Neuf! —, sollte uns doch zu denken geben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten das etwas vorwegnehmen, das sollte uns eine Lehre sein, und wir sollten uns von dieser Begeisterung etwas anstek-ken lassen.

Man muß sich einmal vorstellen, wie dieses Gebäude nach der Verhüllung im Licht erscheint. Es wird keine Plastikfolie verwendet. Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen einmal das Material zu zeigen. Mit dem Material, das ich hier in der Hand habe — es ist durchsichtig —, wird das Gebäude in einer sehr würdigen Form verhüllt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich lasse es gern gleich einmal rundgehen, damit Sie es anfassen können.

Meine Damen und Herren, gerade in bezug auf die Entscheidung, die jetzt bevorsteht, auch was den Umbau des Reichstags angeht, ist es doch phanta-stisch, zu sehen, wie durch diese Verhüllung die Hauptlinien des Reichstagsgebäudes deutlich wer-den. Wer sich die Modelle des Reichstagsgebäudes anschaut, wird sehen, wieviel jetzt noch fehlt und was

das, was noch da ist, für ein Klotz ist. Ich möchte mein Plädoyer für das Projekt Christo mißbrauchen, um Sie zu bitten, sich die Modelle anzuschauen und zu überlegen, ob nicht sinnfällig wird, daß dort etwas fehlt. Gerade nachdem ich mir die Modelle von Christo angesehen habe, bin ich ein begeisterter Anhänger der Auffassung, daß das Reichstagsge-bäude wieder eine Kuppel braucht, damit es nicht so klotzig in der Welt steht. Auch dafür kann m an dieses Kunstwerk gebrauchen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, geben Sie uns Deutschen die Chance, daß wir den Reichstag wieder aufwerten und daß wir das Interesse der Bevölkerung für den Reichstag noch vergrößern.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. und bei der SPD, dem BÜND

-

NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne

-

ten der PDS/Linke Liste)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Dietmar Keller.

Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst dem bulgarisch-amerikanischen Künstler Christo für seine künstlerischen Arbeiten meine hohe Achtung aussprechen. Es ist das schöne, daß manches einen sehr glücklich macht, manches einem Fragen stellt und Probleme aufwirft. Aber das ist ja offensichtlich Sinn und Zweck und Funktion der Kunst.

Christo ist offensichtlich der erste Künstler, der in der Geschichte des Deutschen Bundestages die Chance hat, in einer Plenardebatte eine ganze Stunde gewürdigt oder kritisiert zu werden. Ich kann mir schon vorstellen, daß viele andere seiner Kolleginnen und Kollegen sehr traurig sind, daß sie diese Chance nicht haben.

Ich als Bundestagsabgeordneter bin traurig, daß wir in dieser Legislaturperiode keine Zeit gehabt haben, uns hier im Bundestag über den Kulturstandort Deutschland, über die Kulturlandschaft in Deutsch-land, über die Wahrung und den Ausbau der kulturel-len Infrastruktur zu verständigen. Daß wir in eine Situation gekommen sind, daß heute der Bundestag darüber zu entscheiden hat, macht mich nicht glück-lich. Und ich gestehe auch, es hat in mir vieles an Für und Wider hervorgerufen. Ich sage Ihnen auch, warum.

Ich fühle mich an DDR-Zeiten erinnert, als das Politbüro und nicht eine Kunstkommission oder der Direktor des Palastes der Republik darüber entschied, welche Künstler im Palast der Republik ausstellen können und welche Bilder ausgestellt werden.

(Unruhe bei der CDU/CSU)

Es ist nicht Aufgabe des Bundestages, über so etwas zu entscheiden. Wenn wir aber darüber entscheiden müssen, dann sage ich, obwohl es mir schwerfällt, ja zu dieser Entscheidung, und das aus zwei Gründen.

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18281

Dr. Dietmar Keller

Erstens hatte Christo wegen seines Vorhabens, den Reichstag zu verhüllen, keine Chance, in die DDR zu kommen und jemals in der DDR auszustellen. Ich möchte mit diesem Ja einen Teil von dem wiedergut-machen, was an ihm an Schaden verursacht worden ist.

(Beifall des Abg. Peter Conradi [SPD]) Ich gestehe ehrlich — ich habe mit Christo darüber gesprochen —, daß wir ihn einladen wollten, aber nie die Chance hatten und es verboten bekamen.

Ich stimme zweitens dafür, weil ich bewundere, daß ein Künstler seit über zwei Jahrzehnten um die Realisierung dieses Kunstwerkes kämpft, so daß die zuständigen Institutionen des Bundestages, der Älte-stenrat schon lange die Möglichkeit gehabt haben, eine positive Entscheidung zu fällen, weit vor der Einheit Deutschlands, ohne daß dieser Glorienschein über den Reichstag gehüllt werden mußte.

Ich stimme also mit Ja. Und sollte ich nicht das Glück haben, zu der Mehrheit zu gehören, dann empfehle ich Christo, den Antrag zu stellen, die Treuhand einzupacken,

(Heiterkeit bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE

GRÜNEN) oder er kann auch, um dem Wunsch nach einer Friedenspause für das Wahljahr nachzukommen, die Gauck-Behörde einpacken.

Danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Kollege Konrad Weiß.

Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Etliche Kommentatoren stellten in den letzten Tagen die Frage, ob denn das deutsche Parlament nichts Sinn-volleres zu tun habe, als sich mit Christos Verhüllung des Reichstages zu befassen. Natürlich haben wir anderes zu tun, und das tun wir ja auch.

Aber ist es nicht eine der Ursachen der allgemeinen Ödnis, der Oberflächlichkeit, der Sinnleere, daß Men-schen es nur noch selten lernen, sich mit Kunst auseinanderzusetzen und durch eigene Kreativität zu sich selbst zu finden? Kunst ist mehr als Kommerz und Unterhaltung. Sie befreit, weitet den Blick. Sie orien-tiert und hilft, den Sinn des eigenen Lebens zu finden.

Meine Damen und Herren, es ist wirklich keine Schande und keine verlorene Zeit, wenn sich einmal auch die Parlamentarier in diesem Hohen Hause über ein Kunstwerk streiten und darüber nachdenken.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS

-

SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)

Durch diesen Prozeß werden wir selbst Teil des Kunstwerkes, das Ch risto mit bewunderungswürdiger Hartnäckigkeit und Gestaltungskraft seit vielen Jah-ren erschafft. Nur selten gelingt es einem Künstler, einen so breiten Diskurs auszulösen. Dazu braucht es schon die Professionalität und Überzeugungskunst

eines Christo. Diese soziale Komponente des Werkes kann nicht hoch genug geschätzt werden. Wie lang-weilig ist dagegen alles, was nicht zum Widerspruch oder zu Fragen reizt. Glatte Eintönigkeit gibt es wahrlich genug.

Die Verhüllung des Reichstages, meine Kollegin-nen und Kollegen, ermöglicht es uns, diesen zentralen und ambivalenten Ort deutscher Geschichte in ande-rem Licht zu sehen und sinnlich neu zu erfahren. Die Verhüllung ist keine Entwürdigung. Sie ist ein Aus-druck der Ehrfurcht und schafft Freiraum zur Besin-nung auf das Wesentliche.

In der katholischen Liturgie der Karwoche wird das Kreuz verhüllt, um dann am Höhepunkt des Karfrei-tags feierlich enthüllt zu werden. In der jüdischen Tradition sind es die Thorarollen, die verhüllt werden, um immer daran zu erinnern, wie kostbar das ist, was sie bergen.

Der Reichstag wird durch Christos Verhüllung nicht entweiht, er wird geadelt — so merkwürdig das für ein Haus der Demokratie auch klingen mag.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Unruhe — Glocke der Präsidentin)

Er wird hervorgehoben als ein besonderer Ort, ganz einmalig und unvergleichbar. Durch die Verhüllung wird unsere Erinnerung an das, was in und mit diesem Haus geschehen ist, an die Schaffung, den Untergang und die Wiedergeburt der Demokratie belebt. Die Verhüllung ist Erinnerungsarbeit. Nichts anderes kann unsere Auseinandersetzung mit der Geschichte doch sein: daß wir uns ein Bild machen von dem, was sich unter den Ablagerungen der Zeit an gewesener Wirklichkeit bietet.

Die Verhüllung des Reichstages wird uns an die Begrenztheit unserer Wahrnehmung erinnern und daran, wie ungewiß unsere Erkenntnis ist.

Das ist die Vision: Der Stein des Reichstages wird eine Zeitlang unseren Blicken verborgen. Was bleibt, ist die Form unter dem weich fallenden Stoff, die veränderte, verfremdete Gestalt. Was wir wirklich sehen werden, können auch Christos Zeichnungen nur andeuten. Aber es wird neu, und es wird vergäng-lich sein. Es wird ein Einschnitt sein in die Geschichte dieses Hauses, und — anders als bei dem Brand vor einem halben Jahrhundert — es wird eine friedliche, eine schöpferische Zäsur sein. Der weiche Stoff, der den Reichstag umhüllt, wird uns an die Flammen gemahnen, die aus diesen Mauern schlugen, und daran, wie verletzlich und gefährdet Demokratie ist.

Die Enthüllung schließlich ist das Symbol für die Wiedergeburt der Demokratie, für den Aufbruch unseres Landes, das mit der Wiedervereinigung ein neues Land werden sollte.

Ich wünsche uns, meine Damen und Herren, daß wir den Mut finden, uns der kreativen Provokation dieser symbolischen Verhüllung zu stellen, daß wir Mut zeigen zur ironischen Distanz mit uns selbst als Teil dieses Kunstwerks und zugleich zur verantwortlichen Integration unserer Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen, mit allem Bösen und Guten, wofür dieser Reichstag steht.

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18282 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Konrad Weiß (Berlin)

Die Abgeordneten der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen sich dieser Herausforderung stellen und stimmen Christos Projekt zu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Wolf-gang Schäuble.

(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Nein!)

— Ich werde korrigiert. Der nächste Redner ist der Abgeordnete Manfred Richter.

(Freimut Duve [SPD]: Ein bißchen Regie, meine Damen und Herren, wäre gut!)

Manfred Richter (Bremerhaven) (F.D.P.) (von Abge-ordneten seiner Fraktion mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kunst, zumal zeitgenössische Kunst, hat es häufig nicht leicht. Fast regelmäßig ist sie Gegenstand von Kontroversen. Für so manchen, der heute als Klassiker gilt, kann gesagt werden: Du wirst erst beliebt, wenn es dich nicht mehr gibt. — Doch nicht die Frage, ob das Projekt, das Christo „Wrapped Reichstag" nennt, Kunst ist oder nicht, ist hier und heute Gegenstand der Erörterung. Der Deutsche Bundestag würde sich überheben, wenn er sich darüber zu urteilen anmaßte. Und wir sollten uns auch davor hüten, ihn in die Rolle eines Kunstschiedsrichters zu bringen. Deswegen geht ja auch die Entscheidung quer durch die Fraktionen. Das kann gar nicht anders sein.

Aber: Die Kontroverse um das Reichstagsprojekt braucht uns nicht zu schrecken; denn in der kontro-versen Diskussion über dieses Projekt wird ebenso mehr von dem Charakter des Bauwerkes deutlich, wie es nach meiner Meinung durch die Verhüllung mehr offenbart, als es verbirgt.

Christo reduziert Formen auf große Linien, Bauten auf wesentliche Körper. Verfremdung ist sein Stilmit-tel. Die Projekte, die er in der Vergangenheit gemacht hat — sei es der verhüllte Pont Neuf, sei es Running Fence —, sämtlich sind sie spektakulär gewesen, haben eine breite Diskussion ausgelöst und viel Beachtung gefunden. Die „Süddeutsche Zeitung" schrieb:

Christo verändert Silhouetten von Bauwerken oder Landschaften. Die Spur seiner vergängli-chen, die Phantasie befruchtenden Kunst führt gleichsam um den Globus.

Die kontroversen Be trachtungen sind also nicht Gegenstand unserer Entscheidung. Die Bedenken, die über diese Frage hinausgehen, richten sich an den Ort des Geschehens. Kann man ein Symbol — und als solcher wird der Reichstag ja verstanden —, kann man ein solches Symbol, den Ort, an dem deutsche parla-mentarische Geschichte mit seinen Höhen und Tiefen besonders eindrucksvoll sichtbar wird, kann man dieses Gebäude verhüllen lassen, ohne ihm seine

Würde, seine historische Bedeutung zu nehmen? — Ich glaube sehr wohl, daß man das kann.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-

SES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, dem Gebäude wird nichts angetan, es bleibt, was es ist. Der Reichstag in seiner jetzigen Gestalt wird verhüllt — übrigens kurz bevor andere, nämlich Bauhandwerker, ihn mit einem Gerüst umstellen und ihn wahrscheinlich — wenn auch optisch weniger wirksam — mit Planen verhän-gen.

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen und Gruppen)

Das wird dann sein, meine Damen und Herren, wenn sich der Reichstag in eine Großbaustelle verwandelt, was ja sehr bald nach der Verhüllung durch Christo der Fall sein wird. Viele von denen, die sich sehr kritisch zu Christos Projekt äußern, scheinen diesen Widerspruch in ihrer Be trachtung nicht zu empfinden, denn gegen den Umbau, gegen das Verwandeln einer historischen Stätte in einen Großbauplatz habe ich keine kritischen Stimmen gehört.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Es ist für mich, meine Damen und Herren, übrigens auch erstaunlich, daß viele von denen, die sich beson-ders kritisch zur Verhüllung äußern, überhaupt keine Probleme damit hatten, ein künstliches Abbild des alten Stadtschlosses in der Berliner Innenstadt aufstel-len zu lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD)

Und es ist auch nicht wahr, daß Christo etwa leichtfertig mit einer historischen Stätte umgehen würde. Wer sich mit ihm unterhalten hat, der weiß, daß er sich sehr wohl der Bedeutung des Ortes bewußt ist, daß er auch die Tragik dieses Bauwerkes erfaßt hat, das „dem deutschen Volk" gewidmet ist, und daß er sensibel mit dem Gebäude umgehen wird.

Meine Damen und Herren, das Bauwerk Reichstag verdient in der Tat Respekt. Dieses große Symbol der deutschen Geschichte wird durch Christos Projekt herausgehoben; es wird für eine große Zahl von Menschen Gegenstand besonderer Betrachtung und Auseinandersetzung. Viele Menschen, wahrschein-lich Millionen, werden sich auf den Weg nach Berlin machen, in die Hauptstadt von Deutschland, so wie sich Millionen seinerzeit nach Paris aufgemacht haben, um den verhüllten Pont Neuf zu sehen. So werden der Reichstag und die deutsche Hauptstadt in das Interesse einer Weltöffentlichkeit gerückt.

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen und Gruppen)

Und selbst wenn man die Bedenken hinsichtlich des Kunstcharakters als richtig unterstellen würde — was ich nicht tue —, dann wäre allein dies Grund genug, dem Projekt die Zustimmung nicht zu verweigern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, das Projekt kostet den Steuerzahler keinen Pfennig. Es stimmt, Christo

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18283

Manfred Richter (Bremerhaven)

betreibt ein sehr effektives Marketing. Deshalb kann er auch auf öffentliche Gelder verzichten. Ihm das nun zum Vorwurf machen zu wollen erschiene mir aller-dings wirklich verfehlt.

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen und Gruppen)

Öffentliches Geld wird nicht benötigt, sorgfältiger Umgang, Recycling, mit dem anfallenden Mate rial wird zugesichert, das Mate rial wird in den neuen Bundesländern hergestellt.

Meine Damen und Herren, ich glaube, dieses Pro-jekt ist eine große Ch ance für Deutschland, besonders für Berlin, aber auch für den Deutschen Bundestag, der es jetzt in der Hand hat, seine künftige Wirkungs-stätte in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu heben. Zudem entsteht die Chance, bei der Gele-genheit der Verhüllung auch auf die künftige Rolle dieses Hauses besonders hinzuweisen.

Ich bitte Sie um Unterstützung für den Antrag.

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen und Gruppen)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Wolf-gang Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Präsiden-tin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! An uns, an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, ist die Frage gestellt, ob wir einverstanden sein wollen mit dem Vorhaben, den Reichstag in Berlin mit 100 000 m 2

Stoff zu verhüllen. Über diese Frage haben wir heute zu entscheiden.

Bei dieser Entscheidung helfen uns — das ist gesagt worden — künstlerische Kriterien nicht weiter. Das ist keine Entscheidung über Kunst. Sie kann und sie darf dies nicht sein. Niemand von uns wird sich anmaßen wollen, zu entscheiden, ob das Vorhaben von Christo künstlerisch sinnvoll ist oder nicht.

Christo selbst hat im vergangenen Jahr erklärt, er lasse sich auf akademische Erörterungen über die Frage, was Kunst ist, nicht ein. Ihm gehe es um die sozialen und politischen Elemente seiner Arbeit. Dies müssen auch für uns die entscheidenden Gesichts-punkte sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deshalb geht es nicht um die Frage, ob die einen mehr aufgeschlossen sind für Kunst und für das, was mit Kunst bewirkt, auch provozierend bewirkt werden kann, als die anderen. Man sollte den Kritikern und Gegnern der Reichstagsverhüllung genausowenig Sensibilität und Urteilsvermögen absprechen wie den Befürwortern des Vorhabens.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Jedenfalls braucht den Vorwurf der Ignoranz niemand auf sich sitzen zu lassen.

Ich meinerseits habe großen Respekt vor dem Werk und dem Schaffen von Christo. Seine Aktionskunst scheint mir von hoher, — nicht nur ästhetischer — Wirkung, und sie lehrt uns, vieles mit anderen Augen

zu sehen. Auch mich haben seine Werke beeindruckt, ob es die von rosafarbenen Plastikbahnen umkränzten Inseln in Florida waren, die Schirmlandschaften in Japan oder Kalifornien, der riesenhafte Vorhang quer durch eine Schlucht in Colorado oder zuletzt die von sandfarbenem Kunststoff verhüllte Brücke Pont Neuf in Paris.

Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Reichstag ist eben nicht Pont Neuf.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Reichstag ist ein herausragendes politisches Sym-bol der jüngeren deutschen Geschichte,

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge

-

ordneten der F.D.P.)

ein Symbol, das wie kaum ein zweites die Höhen wie die Tiefen unserer Geschichte repräsentiert. Die Wechselfälle, die schmerzlichen Zäsuren haben an dem Gebäude ihre Spuren unmittelbar hinterlassen. So ist der Reichstag zu Berlin steinernes Zeugnis deutschen Schicksals in diesem Jahrhundert.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge

-

ordneten der F.D.P.)

Von einem seiner Balkone rief Philipp Scheidemann 1918 die erste freiheitliche deutsche Republik aus. Im Februar 1933 lieferte der Reichstagsbrand den Natio-nalsozialisten einen Vorwand, mit dem Ermächti-gungsgesetz ihre barbarische Diktatur zu errichten. Zwölf Jahre später hißten zwei Rotarmisten auf sei-nem Dach die Sowjetflagge zum Zeichen des Unter-gangs des Dritten Reiches.

Wir, der Deutsche Bundestag, haben während der Teilung Deutschlands und Berlins mit unserer Präsenz im Reichstag unser Festhalten am Ziel der Einheit in Frieden und Freiheit und an der Zugehörigkeit des freien Berlins zur Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck gebracht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge

-

ordneten der F.D.P.)

Hinter der Ostfassade des Reichstags verlief fast 20 Jahre lang die Schandmauer, die Berlin, Deutsch-land und Europa teilte. Vor der Westfassade haben wir in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in Freiheit und Frieden feierlich begangen.

Wir Deutsche besitzen nicht viele Symbole, die die deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre mit ähnli-cher Wucht, mit ähnlicher Dramatik lebendig werden lassen. So ist der Reichstag wohl das symbolträchtigste und bedeutungsvollste politische Bauwerk in Deutschland. Mit einem solchen Symbol sollten wir sorgsam umgehen!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Renate Hellwig?

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Nein.

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18284 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Dr. Wolfgang Schäuble

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, Sie haben vielleicht zuwenig bedacht, wie viele unserer Mitbürger Schwierigkeiten haben, die Debatte und jede denkbare Entscheidung zu verstehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir sollten uns Mühe geben, unsere Argumente klar vorzutragen.

(Peter Conradi [SPD]: Herr Schäuble, wer hat denn die Debatte ins Plenum geholt? Sie

doch!)

— Herr Kollege Conradi, Sie haben die Debatte eröffnet, indem Sie dafür geworben haben, daß man in Ruhe die Argumente austauschen soll.

(Peter Conradi [SPD]: Das tue ich noch!)

Ich finde, Ihre eigenen Ratschläge sollten Sie noch eine Dreiviertelstunde später beherzigen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Christo selbst wirbt für seine Projekte gerne mit dem Hinweis, daß sich ihre Wirkung auf die Menschen im voraus kaum berechnen lasse, daß m an die Resultate erst konkret vor sich sehen müsse. Es sind Experi-mente, und daran ist sonst ja auch nichts auszusetzen. Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, weil der Reichstag eben nicht irgendein Gebäude ist, sollten wir mit ihm gerade keine Experimente veranstalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist auch gesagt worden, Christo bemühe sich seit 20 Jahren um das Projekt. Mit allem Respekt: Mich irritiert etwas die Beliebigkeit, mit der die Begründun-gen in diesen 20 Jahren abwechseln, die für das Projekt vorgetragen worden sind.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Zunächst hieß es, der Reichstag sei ein Symbol des Dritten Reiches — was historisch nun wirklich falsch ist —, seine Verhüllung ordne sich ein in die Bemü-hungen, die NS-Vergangenheit in Deutschland aufzu-arbeiten.

(Peter W. Reuschenbach [SPD]: Das hat Chri

-

sto niemals gesagt! Das ist Verleumdung!)

— Ich habe ja nicht gesagt, daß Christo das gesagt habe; Begründungen werden ja auch von anderen vorgetragen.

(Peter W. Reuschenbach [SPD]: Befassen Sie sich mit seinen Argumenten!)

Darm wurde gesagt, das Verhüllungsprojekt ziele auf die besondere Dramatik, die sich mit der Lage des Reichstages im Schatten der Mauer, an der Nahtstelle zwischen Ost und West verbinde. Der Reichstag werde durch die Verhüllung als Symbol der Teilung ins Bewußtsein gehoben. — Jetzt, nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, geht es angeblich weniger um Verhüllung als um Enthüllung. Jetzt geht es um den Reichstag als Symbol für den Neuanfang im vereinten Deutschland.

Frank Schirrmacher schrieb dieser Tage in der „FAZ", alle Argumente, die für das Verhüllungspro-jekt vorgebracht werden, hätten den Beiklang des Gesuchten. Das Verhüllungsprojekt sei letztlich eben doch nur Selbstzweck. — Mir erscheint das richtig. Es gibt keine konsistente und überzeugende Antwort auf die Frage, was das Ganze eigentlich soll.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Warum gerade der Reichstag? In keinem anderen Land gab es bisher die Überlegung, ein Gebäude von vergleichbarer Bedeutung zum Gegenstand einer solchen Aktion zu machen. Auch in anderen Ländern drücken Parlamentsgebäude Geschichte aus, aber die Hausherren im Palace of Westminster, auf dem Capi-tol Hill oder im Palais Bourbon würden doch niemals dem Gedanken einer Verhüllung ernsthaft nähertre-ten.

(Zuruf von der SPD: Woher wissen Sie das?)

— Das ist ja nie geschehen. — Ist denn in diesen Ländern das Verständnis von politischem Stil, politi-scher Würde, von politischer Kultur gefestigter als bei uns?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Jedenfalls weiß man in anderen Demokratien um die Ehrwürde, die einem Traditionsgebäude freiheitlicher Demokratie innewohnt und innewohnen muß. Wir Deutsche tun uns schwer mit Symbolen, die unsere Geschichte zum Ausdruck bringen, und angesichts der Brüche und Verletzungen ist das nur zu verständ-lich. Aber gerade deshalb sollten wir behutsam sein.

Unsere repräsentative Demokratie, ihre Institutio-nen, auch ihre Repräsentanten haben derzeit eher zuwenig als zuviel Vertrauen, und weil solche Defizite bestehen, müssen sie abgebaut werden. Wir sollten niemand in Versuchung führen oder ihm Gelegenheit bieten, solche Defizite für sich auszunutzen, um unsere freiheitliche Demokratie zu schwächen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. — Peter W. Reuschenbach [SPD]: Da hatten Sie aber ein weites Feld in Ihrer

Politik!)

Die Menschen in unserem Land müssen heute vieles an Veränderungen und an Verunsicherungen aushalten. Sie müssen die Belastungen aus dem wirtschaftlichen Strukturwandel tragen; sie müssen Einschnitte hinnehmen, die sie in 40 Jahren Wohl-stand und sozialer Sicherung nicht mehr gewohnt waren. Sie sehen sich neuen und zusätzlichen Gefähr-dungen ihrer Sicherheit ausgesetzt, im Innern wie von außen her, und in dieser Situation müssen wir den inneren Zusammenhalt unserer freiheitlichen staatli-chen Gemeinschaft stärken. Wir müssen uns der Grundlage unserer Gemeinschaft, unseres Funda-ments gemeinsamer Werte, auch unserer nationalen Identität neu vergewissern. Wir brauchen diesen Zusammenhalt als Klammer für die Kräfte, die auch angesichts enger werdender Verteilungsspielräume eher auseinanderstreben, statt zusammenzufinden.

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18285

Dr. Wolfgang Schäuble

Wir müssen daran erinnern, daß die staatliche Gemeinschaft nicht nur durch ein System perfektio-nierter Rechtsnormen oder durch ein System pefektio-nierter Sozialleistungen, sondern vor allem durch Institutionen, in denen die grundlegenden Normen Ausdruck finden, zusammengehalten wird. Wir müs-sen daran erinnern, daß wir diese Institutionen stabil und integrationsfähig halten müssen, wenn diese Gemeinschaft eine gute Zukunft haben soll.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. — Peter W. Reuschenbach [SPD]: Was soll das mit diesem Werk zu tun haben,

verehrter Herr Schäuble?)

Und das hat auch mit den Bauwerken zu tun, die diese Institutionen beherbergen. Das Bild dieser Bau-werke prägt sich den Menschen ein. Und so verkör-pern sie, die Bauwerke, diese Institutionen; sie reprä-sentieren sie nach außen. Damit sie sich glaubwürdig repräsentieren können, sollten wir mit ihrer äußeren Erscheinung keine Experimente veranstalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

So ist ein Bauwerk wie der Reichstag ein politisches Symbol. In solchen Symbolen bündeln sich wie in einem Brennglas die historischen Erfahrungen eines Volkes. Es sind ruhende Pole, Achsen, um die das Mit- und Gegeneinander der politischen Kräfte über Jahr-zehnte kreist. Insofern verbinden sie ein Volk auch und gerade im Widerstreit der Interessen, der Ziele und der Überzeugungen. In solchen Symbolen kann sich die innere Einheit eines Volkes verkörpern. Die ganze staatliche Gemeinschaft soll sich in solchen Symbolen wiederfinden können.

Dies, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist der Grund dafür — nicht Humorlosigkeit, Intoleranz oder mangelnder Respekt vor künstlerischer Freiheit —, warum man überall sonst auf der Welt nationalen Symbolen behutsamen Respekt angedeihen läßt, warum man ihrer Verfremdung im allgemeinen wenig abgewinnen kann.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist auch gesagt worden, die Verpackung des Reichstages werde das ironische Verhältnis der Deut-schen zu ihrer Geschichte dokumentieren. Ich sagte schon, daß wir Deutsche uns mit unserer Geschichte schwertun angesichts all der Umbrüche und Blessu-ren, angesichts der Wechselbäder von Hochstimmun-gen und Niederlagen gerade in den letzten 150 Jah-ren. Deswegen würde ich jedenfalls jeden Anschein von Ironie — und sei es nur ein Mißverständnis — im Umgang mit unserer Geschichte, meiden wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Staatliche Symbole, Symbole überhaupt, sollen einen, sie sollen zusammenführen. Eine Verhüllung des Reichstags — Burkhard Hirsch hat es gesagt — würde aber nicht einen, nicht zusammenführen, sie würde polarisieren.

(Freimut Duve [SPD]: Sie polarisieren mit Ihrer Rede!)

So viele Menschen würden es nicht verstehen und nicht akzeptieren können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) So viele Menschen würden diesen Umgang mit einem Bauwerk, das in der deutschen Geschichte eine so außergewöhnliche Bedeutung für den deutschen Par-lamentarismus, für die deutsche Demokratie hat, nicht verstehen können. Wir haben doch heute schon genü-gend Dinge, die uns Deutsche eher auseinanderbrin-gen,

(Zuruf von der SPD: Sie! Ihre Rede!)

und zuwenig Dinge, die uns zusammenführen. Wir sollten es uns nicht leisten, zu viele Menschen gleich-sam am Wegesrand zurückzulassen, die ein solches Unterfangen nicht verstehen und nicht nachvollzie-hen können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Nein. Ich höre so viele Zwischenrufe, die stören. Ich brauche nicht auch noch Zwischenfragen. Ich finde, daß die Art, wie Sie hier stören, dem Anlaß wirklich nicht angemessen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. — Peter Conradi [SPD]: Jetzt auch noch wehleidig sein! — Weitere Zurufe von

der SPD)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, viele verste-hen nicht, daß wir uns überhaupt so intensiv mit dieser Angelegenheit befassen. Haben wir nicht genug andere Sorgen?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Viele fragen sich, ob wir unsere Energie und unsere Aufmerksamkeit nicht auf Wichtigeres lenken soll-ten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Dieter Thomae [F.D.P.])

Wie auch immer: Nachdem diese Debatte jetzt notwendig geworden ist, sollten wir entscheiden. Jedes Mitglied des Hohen Hauses sollte dabei nicht nur an seinen persönlichen Geschmack, sondern vor allem daran denken, was das Beste für unser Gemein-wesen ist, wie wir Nutzen mehren und Schaden von ihm wenden können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Ausgang eines Experiments ist immer ungewiß, und der Nutzen kann nur ein begrenzter sein. Deshalb sollten wir das Risiko einer Beschädigung höher bewerten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deshalb bitte ich Sie alle: Bedenken Sie die Gefahr, daß das Vertrauen zu vieler Mitbürger in die Würde unserer demokratischen Geschichte und Kultur Scha-

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18286 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Dr. Wolfgang Schäuble den nehmen könnte. Stimmen Sie mit mir und der großen Mehrheit meiner Fraktion einer Verhüllung des Reichstags nicht zu!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht die Kollegin Eike Ebert. — Entschuldigen Sie, der Kollege Eike Ebert.

Eike Ebert (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kämpfe nach wie vor dafür, daß „Eike" ein norddeutscher Männername ist, obwohl der BGH inzwischen anders entschieden hat.

(Heiterkeit)

Meine Damen und Herren, es ist nicht leicht, nach Wolfgang Schäuble als Sozialdemokrat dafür zu plä-dieren, die Verhüllung des Reichstages abzulehnen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist deshalb nicht leicht, weil man Gefahr läuft, mit dem ganzen konservativen Überbau identifiziert zu werden, den Wolfgang Schäuble hier vorgetragen hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, ich spreche trotzdem für

die vielen Sozialdemokraten in meiner Fraktion, die der Auffassung sind, daß dieses Unternehmen nicht stattfinden sollte. Die Argumente sind hier, glaube ich, in ausreichender Form ausgetauscht worden. Ich habe zehn Minuten Redezeit und denke, ich sollte von diesen zehn Minuten nicht komplett Gebrauch machen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Ich verstehe diese Kürzung auch als Beitrag zu der Argumentation, daß ich es als unangemessen ansehe, daß sich dieses Parlament in dieser großen Zahl von anwesenden Abgeordneten und mit dieser langen Diskussion überhaupt mit dieser Frage beschäftigt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Die Menschen in diesem Land verstehen es nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Menschen in diesem Land verstehen es nicht

etwa deshalb nicht, lieber Peter Conradi, weil sie kein Verständnis dafür hätten, daß Kunst auch in Zeiten des knappen Geldes weitergefördert werden muß, sondern sie verstehen nicht, daß sich ein Bundestag über die ganz deutliche Meinung im L ande so hin-wegsetzen kann. Denn es ist sicherlich kein Populis-mus, wenn man feststellt, daß 70 % der Bevölkerung in diesem Lande dieses Experiment mit dem Deutschen Reichstag ablehnen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P.)

Ich bin eigentlich etwas betroffen darüber, Frau Präsidentin, daß Sie in der Entwicklung dieser ganzen Frage nicht die Initiative in der Form an sich gezogen haben, mit einem Federstrich und der Autorität Ihrer

Person zu entscheiden: Ich als Hausherrin werde das dort nicht dulden! Das wäre für mein Empfinden die richtige Entscheidung gewesen.

(Zurufe von der SPD: Nein!) Dann hätten wir diese Debatte hier nicht führen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, es ist deutlich geworden, daß wir hier nicht über Kunst debattieren, sondern darüber, ob man ein Gebäude wie den Deutschen Reichstag zum Gegenstand eines solchen Experimen-tes machen darf und machen sollte.

(Peter Conradi [SPD]: „Keine Experi

-

mente"!) Da bin ich, meine Damen und Herren, obwohl ich die Argumentation von Wolfgang Schäuble in diesem riesigen Überbau nicht übernehme, der Auffassung: So etwas tut man nicht!

(Zuruf von der F.D.P.: Warum denn nicht?) Meine Damen und Herren, so etwas tut man schlicht und einfach nicht!

Ich denke, alle diejenigen haben recht, die darauf hinweisen, daß man sich keine westliche Demokratie vorstellen kann, in der eine solche Frage auch nur annähernd mit dieser Dauer diskutiert würde, wie wir uns das hier leisten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, darüber bin ich be troffen, und ich denke, wir sollten das schnell zum Abschluß bringen.

Es sind hier viele geschichtliche Momente ange-sprochen worden, die im Zusammenhang mit diesem Gebäude stehen. Ich möchte die Sozialdemokraten gerne daran erinnern, daß dieses Gebäude über lange Jahrzehnte die Kulisse gewesen ist, vor der die 1.-Mai-Feiern des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der organisierten Arbeitnehmerschaft in diesem Land, stattgefunden haben.

Ich erinnere Euch, meine lieben Freunde, daran, daß vor dieser Kulisse Ernst Reuter im Angesicht der schrecklichen Mauer die Völker dieser Welt aufgeru-fen hat, auf diese Stadt zu schauen.

Ich meine, daß Ihr etwas tiefer über diese Frage und auch darüber nachdenken solltet, wie unsere Wähler — ich spreche über Erfahrungen aus meinem Wahl-kreis — dieses Vorhaben beurteilen. Ich möchte Euch bitten, daß Ihr nach draußen geht und Eure blauen Karten in rote umtauscht.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Ebert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?

Eike Ebe rt (SPD): Nein, ich möchte gerne die Tradition fortführen, ohne Unterbrechung zu reden. Ich habe Herrn Weiß auch nicht gefragt.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich möchte die Kollegen, die hier im Raum sind, bitten, Platz zu

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18287

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth

nehmen; denn wie immer Sie zu der Debatte stehen, Sie sollten in Ruhe zuhören.

Eike Ebert (SPD): Meine Damen und Herren, es ist, glaube ich, deutlich geworden, daß dieses ganze ästhetisierende Gerede darüber, was mit dieser Ver-hüllung deutlich gemacht werden soll, doch nicht weiterhilft. Es wird nur deshalb vorgetragen, weil man selbst innere Probleme damit hat, daß dieses Gebäude Gegenstand dieser Veranstaltung sein soll. Meine Damen und Herren, darüber denken Sie einmal als Befürworter nach.

Es hat vor vielen Monaten einen Wettbewerb gege-ben, wie der Umbau des Deutschen Reichstages aussehen soll. Ich möchte Sie gerne daran erinnern, daß Sir Norman Foster den ersten Preis gewonnen hat. Ich möchte Sie gerne an das Modell erinnern, mit dem er diesen ersten Preis gewonnen hat. Es ist vorgese-hen, daß man den Reichstag zwar innen umbaut, aber die Fassade unverändert stehenläßt, und daß man darüber ein riesiges Glasdach spannt. Ich denke, dies ist die richtige Symbolik für dieses Gebäude, denn es macht deutlich, daß hier etwas bewahrt werden soll, nämlich deutsche Geschichte. Diese deutsche Ge-schichte dürfen wir nicht verhüllen. Ich finde es schlimm, daß wir einem Künstler so lange dazu verhelfen, kostenlos PR für sich zu machen.

Danke schön. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und

der F.D.P.)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Ebert, ich stelle noch einmal klar, daß ich von einer Entschei-dung des Ältestenrates ausgegangen bin. Aber auch ich als Präsidentin habe Mehrheiten im Parlament zu respektieren, wenn die Entscheidung erfolgt ist, im Parlament abstimmen zu lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abgeordneten Konrad Weiß [Berlin] [BÜND

-

NIS 90/DIE GRÜNEN]) Als nächstem erteile ich dem Kollegen B riefs das

Wort.

Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war einfach zu befürch-ten, daß aus der Diskussion über die Verhüllung des Reichstags eine ernste, gelegentlich bitter ernste Debatte über den Umgang mit sogenannten nationa-len Symbolen und mit der sogenannten nationalen Würde bei Befürwortern wie bei Gegnern der Verhül-lung werden würde. Dabei wäre es — auch in bezug auf das zu verhüllende Objekt, den Reichstag —wahrscheinlich angebrachter gewesen, die Entschei-dung für das Ja oder Nein dieser Verhüllung leicht-händig, im Vorfeld formeller ernsthafter Parlaments-debatten zu treffen.

(Beifall des Abg. Hans-Ulrich Klose [SPD]) Vielleicht hätte man auch einfach die Würfel ent-

scheiden lassen sollen. Völlig unangebracht ist es jedenfalls, die Verhüllung damit abzulehnen, daß damit „eine verunsicherte Nation nach der Wiederer-langung der Einheit sich erst selbst finden muß " — das sind Zitate — und daß man die „Gefühle der Men

-schen in diesem Land nicht auf die Probe stellen darf". So geäußert u. a. vom Vorsitzenden der CSU-Landes-gruppe.

Nationale und national eingefärbte Töne haben in dieser Debatte nichts, aber auch gar nichts zu suchen. Wenn wir uns dieses Argument -- die Gefühle vieler Menschen würden verletzt — einmal ausnahmsweise näher betrachten: Ist es denn wirklich so, daß sich mit dem Reichstag, mit einem steinernen Symbol der unglücklichen Geschichte der deutschen parlamenta-rischen Demokratie, bei vielen Menschen in diesem Lande tiefere Gefühle verbinden? Ich wage zu behaupten, daß der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung der Reichstag fremd und gleichgültig ist. Es wäre ja vielleicht nicht schlecht, wenn der Reichs-tag — dessen Verhüllung übrigens l ange vor der Wiedervereinigung und als diese in keiner Form absehbar war, als Kunstprojekt formuliert wurde — positive Identifikationsgefühle der deutschen Bevöl-kerung auf sich ziehen würde. Aber es ist doch nicht so. Markus Wasmeier oder Katarina Witt ziehen doch viel mehr derartiges Identifikationspotential auf sich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Man kann über den künstlerischen Wert des Ver-hüllungsprojekts, das einen leicht gigantomanischen Zug hat, völlig entgegengesetzter Meinung sein. Nach dieser Debatte hier, nach den verhalten natio-nalen Tönen in dieser Debatte muß man schlicht dafür sein. Wie Werner Schmalenbach, der Gründungsdi-rektor der Kunstsammlung NRW, zu Recht sagt, sollte man sich einen Stoß geben, für die Verhüllung zu stimmen. Denn die Verhüllung ist zumindest — diesen Wert hat sie — eine spektakuläre Aktion gegen nationales und gegen sonstiges deutsches Spießer-tum.

Frau Präsidentin, ich danke Ihnen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter in der Debatte spricht der Kollege Freimut Duve.

Freimut Duve (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Alles in allem eine gute Debatte. Aber, Herr Kollege Schäuble, Sie haben die Dimension, über diesen Gegenstand zu sprechen, zu einer nationalen Frage hin erweitert. Wenn die Argu-mente, die Sie vorgetragen, und die Warnungen, die Sie ausgesprochen haben, ernst zu nehmen wären, dann dürften wir den Reichstag nicht umbauen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dann müßte er genau so stehenbleiben, unberührt von Bauhandwerkern, unberührt von Architektenplänen. Das wäre dann das Symbol der Wunden unserer Geschichte.

Das sanfte Signal, das von der Verhüllung ausgehen kann und das jeder verschieden interpretiert — Peter Conradi hat das gesagt —, ist sicher auch eine Antwort

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18288 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Freimut Duve

auf die Wunden unserer Geschichte, Herr Kollege Schäuble.

(Peter Conradi [SPD]: Er diskutiert nicht, er verkündet nur!)

Ich denke, man darf es nicht so überhöhen, wie Herr Schäuble das hier gemacht hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der

CDU/CSU und der PDS/Linke Liste)

Wir gehen in einen Neubau des Reichstags. Wir haben einen höchst interessanten Vorschlag. Für mich als Politiker gibt es ein Grundelement dieses interes-santen Vorschlags. Ich habe alle Projekte von Christo überprüft. Überall gab es eine leidenschaftliche Geg-nerschaft. Häufig war diese leidenschaftliche Gegner-schaft, etwa in der Stadt Paris, genauso überhöht wie die Leidenschaft von Herrn Schäuble heute morgen. Hinterher gab es leidenschaftliche, aber entspannte, heitere, liebenswürdige Zustimmung von allen, auch von den Kritikern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der

CDU/CSU und der F.D.P.)

Uns Deutschen tut dieser Moment — es geht ja nur um einen kurzen Moment in unserer Geschichte —

(Parl. Staatssekretär Horst Günther: Würde- los!)

der Entspanntheit, der Moment des heiteren Um-gangs mit etwas sehr gut. Der Welt wird es auch guttun, ein solches Signal von uns zu bekommen,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der

CDU/CSU und der F.D.P.)

daß wir mit so etwas entspannt umgehen können. Das sind andere Bilder in den Fernseharchiven als über Rostock und Mölln, die jetzt immer wieder herausge-holt werden, wenn über Deutschl and berichtet wird. Das ist ein anderes Bild, ein gutes Bild.

Herr Schäuble, bei Politikern ist es häufig umge-kehrt. Wir mobilisieren die Leute für unsere Visionen und Ideen — Herr Kohl kann ein Lied davon singen —, und wenn wir die Ideen realisieren, sind die Leute enttäuscht. Bei Christo waren die Leute noch nie enttäuscht. Sie waren immer begeistert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der

CDU/CSU und der F.D.P.)

Genau das werden wir erreichen.

Ich bitte darum diejenigen, die jetzt gesagt haben, der Schäuble hat mich so bei meiner demokratie-patriotischen Saite gepackt: Überlegen Sie noch ein bißchen. Lassen Sie es uns gelassen angehen.

(Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Ja!)

Lassen Sie uns diese neue deutsche, demokratische Gelassenheit

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wir stimmen ganz gelassen mit Nein!)

durch ein großes Symbol für 14 Tage leisten. Dann gehen wir mit großem Vergnügen und mit großem Ernst in den umgebauten Reichstag — wenn wir die Regierung stellen, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS/Linke Liste — Bundes

-

kanzler Dr. Helmut Kohl: Sehr gut! Das war das beste!)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.

Eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung haben die Kollegen Lammert, Koschyk, Grüner, Bierling, Türk, Brecht, Schmidt (Fürth), Bühler (Bruchsal), von Stetten und die Kolle-gin Homburger vorgelegt.*)

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der Abgeordneten Johannes Gerster, Heribert Schar-renbroich, Peter Kittelmann und weiterer Abgeordne-ter mit dem Titel „Verhüllter Reichstag — Projekt für Berlin", Drucksache 12/6767.

Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich eröffne die Abstimmung. —

Hat ein Mitglied des Hauses seine Stimme noch nicht abgegeben? — Das ist offensichtlich der Fall. —

Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schrift-führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgege-ben. **)

Wir setzen die Beratungen fort. Ich möchte Sie bitten, Platz zu nehmen. — Ich wiederhole: Nehmen Sie bitte Platz. — Bevor ich den nächsten Tagesord-nungspunkt aufrufe, warte ich so l ange, bis Sie Platz genommen haben.

(Beifall des Abg. Detlev von Larcher [SPD])

Es gibt immer noch einige Kollegen, die mich offenbar nicht verstehen. Ich fordere Sie auf, Platz zu neh-men.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierung

Erster Altenbericht der Bundesregierung — Drucksache 12/5897

—Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Familie und Senioren (federführend) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste spricht zu uns die Bundesministerin Hannelore Rönsch.

*) Anlage 2 * *) Ergebnis Seite 18294 A

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18289

Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wäre auch den Kollegen dankbar, die jetzt noch stehen, wenn sie sich hinsetzen würden.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sind Sie die Präsidentin?)

Denn das Thema, das wir heute behandeln, wird auch in Zukunft Ihr Thema sein. Ich kann nur immer wieder sagen: Jeder wächst meiner Klientel, den Senioren, zu. Deshalb würde ich Ihnen empfehlen, mit großer Aufmerksamkeit zuzuhören.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Seniorenmini-sterin bin ich ausgesprochen dankbar, daß wir heute im Deutschen Bundestag den Ersten Altenbericht der Bundesregierung diskutieren. Wir diskutieren über die Situation der älteren Menschen in der Bundesre-publik Deutschland, und wir sprechen über die Situa-tion der ausländischen Senioren hier bei uns im Land. Die wachsende Bedeutung der älteren Menschen in Deutschland, auch bedingt durch die demographische Entwicklung, macht es dringend erforderlich, daß sich alle Verantwortlichen in Politik, in der Gesellschaft verstärkt mit den Belangen der Älteren auseinander-setzen.

Zentrale Aussage dieses umfassenden Gesamtbe-richtes ist: Die Situation der älteren Menschen hat sich in den zurückliegenden Jahren in der Bundesrepublik Deutschland spürbar verbessert. Dies gilt ganz beson-ders auch für die älteren und alten Menschen in den neuen Bundesländern unseres wiedervereinigten Landes.

Im Februar 1989 hatte meine Vorgängerin im Amt, Frau Professor Ursula Lehr, eine Sachverständigen-kommission beauftragt mit der Erstellung eines Gesamtberichts zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik. Angesichts der bevorstehenden Wiedervereinigung Deutschlands wurde er 1990 auf die Situation der Menschen in den neuen Bundeslän-dern erweitert. Mit Blick auf die enger werdende Zusammenarbeit auf europäischer Ebene stellte sich die Kommission „Seniorenpolitik" die Aufgabe, sich auch mit den Nachbarländern auseinanderzusetzen und die Lebenssituation in unseren Nachbarländern ebenfalls zu eruieren. Die Sachverständigenkommis-sion unter Leitung von Herrn Professor Dr. Schütz übergab mir Ende 1992 ihren Bericht, der Ihnen nun gemeinsam mit der Stellungnahme der Bundesregie-rung vorliegt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ältere Menschen leben heute länger als früher. Sie gehen gesünder in die nachberufliche Lebensphase und die vor ihnen liegende Zeit. Wenn man mit 60 aus dem Arbeitsprozeß ausscheidet, liegt oft noch ein Drittel des Lebens vor einem. Mit 60 begreifen sie vielfach, daß sie ihren neuen Lebensabschnitt neu gestalten müssen, daß sie neue Aufgaben vor sich haben. Wir alle in Politik und Gesellschaft sind gefordert, sie hierbei zu unterstützen und die Rahmenbedingungen für ein zufriedenes, für ein aktives und ein lebenszu-gewandtes Altern zu schaffen.

Die erste Grundlage hierfür ist die weitere Korrek-tur des Altersbildes in unserer Gesellschaft. Leider nur allzu oft wird in der Öffentlichkeit ein Bild verbreitet, das den älteren Menschen als inkompe-tent, als hinfällig, vielleicht als nicht ganz ernst zu nehmend, als vergeßlich darstellt. Auch werden Begriffe wie „Altenlast" oder „Überalterung" ge-nannt. Wir wissen aber, daß der weitaus größte Teil der älteren Menschen leistungsfähig und durchaus aktiv ist.

Ich möchte an dieser Stelle deshalb noch einmal an uns alle, aber auch ganz besonders an die Medien appellieren, endlich einen Beitrag zu einem realisti-schen und zu einem differenzierten Altersbild in der Öffentlichkeit zu leisten. Wir dürfen nicht immer Alter als Belastung für Gesellschaft oder für die Älteren selbst darstellen, sondern wir müssen die Kompetenz und die gelebte Lebenserfahrung wesentlich wirk-lichkeitsnaher in der Öffentlichkeit deutlich machen. Denn, ich denke, wir sollten uns doch klarmachen: Die meisten älteren Mitbürger möchten ihr Leben so lange wie möglich selbständig führen und am gesellschaft-lichen und am politischen Leben teilhaben.

Viele Kommunen, viele Bundesländer unterstützen dies. Doch es fehlt häufig noch an einer Anlaufstelle; es fehlen Informationen, und es werden Angebote und Bedürfnisse nicht genügend zusammengeführt. Um dies zu verbessern, habe ich 1992 im Rahmen des Bundesaltenplans das Modellprojekt der Seniorenbü-ros entwickelt.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Mit den Seniorenbüros, für die es derzeit bundes-weit 32 Modellstandorte gibt — diejenigen, die sich mit der Altenpolitik beschäftigen, wissen, daß wir die in diesem Jahr auf mindestens 50 Seniorenbüros erhöhen wollen —, will die Bundesregierung älteren Menschen neue Betätigungsfelder für ihren Alltag eröffnen und sie z. B. zur Übernahme einer freiwilli-gen sozialen Tätigkeit motivieren. Durch eine offene Konzeption haben wir bewußt den vielfältigen Inter-essen der älteren Menschen Raum gelassen.

Wichtig ist, daß Menschen sich engagieren, daß sie in den Seniorenbüros auch weiterhin einen Ansprech-partner haben, der sie unterstützt. Auch kann es die Aufgabe der Seniorenbüros sein, den Aufbau selbst-organisierter Gruppen zu leisten und den Anstoß dazu zu geben. So können z. B. Nachbarschaftsdienste ins Leben gerufen werden oder Werkstätten, in denen Ältere ihre handwerklichen Fähigkeiten zum Nutzen anderer anbieten.

Die große Resonanz dieses Modellprogramms und die Vielfalt der bereits umgesetzten Ideen beweisen, daß sich hier unserer Gesellschaft Kräfte anbieten, auf die wir nicht verzichten können und nicht verzichten dürfen.

Ich erwarte von diesem Modellprojekt, daß es unter der aktiven Mitwirkung der Senioren Wege und Möglichkeiten aufzeigt, wie das Leben im Alter aktiv gestaltet werden kann und wie dies zum Nutzen unserer gesamten Gesellschaft beitragen kann.

Für die Zukunftssicherung des Standortes Deutsch-land wird es ebenfalls langfristig unumgänglich sein,

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18290 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Bundesministerin Hannelore Rönsch

die Kompentenz, das Fachwissen und die Erfahrun-gen der älteren Arbeitnehmer und Selbständigen stärker als bisher zu nutzen.

Der sich abzeichnende demographische Umbau wird im Ergebnis dazu führen, daß weniger Erwerbs-tätige die Alterssicherung für mehr ältere Menschen aufbringen müssen. Deshalb unterstütze ich eine weitere Flexibilisierung der Altersgrenzen, wie sie im Rentenreformgesetz 1992 bereits eingeführt sind.

Außerdem muß der gegenwärtige Trend zur Früh-verrentung gestoppt und mittel- und langfristig umge-kehrt werden. Dies kann am besten gelingen, wenn rechtzeitig auch für ältere Arbeitnehmer geeignete Arbeitsplätze geschaffen werden. Ich appelliere des-halb auch von dieser Stelle an die Unternehmer: Denken Sie um, und bauen Sie Vorurteile gegenüber älteren Arbeitnehmern ab.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denn sie sind oft noch leistungsfähig und können vor allem ihre Erfahrung aus dem Arbeitsleben, aber auch ihre Lebenserfahrung einbringen.

Die Bundesregierung hat bereits gehandelt. Mit dem Rentenreformgesetz 1992 ist die Möglichkeit geschaffen worden, Teilzeitarbeit und Teilrente zu kombinieren. Leider wird dieser Weg, der für ältere Menschen sehr vielversprechend ist, noch zu wenig genutzt.

Ganz besonders am Herzen liegt mir die Lebenssi-tuation der älteren Menschen in den neuen Bundes-ländern. Der erste Altenbericht belegt sehr deutlich, daß sich ihre Situation seit der Wiedervereinigung spürbar zum Positiven verändert hat.

Lassen Sie mich dies nur am Beispiel der Renten erläutern. Legt man einen Durchschnittsverdienst bei 45 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren zu-grunde, erhielt ein Rentner in den neuen Ländern im Dezember 1990 672 DM Rente. Im Januar 1994 bezog derselbe Rentner 1 500 DM. Dies macht eine Steige-rung von 120 % aus.

Langfristig kommt es darauf an, den Generationen-vertrag auch unter den veränderten demographi-schen Bedingungen aufrechtzuerhalten. Auch hierzu haben wir im Rentenreformgesetz 1992 die nötigen politischen Weichen gestellt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber Sie machen nicht genug kinderfreundliche Poli -

tik dafür!)

— Ich habe leider die Zwischenfrage akustisch nicht mitbekommen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber Sie machen keine kinderfreundliche Politik, weil eine Hälfte des Generationenvertrages

fehlt!)

— Aber Herr Kollege, Sie sind doch mindestens so lange im Bundestag wie ich. Deshalb muß ich Ihnen nicht erzählen, was seit 1982 alles an kinderfreundli

-

cher Politik hier in diesem Hohen Hause beschlossen worden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD — Zuruf der Abg. Dr. Dagmar

Enkelmann [PDS/Linke Liste]) — Sie mögen recht haben, wenn Sie sagen: Es ist zu wenig. Wenn ich das aber mit dem vergleiche, was die Sozialdemokraten bis 1982 getan haben,

(Zuruf von der SPD: Dann sehen Sie aber ganz schön alt aus!)

dann kann ich natürlich sagen, daß wir eine minde-stens 300prozentige Steigerung in der Familienpolitik gehabt haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nichts

als alte Hüte!) — Das wissen Sie als Kinderbeauftragter genauso gut wie ich.

(Beifall bei der CDU/CSU) Aber lassen Sie uns heute doch die Situation der

älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland diskutieren. Auch dies ist eine positive Bilanz, und deshalb möchte ich das hier weiter ausführen.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Blunck?

Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren: Ich hatte gerade der Kollegin Blunck gesagt, daß wir heute eigentlich die Situation der älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland diskutieren.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich frage nur, ob Sie dazu eine Zwischenfrage der Kollegin Blunck zulas-sen, ja oder nein?

Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren: Ja.

Lieselott Blunck (Uetersen) (SPD): Frau Ministerin, darf ich davon ausgehen, daß Sie den Armutsbericht der Paritätischen Wohlfahrtsverbände kennen? Darf ich Sie weiterhin fragen, ob Ihnen die Anzahl der Zunahme an Altersarmut, an Kinderobdachlosigkeit und an Kinderarmut bekannt ist, die während der Regierungszeit der CDU/CSU-F.D.P.-Koalition so dramatisch zugenommen hat?

(Zurufe von der SPD: Sehr richtig!)

Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren: Sehr geehrte Frau Blunck, da ich davon ausgehe, daß Sie auch die Analyse dieses Armutsbe-richts sehr genau gelesen haben, wissen Sie, daß das ein sehr differenziertes Thema ist.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber auch ein sehr klares Ergebnis!)

Ich habe heute leider nicht die Zeit und nicht die Gelegenheit, Ihnen deutlich zu machen, um welche

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18291

Bundesministerin Hannelore Rönsch

Personenkreise es sich h andelt und wie Armut defi-niert werden muß.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn Sie den Bezug von Sozialhilfe in der Bundesre-publik Deutschland als Armut definieren, dann hat die Anzahl derjenigen, die arm sind, natürlich zugenom-men. Diese Begriffsbestimmung ist aber nicht rich-tig.

Wir werden demnächst noch Gelegenheit haben, hier sehr ausführlich darüber zu diskutieren, damit diese Polemik, die leider mit dem Armutsbericht in den letzten Tagen und Wochen versucht worden ist, endlich unterbleibt. Wenn wir hier differenziert dar-über reden und Sie sich die Personenkreise anschauen — und auch die Zahlen der Sozialhilfe hinterfragen —, dann, denke ich, kommen auch Sie zu einer richtigen Bewertung.

Aber, liebe Frau Kollegin, da Sie gerade Kinder angesprochen haben und aus Schleswig-Holstein kommen, nehme ich auch wieder die Gelegenheit wahr, das Land Schleswig-Holstein aufzufordern, doch CDU-regierten Bundesländern nachzufolgen und endlich ein Landeserziehungsgeld einzuführen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge

-

ordneten der F.D.P.) Dann haben Sie die Möglichkeit, endlich etwas für Familien mit Kindern zu tun.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Ministerin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abge-ordneten Link?

Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren: Selbstverständlich.

Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Frau Bundesmi-nisterin, es ist doch richtig, daß dies der erste Alten-bericht überhaupt in der Bundesrepublik Deutschland ist. Die demographische Entwicklung war doch in den 70er Jahren auch schon erkennbar, als die SPD regierte.

(Lachen bei der SPD) Warum ist zu dieser Zeit kein Altenbericht erstellt worden?

Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren: Herzlichen Dank, Herr Kollege Link. Ich habe vorhin zwei Worte gebraucht: Alterslast und Überalterung. Diese beiden Worte waren für den Sprachgebrauch der Sozialdemokraten in der Ver-gangenheit immer typisch. Ich bin deshalb dieser Bundesregierung und meiner Vorgängerin, Frau Lehr, ausgesprochen dankbar, daß die Situation der älteren Menschen endlich einmal deutlich gemacht wird, daß ihre Kompetenz dargestellt werden kann, daß auch klar gezeigt wird, welche Lebensleistung — und wir werden bei der Pflegeversicherung ja auch darauf noch zu sprechen kommen — sie erbracht haben, daß wir endlich ein reales Altersbild haben und auch endlich über die Situa tion der alten Men-schen diskutieren können — auch über ihre Renten-situation, die sich seit 1982 so erheblich verbessert hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Ministerin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Höll?

Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren: Aber selbstverständlich. Ich darf jedoch noch einmal sagen, Frau Präsidentin: Jetzt sind es nur noch fünf Minuten, die ich hier habe. Ich habe den Eindruck, daß mir doch die Zeit irgendwo angerech-net wird.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Nein, die steht hier still .

(Zuruf von der SPD: Die Zeit steht sti ll? — Heiterkeit im ganzen Hause)

— Die Zeit steht still . Frau Höll, bitte.

Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Frau Ministerin, gestatten Sie bitte die Frage, ob ich Ihre Antwort auf die Frage der Kollegin Blunck so verstehen kann, daß Sie entgegen den bisherigen Handlungen der Bun-desregierung noch darauf hinwirken werden, daß ein Armutsbericht der Bundesregierung erstellt wird.

Vielleicht ist es Ihnen dann auch möglich, in diesem Zusammenhang z. B. zu begründen, warum es in den neuen Bundesländern dazu kommt, daß trotz der hohen Wertschätzung der älteren Bürgerinnen und Bürger, die Sie ja hier ausgedrückt haben, bei der Berechnung der Sozialhilfe kein Mehrbedarfszu-schlag für ältere Menschen gewährt wird.

Meinen Sie, im Rahmen dessen, was Sie bisher durch eine Aktion mit Plakaten, auf denen man sehr großflächig ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger sieht, getan haben, einen Wandel in der Gesellschaft erreichen zu können, was ich doch sehr bezweifle?

Es würde mich dann auch sehr interessieren, ob es Ihnen möglich wäre, bei Ihrem Beispiel der Rentenbe-rechnung, das für einige Menschen zutreffend ist, aber doch auch mit zur Kenntnis zu nehmen, —

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Höll, das wird zu lang. Eine Frage, bitte!

Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): — das ist jetzt der Abschluß —, daß dort Rentenrecht in politisches Strafrecht verwandelt worden ist. Und was ist mit den Renten, die prinzipiell auf 801 DM begrenzt sind?

Ich danke.

Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren: Frau Kollegin Höll, Sie sind ja im Ausschuß für Familie und Senioren, und deshalb müßten sich eigentlich einige Fragen, die Sie hier gestellt haben, von selbst beantworten, weil die ja nun immer auch Thema des Ausschusses sind. Ich werde heute hier keine Sozialhilfediskussion führen, obwohl ich dies sehr gerne tue und wir diese Diskussion auch zu einem anderen Zeitpunkt hier im Plenum durchaus mit Ihnen führen werden. Sie kennen die Sozialhilfe-zahlen für die alte Bundesrepublik und für die neuen Bundesländer. Ich bin ganz sicher, auch derjenige, der in den neuen Bundesländern Sozialhilfe zusätzlich zu seiner Rente bezieht, hat damit einen angemessenen Lebensspielraum.

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18292 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Bundesministerin Hannelore Rönsch

Aber jetzt noch einmal zu der von Ihnen immer wieder erwähnten Plakataktion. Ich würde Ihnen empfehlen, doch einmal mit älteren Menschen zu reden.

(Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste])

— Das ist kein verkehrter Vorschlag, Frau Kollegin. Man sollte öfter gerade mit älteren Menschen reden.

(Liselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Wir tun es — im Gegensatz zu Ihnen! — Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Sie sollten mit

den Leuten reden!)

— Sie sehen vielleicht, wie oft ich besonders in den neuen Bundesländern bin. Ich würde das an Ihrer Stelle doch einmal zur Kenntnis nehmen. Dann wür-den Sie erkennen, daß sich alte Menschen auf diesen Plakaten wiedergefunden haben. Sie wollen nicht als inkompetent und debil hingestellt werden, sondern sie wollen genau das an die junge Generation weiter-geben, auf das ich später gern noch zu sprechen kommen würde.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ältere Menschen sind mit ihrer Wohnsituation durchweg zufriedener als jüngere; sie wünschen sich auch keine gravierenden, weil für sie natürlich belastenden Ver-änderungen ihrer Wohnverhältnisse. Der Altenbe-richt verweist jedoch auf die nach wie vor problema-tische Wohnsituation älterer Menschen in den neuen Bundesländern. Bedenkt man, daß ältere Menschen oft vier Fünftel des Tages oder mehr in der Wohnung verbringen, ist rasche Abhilfe zwingend geboten. Neben den Instrumenten des sozialen Wohnungsbaus sehe ich hier besonders eine Aufgabe der Kommunen, der Architekten und Städteplaner, die Bautätigkeit so zu steuern, daß die Belange der älteren Menschen wesentlich stärker berücksichtigt werden. Mit Ver-ordnungen zum „barrierefreien Wohnen" hat der Bund die gesetzgeberischen Grundlagen geschaffen; sie müssen nun wirksam umgesetzt werden.

In der Altenhilfe sind gerade in den letzten Jahren seit der Wiedervereinigung wesentliche Fortschritte erzielt worden. Hier bitte ich ganz einfach die Kolle-ginnen von der PDS, auch einmal Sozialstationen zu besuchen.

(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Machen wir ja!)

— Dann haben Sie endlich einmal etwas Neues dazugelernt, denn diese Sozialstationen gab es, Frau Kollegin, in der alten DDR nicht. Wir mußten 900 So-zialstationen einrichten, um die ambulante Versor-gung alter Menschen endlich sicherzustellen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie wurden in den vergangenen Jahren zu Hause nicht so betreut, wie das jetzt möglich ist. Ich muß sagen, das ist eine sehr stolze Leistungsbilanz.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rie-gert?

Klaus Riegert (CDU/CSU): Frau Ministerin, Sie haben gerade die Sozialstationen angesprochen. Das ist nun ein Feld, in dem die Länder die Zuständigkeit haben. Wie sieht es auf diesem Gebiet in den alten Bundesländern und insbesondere in den Bundeslän-dern, die von der SPD geführt sind, aus?

(Lachen bei der SPD)

Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren: Wir haben die Sozialstationen in den neuen Bundesländern nach demselben Personen-schlüssel aufgebaut, wie gesagt, eine Anzahl von jetzt 900. Ich würde mir wünschen, daß in die in den alten Bundesländern schon seit vielen Jahren bestehenden Sozialstationen, seinerzeit initiiert von Heiner Geißler — begonnen in Rheinland-Pfalz, dann auch von sozialdemokratisch geführten Bundesländern über-nommen —, zusätzlich Kurzzeitpflegeeinrichtungen und Tagespflegekliniken installiert würden, damit diejenigen, die zu Hause Pflegeleistungen erbringen, auch die Möglichkeit haben, die zu Pflegenden ein-mal für kurze Zeit, vielleicht während einer Krankheit des Pflegenden, unterzubringen oder in der Tages-pflege unterstützende Hilfe zu erhalten.

(Zustimmung der Abg. Cornelia Schmalz- Jacobsen [F.D.P.])

Hier haben die alten Bundesländer noch ein erhebli-ches Defizit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben jetzt über die ambulante Versorgung gespro-chen. Was mich aber besonders bedrückt — da würde ich die beiden Damen von der PDS einmal bitten zuzuhören —

(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Wenn Sie etwas zu sagen hätten!)

ist die Situation der alten Menschen in den Alten- und Pflegeeinrichtungen in den neuen Bundesländern. Hier haben wir eine Erblast aus der alten DDR übernommen, die mir im Innern immer noch ausge-sprochen bitter ist. Nur 10 % der Häuser, in denen alte, pflegebedürftige und behinderte Menschen unterge-bracht sind, sind nach unserem Standard, nach der Heimmindestbauverordnung, auch in Zukunft ver-wendbar.

(Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste] — Gegenruf von der CDU/CSU: Was

sagen Sie nun?)

— Hier muß ich Ihnen sagen, liebe Frau Kollegin Hö ll: Gehen Sie einmal in ein Altenpflegeheim, wenn Sie sich hineintrauen! Sehen Sie, was man zu DDR-Zeiten den alten Menschen dort angetan hat, wie man sie untergebracht hat!

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir konnten bisher ganz Erhebliches verbessern, aber es reicht noch nicht aus. Hier sind die Bundes-länder insgesamt gefordert, sind die neuen Bundes-länder gefordert, ihrer Aufgabe nachzukommen; denn wir dürfen alte Menschen nicht auf eine bessere

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18293

Bundesministerin Hannelore Rönsch

Zukunft verweisen. Sie haben 40 Jahre in der DDR leben müssen,

(Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste])

hatten keine Möglichkeit, dieses Land zu verlassen, und jetzt müssen wir diesen alten Menschen noch eine Perspektive in einer angenehmen Umgebung ge-ben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, mir läuft die Zeit davon.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zurufe von der SPD: Ja! Das ist

wahr!)

— Das geht Ihnen ganz genauso wie mir; denn, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir alle werden älter. Wenn ich zu Beginn gesagt habe, daß auch Sie später irgendwann zur Klientel der Seniorenministe-rin gehören werden, dann trifft es den einen früher und den anderen ein wenig später.

(Zuruf des Abg. Peter Conradi [SPD])

— Herr Kollege Conradi, wir haben uns in diesem Hause schon darüber unterhalten.

Lassen Sie mich zum Abschluß noch auf eine Personengruppe aufmerksam machen, die bei uns in der Bundesrepublik Deutschl and lebt und die Bundes-republik Deutschland mit aufgebaut hat. Ende 1991 lebten in Deutschland rund 300 000 Ausländer im Alter von 60 und mehr Jahren. Ihre Zahl wird voraus-sichtlich bis zum Jahr 2010 auf rund 1,3 Millionen und bis zum Jahr 2030 auf 2,8 Millionen ansteigen. Die ausländischen Senioren sind damit die am stärksten anwachsende Bevölkerungsgruppe in der Bundesre-publik.

Genauso, wie wir Antworten auf die unterschiedli-chen Bedürfnisse der älteren deutschen Mitbürger finden müssen, müssen wir uns dieser Senioren, dieser älteren Arbeitnehmer aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen annehmen. Wir müssen Angebote schaffen und ausbauen, und den Vorstellungen der älteren Ausländer in Deutschland müssen wir auch an ihrem Lebensabend gerecht werden. Hier müssen wir helfen.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie des Abg. Konrad Weiß [Berlin] [BÜND

-NIS 90/DIE GRÜNEN])

Es sind dies viele Gastarbeiter der ersten Stunde. Sie haben viele Jahre und oft Jahrzehnte an der Schaffung des Wohlstandes der Bundesrepublik Deutschland mitgewirkt, sie haben dazu beigetragen, und sie haben auch mitgeholfen, daß wir die Wieder-vereinigung so bewältigen konnten. Sie haben damit Immenses für uns alle geleistet.

Viele von ihnen, vor allem Männer, kamen ja ursprünglich aus den Heimatländern mit einer Rück-kehroption. Sie wollten einige Jahre hier in der Bundesrepublik arbeiten und leben und dann wieder in ihr Heimatland zurück. Aber die Lebensrealität hat

sich in der Zwischenzeit für viele erheblich geändert. Sie haben die Familien nachgeholt, oft sind Kinder hier geboren, und viele haben hier in der Bundesre-publik jetzt schon Enkel.

Auch die Bindung an die Heimat, auch die soziale Absicherung in der Heimat ist nicht mehr vorhanden. Jetzt gilt es, diesen alt werdenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die aus anderen Kulturen kommen, bei uns eine neue Heimat zu schaffen. Ich denke, daß es unsere zwingende Aufgabe ist, auch ihren Kulturen gerecht zu werden. Wir müssen in der Politik darauf eingehen, denn gerade im Alter müssen wir solida-risch zu ihnen stehen. Deshalb werden die Belange der älteren Ausländer künftig auch in der Senioren-politik der Bundesregierung eine ganz maßgebliche Rolle spielen.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ich habe in einem ersten Informationsgespräch mit Vertretern von Selbsthilfegruppen älterer Ausländer über die spezifischen Bedürfnisse, über die Schwierig-keiten diskutiert, und wir werden diesen Dialog fort-setzen. Im Rahmen des Bundesaltenplans fördert mein Haus schwerpunktmäßig Projekte zur Entwicklung neuer Wege in der Altenarbeit und der Altenhilfe für ausländische Senioren.

Exemplarisch will ich nur eine Altentagesstätte in Mannheim nennen, die speziell für ältere Türken eingerichtet worden ist. Sie trägt der Idee Rechnung, daß sich die Politik für ältere Ausländer an deren ureigensten kulturellen, sprachlichen und religiösen Vorstellungen orientieren muß. Sie muß den unter-schiedlichen ethnischen Prägungen gerecht werden, sie berücksichtigen und zugleich einen Prozeß der Integration in unsere Gesellschaft bewirken und fördern. Dies ist jedoch nur auf der Basis von gegen-seitigem Verständnis und Toleranz zu erreichen.

Seniorenpolitik, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist Zukunftsaufgabe, und wir alle in der Politik, in der Gesellschaft müssen die Rahmenbedin-gungen dafür schaffen, daß allen älteren Menschen in Deutschland heute und auch in Zukunft ein Alter in größtmöglicher Selbstbestimmung und Würde er-möglicht wird. Hierbei sind alle Ebenen, die Politik in Bund, Ländern und Gemeinden, aber auch alle gesell-schaftlichen Gruppierungen aufgefordert, sich dieser Aufgabe zu stellen. Dazu gehört, daß die Anliegen der Älteren wahrgenommen werden, daß mit ihnen der Dialog geführt wird und daß wir Wege beschreiten, um Bewährtes weiterzuentwickeln. Der Erste Alten-bericht der Bundesregierung zeigt, daß wir damit auf dem richtigen Weg sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Herren, bevor ich die Aussprache fortsetze, gebe ich das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag der Abgeordneten Gerster, Scharrenbroich, Kittelmann, Dr. Struck, Conradi und weiterer Abge-ordneter auf Drucksache 12/6767 bekannt. Abgege-bene Stimmen: 531. Mit Ja haben gestimmt 295, mit Nein haben gestimmt 226, Enthaltungen: 10.

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18294 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Endgültiges Ergebnis

Abgegebene Stimmen: 525; davon:

ja: 292

nein: 223

enthalten: 9

ungültig: 1

Ja

CDU/CSU

Dr. Ackermann, Else Austermann, Dietrich Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Bleser, Peter Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Buwitt, Dankward Carstensen (Nordstrand),

Peter Harry Clemens, Joachim Dehnel, Wolfgang Diemers, Renate Doss, Hansjürgen Eppelmann, Rainer Eylmann, Horst Falk, Ilse Fockenberg, Winfried Fritz, Erich G. Ganz (St. Wendel), Johannes Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Dr. Geißler, Heiner Dr. von Geldern, Wolfgang Gerster (Mainz), Johannes Gibtner, Horst Gres, Joachim Grotz, Claus-Peter Haungs, Rainer Hedrich, Klaus-Jürgen Dr. Hellwig, Renate Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Hintze, Peter Dr. Hornhues, Karl-Heinz Junghanns, Ulrich Kampeter, Steffen Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Kauder, Volker Kittelmann, Peter Dr. Köhler (Wolfsburg),

Volkmar Kossendey, Thomas Krey, Franz Heinrich Kriedner, Arnulf Kronberg, Heinz-Jürgen Dr. Lammert, Norbe rt Lehne, Klaus-Heiner Limbach, Editha Link (Diepholz), Walter Maaß (Wilhelmshaven), Erich Marienfeld, Claire Meckelburg, Wolfgang Molnar, Thomas Nitsch, Johannes Dr. Olderog, Rolf Otto (Erfurt), Norbe rt

Petzold, Ulrich Dr. Pflüger, Friedbert Pofalla, Ronald Pützhofen, Dieter Reinhardt, Erika Ringkamp, Werner Sauer (Stuttga rt ), Roland Schätzle, Ortrun Scharrenbroich, Heribert Schmalz, Ulrich Dr. Schmidt, Christa Schmidt (Mülheim), Andreas

Schmidt (Spiesen), Trudi Dr. Schockenhoff, Andreas Frhr. von Schorlemer,

Reinhard Schulhoff, Wolfgang Schwarz, Stefan Dr. Schwörer, Hermann Seesing, Heinrich Dr. Sprung, Rudolf Dr. Stercken, Hans Dr. Süssmuth, Rita Dr. Voigt (Northeim),

Hans-Peter Dr. Vondran, Ruprecht Wiechatzek, Gabriele Würzbach, Peter Ku rt

SPD

Adler, B rigitte Andres, Gerd Bachmaier, Hermann Barbe, Angelika Becker (Nienberge), Helmuth Bernrath, Hans Gottfried Beucher, Friedhelm Julius Bindig, Rudolf Blunck (Uetersen), Lieselott Bock, Thea Dr. Böhme (Unna), Ulrich Börnsen (Ritterhude), Arne Brandt-Elsweier, Anni Büchler (Hof), Hans Büchner (Speyer), Peter Dr. von Bülow, Andreas Büttner (Ingolstadt), Hans Bulmahn, Edelgard Caspers-Merk, Marion Catenhusen, Wolf-Michael Conradi, Peter Daubertshäuser, Klaus Dr. Diederich (Berlin), Nils Dr. Dobberthien, Marliese Dreßler, Rudolf Duve, Freimut Dr. Eckardt, Peter Dr. Ehmke (Bonn), Horst Eich, Ludwig Dr. Elmer, Konrad Erler, Gernot Esters, Helmut Ewen, Carl Ferner, Elke Formanski, Norbert

Fuchs (Köln), Anke Fuchs (Verl), Katrin Fuhrmann, Arne Ganseforth, Monika Gansel, Norbert Gilges, Konrad Gleicke, Iris Großmann, Achim Habermann, Michael Hämmerle, Gerlinde Hampel, Manfred Hanewinckel, Christel Hasenfratz, Klaus Dr. Hauchler, Ingomar Heyenn, Günther Hiller (Lübeck), Reinhold Hilsberg, Stephan Dr. Holtz, Uwe Horn, Erwin Huonker, Gunter Ibrügger, Lothar Iwersen, Gabriele Jäger, Renate Janz, Ilse Jaunich, Horst Dr. Jens, Uwe Jungmann (Wittmoldt), Horst

Kemper, Hans-Peter Kirschner, Klaus Klappert, Marianne Klemmer, Siegrun Klose, Hans-Ulrich Dr. Knaape, Hans-Hinrich Kolbe, Regina Kolbow, Walter Kretkowski, Volkmar Kubatschka, Horst Dr. Kübler, Klaus Dr. Küster, Uwe Kuhlwein, Eckart Lange, Brigitte von Larcher, Detlev Lennartz, Klaus Lörcher, Christa Lohmann (Witten), Klaus Dr. Lucyga, Christine Maaß (Herne), Dieter Marx, Dorle Mascher, Ulrike Matschie, Christoph Matthäus-Maier, Ingrid Meckel, Markus Mehl, Ulrike Meißner, Herbert Dr. Mertens (Bottrop),

Franz-Josef Dr. Meyer (Ulm), Jürgen Mosdorf, Siegmar Müller (Düsseldorf), Michael Müller (Pleisweiler), Albrecht Müller (Zittau), Christian Dr. Niehuis, Edith Dr. Niese, Rolf Odendahl, Doris Oesinghaus, Günter Oostergetelo, Jan Palis, Kurt Paterna, Peter Dr. Penner, Wilfried Peter (Kassel), Horst Dr. Pick, Eckhart Poß, Joachim Reimann, Manfred Rennebach, Renate Reschke, Otto Reuschenbach, Peter W. Reuter, Bernd Rixe, Günter Schanz, Dieter Dr. Scheer, Hermann Schily, Otto Schloten, Dieter Schluckebier, Günter Schmidbauer (Nürnberg),

Horst Schmidt (Aachen), Ursula Schmidt (Nürnberg), Renate Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Schmidt-Zadel, Regina Dr. Schnell, Emil Schöler, Walter Schreiner, Ottmar Schröter, Karl-Heinz Schwanhold, Ernst Seidenthal, Bodo Seuster, Lisa Singer, Johannes Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid Dr. Soell, Hartmut Sorge, Wieland Dr. Struck, Peter Tappe, Joachim Thierse, Wolfgang Titze-Stecher, Uta Toetemeyer, Hans-Günther Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, Siegfried Verheugen, Günter Voigt (Frankfurt), Karsten D.

Wagner, Hans Georg Wallow, Hans Walter (Cochem), Ralf Walther (Zierenberg), Rudi Wartenberg (Berlin), Gerd Dr. Wegner, Konstanze Weiler, Barbara Weis (Stendal), Reinhard Weisheit, Matthias Weißgerber, Gunter Weisskirchen (Wiesloch), Gert Welt, Jochen Dr. Wernitz, Axel Wester, Hildegard Dr. Wetzel, Margrit Weyel, Gudrun Wiefelspütz, Dieter Wittich, Berthold Wohlleben, Verena Zapf, Uta

F.D.P.

Albowitz, Ina Baum, Gerhart Rudolf Bredehorn, Günther van Essen, Jörg Dr. Feldmann, Olaf Funke, Rainer Dr. Funke-Schmitt-Rink,

Margret Genscher, Hans-Dietrich Grüner, Martin Günther (Plauen), Joachim Dr. Guttmacher, Karlheinz Hansen, Dirk Homburger, Birgit Dr. Hoyer, Werner Irmer, Ulrich Dr. Kolb, Heinrich L. Lüder, Wolfgang Lühr, Uwe Möllemann, Jürgen W. Otto (Frankfurt),

Hans-Joachim Parr, Detlef Peters, Lisa Richter (Bremerhaven),

Manfred Schmalz-Jacobsen, Cornelia Schmidt (Dresden), Arno Dr. Schmieder, Jürgen Schüßler, Gerhard Sehn, Marita Seiler-Albring, Ursula Dr. Semper, Sigrid Thiele, Carl-Ludwig Türk, Jürgen Dr. Weng (Gerlingen),

Wolfgang Wolfgramm (Göttingen),

Torsten Zurheide, Burkhard

PDS/Linke Liste

Bläss, Petra Dr. Enkelmann, Dagmar Dr. Gysi, Gregor Dr. Heuer, Uwe-Jens Dr. Höll, Barbara Jelpke, Ulla Dr. Keller, Dietmar Lederer, Andrea Dr. Modrow, Hans Philipp, Ingeborg Stachowa, Angela

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18295

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Poppe, Gerd Schenk, Christina Schulz (Berlin), Werner Dr. Ullmann, Wolfgang Weiß (Berlin), Konrad Wollenberger, Vera

Fraktionslos

Dr. Briefs, Ulrich

Nein

CDU/CSU

Adam, Ulrich Dr. Altherr, Walter Franz Augustinowitz, Jürgen Bargfrede, Heinz-Günter Dr. Bauer, Wolf Baumeister, Brigitte Belle, Meinrad Blank, Renate Dr. Blens, Heribert Dr. Blüm, Norbert Böhm (Melsungen), Wilfried Dr. Bötsch, Wolfgang Bohl, Friedrich Borchert, Jochen Brähmig, Klaus Breuer, Paul Brunnhuber, Georg Büttner (Schönebeck),

Hartmut Carstens (Emstek), Manfred Dempwolf, Gertrud Deres, Karl Deß, Albert Dr. Dregger, Alfred Echternach, Jürgen Ehlers, Wolfgang Eichhorn, Maria Engelmann, Wolfgang Erler (Waldbrunn), Wolfgang Eymer, Anke Dr. Faltlhauser, Kurt Feilcke, Jochen Dr. Fell, Karl H. Fischer (Hamburg), Dirk Fischer (Unna), Leni Frankenhauser, Herbert Dr. Friedrich, Gerhard Fuchtel, Hans-Joachim Geiger, Michaela Glos, Michael Dr. Göhner, Reinhard Göttsching, Martin Götz, Peter Dr. Götzer, Wolfgang Dr. Grünewald, Joachim Günther (Duisburg), Horst Harries, Klaus Haschke (Großhennersdorf),

Gottfried Hasselfeldt, Gerda Hauser (Esslingen), Otto Hauser (Rednitzhembach),

Hansgeorg Heise, Manfred Dr. Herr, Norbert

Hiebing, Maria Anna Hinsken, Ernst Hörsken, Heinz-Adolf Hörster, Joachim Dr. Hoffacker, Paul Hornung, Siegfried Jäger, Claus

Jaffke, Susanne Dr. Jahn (Münster),

Friedrich-Adolf Janovsky, Georg Jeltsch, Karin Dr. Jobst, Dionys Dr.-Ing. Jork, Rainer Dr. Kahl, Harald Karwatzki, Irmgard Kiechle, Ignaz Klein (Bremen), Günter Klein (München), Hans Klinkert, Ulrich Köhler (Hainspitz),

Hans-Ulrich Dr. Kohl, Helmut Koschyk, Hartmut Kraus, Rudolf Krause (Dessau), Wolfgang Dr.-Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner Lamers, Karl Lamp, Helmut Dr. Laufs, Paul Laumann, Karl-Josef Dr. Lehr, Ursula Lenzer, Christian Dr. Lieberoth, Immo Dr. Lippold (Offenbach),

Klaus W. Dr. Lischewski, Manfred Löwisch, Sigrun Lohmann (Lüdenscheid),

Wolfgang Louven, Julius Lummer, Heinrich Dr. Luther, Michael Magin, Theo Dr. Mahlo, Dietrich Marschewski, Erwin Marten, Günter Dr. Mayer (Siegertsbrunn),

Martin Meinl, Rudolf Dr. Meyer zu Bentrup,

Reinhard Michalk, Maria Dr. Möller, Franz Dr. Müller, Günther Müller (Wadern),

Hans-Werner Dr. Neuling, Christian Neumann (Bremen), Bernd Niedenthal, Erhard Nolte, Claudia Ost, Friedhelm Oswald, Eduard Dr. Päselt, Gerhard Dr. Paziorek, Peter Pfeifer, Anton Pfeiffer, Angelika Dr. Pfennig, Gero Dr. Pohler, Hermann Priebus, Rosemarie Dr. Probst, Albert Raidel, Hans Dr. Ramsauer, Peter Rau, Rolf Rauen, Peter Harald Rawe, Wilhelm Reddemann, Gerhard Regenspurger, Otto Reichenbach, Klaus Dr. Reinartz, Bertold Dr. Rieder, Norbert Dr. Riedl (München), Erich Riegert, Klaus Dr. Riesenhuber, Heinz Rode (Wietzen), Helmut Rönsch (Wiesbaden),

Hannelore Romer, Franz

Dr. Rose, Klaus Rossmanith, Kurt J. Roth (Gießen), Adolf Rother, Heinz Dr. Ruck, Christian Rühe, Volker Dr. Rüttgers, Jürgen Sauer (Salzgitter), Helmut Dr. Schäuble, Wolfgang Schell, Manfred Schemken, Heinz Scheu, Gerhard Schmidt (Fürth), Christian Graf von Schönburg -

Glauchau, Joachim Dr. Scholz, Rupe rt Dr. Schulte (Schwäbisch

Gmünd), Dieter Schulz (Leipzig), Gerhard Schwalbe, Clemens Seehofer, Horst Seiters, Rudolf Sikora, Jürgen Sothmann, Bärbel Spilker, Karl-Heinz Spranger, Carl-Dieter Steinbach, Erika Stockhausen, Karl Strube, Hans-Gerd Stübgen, Michael Susset, Egon Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Verhülsdonk, Roswitha Vogel (Ennepetal), Friedrich Vogt (Düren), Wolfgang Dr. Waffenschmidt, Horst Dr. Waigel, Theodor Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warrikoff, Alexander Werner (Ulm), Herbert Wetzel, Kersten Dr. Wilms, Dorothee Wilz, Bernd Wimmer (Neuss), Willy Dr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, Matthias Dr. Wittmann, Fritz Wittmann (Tännesberg),

Simon Wonneberger, Michael Wülfing, Elke Yzer, Cornelia Zeitlmann, Wolfgang Zöller, Wolfgang

SPD

Dr. Brecht, Eberhard Diller, Karl Ebert, Eike Fischer (Homburg), Lothar Graf, Günter Hacker, Hans-Joachim Heistermann, Dieter Dr. Janzen, Ulrich Kastner, Susanne Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Neumann (Gotha), Gerhard

Purps, Rudolf Rappe (Hildesheim),

Hermann Schwanitz, Rolf Dr. Sperling, Dietrich Weiermann, Wolfgang Dr. de With, Hans

F.D.P.

Dr. Babel, Gisela Beckmann, Klaus Dr. Blunk (Lübeck), Michaela Cronenberg (Arnsberg),

Dieter-Julius Engelhard, Hans A. Friedhoff, Paul K. Friedrich, Horst Dr. Hirsch, Burkhard Dr. Hitschler, Walter Dr. Hoth, Sigrid Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Mischnick, Wolfgang Nolting, Günther Friedrich Dr. Ortleb, Rainer Paintner, Johann Rind, Hermann Dr. Röhl, Klaus Dr. Solms, Hermann Otto Dr. Thomae, Dieter Würfel, Uta

Fraktionslos

Dr. Krause (Bonese), Rudolf Karl

Lowack, Ortwin

Enthalten

CDU/CSU

Augustin, Anneliese Bierling, Hans-Dirk Hüppe, Hubert Dr. Jüttner, Egon Dr.-Ing. Schmidt

(Halsbrücke), Joachim

SPD

Steiner, Heinz-Alfred

F.D.P.

Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine

Walz, Ingrid

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Dr. Feige, Klaus-Dieter

Der Antrag ist angenommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der F.D.P., der PDS/Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ulrich Briefs [fraktionslos] — Zuruf

von der SPD: Wir haben Mut bewiesen!)

Nach diesem Beifall setze ich die Aussprache fort. Als nächste spricht unsere Kollegin Arne Fuhrmann. — Entschuldigung, als nächster spricht unser Kollege

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18296 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth

Arne Fuhrmann. Heute verwandele ich alle Männer in Frauen.

(Heiterkeit — Zuruf von der SPD: Dann müssen wir die Quote ändern!)

Ame Fuhrmann (SPD): Sehr geehrte Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde das wunder-schön — zweimal heute! Ich habe einen Bruder, der Eike heißt. Ich selbst heiße Arne. Es paßt also.

Bevor ich mit meinem eigentlichen Konzept beginne, Frau Rönsch, möchte ich gerne auf zwei Ihrer Zitate zurückkommen. Das eine ist natürlich falsch; denn die Klientel der Älterwerdenden wächst nicht Ihnen politisch zu, sondern selbstverständlich bis zum 16. Oktober den Sozialdemokraten und danach Ihrer Nachfolgerin oder Ihrem Nachfolger.

Das zweite Zitat, auf das ich gerne eingehen möchte, ist folgendes: Sie haben völlig zu Recht gesagt, die Zeit läuft Ihnen davon. Das merkt man auch an der Art und Weise, wie Sie den Ersten Altenbericht der Bundesregierung heute dargestellt und erläutert haben.

(Walter Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Sie lau- fen hinter der Zeit her!)

— Nicht immer zeigt des Brüllers Sinn auf seine Cleverness stets hin, Herr Kollege Link.

(Beifall bei der SPD)

Das sollten Sie sich irgendwann auch zu eigen machen. Dann würden Sie sich möglicherweise das eine oder andere ersparen.

(Walter Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Darauf antworte ich nachher!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Altern hat Zukunft. Ich sage das hier nicht etwa deshalb, weil ich Reklame für das Buch meines Fraktionsvorsitzenden machen will — das im Grunde genommen für sich selbst spricht; denn es ist hervorragend —, sondern ich sage es deshalb, weil es so ist. Als Vorsitzender der Enquete -Kommission „Demographischer Wandel" muß ich es im Grunde genommen wissen; denn in der Kommission beschäftigt uns dieses Thema mm auch schon seit über einem Jahr sehr intensiv.

Es scheint, daß auch die Bundesregierung dieser Meinung anhängt; denn schließlich ist der heute vorgelegte Altenbericht ein Novum. Während die Jugend bereits achtmal und die Familie viermal Gegenstand eines Regierungsberichts war, erfährt die ältere Generation heute erstmals die ihr gebührende Aufmerksamkeit zumindest durch die Vorlage eines Berichts im Deutschen Bundestag.

(Zuruf von der SPD: Und das nach der langen Zeit der CDU-Regierung!)

— Nach zwölf Jahren immerhin eine stramme Lei-stung! Ich möchte das ausdrücklich würdigen, meine Damen und Herren von der Regierung; denn es ist höchste Zeit, mehr über die Lebensbedingungen von mehr als einem Fünftel der Bevölkerung zu erfahren. Ich will die Zahlen der zukünftigen Altengeneration und die Bedeutung der Über-60-jährigen nicht wie-derholen. Sie sind ausreichend bekannt. Wir Sozialde

-

mokraten können von uns behaupten, frühzeitig auf die Auswirkungen des demographischen Wandels hingewiesen und im Grunde die Einsetzung der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" vorangetrieben zu haben.

Wie wir während der bisherigen Arbeit in der Enquete-Kommission feststellen konnten, enthält der von der Expertenkommission der Regierung vorge-legte Bericht eine Fülle wichtiger Informationen, Zah-len, Aussagen zur Situation der Älteren. Er beschreibt den Ist-Zustand und ist insofern eine gute Grundlage für die von unserer Kommission zu leistende Arbeit der Bewertung der Konsequenzen des demographi-schen Wandels bis zum Jahre 2030.

Es läßt sich mit Fug und Recht behaupten, daß mit der Einsetzung unserer Kommission und den Aktivi-täten im Zusammenhang mit dem Europäischen Jahr der älteren Generation und der Solidarität der Gene-rationen untereinander die Altenpolitik erst richtig an Gewicht gewonnen hat.

Bedauerlich ist, daß bislang weder das Ministerium für Familie und Senioren noch die Bundesregierung in ihren Stellungnahmen zum Bericht der Expertenkom-mission wesentlich neue oder zukunftsorientierte Gedanken formuliert haben. Sie betonen in ihrer Situationsbeschreibung immer wieder die kontinuier-liche Verbesserung der wirtschaftlichen, der gesund-heitlichen und der sozialen Lage der Älteren in den letzten Jahrzehnten. Das ist im Grunde genommen eine Selbstverständlichkeit, und es wäre auch sehr verwunderlich, wenn es anders wäre; denn schließlich sind sie — die Alten nämlich, die in den letzten zehn Jahren in diese Lebensphase eingetreten sind —diejenigen, die diese Republik nach dem Krieg mit aufgebaut haben, die in der Regel auf ein langes und intensives Arbeitsleben zurückblicken können und deren soziale und gesundheitliche Versorgung sich wesentlich von der ihrer Eltern unterscheidet. Das ist gut so, und das muß im Grunde auch noch besser werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren in der Bundesregierung! Ich finde es aber, gelinde gesagt, ein bißchen unnötig, wenn nicht gar störend, wenn Sie im Altenbericht die älteren Menschen sozusagen mit erhobenem Zeigefinger auf die richtige Verwendung von Arzneimitteln hinweisen, wo Sie doch anderer-seits die Förderung der Selbständigkeit und der gesellschaftlichen Beteiligung der älteren Menschen zum Ziel Ihrer Altenpolitik erklären.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist eine Frage des Stils und im Grunde auch der Einstellung gegenüber der Mündigkeit der Bürgerin-nen und Bürger in diesem Land. Hier sollte statt der Verschreibungspraxis der behandelnden Ärzte eher einmal angesprochen werden, wie die denn mit der Klientel der Älteren umgehen. Ihr Kollege, Herr Seehofer, hat das Problem erkannt und einen ersten Versuch unternommen, es in den Griff zu bekommen. Ich denke, darüber zu diskutieren — auch im Zusam-menhang mit dem Altenbericht — wäre sicher sinn-voller.

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18297

Arne Fuhrmann

Die Förderung der Selbständigkeit scheint mir überhaupt der wunde Punkt in Ihrer Selbstdarstellung zu sein. Hier klaffen für bestimmte Gruppen der Gesellschaft, namentlich auch unter den älteren Men-schen, Anspruch und Wirklichkeit auseinander.

Ich frage die Bundesregierung in diesem Zusam-menhang, wie denn die Förderung der Selbständig-keit mit der immer stärker werdenden Tendenz zur Frühverrentung älterer Arbeitnehmer in den Betrie-ben zu vereinbaren ist. Die Koalition erleichtert den Arbeitgebern mit immer neuen Ausnahmeregelun-gen die Ausgrenzung der älteren Kolleginnen und Kollegen, und Sie wissen ja selbst, daß dies in der Regel mit einer niedrigeren Rente verbunden ist.

Wir, die Sozialdemokraten, haben dafür — wenn denn ein Personalabbau unvermeidlich ist — eine solidarische Umlagefinanzierung durch die Arbeitge-ber, ausgenommen die Kleinbetriebe, vorgeschlagen, und wir halten das nach wie vor für die richtigere Politik.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

— Frenetischer Beifall bei meiner Fraktion, danke.

In Ihrer Stellungnahme zur wirtschaftlichen Situa-tion der Älteren betonen Sie den Ausnahmecharakter von Altersarmut, und Sie verweisen auf den Rück-gang des Anteils der Älteren unter den Sozialhil-feempfängern von 20 % auf derzeit 8 %. Sie gestehen gleichzeitig zu, daß sich die absolute Zahl lediglich von 170 000 auf 150 000 reduziert habe. Das kann doch im Klartext nur bedeuten, daß sich die Armut ausweitet, nämlich auf die verschiedensten Bevölke-rungsgruppen, damit auch und selbstverständlich auf zukünftig Ältere.

(Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cro

-

nenberg)

Nimmt man diejenigen, die den Gang zum Sozial-amt scheuen — aus Scham, Angst oder weil sie einfach schlecht informiert sind — dazu, so sind ungefähr 250 000 bis 300 000 Rentnerhaushalte in Deutschland sozialhilfebedürftig oder sozialhilfeabhängig. Jede vierte alleinstehende alte Frau ist arm. Diesen Men-schen versprechen Sie in einem kurzen Nebensatz Ihre „besondere Aufmerksamkeit" .

Besonders deutlich wird dies, wenn wir die Situa-tion der Rentner in den neuen Bundesländern betrachten. Dort war beispielsweise der Anteil der alleinerziehenden und nicht verheirateten Frauen größer als in den alten Bundesländern.

Die Übernahme des westdeutschen Rentenrechts und die damit verbundene Abschaffung der zuvor bestehenden eigenständigen Alterssicherung der Frau haben für diese Frauen, die keinerlei Hinterblie-benenansprüche erlangen können, keine Verbesse-rung, sondern die Perspektive eines auf Sozialhilfe angewiesenen Lebensabends eröffnet.

Da hilft es auch wenig, wenn Sie dieses Kind anschließend „Sozialzuschlag" nennen. Tatsache bleibt, daß Hunderttausende von Frauen auf diesen Zuschlag dringend angewiesen sind, um mit den steigenden Lebenshaltungskosten Schritt zu halten.

Was soll man da von der Bemerkung halten, daß — wieder Zitat — „diejenigen, denen Sozialhilfe

zusteht, diese zunehmend auch als Rechtsanspruch für sich beantragen"? Sollen wir das etwa für einen Fortschritt halten?

Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß das Problem der Altersarmut nicht in der Sozialhilfe, sondern in der Rentenversicherung gelöst werden muß.

(Beifall bei der SPD)

Wir fordern deshalb eine soziale Grundsicherung im Alter und bei Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit und sehen damit keineswegs das Leistungsprinzip und unser im großen und ganzen bewährtes Rentensystem gefährdet.

Als ein weiteres Ziel der Altenpolitik formuliert die Regierung die Angleichung der Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland. Das war bereits Ziel des Einigungsvertrages und bedarf im Grunde an dieser Stelle keiner besonderen Erwähnung. Wenn ich mir allerdings die Situation der nächsten Altengeneration in den neuen Bundesländern, also der heute 50- bis 60jährigen ansehe, dann stellt sich die Frage, wie dieses Ziel erreicht werden soll.

Viele Menschen dieser Generation werden auf Grund der aktuellen Arbeitsmarktprobleme nur eine lückenhafte Erwerbsbiographie aufweisen. Vermö-gen konnten in den letzten Jahrzehnten nur beschei-den angehäuft werden. Hier tickt eine soziale Zeit-bombe, über die wir uns heute Gedanken machen müssen. Aber da diese Menschen noch nicht zu den Älteren gehören, kommen sie in der Stellungnahme der Bundesregierung eben nicht vor. Ich kann Ihnen jedoch versprechen, dieses Thema werden wir in der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" mit besonderer Aufmerksamkeit behandeln.

Vieles von dem, was die Regierung im Bereich der Verbesserung der sozialen Infrastruktur für Altere als notwendig erachtet, wird von uns geteilt: Verbes-serungen auf der kommunalen Ebene bei aktivieren-den und rehabilitativen Angeboten, Ausweitung des Angebots an Tages- und Kurzzeitpflegeeinrichtun-gen, Vernetzung und Koordination der Hilfsdienste und eine Ausweitung der hauswirtschaftlichen Hilfen. Damit gehen wir d'accord.

Nun erklären Sie aber einmal, wie dieses löbliche Vorhaben mit folgender Tatsache zusammenzubrin-gen ist: Die Bundesanstalt für Arbeit hat im zweiten Halbjahr 1993 die Mittel zur Förderung von Umschu-lungsmaßnahmen zum Beruf des Altenpflegers/der Altenpflegerin drastisch reduziert. Gut die Hälfte derer, die diesen Beruf ergreifen wollen, sind Umschüler. Das sind häufig Menschen, die eine sehr bewußte Entscheidung für diesen Beruf auf Grund ihrer biographischen Erfahrungen ge troffen haben.

Angesichts der absehbaren Bedarfe an qualifizier-ten Fachkräften für die Altenpflege — dabei muß man an die veränderte Heimpersonalverordnung vom 19. Juli 1993 erinnern — besteht hier eindeutig ein arbeitsmarktpolitisches Interesse, dieses Berufsfeld zu entwickeln und zu fördern.

Das Land Hessen hat einen Entwurf dazu vorgelegt. Die Bundesregierung und insbesondere der Bundes-arbeitsminister als übergeordnete Instanz tragen die

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18298 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Arne Fuhrmann Verantwortung, wenn dringend benötigte qualifi-zierte Fachkräfte fehlen. Die Pflegeleistungen lassen sich gerade im ambulanten Bereich nicht allein von den zumeist mehrfach belasteten Frauen — Ehe-frauen, Töchtern, Schwiegertöchtern — erbringen.

Im Grunde sollten Sie froh sein, daß die Nachfrage in diesem Berufsfeld zunimmt. Sie sollten nicht etwa auf dem Opferaltar für Herrn Waigel die Zukunft einer qualifizierten Ausbildung im Bereich der Pflege opfern.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren in der Koalition, ich habe in der Stellungnahme der Regie-rung vergeblich ein Wo rt zur Situation der älteren ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ge-sucht. Kann man daraus schließen, daß deren Lebens-lage mit denen der deutschen Bevölkerung überein-stimmt? Das kann ich mir eigentlich nicht vorstel-len.

Der Bericht der Sachverständigenkommission wid-met sich auf immerhin zwei Seiten diesem Thema, wirft allerdings die Aussiedler mit auf diese zwei Seiten. Hier liegt offenkundig ein Versäumnis vor.

Zwar war 1990 die Zahl der über 65jährigen Aus-länderinnen und Ausländer mit gut 150 000 noch gering, aber die Prognosen sehen einen starken Anstieg.

Wenn man sich überlegt, daß Altwerden in unserer Gesellschaft für jemanden, der aus einem anderen kulturellen Umfeld kommt, mit gänzlich anderen Problemen behaftet ist, als das für unsere deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger der Fall ist, dann frage ich mich — auch bei der finanziellen Belastung, die auf diese älter werdenden Ausländer zukommt —, warum dieses Thema im Altenbericht im Grunde nicht angesprochen wird.

Die Enquete-Kommission „Demographischer W an-del" wird sich sehr intensiv mit diesem Thema befas-

sen. Allerdings werden wir nicht pauschale Aussagen machen, sondern wir werden dieses Thema in dem endgültigen Bericht, der in der 13. Wahlperiode zu erarbeiten sein wird, dann auch vorlegen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, zum Schluß — und das ist einfach so — kann ich es mir nicht verkneifen, noch eine Bemerkung zum jüngsten steu-erpolitischen Vorstoß von Frau Ministerin Rönsch zu machen, in memoriam Kaiser Tibe rius, der bereits im Goldenen Zeitalter als Nachfolger von Augustus eine Strafsteuer für Kinderlosigkeit erließ, frei nach einer Devise, die er sich selbst gesetzt hat — „Geld stinkt nicht".

Glauben Sie im Ernst, Frau Rönsch, daß Sie mit einer Strafsteuer für Kinderlose irgendeinen Anreiz geben, die Geburtenrate zu erhöhen? Ist das überhaupt Ihre Absicht, oder ist das vielleicht ein wahlkampfpoliti-scher Fehlgriff?

Es kann doch nicht angehen, daß Sie einer 20jähri-gen ledigen Frisörin oder Krankenschwester noch tiefer in die Tasche greifen wollen, während Spitzen-verdiener — egal, ob mit oder ohne Kinder — gegen-über den Beziehern niedriger Einkommen auf jeden

Fall bessergestellt sind. Wollen Sie wirklich den Menschen, die keine Kinder bekommen können, weil es die Natur ihnen verwehrt oder weil sie vielleicht eine andere, Ihnen fremde sexuelle Veranlagung haben und deshalb nicht in einer gemischtgeschlecht-lichen Partnerschaft leben, eine weitere Diskriminie-rung aufbürden?

Wir schlagen Ihnen vor, unseren Vorschlägen zur Reform des Familienlastenausgleichs zu folgen, ein einheitliches Kindergeld zu schaffen, das ungerechte Ehegattensplitting abzuschaffen, darüber hinaus an

der Verbesserung der Bedingungen für die Familien in dieser Gesellschaft mitzuwirken und nicht die Bedingungen der Kinderlosen einseitig zu verschlech-tern, die Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie, Berufstätigkeit und Erziehung für Frauen und Männer zu schaffen, Wohnungen und Wohnumfeld familienfreundlich zu gestalten, die Umwelt, die wir im Grunde für unsere Kinder verwalten, zu schüt-zen.

Wenn wir das alles erledigen, dann werden wir ein Zusammenleben aller Generationen und eine Sicher-heit auch für das Älterwerden in Deutschland errei-chen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS/Linke Liste — Abg. Hans A. Engelhard [F.D.P.] begibt sich

zum Rednerpult)

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Entschul-digung, Herr Abgeordneter Engelhard, es ist zunächst einmal vorgesehen, daß die Abgeordnete Erika Rein-hardt sprechen soll, ist mir gerade mitgeteilt worden, und das sei Ihnen auch gesagt worden.

(Erika Reinhardt [CDU/CSU]: Sie können auch, Herr Kollege, wenn Sie zuerst spre

-

chen möchten!)

Bitte schön.

(Zuruf des Abg. Joachim Hörster [CDU/ CSU])

— Herr Kollege Hörster, wenn wir das dann klären könnten, weil ich dann doch in eine gewisse Verle-genheit komme, wenn ich mitgeteilt bekomme, das wäre in Übereinstimmung mit dem Abgeordneten Engelhard so vorgesehen.

Erika Reinhardt (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vor uns liegende erste deutsche Altenbericht ist kein Buch mit sieben Sie-geln, sondern ein gut fundierter Bericht mit Analysen und Aussagen zur Situation unserer älteren Mitbürger in Gesamtdeutschland, wobei sehr genau zwischen den jungen und alten Bundesländern differenziert wird.

(Zuruf von der SPD: Sie müssen ihn ja loben!)

— Nein, nein, er ist auch so gut. Er ist eine gute Grundlage für unsere Seniorenpolitik, und ich möchte allen danken, die daran gearbeitet haben, besonders der Sachverständigenkommission.

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18299

Erika Reinhardt

Der Bericht ist zugleich aber auch ein Erfolg des Ministeriums für Familie und Senioren. Die Senioren-politik hat durch dieses Ministerium ein eigenes Profil erhalten, und es wird ebenfalls deutlich, daß diese Bundesregierung ein Schwergewicht auf ihre Senio-renpolitik gelegt hat.

Die meisten älteren Menschen, meine Damen und Herren, sind selbständig, selbstbewußt und aktiv. Sie wollen am öffentlichen Leben teilnehmen und enga-gieren sich oftmals mit viel Erfolg in nachberuflichen Tätigkeiten, in denen sie anderen mit ihren gewonne-nen Erfahrungen helfen können, was uns aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß es auch viele pflegebedürftige Menschen gibt, die unserer Hilfe bedürfen.

Wenn ich daran denke, daß die dringend notwen-dige Pflegeversicherung bereits im Oktober von die-ser Regierung gegen die Stimmen der SPD im Bun-destag verabschiedet wurde, im Bundesrat von den SPD-regierten Ländern abgelehnt und seither mit unsozialen Tricks verhindert wurde, dann steigt schon in mir diese kalte Wut auf, meine Damen und Her-ren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich muß Sie wirklich fragen: Können Sie eigentlich dieses Verhalten gegenüber unseren pflegebedürfti-gen Menschen noch verantworten?

(Lisa Seuster [SPD]: Dahin, Frau Reinhardt, zur F.D.P.!)

— Nein, nein, meine Dame. Wir wissen heute ganz genau, daß die SPD, nicht die F.D.P. blockiert. Unser Entwurf ist durch, er wurde verabschiedet. Das ist aber ein eigenes Thema. Ich diskutiere dies gerne einmal mit Ihnen; das zahlt sich fast aus.

Die demographische Entwicklung, meine Damen und Herren, hat sich verändert. Zur Zeit sind in Deutschland rund 16 Millionen Menschen, das sind 20 % der Bevölkerung, älter als 60 Jahre. Bis zum Jahre 2030 werden es 35 % sein. Dieser Trend ergibt sich nicht nur für Deutschland, sondern für alle Industrieländer.

Der vor uns liegende Bericht umfaßt alle Bereiche des Lebens, die für die älterwerdende Generation von Bedeutung sind. Wir werden uns in den Ausschüssen im einzelnen sehr intensiv damit befassen.

Es gelingt mir natürlich nicht, hier alle Bereiche anzusprechen; denn dies würde den Zeitrahmen, der mir zur Verfügung steht, sprengen. Deshalb möchte ich nur einige Schwerpunkte herausgreifen.

So wird im Bericht z. B. dargestellt, daß das Alter ein Lebensabschnitt ist, der heute gute Chancen für eine hohe Lebensqualität und wirksame Beiträge zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung bietet. So sehen Frauen und Männer der mittleren Altersgruppe ihrem eigenen Alter heute überwiegend positiv ent-gegen. Als gut bewerten sie dabei vor allem die wirtschaftliche Stabilität, das bessere Wohnen, die hohe Mobilität sowie die Angebote der Altenhilfe, die den individuellen Bedürfnissen Rechnung tragen. Daß dies heute so gesehen wird, ist ein Erfolg dieser Regierung; denn sie hat die ältere Generation nicht vergessen.

Die Studie macht deutlich, daß künftige Generatio-nen älter werdender Menschen gesünder, besser ausgebildet, selbstbestimmter und materiell auch gesicherter sind. Die wirtschaftliche Situation älterer Menschen ist überwiegend gut; auch dies wird im Bericht deutlich. Vermögen oder Grundbesitz sind vielfach vorhanden, auch das Nettoeinkommen liegt weitgehend im mittleren oder sogar höheren Bereich. Ca. 45 % der 60- bis 70jährigen verfügen über ein Nettoeinkommen zwischen 1 600 und 3 000 DM, in der Gruppe der Über-70jährigen sind es sogar über 50 %.

Für das Einkommen der älteren Generation haben Leistungen der staatlichen Alterssicherungssysteme einen überaus großen Stellenwert. Die subjektive Einschätzung der finanziellen Situation durch die Senioren ist eher positiv. Das heißt: Alter bedeutet nicht gleich Armut, wie uns immer einzureden ver-sucht wird. Dies stimmt so nicht.

Der Bericht macht aber natürlich auch deutlich, daß es vor allem Frauen sind, die oft mit niedrigen Renten auskommen müssen. Hier werden wir uns, ausgehend von den Empfehlungen der Kommission, verstärkt engagieren. Die Anerkennung der Kindererziehungs-zeiten in der Rentenversicherung oder die Pflege sind wichtige Schritte dieser Regierung gewesen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Klare Aussagen macht der Bericht zur Kompetenz. Jede Person verfügt über im Lebenslauf entwickelte Fähigkeiten, Fertigkeiten und Interessen. Je besser diese Fähigkeiten in jungen Jahren erworben werden, desto länger bleibt die Kompetenz im Alter erhalten. Kompetenz bedeutet also auch ein lebenslanges Ler-nen.

In Zukunft wird die Gesundheit — Ernährung, Bewegung, Aus- und Weiterbildung — für die Kom-petenzerhaltung im Alter eine stärkere Rolle spielen. Hier bedarf es gezielter Aufklärung und Informatio-nen, die zu mehr Eigenverantwortung führen.

Die Familienstrukturen haben sich zwar verändert — so gibt es nur sehr wenige Großfamilien —, grund-sätzlich aber — dies wird auch im Bericht deutlich — ist die Familie intakt.

Für die Zufriedenheit und das persönliche Wohlbe-finden älterer Menschen sind vor allem das Wohnen und das Wohnumfeld von entscheidender Bedeutung. Die meisten älteren Menschen leben in Ein- und Zwei-Personen-Haushalten. Hierbei ist entscheidend, daß viele von ihnen dies wünschenswert finden, weil es ihre Selbständigkeit erhält. Angemessener Wohn-raum ist für ältere Menschen Grundlage der Lebens-zufriedenheit; denn sie verbringen ja häufig vier Fünftel des Tages und mehr in ihrer Wohnung.

Bei der Qualität der Wohnungen zeigen sich wesentliche Unterschiede zwischen den alten und den jungen Bundesländern. Während der Zustand der Wohnungen in den alten Bundesländern durchweg als gut bezeichnet wird, weisen die Wohnungen in den jungen Bundesländern erhebliche Mängel auf. Ich glaube, auch dies ist ein Resultat des Sozialismus. 22,4 % aller Wohnungen verfügen dort über kein Innen-WC, ca. 30 % haben noch keine Zentralhei-

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18300 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Erika Reinhardt

zung. Es wird unsere Aufgabe sein, dazu beizutragen, daß dieses Ungleichgewicht beseitigt wird.

Die Bundesregierung hat gerade auch in den jun-gen Ländern im Wohnungsbau viel getan. Die Mittel dafür sind ständig erhöht worden, und durch die Wohngeldanpassung haben wir die Verhältnisse wesentlich verbessert.

Neue Wohnformen müssen aber weiterhin entwik-kelt werden, um den Bedürfnissen der älteren Men-schen Rechnung zu tragen. Mit Mehr-Generationen-Häusern, be treutem Wohnen und genossenschaftli-chen Wohnprojekten werden schon heute sehr gute Erfahrungen gemacht. Eine Intensivierung solcher Modelle ist sicherlich wünschenswert.

Das Konzept des barrierefreien Wohnens muß wegweisend für die Zukunft sein. Wer barrierefrei baut, baut nicht nur altengerecht, sondern auch kind-gerecht. Dies muß uns allgemein bewußt werden.

Aber auch das Wohnumfeld ist natürlich sehr ent-scheidend. Soziale Versorgung und die gute Anbin-dung an Geschäfte müssen vorhanden sein, um älte-ren Menschen die Mobilität so weit und so lange wie möglich zu erhalten. Hierzu gehört auch der Ausbau der sozialen Dienste, der in einigen Bundesländern hervorragend ist. Für Baden-Württemberg kann ich ganz stolz sagen, daß wir hier wirk lich an der Spitze stehen. Aber andere Länder haben Nachholbedarf.

Ein weiterer Schwerpunkt des Berichts ist die Gesundheit. Hier weist die Studie auf die wesentli-chen physischen und psychischen Störungen hin und befaßt sich ausgiebig mit den Möglichkeiten, solchen Krankheiten vorzubeugen. Weit verbreitet sind Erkrankungen von Herz und Kreislauf. An zweiter Stelle liegen rheumatische Beschwerden und an drit-ter Stelle Schädigungen des Bewegungsapparates.

Die Krankheit mit der höchsten Zuwachsrate — so der Bericht — ist die Demenz. Da eine Heilung bisher noch nicht möglich ist, kommt es gerade in diesem Bereich auf die Rehabilitation, aber auch auf die Prävention besonders an .

Rehabilitation und Prävention müssen generell in der Zukunft eine größere Rolle spielen. Im Bereich der Rehabilitation und der Geriatrie bleibt in der Bundes-republik noch viel zu tun. Ein mehrdimensionales Rehabilitationskonzept, das sowohl Ärzte als auch Angehörige und Kliniken einbezieht, besteht bisher nur in Ansätzen. Es ist unsere Aufgabe, solche Kon-zepte zu durchdenken und weiterzuentwickeln. Hier liegt die größte Chance für die Zukunft der gesund-heitlichen Versorgung unserer älteren Menschen.

Wenn sich die geriatrische und psychogeriatrische Versorgung auch verbessert hat, so bestehen nach wie vor Lücken. 14 geriatrische und 14 psychogeriatrische Tageskliniken in der gesamten Bundesrepublik sind nicht ausreichend. Auch hier steht Baden-Württem-berg mit an der Spitze.

Mehr Eigenverantwortung ist auch im Bereich der Versorgung mit Arzneimitteln angezeigt. Die Gruppe der Über-65jährigen ist mit einem Verbrauch im Wert von ca. 12 Milliarden DM im Jahr extrem hoch vertreten. Es wird darauf ankommen — und da stimme ich unserem Bundesgesundheitsminister Seehofer

zu —, den bewußten Umgang mit Medikamenten zu fördern.

Ein wesentliches Kapitel im Bericht ist der Situation der Pflege gewidmet. Auch hier wird wieder deutlich, daß die schnelle Einführung der Pflegeversicherung unabdingbar ist. Wir müssen uns vor Augen halten, daß 90 % der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt werden, was die Pflegepersonen physisch und psy-schisch extrem stark belastet. Sie brauchen Hilfe und Entlastung durch vielfältige Angebote, wie sie unser Pflegegesetz vorsieht, bessere Absicherung der Pfle-gepersonen und die Anerkennung von Pflegezeiten in der Rente. Tages- und Kurzzeitpflegeplätze ermögli-chen, Urlaub zu machen.

Rückläufig ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger. Dies ist richtig so. Sie ist von 20 % auf 8 % zurückge-gangen. Allerdings betrifft es diejenigen, die nicht in Einrichtungen sind. Damit wird aber auch deutlich, daß sich die finanzielle Situation von älteren Men-schen verbessert hat und in Zukunft noch verbessern wird, wie dies auch im Bericht zum Ausdruck kommt.

Meine Damen und Herren, der Altenbericht zeigt uns, daß wir den Prozeß des Alterns neu definieren müssen. Wir müssen Alter als einen neuen Lebensab-schnitt, als dritte Lebensphase begreifen, denn nie-mand ist mit 63 oder 65 Jahren alt, wenn 100 Jahre keine Seltenheit sind.

(Beifall bei der CDU/CSU) Da das Alter immer auch Resultat des gesamten

Lebenslaufs ist, sollte Seniorenpolitik nicht nur Politik für ältere Menschen sein, sondern Bestandteil umfas-sender Gesellschaftspolitik. Unsere ältere Bevölke-rung ist kompetent, aktiv, selbständig, interessiert und mobil. Der medizinische Fortschritt und der Wandel in den Lebensbedingungen gaben dem Leben Jahre.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab-geordnete, darf ich Sie auf Ihre Redezeit aufmerksam machen? Sie haben schon deutlich überzogen.

Erika Reinhardt (CDU/CSU): Herr Präsident, es ist mein letzter Satz. Ich wiederhole ihn, denn sonst ist er aus dem Zusammenhang gerissen.

Der medizinische Fortschritt und der Wandel in den Lebensbedingungen gaben dem Leben Jahre. Auf-gabe der Politik und der Gesellschaft ist es, den Jahren Leben zu geben.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr hat der Abgeordnete H ans Engelhard das Wort.

Hans A. Engelhard (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war auch von der Sache her geboten, den ersten Altenbericht der Bundesregie-rung und die große Anfrage zur Situation ausländi-scher Rentner und Senioren hier in der Bundesrepu-blik Deutschland in verbundener Debatte zu behan-deln. Menschen, die als Gastarbeiter vor Jahrzehnten begonnen haben, unsere Wirtschaft mit aufzubauen, sind, von vielen fast unbemerkt, nun auch in die Jahre

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Hans A. Engelhard gekommen und in den wohlverdienten Ruhestand getreten. Dieser ersten Generation ausländischer Arbeiter im demokratischen Deutschland danken wir an dieser Stelle herzlich.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Viele wollen hier ihren Lebensabend verbringen. Wer über die Altenpolitik nachdenkt und sich mit den Fragen beschäftigt, muß sich auch mit den oft speziel-len Problemen dieser Menschen beschäftigen. Gerne hätte Cornelia Schmalz-Jacobsen, unsere Ausländer-beauftragte, hier das Wort genommen, aber leider reicht die Zeit dieser Debatte nicht aus.

Meine Damen und Herren, der Altenbericht der Bundesregierung vermittelt uns fachlich hochqualifi-ziert ein Schaubild vom Leben älterer Menschen. Aber es tauchte im Gespräch schon die Frage auf, was eigentlich die Enquete -Kommission ,,Demographi-scher Wandel" jetzt noch leisten soll. Ich will versu-chen, aus meiner Sicht darauf eine Antwort zu geben. Das Ziel der Kommission muß es sein, von der Zustandsbeschreibung zur Aufgabenstellung zu kom-men, ja noch einen Schritt weiterzugehen, nicht nur die Aufgabenstellung sondern quasi eine Handlungs-anweisung vorzunehmen, und zwar auch einmal einen politischen Hintergrund vorzutragen, nicht nur eine Welt, wie sie sein sollte, nein, sondern auch eine Welt, wie sie besser ist, aber wie sie auch durchsetzbar und finanzierbar ist. Dann müssen wir auch zu den finanziellen Fragen kommen, die im Altenbericht über weite Strecken aus sehr verständlichen Gründen von den Experten nicht so angepackt wurden. Auch hier häuft sich ein Berg von Aufgaben, dessen Bewäl-tigung teuer ist. Aber wie das bezahlt werden soll, darauf geht man nicht ein.

Wir werden uns im übrigen, meine Damen und Herren, alle darum bemühen müssen, dem Irrtum zu begegnen, daß wir jetzt mit unseren Bemühungen dabei seien, eine neue Welt für ältere Menschen zu zimmern, und das alles auf Kosten des Freiraums jüngerer Menschen. Nein, solches wäre nicht nur ein Irrtum. Es ist schlimmer. Solche Auffassungen, wenn sie verbreitet würden, wären ein schwerer Denkfeh-ler, weil nämlich vergessen wird, was über Jahrzehnte in einer noch jüngeren Gesellschaft den Menschen alles vorenthalten wurde.

Hier komme ich etwa auf die Frage des Wohnens oder des Wohnumfeldes. Wir legen Wert darauf, daß in denselben Häusern, mindestens aber im selben Block und Quartier Wohnungen verschiedener Größe vorhanden sind. Es ist nicht nur der Wunsch alter Menschen, dort zu bleiben, wo man es gewohnt ist, wo man eingelebt, wo man vielleicht schon geboren ist. Nein, auch Jüngere wollen das. Auch Familien mit Kindern wollen nicht, daß man seine Spielgefährten verliert, weil man umziehen muß, weil ein zweites Kind geboren wurde, weil die Wohnung zu klein ist und man sich weiter wegbewegen muß.

Wir wollen das barrierefreie Wohnen, so wie es hier bereits genannt wurde. Wir wollen hindernisfreie Gehwege. Wir wollen verkehrsberuhigte Straßen und benutzerfreundlichen öffentlichen Nahverkehr — um in der kurzen Zeit nur einige Punkte zu nennen. Das

alles ist ja gezielt — es ist erfreulich, daß wir diesen Anstoß erfahren haben — für ältere Menschen. Aber gefragt ist es natürlich genauso für die Mutter mit dem Kind, mit dem Kinderwagen, den sie zu bewegen hat. Es ist im übrigen für alle anderen nützlich und gut.

Stellen wir einmal die Frage: Warum sind in den Städten die Höfe gepflastert mit Garagen, mit Pkw

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Stellplätzen, aber so häufig ohne Plätzchen für die Kinder, ohne Ruhebank für ältere Leute? Ich meine, das muß endlich angepackt werden.

Da stellt sich mir und uns allen die Frage: Wird die Gesellschaft der Alten in der nächsten Zeit das durch-setzen und schaffen, was den Müttern und den Kin

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dern in einer Zeit, wo die Gesellschaft noch jünger war, aus nicht ganz verständlichen Gründen nicht gelungen ist? Ich glaube, die Chance, jetzt endlich etwas durchzusetzen, war noch nie so gut.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD)

Meine Damen und Herren, bevor solche Überlegun-gen, stärkend für das Selbstbewußtsein älterer Mit-bürger, ihnen überhaupt bekanntgeworden sind, wurde ihnen in diesen Tagen mitgeteilt, es gäbe ganz Wichtiges. Ihre gesicherte materielle Existenz sei in Gefahr; denn ein Absinken der Renten käme bald. Schuld sei ein Rentensystem, das es zu korrigieren gelte.

Meine Damen und Herren, wir Freie Demokraten machen solche Dummheiten nicht mit. An der Spitze aller unserer Bemühungen steht die langfristige Sicherung unseres Rentenversicherungssystems.

(Beifall bei der F.D.P.)

Deshalb sind wir seit Ende der siebziger Jahre für die Nettolohnbezogenheit eingetreten, die dann schließ-lich im Rentenreformgesetz 1992 im Konsens aller drei Fraktionen Wirklichkeit geworden ist.

Das baut auf dem Generationenvertrag auf und hat zur Folge, daß die Rentnergeneration von der allge-meinen wirtschaftlichen Entwicklung nicht abgekop-pelt werden darf: nicht im Guten, aber, wenn es denn nicht anders geht und die Situation so ist, auch nicht im Schlechten. Denn wer anderes will, der muß dann natürlich bereit sein, die Beiträge zur Rentenversiche-rung zu erhöhen und damit gleichzeitig bei den aktiv im Erwerbsleben Stehenden die Nettolöhne weiter abzusenken. Wer will dies?

Das ist unüberlegtes Gerede, das ich als verantwor-tungslos bezeichnet habe, weil es alte Menschen in Unsicherheit stößt, weil es zu Bedenken führt, die nicht zu sein brauchen in einer Zeit, in der wir ein funktionierendes Rentenversicherungssystem haben und in der die Menschen das, was ihnen zusteht, auch erhalten bzw. in Zukunft erhalten werden.

Meine Damen und Herren, ich will einen weiteren und letzten Punkt ansprechen: Altere Menschen brau-chen verstärkt personelle Hilfe. Ich spreche jetzt nicht von den Pflegebedürftigen. Nein, nichts wird sich jetzt auf Dauer mehr in den Weg stellen können: Wir brauchen die Pflegeversicherung. Man muß sie durch-setzen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

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18302 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Hans A. Engelhard Die Finanzierung muß sichergestellt werden.

Aber davon spreche ich nicht. Ich spreche jetzt auch nicht von der richtig festgestellten notwendigen ideel-len und materiellen Aufwertung der Pflegeberufe. Nein, ich spreche von etwas ganz anderem, mit dem man sich aus unverständlichen Gründen kaum beschäftigt: nämlich von dem Widerspruch, daß von seiten älterer Menschen, aber auch von Jüngeren, von Müttern mit Kindern und vielen anderen, eine sehr starke Nachfrage besteht, Hilfe im privaten Haushalt zu erhalten. Aber da sind kaum Angebote vorhanden, und das in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit, wo im übrigen absehbar ist, daß die Zahl der Arbeitsplätze in der Industrie auch bei einer Belebung der Konjunktur nicht mehr so wachsen wird, daß sie im Vergleich zu früher ziemlich weit unten angesiedelt bleibt.

Dann können wir feststellen, daß wir hier keinen funktionierenden Markt haben. Um den müssen wir uns längerfristig bemühen. Denn allenfalls findet man jemanden im Wege der Schwarzarbeit, und das sind nämlich genau diejenigen — da wird natürlich keine Steuer bezahlt, da wird keine Versicherung bezahlt —, die uns dann eines Tages als Kleinrentner wieder beschäftigen werden, weil sie nichts dazu get an

haben — obwohl fleißig an der Arbeit —, überhaupt die notwendigen Grundlagen für ihre Alterssicherung zu schaffen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir müssen uns um diese Fragen kümmern. Ich wundere mich, daß hier so wenig geschieht. Es geht um die Reinigung der Wohnung. Es geht um die Hilfe beim Einkaufen — gerade da, wo ein Pkw erforderlich ist, um über eine längere Strecke größere Warenmengen in den Haus-halt zu bringen. Es geht um die Gartenarbeit, da ältere Leute ja nicht deswegen ihre Wohnung sollen wech-seln müssen, weil sie alt und nicht mehr kräftig genug sind, noch selbst mit dieser Arbeit fertig zu werden.

Meine Damen und Herren, wenn wir uns damit beschäftigen, dann muß uns klar sein, daß es hier nicht um die Nachfrage nach Ganzzeitarbeitskräften geht. Nein, ein breites Angebot an Teilzeitarbeit stünde hier bereit. Es werden sich mehrere zusammentun, um eine Person zu beschäftigen. Das ist dann auch finan-zierbar.

Es stellt sich die Frage: Wie sollen eigentlich ältere Mitbürger dies finanzieren? Ich weiß, ich spreche jetzt nur von den alten Bundesländern. Selten ist soviel vererbt worden wie heute. Wer immer nur von der Altersarmut spricht, der verschweigt eben auch das andere, daß eine breite Schicht der Bevölkerung es in harter Arbeit nach dem Kriege verstanden hat, sich etwas aufzubauen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich meine, viele alte Menschen, die wortwörtlich nicht der Parole anhän-gen — ich zitiere —: „Alles verbraucht vor meinem End, das macht ein richtig Testament", sind bereit, auch von ihrem Ersparten aus der Substanz zu ihrem persönlichen Wohlergehen Aufwendungen zu ma-chen —

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab-geordneter, es gehört zu meinen Pflichten, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie Ihre Redezeit deut-lich überschritten haben.

Hans A. Engelhard (F.D.P.): — Ich danke, Herr Präsident, und schließe den Satz — etwas auszugeben, um auch in diesem Bereich zu ihrem persönlichen Wohlergehen etwas zu unternehmen.

Danke schön. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Ersten Altenbe-richt hat die Bundesregierung anläßlich des Europäi-schen Jahres des älteren Mitbürgers eine wirklich lobenswerte, wenn auch späte Initiative ergriffen, die Lage älterer Menschen in der Bundesrepublik zu beschreiben. Dieser Analyse liegen umfangreiche Studien namhafter Wissenschaftler und Wissenschaft-lerinnen zugrunde, mehr oder weniger kritischer Art.

Liest man dann die Stellungnahme der Bundesre-gierung zum Bericht der Sachverständigenkommis-sion, dann wünscht man sich, in diesem Land zu leben, in dem alles, wirklich alles für alte Menschen getan wird, keine armen, obdachlosen und arbeitslosen Bürgerinnen und Bürger leben und es sich insbeson-dere Frauen leisten können, ehrenamtlich und aufop-ferungsvoll für die Alten zu sorgen, ohne Angst um die eigene Zukunft.

Das Erwünschte wird zur Realität geredet. Ich muß sagen, das kennen wir auch von früher, Frau Rönsch. Da heißt es z. B., daß Frauen und Männer ihrem eigenen Alter überwiegend positiv entgegensehen und dabei wirtschaftliche Stabilität, geborgenes, kom-fortables Wohnen, Mobilität und bezahlbare Ange-bote der Altenhilfe bewerten.

Nach den aktuellen Zahlen zur Arbeitsmarktlage gilt dies doch wohl nicht für alle Menschen, wenn auch für einen Teil. Es gibt allein im Arbeitsamtsbe-zirk Leipzig 60 592 registrierte Arbeitslose. 66,4 % davon sind Frauen, 6,7 % Alleinerziehende, 2,4 % Schwerbehinderte. In anderen Regionen sieht es noch schlimmer aus.

Von den 15 544 Umschülern und Umschülerinnen in Leipzig sitzen insbesondere Frauen zum wiederhol-ten Male auf der Schulbank, jedoch oft ohne Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Das gilt insbesondere dann, wenn eine Frau noch kleine Kinder zu versorgen hat, älter als vierzig ist und sich damit tatsächlich schon dem Alter für eine Rente nähert oder anderes „norm-widriges Verhalten" aufweist, z. B. hohe Qualifikation — das war ja die Regel für Frauen in der DDR — oder eine spezifische DDR-Vergangenheit.

Wie die 37 730 Altersübergangsgeldempfänger im Arbeitsamtsbezirk Leipzig erleben überall diese hochgeschätzten älteren, erfahrenen Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer, für die sich die Bundesre-gierung einsetzen will, daß sie für die Gesellschaft

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Dr. Barbara Höll

plötzlich wertlos wurden, nicht mehr gebraucht wer-den und nicht mehr selbst zur Erarbeitung künftiger Rentenansprüche beitragen können. Ihre Einstiegs

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rente wird demzufolge auf einem niedrigeren Niveau liegen als bei voller Erwerbsbiographie.

Aber dieser Personenkreis wird ebenso wie die Altersrentner und Altersrentnerinnen angeben, eini-germaßen zufrieden zu sein, brauchen sie doch wenigstens nicht mehr den Kampf um den Arbeits-platz und die rapide Verschlechterung des Betriebs-klimas mitzuerleben oder sich zum wiederholten Male vor Personalkommissionen dafür zu entschuldigen, daß sie in der DDR aktiv mitgearbeitet haben.

Oder nehmen wir das Problem Wohnen. Unter den über eine Million Obdachlosen in Deutschland sind auch viele alte Menschen. Mancher davon wird unter dem Hochwasser der letzten Wochen im Dezember sicher mehr gelitten haben als der Wagen des Bun-deskanzlers in seiner Tiefgarage. Aber über ihre Lage wird nicht gesprochen. Im Osten sind alte Menschen stark besorgt, ob sie die nächste Mieterhöhung noch verkraften können. So haben 76 % Angst vor weiteren Preiserhöhungen, 71 % vor Mieterhöhungen und 65 % vor einer Entwertung ihrer Ersparnisse. 57 % aller Wohngeldbezieher und -bezieherinnen in Leipzig sind Senioren; 43 % der Senioren haben Wohngeld beantragt, aber 32 % wollen sich diese Schande, als die sie es empfinden, nicht antun. Da stehen Alteigen-tümer vor der Tür, oder es werden Wohnungen so saniert, daß alte Menschen darin keinen Platz mehr haben.

Die Treuhand tut ihr übriges. Zu nennen wäre hier als eklatantes Beispiel die Schloßverkäufe im Land Brandenburg. Hier wurden mehrere Schlösser, u. a. mit Fördermitteln aus Nordrhein-Westfalen, saniert, da in den Schlössern Pflegeeinrichtungen der Diako-nie waren. Die Treuhand verkaufte dann die Schlösser für eine Mark an einen millionenschweren Bauunter-nehmer aus dem alten Bundesgebiet bzw. an dessen Enkeltöchter. In zwei Fällen mußten die Heimbewoh-ner und -bewohnerinnen, beim einen Mal alte und beim anderen Mal geistig behinderte Menschen, ausziehen. Das ist möglich in dem im Bericht beschrie-benen altenfreundlichen Land.

Um beim Thema Altenheim zu bleiben: In der Tat gab es in der DDR — das leugnen wir nicht, Frau Rönsch — eine Reihe von Heimen, die nicht den bundesdeutschen Standards entsprechen. Aber in welcher Weise sie dem nicht entsprechen, darüber wird nichts ausgesagt. Zwei Beispiele, die ebenfalls darunter fallen: In Leipzig gibt es ein sehr großes Altenheim; es hat 738 Bewohner. Das Land zahlt keine Fördermittel für die Sanierung, weil die Stadt ihren Anteil an den Fördermitteln nicht erbringen kann. Die Stadt kann es aber nicht, denn das Heim ist bei seiner Größe prinzipiell nicht förderungswürdig, es sei denn, es würde die Kapazität auf 300 Betten abbauen, weil laut bundesdeutscher Heimverordnung nur bis zu 300 Betten gefördert werden. Den Schaden haben die Heimbewohner, weil sich für sie nichts ändern wird.

Altenheime waren in der DDR häufig die einzige, zugegeben nicht unbedingt glückliche Alternative des Wohnens im Alter, wenn die eigene Wohnung nicht mehr bewältigt werden konnte, zu groß oder

baufällig war. Auch diese als Wohnstätten fungieren-den Heime fallen aber heute unter die Heimgesetzge-bung der Bundesrepublik, und so müssen sich mobile alte Menschen, die gern länger als vier Wochen ihre Kinder besuchen wollen oder sonstige Reisen unter-nehmen, dafür eine Genehmigung holen und prüfen lassen, ob sie überhaupt heimbedürftig bzw. reisefä-hig sind. In einer Aussprache mit den Heimbeiräten — Sie sehen, Frau Rönsch, auch wir machen uns hier kundig, auch wenn Sie jetzt nicht zuhören — erklärten die Senioren, daß sie dies als Freiheitsberaubung empfinden. Das kannten sie früher nicht.

Nehmen wir einen anderen Aspekt. In unserer Gesellschaft besteht ein hoher und zukünftig steigen-der Bedarf an sozialen Dienstleistungen. So heißt es in der Stellungnahme der Bundesregierung. Das wird verbunden mit dem Begriff „Ehrenamtlichkeit". Tat-sächlich werden infolge sich verändernder familiärer Strukturen und Lebensstile, die man als Emanzipation der Generationen bezeichnen kann, zunehmend Dienstleistungen im Bereich der Altenhilfe nötig. Aber warum die Betonung von Ehrenamtlichkeit? Kein Politiker, kein Jurist, Manager oder Arzt, der bis ins hohe Alter bei einem meist sehr hohen Entgelt tätig sein kann, würde unentgeltlich seine Dienstleistun-gen erbringen oder sich mit einer geringen Aufwands-entschädigung abspeisen lassen. In der Altenhilfe wird das erwartet. In Sachsen gibt es die „Aktion 55", und danach können Vorruheständler für 200 DM monatlich steuerfrei fünf bis 18 Stunden wöchentlich u. a. Altenhilfe leisten. Wer im Rentenalter ist, bekommt gar nichts. Kein reaktivierter Leihbeamter würde sich dies wohl gefallen lassen. Aktive Senioren und Seniorinnen müssen das. Mitarbeiter und Mitar-beiterinnen in Sozialstationen bekommen etwa ein Drittel der in ihrer Arbeit notwendigen Leistungen nicht bezahlt, es sei denn, sie finden Formulierungen, die die notwendigen Leistungen für Kostenträger bezahlungswürdig erscheinen lassen.

Dazu gehört auch die psychosoziale Begleitung, die Sterbebegleitung, die Hilfe für hinterbliebene Ange-hörige, also Leistungen, die auch im Altenbericht als notwendige Bestandteile der Altenhilfe angesehen werden.

Zwei Ursachen liegen dem offensichtlich zugrunde. Zum einen ist Altenhilfe und -pflege in erster Linie Frauenarbeit, und dies wird in einer männerdominier-ten Gesellschaft als ehrenamtliche Arbeit erwartet. Zum zweiten erfolgt in der bundesdeutschen Sozial-gesetzgebung eine Aufteilung des Menschen in fik-tive Ebenen, die eine tatsächliche ganzheitliche und kontinuierliche Be treuung erschweren.

Dem ohnehin in seiner Mobilität eingeschränkten kranken alten Menschen und seiner Familie fällt es deshalb oft sehr schwer, die notwendigen Wege zu gehen, um bedarfsgerecht versorgt zu werden.

Auf einige der angeführten Probleme konnte der Altenbericht noch nicht eingehen, da die Expertisen zum Teil in einer Zeit angefertigt wurden, als es noch eine einigermaßen wirtschaftliche Stabilität gab, die Einheit Deutschlands noch nicht bestand und die Krise in Europa noch nicht so sichtbar war.

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18304 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Dr. Barbara Höll

Die Stellungnahme der Bundesregierung hätte aber auf diese Probleme Bezug nehmen müssen und kön-nen, soll der Altenbericht tatsächlich Anleitung zum Handeln und nicht einfach schmückendes Beiwerk zum Jahr des älteren Mitbürgers sein.

Zum Abschluß möchte ich sagen, daß es Verantwor-tung besonders hier im Hause und der führenden Politikerinnen und Politiker wäre, insbesondere ältere Menschen nicht weiter durch die Diskussionen über die Renten, notwendige Einsparungen der Kranken-kassen, die Pflegeversicherung und anderes zu verun-sichern. Ich hoffe, daß der Altenbericht als erster Bericht ein Einstieg sein kann, wenn man auch das beherzigt, was hier in der Diskussion von verschiede-nen Seiten gesagt wurde. Ich hoffe, daß er von der Erstellung eines Armutsberichtes begleitet wird, auf den wir dann nicht wieder so lange warten müssen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste und der SPD)

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort wird nunmehr Dr. Wolfgang Ullmann erteilt.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß mich doch erst der Frau Ministerin zuwenden, um ihr für ihren ersten Satz zu danken, der mir von ihrer ganzen Rede am besten gefallen hat.

Ich will ihn, Frau Ministerin, auch sofort anwenden. Sie haben nämlich gesagt, man solle sich der Realität der älteren Menschen zuwenden. Richtig so.

Nun wird es aber ganz schwierig für mich. Vor allen Dingen finde ich es ausgesprochen schade, daß ich Sie jetzt nicht mehr anreden kann, denn ich wollte mich hier, meine Damen und Herren, an die Über-60-jährigen wenden. Das scheitert, glaube ich, vollstän-dig, wenn ich mich so umsehe. Nicht einmal der Kollege Engelhard würde darunter fallen.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab-geordneter, ein Blick nach hinten kann das ein wenig ändern.

(Heiterkeit im ganzen Hause)

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Dann erlauben sich die wenigen alten Knaben hier, sich in folgender Weise anreden zu lassen. — Ich denke, ich werde es lieber so machen, daß ich der hier noch versammelten Jugend erzähle — da ist natürlich die Frau Ministerin sofort wieder einbegriffen —, wie es mir zumute ist, wenn ich mit anhöre, wie in unserer Gesellschaft über meinesgleichen geredet wird.

Da gibt es fortwährende Wechselbäder, was die Renten anbelangt: wie sicher sie sind und ob sie heruntergesetzt werden müssen. Dann wird in alar-mierender Pracht das Schreckbild der Alterspyramide an alle möglichen und auch unmög lichen Wände projiziert. Da müssen wir hinnehmen, daß es eigent-lich unseretwegen geschieht, daß während der Dis-kussion um die Pflegeversicherung die Kulturerrun-genschaften unserer Feiertage zur Disposition gestellt werden.

Meine Damen und Herren, Sie sehen es mir wahr-scheinlich doch nach, wenn ich behaupte, daß wir nicht ganz so dumm sind, um nicht zu bemerken, was als Fazit dieser ganzen Debatte unter dem Strich herauskommt: Es gibt zu viele von uns. Wir leben viel zu lange, manche bis zum Alter von 100 Jahren, wie gerade gesagt wurde.

Die, die über uns reden, wissen nun allmählich nicht mehr, wie lange sie das noch bezahlen wollen oder bezahlen können, je nach dem. Auch dem Altersbe-richt der Bundesregierung ist dieses Stimmungsbild wohl vertraut. Auf Seite 81 wird es uns sogar in einer meine Schilderung noch überbietenden Drastik vor-geführt: Auf den schwächlichen Schultern eines miß-mutig dreinschauenden Babys ist der bärtige Vater mit der attraktiven Liebsten zu sehen. In der Etage darüber wird es erst so richtig schlimm — das ist dann meine Etage —: Hämisch dreinschauende Korpulen-zen müssen hochgestemmt werden, und von der sehr gebrechlichen vierten Generation ganz oben hat man schonenderweise nur noch die dürren Beinchen abge-bildet. So sieht die Alterspyramide nach „Informatio-nen zur politischen Bildung" , Nr. 220 aus dem Jahre 1988, Seite 8, aus. Natürlich wird uns dann vom Bericht alsbald bedeutet, das sei eher humoristisch gemeint. Der Kommentar zieht auch alle Register der Sympathiewerbung, um von diesem unvorteilhaften Image der älteren Generation abzulenken und ihm entgegenzutreten bzw. uns darüber zu belehren, wie ihm entgegenzutreten sei. Das ist ja heute reichlich geschehen — ich glaube aber, eben im Gegensatz zu dem ersten Satz der Frau Ministerin.

Aber so ganz beim Ke rn des Problems sind wir wohl erst in den Empfehlungen der Sachverständigenkom-mission am Ende des Berichtes angelangt. Das gilt schon deswegen, weil wir weit davon entfernt sind, das energisch zu verfolgen, was hier empfohlen wird. Unter Ziffer 20.2 finden wir uns auf einmal wieder mitten unter den uns ständig bedrängenden Arbeits-marktproblemen.

Man braucht nur nachzulesen. Der Bericht verwan-delt sich hier in eine Tagesordnung der Sozialpolitik, der kein verantwortlicher Politiker, keine verantwort-liche Politikerin ausweichen kann: Maßnahmen zur Verbesserung und Erhaltung der Erwerbschancen, Verbesserung der Berufschancen und Karrieremög-lichkeiten für Frauen.

Angesicht des nach der Rentenreform von 1992 sichtbar gewordenen Anpassungs- und Änderungs-bedarfes muß eine baldige Klärung über die Weiter-entwicklung dieses Systems herbeigeführt werden. Das stammt alles nicht etwa vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sondern das ist Originalton des Sachver-ständigenberichtes.

Mit gutem Grund mahnt der Bericht die vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 1992 geforderte stärkere Berücksichtigung von Familien-leistungen in der Sozialversicherung an. Kann man

die Verklammerung von Arbeits- und Rentenproblem klarer ausdrücken, als es hier geschieht? Aber haben wir bereits annähernd erfaßt, meine Damen und Herren, wie weit die Zukunft der Arbeit nicht nur die zukünftige Lebensqualität der Rentner, sondern unser aller zukünftige Lebensqualität bestimmen wird?

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18305

Dr. Wolfgang Ullmann Man wird das kaum bejahen können, wenn man

sieht, wie der Altersbericht den auch durch einen Bundestagsbeschluß vom 21. Juli 1991 bestätigten Konsens über die Verbesserung der Alterssicherung von Frauen ebenso unterstreicht wie das obenge-nannte Urteil. Aber in keinem der beiden Fälle sind von der Bundesregierung angemessene Initiativen ergriffen worden. Selbst im Rahmen der Vorschläge zur Pflegeversicherung gibt es noch keine renten-rechtliche Absicherung ehrenamtlicher Pflegeperso-nen — die Kollegin Höll hat ja darauf hingewiesen —, die übrigens — was schon Gesagtes zusätzlich unter-streicht — zu 85 % Frauen sind.

Von seiten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN kann im Sinne einer Initiative zur Weiterentwicklung des Systems der Alterssicherung auf das von uns vorgeschlagene Modell einer bedarfsorientierten Grundsicherung im Alter hingewiesen werden. Diese Grundsicherung will eine Ergänzung zur gesetzlichen Rentenversicherung, aber keine Alternative zu ihr sein, wie immer wieder fälschlich behauptet wird.

Dieser Vorschlag unterscheidet sich darum auch von dem anderen Grundrentenmodell Miegel/Bie-denkopf, das den langfristigen Ausstieg aus der heu-tigen Rentenversicherung zum Ziel hat. Mit dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN-Modell soll sichergestellt werden, daß durch ein möglichst unbürokratisches Verfahren die verdeckte Altersarmut zurückgedrängt werden kann. In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Sachverständigenemp-fehlungen des Berichts eine Verbesserung der Daten-lage zur Altersarmut verlangen — eine Unterstrei-chung unserer ständig und auch heute wiederholten Forderung nach dem immer wieder von der Bundes-regierung ohne Gründe verweigerten Armutsbe-richt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Meine Damen und Herren, die Redezeit ist abgelau-fen. Ich will auch wirklich zum Schluß kommen. Aber ich muß noch eine Sache loswerden. Ich denke, so respektabel dieser Altenbericht ist— da kann ich mich nur dem Gesagten anschließen —, er hat eine große Lücke. Da fehlt eine ganze Dimension. Das fällt mir als einem Historiker natürlich sofort auf.

Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß die Kommission überwiegend aus Medizinern bestanden hat. Ich bin der letzte, der nicht ihre Belehrungen annähme, auch schon im Interesse meiner Physis. Aber in dem Bericht wird ja dauernd auch von der Familie geredet. Das ist eben unhistorisch, Frau Rönsch. Dieses Familienmodell aus dem 19. Jahrhun-dert gibt es streckenweise noch. Aber was für die alten Menschen — das weiß ich gerade als 65jähriger ganz genau — viel wichtiger ist als das Festhalten an nicht mehr funktionierenden Familienstrukturen, ist das Gespräch, die Kommunikation der Generationen. Damit diese zustande kommt, braucht man minde-stens drei Generationen und nicht bloß die zwei dieser altertümlichen Familie. Das wollte ich angemahnt haben. Das fehlt leider. Ich halte das für wichtig. Insofern kann ich dann wieder die Bundesministerin zitieren — das müßte sich unsere hedonistische und narzißtische Gesellschaft doch einmal ins Stammbuch

schreiben —: Die Zukunft ist nicht die Jugend, son-dern unsere Zukunft ist das Alter, und zwar unser aller.

Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause

[Bonese] [fraktionslos])

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr hat die Abgeordnete Lisa Seuster das Wort.

Lisa Seuster (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Genau 17 Minuten hat die Presse-konferenz gedauert, auf der Frau Ministerin Rönsch 1993 den ersten Bericht der Bundesregierung zur Lage der älteren Menschen in Deutschland vorgestellt hat.

(Heribert Scharrenbroich (CDU/CSU): Da haben Sie aber gut aufgepaßt!)

17 Minuten für einen Politikbereich, den sie selber als eine der großen Zukunftsaufgaben bezeichnet. Eigentlich haben die ersten vollmundigen Verspre-chungen, was die Aufwertung der Seniorenpolitik dieser Bundesregierung angeht, schon mit der Grün-dung des neuen Ministeriums für Familie und Senio-ren begonnen. Mit dieser Ressortbildung wollte die Bundesregierung ihren eigenen Äußerungen zufolge die politische Antwort auf die Herausforderung unse-rer Tage geben: die demographische Entwicklung unserer Gesellschaft. Je länger dieses Ministerium besteht, um so mehr verstärkt sich bei mir der Ein-druck, daß es über diesen symbolischen Gründungs-akt hinaus bislang keine verantwortungsvolle politi-sche Weichenstellung gegeben hat und daß wir der-artiges auch nicht zu erwarten haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich befürchte, daß selbst bei eingehender Betrach-tung kaum Beweise für eine konstruktive Senioren-politik zu finden sein werden. Dort, wo sie als Mi-nisterin mit ihrem Einsatz und ihrem Engagement dringend gefragt ist, etwa bei der Verabschiedung der Pflegeversicherung, der Neuregelung der Altenpfle-geausbildung oder der Sanierung der Altenheime in den neuen Bundesländern, sucht m an greifbare Ergebnisse vergebens.

(Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Sie müssen einmal die Realität zur Kenntnis

nehmen!) Was die zahlreichen Presseveröffentlichungen zu die-sen Punkten betrifft, kann m an jedoch nicht von Untätigkeit sprechen.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab-geordnete, der Abgeordnete Link möchte gern eine Frage stellen. Sind Sie bereit?

Lisa Seuster (SPD): Selbstverständlich.

Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Frau Kollegin Seuster, habe ich es richtig verstanden, daß Sie unserer Seniorenministerin unterstellen wollen, sie

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18306 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Walter Link (Diepholz)

hätte sich nicht für die Pflegeversicherung einge-setzt?

Lisa Seuster (SPD): Ich kann jedenfalls von außen nicht erkennen, daß es da einen besonders ha rten Einsatz gegeben hat. Ich habe zwar immer wieder gehört, daß man das wolle, aber daß intensiv gekämpft worden ist und daß sie z. B. erreicht hat, daß der Bundeskanzler seine Richtlinienkompetenz anwen-det, habe ich bisher nicht bemerkt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN — Walter Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Ich komme gleich darauf

zurück!)

Ich gehe noch einmal auf die Presseerklärungen ein. Hier wird Frau Rönsch nicht müde, hoch ange-setzte Versprechungen über angeblich bevorste-hende Maßnahmen zu machen. Ich habe ihre Veröf-fentlichungen in den vergangenen Tagen noch ein-mal durchgesehen. Was ihren Einsatz z. B. bei Wett-bewerbsausschreibungen und Preisverleihungen an

-geht, ist sie sehr rege. Ich frage mich aber, wie sie die politische Handlungslosigkeit mit der Äußerung in Einklang bringen kann, die sie 1993 auf der Presse-konferenz zum Altenbericht gemacht hat:

Wir sind in der Altenpolitik auf einem guten Weg, den wir in den nächsten Jahren beharrlich fort-setzen müssen. Angesichts der wachsenden Zahl älterer Menschen ist die Seniorenpolitik eine der großen Zukunftsaufgaben.

Ähnliche Sprechblasen haben wir auch heute morgen vernehmen können.

Mir scheint, der Weg vom guten Vorsatz zur guten Tat ist in diesem Ministerium ein unüberwindbarer.

(Beifall bei der SPD)

Mein Kollege Arne Fuhrmann hat schon darauf hin-gewiesen, daß die Einrichtung der Enquete-Kommis-sion „Demographischer Wandel" erfolgreich von der SPD-Fraktion beantragt wurde und eben nicht das Ministerium die Initiative dazu ergriffen hat. Übrigens auch die Tatsache, daß wir heute diesen Altenbericht diskutieren, haben wir nicht dem Ministerium Rönsch zu verdanken, sondern noch dem alten Ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Ich bin auch sicher, es gäbe diesen Altenbericht in dem neuen Ministerium nicht. Die wichtigsten Impulse und Wei-chenstellungen für die zukünftige Entwicklung infolge des demographischen Wandels kommen eben nicht von dieser Ministerin.

Die SPD-Bundestagsfraktion stellt sich dieser Auf-gabe. Wir erarbeiten Antworten auf die Frage, wie dieser Prozeß bewäl tigt werden kann, Antworten, die sicherstellen, daß es gelingt, einen breiten gesell-schaftlichen Konsens zu finden, wie diese bevölke-rungs- und sozialpolitischen Verschiebungen bewäl-tigt und positiv beeinflußt werden können.

Die Analysen und Empfehlungen, die von den Sachverständigen in den Altenbericht eingebracht worden sind, werden uns diese Konsensfindung erleichtern. Wir haben verwendbares Zahlenmaterial und mit dem Bericht als solchem eine gute Grundlage

für alle diejenigen, die als Praktiker im Bereich der Seniorenpolitik tätig sind.

Auf die einzelnen Berichtsteile ist mein Kollege Fuhrmann bereits eingegangen, so daß ich mich in meinen Ausführungen auf die dazugehörige Stellung-nahme der Bundesregierung beziehen möchte.

Anläßlich der Vorstellung des Altenberichts vor der Presse hat Frau Ministerin Rönsch im Herbst 1993 folgende vier zentrale altenpolitische Herausforde-rungen für die Zukunft formuliert: erstens die Pflege-versicherung, zweitens die bundeseinheitliche Rege-lung der Altenpflegeausbildung, drittens die Sanie-rung der Altenpflegeheime in den neuen Bundeslän-dern, viertens den Ausbau der Rehabilitation.

(Arne Fuhrmann [SPD]: Klingt doch gut!)

Daß es sich bei diesen vier Punkten um zentrale altenpolitische Herausforderungen handelt, dem kön-nen wir zustimmen. Aus diesem Grunde möchte ich jetzt noch einmal genauer hinsehen, was denn pas-siert ist.

Ich komme zum ersten Bereich, der Pflege. Hier hat es ja gestern wieder keine Einigung gegeben, und es geht heute weiter. Für Außenstehende ist diese quä-lende Diskussion längst nicht mehr verständlich. Machen wir uns nichts vor: Bei einem endgültigen Scheitern werden insbesondere die beiden großen Parteien erheblichem Erklärungsdruck bei den Betroffenen, aber auch bei den eigenen Mitgliedern ausgesetzt sein.

Die Gesetzentwürfe der SPD-Fraktion und der Bun-desregierung lagen ursprünglich weit auseinander. Da die Koalition auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen ist, ist sie uns an einigen Stellen entge-gengekommen. Wir unsererseits haben auch Konzes-sionen gemacht, soweit es uns im Sinne der betroffe-nen Menschen möglich war. Jetzt ist die Koalition gefragt, die notwendige Kompromißbereitschaft zu zeigen, damit die Pflegeversicherung nicht endgültig scheitert. Wir forde rn die Bundesregierung auf, das Bemühen um eine akzeptable Pflegeversicherung nicht länger durch internen Meinungsstreit und poli-tische Bewegungslosigkeit zu torpedieren.

(Beifall bei der SPD)

Der kritische Punkt, der eine Einigung bisher unmöglich macht, ist: Sollen die Kosten auf der Arbeitgeberseite ausgeglichen werden — wozu sich die SPD durchgerungen hat —, oder sollen — wie die Bundesregierung es will — bei dieser Gelegenheit den Unternehmen finanzielle Geschenke gemacht werden?

Wir sind zur Streichung eines Feiertages zur Kosten-deckung auf Arbeitgeberseite bereit. Die Regierung, meine Damen und Herren, fordert aber auf Druck der F.D.P. nach wie vor die Streichung von zwei Feierta-gen. Dieser zweite Feiertag ist nach eigenen Zahlen von Arbeitsminister Blüm zur Finanzierung der Pflege nicht erforderlich. Die Streichung eines zweiten Feiertags wäre eine reine Umverteilungsstrategie unter dem Deckmantel der Pflege. Es wäre Aufgabe

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Lisa Seuster

der Seniorenministerin, das in der Öffentlichkeit ganz deutlich zu sagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich komme zum zweiten wesentlichen Punkt, der Altenpflegeausbildung. Bisher waren alle Bemühun-gen vergeblich, endlich eine bundeseinheitliche Regelung der Altenpflegeausbildung durchzusetzen, obwohl Frau Rönsch selbst hier nur allzuoft dringen-den Handlungsbedarf betont.

Wie bereits in der vergangenen, ist auch in der jetzigen Legislaturperiode keine Lösung mehr in Sicht. Der Zeitpunkt, an dem eine einheitliche Rege-lung hätte verabschiedet werden können, ist schlicht-weg verpaßt worden. In der 11. Legislaturperiode hat eine reale Chance für diese Regelung bestanden. Jetzt warten die Bundesländer nur noch auf die Verab-schiedung der Pflegeversicherung in der Hoffnung, daß zumindest der größte Teil der Ausbildungskosten analog zur Krankenpflege über die Pflegesätze finan-ziert werden kann. Im übrigen verfestigen sich in den einzelnen Bundesländern die unterschiedlichen Aus-bildungsstrukturen immer mehr, für die Altenpflege-rinnen und Altenpfleger eine sehr bedauerliche, negative Entwicklung, die dem Berufsbild und dem Ansehen des Berufes schadet.

Das Thema Altenpflegeausbildung macht deutlich, daß ein spezielles Seniorenministerium die politische Durchsetzungskraft der Ministerin nicht gestärkt hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich komme zum dritten Punkt: Pflegeheime in den neuen Bundesländern. Welchen Zickzackkurs das Ministerium um die Sanierung der Alten- und Pflege-heime in den neuen Bundesländern eingeschlagen hat, will ich an Hand folgender Erklärungen deutlich machen:

Sowohl die Ministerin als auch der Ausschuß für Familie und Senioren haben nach der Wiedervereini-gung ausgedehnte Reisen in die neuen Bundesländer gemacht, um die Situation in den Heimen zu begut-achten. Einstimmig wurde festgestellt, daß sich die Häuser in einem katastrophalen Zustand befinden. Nach westlichen Standards müßten die meisten sofort geschlossen werden. Ein Sanierungsbedarf von 16 Milliarden DM wurde berechnet. Positiv zu vermer-ken war — darauf möchte ich an dieser Stelle hinwei-sen —, daß die Heime personell wesentlich besser versorgt waren als die in den alten Bundesländern. Es ist nicht richtig, Frau Ministerin, wenn Sie hier sagen, daß den alten Menschen dort einiges angetan wurde. Das ist eine Diskriminierung derjenigen, die in der Pflege unter schwierigen Bedingungen gearbeitet haben.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundesregierung versprach angesichts des gro-ßen Nachholbedarfs bei der Sanierung des Alten- und Pflegeheimbereichs, finanziell zu helfen. Der Sanie-rungsbedarf könnte von den neuen Ländern und den Kommunen allein nicht bewältigt werden, das sei eine

gesamtgesellschaftliche Aufgabe. So wurden auch zwei Jahre lang im Rahmen eines Soforthilfepro-gramms Bundesmittel in Höhe von 200 Millionen DM eingesetzt, die letztendlich jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein waren. Nach Ablauf dieser Zweijah-resfrist war die Sanierung der Heime in den neuen Ländern dann plötzlich keine gesamtgesellschaftliche Aufgabe mehr. Dies war nach Ansicht unserer Regie-rung jetzt im Rahmen der Aufteilung zwischen Bund und Ländern allein Sache der fünf betroffenen Länder und ihrer Kommunen, eventuell noch der Träger der Einrichtungen.

In der Diskussion im Familien- und Seniorenaus-schuß haben wir Sozialdemokraten immer wieder darauf hingewiesen, daß die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West durchaus eine vordringliche Aufgabe des Bundes sei. Bei der Koalition sind wir damit jedoch auf taube Ohren gestoßen.

Als nächstes wurde — ich nehme an, um das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen — die Stiftung „Daheim im Heim" gegründet. Sie soll die Sanierung von Alteneinrichtungen voranbringen. Zur Gründung der Stiftung gab es Presseerklärungen der Ministe rin, über die Arbeit der Stiftung jedoch nicht. Ist dies vielleicht ein Indiz für die Effektivität dieser Einrich-tung?

Jetzt, 1994, lautet die neueste Version, daß die Sanierung der Heime nicht mehr Aufgabe von Bund, Ländern, Kommunen oder gar der Stiftung sei, viel-mehr sei es jetzt die Aufgabe der Beitragszahler der neuen Pflegeversicherung.

(Zuruf der Bundesministerin Hannelore Rönsch)

Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Warum sollen die Kosten jetzt plötzlich auf den Kreis der Arbeiter und Angestellten abgewälzt werden? Die Beitragsmittel der Pflegeversicherung können nicht dazu benutzt werden, ein Sanierungsproblem zu bewältigen. Wir wollen allein den Pflegebedürftigen diese Beiträge zugute kommen lassen. Wir als SPD-Fraktion fordern, daß der investive Nachholbedarf für ostdeutsche Pflegeheime über acht Jahre an Hand der eintretenden Einsparungen in der Kriegsopferver-sorgung finanziert wird. Hier wird es zu Einsparungen von insgesamt 800 Millionen DM jährlich kommen. Da diese Summe eine langfristige, zuverlässige Planung in den neuen Bundesländern ermöglichen wird, bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Stimmen Sie dem zu!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich komme zum letzten Punkt, und zwar zur Reha-bilitation. In der Beurteilung, daß der Ausbau von Rehabilitationsmöglichkeiten fortgesetzt werden muß, stimme ich mit der Ministerin überein. Bei einem Sportler sind Rehabilitationsmaßnahmen nach einer Meniskusoperation selbstverständlich. Dies muß ge-nauso selbstverständlich sein, wenn ein älterer Mensch, z. B. nach einem Schlaganfall, ins Kranken-haus eingeliefert wird. Auch hier müssen die ersten Reha-Maßnahmen bereits im Akutkrankenhaus be-ginnen. Je nach allgemeinem Gesundheitszustand

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18308 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Lisa Seuster müssen die Behandlungen — möglichst in ortsnahen Reha-Zentren — anschließend fortgeführt werden. Mit geeigneten geriatrischen Reha-Maßnahmen könnte man erreichen, daß ältere Menschen möglichst lange ihre eigene Lebensführung erhalten können.

Mit der Fortschreibung des Grundsatzes „Rehabili-tation geht vor Pflege" ist im Rahmen des Gesund-heitsreformgesetzes 1989 ein wichtiger Schritt get an

worden. Damit wurde auch die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenversicherungen ver-bindlich festgeschrieben. Folgerichtig ist in den letz-ten Jahren auch die Zahl der geriatrischen Abteilun-gen in den Akutkrankenhäusern und in den Rehabi-litationsbereichen angestiegen. Dies gilt es weiter auszubauen. Die Pflegeversicherung könnte auch hier wichtige Impulse geben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, in allen vier wichtigen Punkten sind Lösungen nicht greifbar. Frau Rönsch hat ihre selbstgesteckten Ziele nicht erreicht. Sie ist auch mit ihrer Seniorenpolitik geschei-tert.

Abschließend möchte ich nur zu gern wissen: Wie wird Frau Rönsch versuchen, ihr Scheitern in der Seniorenpolitik zu kaschieren? Wird sie — wie in der Familienpolitik — von ihrem Scheitern mit einem unausgegorenen Vorschlag abzulenken versuchen? Wie wäre es damit: Alle Über-60jährigen, die ihren Führerschein abgeben, haben freie Fahrt in Bus und Bahn. Die Einnahmeausfälle zahlen die uneinsichti-gen Über-60jährigen, die weiter Auto fahren wollen, als Strafsteuer.

Vielleicht aber fällt der Ministerin noch etwas Besseres ein.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Walter Link das Wort.

Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe heute morgen meine Rede zum Altenbericht der Bundesre-gierung mit den Sätzen überschrieben: Wie wir mit den alten Menschen umgehen, zeigt den menschli-chen oder unmenschlichen Charakter unserer Gesell-schaft.

Ich füge hinzu: Es hat schon viele Jugendberichte der Bundesregierung gegeben, aber es gab noch nie einen Altenbericht. Das ist heute der erste, und dieser Altenbericht ist von Frau Professor Ursula Lehr, einer — wie ich meine — in der ganzen Welt anerkannten Alternsforscherin, veranlaßt worden.

Und die dritte Überschrift lautet: 98 % aller Men-schen in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 60 und 80 Jahren leben völlig selbständig ohne fremde Hilfe. Ich glaube, es ist das eigentlich Schöne an dieser Situation, daß so viele Menschen in einem so hohen Alter noch völlig selbständig glücklich und ohne fremde Hilfe leben können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl hat

als erste Regierung in der Bundesrepublik Deutsch

-

land ein eigenständiges Ministerium für Senioren geschaffen. Damit hat der Bundeskanzler gezeigt, daß er die Herausforderung der demographischen Ent-wicklung erkannt und angenommen hat.

(Lisa Seuster [SPD]: Das Symbol muß aber auch ausgefüllt werden!)

Die Lebenserwartung in der Bundesrepublik hat sich in den letzten hundert Jahren fast verdoppelt. Herr Kollege Vogel, das haben wir gestern abend gerade bei dem Symposium in der Parlamentarischen Gesellschaft noch einmal so deutlich gehört, an dem wir beide teilgenommen haben. Also die Lebenser-wartung hat sich fast verdoppelt in den vergangenen hundert Jahren.

Heute sind in der Bundesrepublik 16 Millionen Menschen über 60 Jahre alt, das sind 20 % — jeder fünfte — unserer Bevölkerung.

Der erste Altenbericht der Bundesregierung gibt uns viele Hinweise, wie Seniorenpolitik in der Zukunft gestaltet und verbessert werden kann.

Ich möchte, meine sehr verehrten Damen und Herren, an dieser Stelle hervorheben, daß ich gestern morgen zu Beginn unserer Ausschußsitzung an den Tod unseres Freundes, des Staatssekretärs Albrecht Hasinger, erinnert habe. Wir haben uns zu seinen Ehren gestern in unserem Ausschuß erhoben, weil er in der Tat über viele Jahre mit uns in freundschaftli-cher und enger Gemeinschaft für diese Politik gear-beitet hat.

Statistiker starten immer wieder den Versuch, einen Menschen von einem bestimmten Geburtstag an als alt zu bezeichnen. Egal, ob dies mit 60 oder 65 Jahren geschieht, dies ist der Ansatz einer verfehlten Betrach-tung. Die Unterschiedlichkeit des menschlichen Lebensstils, die Lebensführung und die menschliche Differenziertheit lassen dies nicht zu. Darum kann man nicht schematisch von „den Älteren", „den Senioren" oder „der älteren Generation" sprechen.

Man muß sich nur einmal bewußt werden, wo überall von Senioren gesprochen wird. Einer meiner Berufe ist Sportlehrer. Der Begriff „Senior" ist nicht nur auf ältere Menschen zugeschnitten, sondern die-ser Begriff wird vielfältig positiv verwendet, so z. B. im Sport. Bei vielen Sportarten bezeichnet man ab dem 21. Lebensjahr die Altersklasse, in der man startet, als die Seniorenklasse.

Schlimm wird es, wenn wir von der „Alterslast", dem „Rentenberg" oder von der „Überalterung" sprechen. Die demographische Entwicklung zeigt uns, daß sich der Anteil der Menschen, die älter als 65 Jahre sind, in den nächsten 40 Jahren verdoppeln wird.

Die Statistiker sagen auch — das habe ich vorhin in der Überschrift schon gesagt —, daß 98 % aller Menschen zwischen 60 und 80 Jahren völlig selbstän-dig leben. Hieran sieht man, wie falsch es ist, wenn Altsein in die Nähe von Gebrechlichkeit und Krank-heit gerückt wird.

Auch ist in diesem Zusammenhang ein besonders bedeutender Aspekt, daß Frauen über Jahre hinweg, wenn z. B. der Ehepartner gestorben ist, ohne Ehe-oder Lebenspartner leben müssen. Dieser Erkenntnis

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18309

Walter Link (Diepholz)

ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Dies muß ein besonderes Interesse in der Be trachtung und Umsetzung von Altenpolitik finden.

Die Bundesregierung legt nun einen umfassenden Bericht vor, der die unterschiedlichen Lebenssituati-onen älterer Menschen unter wirtschaftlichen und sozialen wie unter gesundheitlichen und psychischen Gesichtspunkten erfaßt. Der Altenbericht macht deut-lich, daß Altenpolitik kein geschäftsordnungsbeding-tes Referat sein kann. Altenpolitik muß gesellschaftli-che Strukturpolitik sein. Sie ist Querschnittsauftrag bei allen gesellschaftlichen Aufgaben und allen Mini-sterien.

Von daher, Frau Kollegin Seuster, ist Ihr Angriff von eben gegenüber der Ministerin völlig falsch. Man kann nicht Altenpolitik und Geschäftsordnung ver-binden. Es ist gut, daß diese Bundesregierung gesagt hat: Wir zeigen eine besondere Aufmerksamkeit, indem wir das Ministerium schaffen; aber es wird Querschnittspolitik bleiben wie z. B. bei der Rente,

(Christel Hanewinckel [SPD]: Das ist ja in Ordnung; aber man muß auch etwas tun!)

wie z. B. bei der Pflegeversicherung, wie z. B. im Wohnungsbauministerium. Das andere war A und S. Querschnittsaufgabe muß es sein. Frau Ministerin Rönsch — das wissen wir nun einmal besser als Sie von der Opposition — hat sich mit all ihrer Kraft eingesetzt, daß die Pflegeversicherung kommt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn ein Viertel unserer Gesellschaft zu den Älte-ren zählt, stellt sich die Frage, wie man diese struktu-rellen Probleme der Gesellschaft lösen und welchen Beitrag der einzelne dazu bringen kann. Daraus die Konsequenzen zu ziehen heißt, keine Nischenpolitik für angebliche und tatsächliche Defizite für ältere Menschen zu betreiben. Es heißt, die wirklichen Bedürfnisse älterer Mitbürgerinnen und Mitbürger bei allen politischen Entscheidungen mit einzubezie-hen.

Deshalb hat unsere Seniorenministerin Hannelore Rönsch 1992 im Rahmen des Bundesaltenplanes ein Modellprogramm „Seniorenbüro" ins Leben geru-fen. Mittlerweile haben wir viele Jugendberichte, und wir haben einen Jugendplan. Es ist das Verdienst dieser Ministerin und dieser Regierung, daß wir nun einen Altenbericht und auch einen Altenplan haben. Daran kommen auch Sie von der Opposition nicht vorbei. Das sind Erfolge.

(Beifall bei der CDU/CSU — Arne Fuhrmann [SPD]: Das ist ja in Ordnung!)

Hier werden unseren Senioren ganz konkret neue Betätigungsfelder z. B. in den Seniorenbüros angebo-ten. Vor allen Dingen werden hier die jahrelangen Erfahrungen der Seniorinnen und Senioren nach ihren Interessen in gezielte ehrenamtliche Tätigkeit umgesetzt. Die Menschen, die ehrenamtlich tätig sind, sollten auch geschult werden. Ich glaube, es ist ganz wichtig, daß wir die Ehrenamtlichkeit nicht nur fordern, sondern von den Städten, Gemeinden und Kreisen auch Schulungen anbieten. Zu Recht kann davon gesprochen werden, daß die Selbständigkeit

und die Beteiligung älterer Menschen in solchen Seniorenbüros vorbildlich gelebt werden.

Meine Fraktion, die CDU/CSU, ist der Auffassung, daß nachbarschaftliche Netze dort wiederherzustel-len sind, wo sie nicht mehr bestehen. Ziel muß es sein, in den Städten, Kreisen und Gemeinden ein gut strukturiertes Netz von sozialen Diensten zu schaffen, das zwar durch die Kommunen gesteuert und organi-siert wird, aber durch zahlreiche Helferinnen und Helfer auch im Ehrenamt getragen wird. Jede Stadt sollte eine Vermittlungsbörse für soziale Hilfsdienste einrichten.

Das sollte auch heute noch einmal aus dem Plenar-saal des Deutschen Bundestages der Appell an unsere Kommunen sein. Das wäre ein echter Gewinn für Seniorenpolitik, der nicht nur wünschenswert, son-dern auch von der Finanzierbarkeit für Kommunen und Länder machbar ist und auf Dauer gesehen sogar eine Entlastung bringen könnte.

In diesem Zusammenhang wäre auch eine Erweite-rung des Aufgabenspektrums der Sozialstationen möglich, die gegenseitige Besuchs- und Hilfsdienste organisieren. Es muß dafür gesorgt werden, daß Menschen ihren dritten Lebensabschnitt in großer Sicherheit verbringen können.

Neben dem Schutz vor Gewalt und Kriminalität spielt auch die Sorge um die finanzielle Sicherheit der Renten eine Rolle. Ich denke, wir sollten alle gemein-sam in diesem Hause das Gerede von der Unsicherheit der Renten lassen. Wir haben doch nicht umsonst zwischen der Koalition und der Opposition vor Jahren ein Gesetz geschaffen, um unseren Menschen die Sorgen zu nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich verstehe schon, Frau Kollegin Seuster, daß junge Leute heute fragen: Wenn ihr denn eine Lebensversi-cherung macht, profitiere ich auch davon, oder muß ich nur zahlen? Wenn schon die Renten so gut sind wie heute, profitiere ich auch noch davon? Daß diese Sorgen betrachtet werden müssen, auch über das Jahr 2000 hinaus, ist richtig, und das müssen wir gemein-sam tun,

(Lisa Seuster [SPD]: Herrn Biedenkopf müs

-

sen Sie das sagen!)

aber nicht unsere alten Menschen verunsichern. Das sage ich auch zu Kollegen meiner eigenen Partei.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Schlimm wäre dies besonders für die Rentner in Ostdeutschland, die nicht nur 40 Jahre Gefängnis in der DDR zu ertragen hatten, sich trotz Arbeit keinen Wohlstand schaffen konnten, wenn es hier zu einer Rentenkürzung käme. Die CDU/CSU sagt deutlich, daß es zu keiner Rentenkürzung in ihrer Regierungs-zeit kommen wird.

(Arne Fuhrmann [SPD]: Das ist ja nicht mehr so lange — 3 Monate! — Heiterkeit bei der

SPD)

— Ach, wissen Sie, wie lange das noch ist, das bestimmen nicht Sie; das bestimmen die Wählerinnen und Wähler in der Bundesrepublik Deutschland. Da

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18310 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Walter Link (Diepholz)

wollen wir dann einmal im Oktober gucken, wie das aussieht.

(Arne Fuhrmann [SPD]: Wir fangen am 13. März an!)

Wir haben gerade in dieser Woche auf dem Bundes-parteitag bewiesen — und die gesamte veröffentlichte Meinung in Deutschland mit —, daß wir die Partei der Familie sind.

Dieser Altenbericht heute und die Diskussion über diesen Altenbericht zeigen doch noch einmal sehr deutlich, daß wir auch die Partei der Seniorinnen und Senioren in Deutschland sind, und mit diesen Wähler-gruppen den Kampf mit Ihnen zu führen, die Sie sich aus diesen Politikbereichen längst abgemeldet haben, darauf freuen wir uns alle.

(Lisa Seuster [SPD]: Können Sie denn mal die eine Zeitung nennen, die das gesagt hat? — Lachen bei der SPD und der PDS/Linke

Liste)

Sagen Sie einmal: Warum ist eigentlich in den 70er Jahren, in den Jahren von 1969 bis 1982, als Sie regiert haben — Brandt, Schmidt; die demographische Ent-wicklung, wie wir sie heute haben, war schon abzu-sehen — kein Altenbericht gemacht worden? Warum haben Sie kein Seniorenministerium eingerichtet? Sie sind doch während Ihrer Regierungszeit die Versager auf der ganzen Linie gewesen, und heute laufen Sie nur hinter uns her! Das ist doch die Tatsache.

(Beifall bei der CDU/CSU — Arne Fuhrmann [SPD]: 12 Jahre seid ihr dran! Wir reden über

die vergangenen 12 Jahre!)

Der Altenbericht der Bundesregierung ist eine gute Analyse der jetzigen Situation der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Er zeigt auf, wie in der Zukunft Politik für ältere Menschen aussehen kann. Auch die vom Deutschen Bundestag einge-setzte Enquete-Kommission kann diesen Bericht in ihrer Arbeit sicherlich gut aufnehmen und verwen-den.

Ich will Ihnen mal etwas zu den Sozialstationen sagen, weil Sie hier so dazwischenrufen und uns ständig Vorwürfe machen, und sagen, daß Sie mit unserer Altenpolitik nicht zufrieden sind. Daß zur Altenpolitik Sozialstationen geschaffen wurden, ist heute morgen von Heiner Geißler schon einmal gesagt worden.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Sie sind bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten? — Kol-lege Fockenberg, bitte sehr.

Winfried Fockenberg (CDU/CSU): Herr Kollege Link, Sie haben mir das Stichwort mit dem Wort „Sozialstationen" gegeben. Ich möchte ein weiteres Stichwort von Altenpolitik aufgreifen, das Sie eben-falls genannt haben. Wie sieht es, Herr Kollege Link, eigentlich mit der Altenpolitik da aus, wo Sozialdemo-kraten über Mehrheiten verfügen — ich möchte gar nicht sagen, in der Verantwortung stehen:

(Arne Fuhrmann [SPD]: Was ist denn das für ein Unfug?)

zum Beispiel in Niedersachsen? (Arne Fuhrmann [SPD]: Hervorragend, Herr

Kollege, das ist ein Musterländle!)

Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Herr Präsident, ich bitte mir die Zeit nicht anzurechnen.

Herr Kollege Fockenberg, ich bin Ihnen wirk lich dankbar, daß Sie diese Frage stellen. Ich bin ja Niedersachse. Ich bin stellvertretender Landesvorsit-zender der Union in Niedersachsen. Ich will dazu mal so ein paar Takte sagen. Die rot-grüne Landesregie-rung in Niedersachsen hat sich 1990 mit Wahlverspre-chen in der Sozial- und Familienpolitik den Wahlsieg erschwindelt.

(Zurufe von der SPD: Oh!) Wir erinnern uns noch sehr gut daran, wie Sie Frau Süssmuth damals, als sie als Sozialministerin nach Niedersachsen gehen wollte, mit Schmutz übersät haben und dort alles versprochen und uns alles abgesprochen haben.

Wenn die SPD hier in Bonn aus der Opposition überzogene Forderungen erhebt, sollte sie nach Nie-dersachsen schauen, wo sie den Ministerpräsidenten stellt. Ein Gesetz über die Sozialstationen in Nieder-sachsen, das diesen die finanziellen Mittel kürzt, liegt in der Schublade und wird nach den Wahlen heraus-gezogen. — Die SPD versteht ja etwas von Schubla-den. Die SPD in Niedersachsen hat Verbesserungen für den Personalschlüssel bei den Sozialstationen angekündigt, aber nicht eingehalten.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab-geordneter, ich möchte Sie auf die Geschäftsordnung aufmerksam machen dürfen. Ich habe Verständnis dafür, daß Sie das nun so schön herunterlesen, weil man das ja nicht alles im Kopf haben kann. In der Geschäftsordnung aber ist vermerkt, daß nicht nur die Frage, sondern auch die Antwort kurz und präzise sein soll. Wenn ich also die Antwort nicht auf Ihre Zeit anrechnen soll, bitte ich, sich auch an die Geschäfts-ordnung zu halten,

(Arne Fuhrmann [SPD]: Bitte anrechnen, Herr Präsident!)

Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Die SPD hat versprochen, in Niedersachsen Kurzzeit- und Alten-pflege in der Tagespflege einzurichten. Wir stellen nach vier Jahren fest: Fehlanzeige. Die SPD hat gesagt, sie würde in drei Jahren 3 000 Wohnungen schaffen, auf 47 Kreise aufgeteilt. Es kommt nicht viel dabei heraus; denn das würde z. B. für die große Landeshauptstadt Hannover 20 Wohnungen bedeu-ten. Sie hat mit den GRÜNEN versprochen, die Sozialstationen in Niedersachsen zu stärken. Nichts ist geschehen. Hermann Schnipkoweit ist in Nieder-sachsen der Vater der Sozialstationen; die SPD hat sie vier Jahre lang weiterverwaltet, ohne auch nur irgend etwas positiv zu verändern.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab-geordneter, ich lasse die Uhr jetzt wieder laufen, weil ich glaube, daß das in Ihre normale Rede gehört.

Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Das zeigt deut-lich und klar: Sozialisten versprechen sehr viel, wenn

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18312 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese)

als auch was das ungeborene Leben angeht, gibt es zwischen dem Programm der Republikaner und der Stellung von Bischof Dyba und anderen Bischöfen überhaupt keine Unterschiede.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Das wird den Herrn Bischof aber nicht sehr freuen!)

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen mitteilen, daß interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/5897 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen wird. Ich gehe davon aus, daß das Haus damit einverstanden ist. — Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Nunmehr kann ich den Tagesordnungspunkt 11 a und b aufrufen:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit (Arbeitsschutzrahmengesetz — ArbSchRG) — Drucksache 12/6752 —

Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Innenausschuß Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenab-schätzung Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Ausschuß für Wi rtschaft

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierung Bericht der Bundesregierung über den Stand der Unfallverhütung und das Unfallgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland Unfallverhütungsbericht 1992 — Drucksache 12/6429 —

Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Verkehr

Interfraktionell ist vereinbart worden, daß eine gemeinsame Aussprache von einer halben Stunde stattfinden soll. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall. Darm ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Horst Günther das Wort.

Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-nister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zu meinem Thema komme, möchte ich ganz kurz — sozusagen als Kurzintervention, Herr Präsident — die pauschalen Vorwürfe des Kollegen Krause zum Renten-Überleitungsgesetz seitens der Bundesregie-rung zurückweisen. So einfach, Herr Krause, können Sie es sich nicht machen. Sie wissen, wie kompliziert die Materie ist. Es ist unangemessen, mit drei Sätzen eine solche Abqualifizierung vorzunehmen. Ich weise

sie noch einmal seitens der Bundesregierung zurück.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf eines Arbeitsschutzrah-mengesetzes verbessert die Sicherheit und den Gesundheitsschutz bei der Arbeit. Er ist der letzte und wichtigste Baustein der Gesamtkonzeption der Bun-desregierung zur Neuordnung des Arbeitsschutz-rechts und zur Umsetzung von EG-Richtlinien zum Arbeitsschutz.

Die Bundesregierung hat immer wieder betont, daß der Binnenmarkt nicht nur Wirtschafts- und Wäh-rungsunion sein darf; er muß auch Sozialunion sein. Tatsächlich ist der Arbeitsschutz auch das Feld, auf dem die Sozialunion am weitesten vorangekommen ist.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir die EG-Rahmenrichtlinie zum betrieblichen Arbeits-schutz in deutsches Recht um. Die drei wichtigsten Eckpunkte des Entwurfs sind:

Erstens. Erstmalig werden die grundlegenden Pflichten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammenhängend gesetzlich geregelt. Der Arbeit-geber wird verpflichtet, die Gefahrensituation in seinem Betrieb zu ermitteln und zu bewerten. Auf Grund dieser Beurteilung muß er entsprechende Vor-kehrungen treffen oder bereits bestehende Schutz-maßnahmen anpassen.

Bei seinen Maßnahmen muß der Arbeitgeber die allgemeinen Grundsätze der Gefahrenverhütung beachten. Die Gefahren sollen an der Quelle bekämpft werden. Kollektiven Schutzmaßnahmen soll Vorrang vor individuellen eingeräumt werden, und die Erfordernisse der technischen Entwicklung und einer menschengerechten Gestaltung der Arbeit sollen berücksichtigt werden.

Damit folgt der Gesetzentwurf der EG-Rahmen-richtlinie — besser gesagt: der EU-Rahmenrichtli-nie — und schreibt den Arbeitgebern die zu ergreifen-den Arbeitsschutzmaßnahmen nicht im einzelnen haarklein vor. Er läßt den notwendigen Spielraum für kostengünstige und auf den jeweiligen Betrieb zuge-schnittene Lösungen.

Die Beschäftigten werden allerdings auch verpflich-tet, die betrieblichen Arbeitsschutzmaßnahmen zu unterstützen, z. B. durch Benutzung der persönlichen Schutzausrüstungen. Wir wissen, daß gerade dann, wenn diese nicht angewandt wurden, viele Unfälle passiert sind.

Zweitens. Der Gesetzentwurf schafft erstmals einen einheitlichen arbeitsschutzrechtlichen Rahmen für alle Wirtschaftsbereiche und die öffentliche Verwal-tung.

Drittens. Der Präventionsauftrag der Unfallversi-cherungsträger wird, über die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten hinaus, auf die Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefah-ren ausgeweitet. Die guten Erfahrungen mit dem dualen Arbeitsschutzsystem in der Vergangenheit bestätigen, daß dieser Schritt richtig ist.

Der vorliegende Gesetzentwurf rechtfertigt sich aber nicht nur durch die notwendige Umsetzung von

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18313

Parl. Staatssekretär Horst Günther EU-Recht. Dauerhafter Fortschritt im Arbeitsschutz, die wirksame Verhütung von Arbeitsunfällen und arbeitsbedingten Erkrankungen und Gesundheitsge-fahren sind auch ein Gebot der wirtschaftlichen Ver-nunft, sowohl für die gesamte Volkswirtschaft als auch für den einzelnen Betrieb.

Versäumnisse bei der Prävention führen zu Folge-kosten in Milliardenhöhe in den sozialen Sicherungs-systemen. Fehlzeiten, Krankheitskosten, Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten sowie Produktionsaus-fälle — das sind die Folgen mangelhaften Arbeits-schutzes.

Nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeits-schutz beliefen sich die volkswirtschaftlichen Kosten von Arbeitsunfähigkeit im Jahre 1991 auf 88,8 Milli-arden DM. Auch die Zahl der Arbeitsunfälle ist zu hoch, trotz der Erfolge in der Vergangenheit, die ich hier auch gerne anführen möchte.

Weitere Fortschritte im Interesse der Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten sind allerdings notwen-dig. Jeder weitsichtige Unternehmer weiß: Sein wert-vollstes Kapital — gerade in wirtschaftlich schweren Zeiten — sind die Leistungsfähigkeit, die Motivation, die Kreativität und die Gesundheit seiner Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter. Ein wirksamer Arbeitsschutz ist hierzu ein wichtiger Beitrag, und wir wollen ihn mit diesem Gesetz leisten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Manfred Reimann.

Manfred Reimann (SPD): Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Laut EG-Ratsbeschluß sollten die Mitglieder — damals EG, heute EU — die von der EG erlassene Arbeitsschutzrahmenrichtlinie, Herr Staats-sekretär, bis zum 31. Dezember 1992 in nationales Recht umwandeln. Die Bundesregierung legt also mit fast eineinhalbjähriger Verspätung einen Gesetzent-wurf vor. Selbst der — das zeigt sich hier — ist von der Bundesregierung im Hauruck-Verfahren entwickelt und vorgelegt worden. So sieht dieser Gesetzentwurf auch aus. Er erreichte die Parlamentarier total verspä-tet. Wieder einmal sollen wir im Eilverfahren begut-achten, was in nationales Recht umgewandelt werden soll. Ich finde das schon beachtlich und meine, auch wenn man hier freitags mittags über den letzten Tagesordnungspunkt spricht, ist es kein Grund, so kurz zu sein.

(Günther Heyenn [SPD]: Das ist typisch für diese Regierung! Nicht einmal die Hausar

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beiten kann sie machen!) Dieser Zeitdruck ist um so bedauerlicher, meine Damen und Herren, als es schon einen einstimmigen Beschluß des Bundestages —1981 unter der Koalition Helmut Schmidt — zur Schaffung eines umfassenden und einheitlichen Arbeitsschutzgesetzes gibt.

Allein an diesen Daten wird deutlich, welchen Stellenwert die Bundesregierung der Sozialpolitik im allgemeinen und besonders dein Arbeitsschutz bei-mißt.

Die Bundesregierung hätte Zeit genug gehabt, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der den Bedürfnis

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sen Rechnung trägt. Aber vorgelegt wurde ein Ent-wurf mit gravierenden inhaltlichen und konzeptionel-len Mängeln, der in einigen Punkten sogar hinter das bestehende Arbeitsschutzrecht zurückgeht und punk-tuell sogar noch hinter die Vorgaben der EG-Rahmen-richtlinie. Ich nenne nur die Stichworte Gefährdungs-analyse und Mitarbeiterbeteiligung. Obwohl ohne-hin nur ein Mindeststandard festgeschrieben wird, wird auch das noch zu unterlaufen versucht. Nicht einmal der in der EG-Richtlinie geforderte Grundsatz des gleichen Schutzniveaus für alle Arbeitnehmer wird eingehalten.

Lassen Sie mich zum Inhalt einen groben Überblick geben. Das vorgelegte Arbeitsschutzrahmengesetz soll die grundlegenden Pflichten von Arbeitgebern und Beschäftigten im betrieblichen Arbeitsschutz ein-heitlich für alle Beschäftigungsgruppen und Tätig-keitsbereiche einschließlich des öffentlichen Dienstes regeln. Die veralteten Bestimmungen der Gewerbe-ordnung über den betrieblichen Arbeitsschutz sollen damit durch ein EG-konformes Grundgesetz des Arbeitsschutzes abgelöst werden. Der Entwurf umfaßt auch die bisher im Arbeitssicherheitsgesetz enthalte-nen Bestimmungen über die Beratung der Arbeitge-ber durch Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeits-sicherheit. Damit kann das Arbeitssicherheitsgesetz im Grunde genommen aufgehoben werden.

Generell stelle ich für mich und für meine Partei fest: Der Anspruch dieses Gesetzentwurfs steht im Gegen-satz zu dem, was er in der Praxis tatsächlich leisten kann. Gemessen an den Vorstellungen der SPD — siehe Drucksache 12/2412, Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches — kann diese Gesetzes-vorlage nur komplett als unzureichend bezeichnet werden.

Auch der Forderung des Bundesverfassungsge-richts — siehe dessen Urteil zur Nachtarbeit, verfas-sungsrechtlicher Anspruch der Beschäftigten auf Schutz von Leben und Gesundheit — wird dieser Gesetzentwurf nicht gerecht. Von Fachleuten wird er als praxisfremd, schwerfällig und überbürokratisch eingestuft und abgelehnt. Sie befürchten darüber hinaus, daß bei der tatsächlichen Umsetzung reale Verschlechterungen im Arbeitsschutz eintreten.

Kritikpunkte im einzelnen, die wir in die Ausschuß-beratungen einbringen werden — in der Hoffnung, daß sie von der Regierung gehört werden —, sind: Nach wie vor sollen an gleichen Arbeitsplätzen unter-schiedliche Sicherheitsstandards gelten. Zum Bei-spiel kommen deutsche Arbeiter einer Baufirma auf den Baustellen in den Genuß anderer Sicherheitsbe-stimmungen als ausländische Werkvertragsarbeit-nehmer.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist allerhand!)

Nicht nur, daß diese Arbeiter in Unkenntnis der Arbeitsschutzbestimmungen — abgesehen von ihrer eigenen Exponiertheit dadurch — ihre deutschen Kollegen laut Aussage der IG Bau-Steine-Erden oft-mals gefährden; nein, darüber hinaus fördert diese Regelung auch das Sozialdumping und schafft weite-

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18314 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Manfred Reimann

ren Anreiz zur Beschäftigung ausländischer Werkver-tragsarbeitnehmer.

Auch die Ausgrenzung von Heimarbeiterinnen und Hausangestellten sowie des gesamten Gaststättenbe-reiches ist nicht zu begründen. Ferner ist das Mitwir-kungsrecht der Beschäftigten in bezug auf die EG-Rahmenrichtlinie und Art. 8 der Bildschirmrichtlinie nur unzureichend umgesetzt.

Als unzureichend einzustufen sind darüber hinaus die schriftliche Gefährdungsbeurteilung in § 11 — Punkt 19 der Stellungnahme des Bundesrates —, die vorgesehene Überwachung im öffentlichen Dienst sowie die nach wie vor mangelhaft geregelte Zusam-menarbeit von Berufsgenossenschaften und Gewer-beaufsicht, die schon in der Vergangenheit nicht zufriedenstellend verlaufen konnte, weil die Unfall-verhütungsvorschriften nur nach Branchen und nicht sinnvoll übergreifend und ineinandergreifend organi-siert sind. Auch fehlt eine Reform des Berufskrankhei-tenrechts. Die von der SPD schon seit langem gefor-derte Umkehr der Beweislast läßt nach wie vor auf sich warten.

Zu § 22 „Durchführung der Vorsorgeuntersuchun-gen" muß angemerkt werden, daß sich hier ein Zündstoff ganz besonderer Art verbirgt. Dieser § 22 erlaubt die Anwendung genetischer Methoden,

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Hört! Hört!)

juristisch formuliert:

Untersuchungen, durch die bestimmte ererbte Veranlagungen für Erkrankungen, die durch die Beschäftigung an einem bestimmten Arbeitsplatz oder mit einer bestimmten Tätigkeit entstehen können, zu ermitteln sind .. .

Sobald also DNA-Analysen durch ein noch zu schaffendes Gesetz sowie andere genetische Untersu-chungen durch Rechtsverordnung zugelassen wer-den, wird die oben beschriebene Untersuchungser-laubnis wirksam. Es handelt sich hier um eine ausge-sprochen zweischneidige Angelegenheit. Offiziell sollen Schädigungen durch krankmachende Substan-zen am Arbeitsplatz ausgeschlossen werden; inoffi-ziell kann dieser Paragraph aber genausogut dazu benutzt werden, die soziale Selektion zwischen erb-schwachen und erbstarken Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vorzunehmen und so nicht Arbeits-plätze an die Beschäftigten anzupassen, sondern Beschäftigte an die Arbeitsplätze.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: So ist es!)

Die einzig mögliche Lösung kann und darf nur sein, Arbeitsplätze an die dort tätigen Menschen anzupas-sen und krankmachende Stoffe spätestens dann end-gültig zu verbieten, sobald ungefährliche Ersatzstoffe zur Verfügung stehen.

Aus all diesen und anderen hier wegen der Kürze der Zeit leider nicht zu nennenden Kritikpunkten läßt sich die Bilanz ziehen: Die Zielsetzung dieses Gesetz-entwurfs ist einfach nicht umfassend genug. Zum Beispiel fehlt die Prävention in Art. 2 völlig. Dabei könnte gerade durch vorbeugenden Gesundheits-schutz sehr viel gespart werden. Reparaturen — in diesem Falle Reparaturen an der menschlichen

Gesundheit — kommen zwangsläufig teurer als Auf-wendungen für Vorbeugung und Verhütung. Eben-falls nicht außer acht lassen darf man in diesem Zusammenhang die Kosten, die in den Betrieben durch arbeitsbedingte Krankheiten entstehen.

Wir wissen, daß Krankheiten einerseits durch die tägliche Belastung am Arbeitsplatz verursacht wer-den, andererseits aber auch durch Unfälle, die nicht zuletzt wegen fehlender Sicherheitsvorkehrungen geschehen.

Hier wird der Kontext zum Unfallverhütungsbe-richt hergestellt — zu dem ich einige Gedanken äußern möchte —, den die Bundesregierung jährlich vorzulegen hat. Ich kann hier in aller Kürze nur einige Bemerkungen anbringen.

Mein Eindruck, daß es sich bei dem Bericht der Bundesregierung um eine Pflichtübung ohne Konse-quenzen für die praktische Arbeit handelt, erhärtet sich auf Grund der ständig steigenden Unfallzahlen. Herr Staatssekretär, man höre und staune: Berufsun-fälle — plus 25,5 %, tödliche Berufsunfälle — plus 17,17 %, Verdacht auf Berufskrankheit — plus 48 %, Berufskrankheiten mit tödlichem Ausgang — plus 99%.

Die Kosten — gerade weil man in diesem Hause oft stundenlang über Bagatellsummen diskutiert — she-gen in diesem Bereich von 15 auf über 20 Milliarden DM. Da wird so getan, als sei das überhaupt nichts. Die Zahl der Schülerunfälle steigt; die Zahl der tödlichen Schülerunfälle stieg um 83 %.

Wenn man das differenziert — da die neuen Länder und die alten Länder nicht getrennt ausgewiesen werden, habe ich das zwischengerechnet; wir werden das im Ausschuß diskutieren —, dann gewinnt m an

daraus die Erkenntnis, daß im Vergleich zwischen den alten und neuen Ländern ein beachtlicher Unter-schied festgestellt werden kann, nämlich daß die Unfälle in den neuen Ländern noch um wesentlich höhere Prozentsätze stiegen als in den alten Ländern, was für mich heißt, daß sie da drüben miserable Produktionsbedingungen haben, miserable Unfall- und Sicherheitsvorschriften, miserable Arbeitsbedin-gungen. Ich will Sie jetzt nicht mehr mit den Zahlen langweilen, die dort gelten; aber sie gehen weit über die der alten Bundesländer hinaus.

Der Präsident wird auf die Uhr schauen. Ich möchte abschließend dazu sagen: Eine umfassende Gesetzge-bung im Arbeitsschutz würde diese Unfallzahlen — deren kontinuierliche Steigerung von Jahr zu Jahr wir zu bedauern haben — sicherlich spürbar sinken lassen. Deshalb fordere ich die Bundesregierung in diesem Zusammenhang auf: Tun Sie Ihre Pflicht im Arbeitsschutz, bessern Sie nach.

Der Überweisung an den Ausschuß werden wir heute zustimmen und in den Ausschußberatungen die Gelegenheit wahrnehmen, unsere Vorstellungen von einer angemessenen Arbeitsschutzpolitik zum Wohle der Betroffenen einzubringen, in der Hoffnung, Herr Staatssekretär, daß die Bundesregierung auf die Rat-schläge der Opposition hört.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18315

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Peter Ramsauer.

Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Ver-pflichtung, die europäischen Arbeitsschutzrichtlinien in deutsches Recht umzusetzen, fällt zusammen mit dem Auftrag aus Art. 30 des Einigungsvertrages, den öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutz zeitgemäß neu zu regeln. Diesem Auftrag kommt der vorgelegte Ent-wurf eines Arbeitsschutzrahmengesetzes zusammen mit den übrigen Bausteinen im Konzept der Bundes-regierung nach.

Der erste Baustein war bereits 1992 die damals erlassene Novelle zum Gerätesicherheitsgesetz. Der Entwurf eines Arbeitszeitrechtsgesetzes als zweiter Baustein liegt derzeit ebenfalls diesem Parlament zur Beratung vor. Als dritten Baustein hat die Bundesre-gierung im Herbst 1993 die Gefahrstoffverordnung novelliert und sich dabei mit einem umfassenden Asbestverbot in Europa besonders rühmlich hervorge-tan. Als vorläufig letzten und wichtigsten Baustein hat die Bundesregierung nunmehr den Entwuf eines Arbeitsschutzrahmengesetzes vorgelegt.

Meine Damen und Herren, die Länder und die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition verlan-gen dagegen, wie es der Kollege Reimann soeben getan hat — u. a. unter Berufung auf den Einigungs-vertrag —, daß dieser Entwurf zu einem Arbeits-schutzgesetzbuch umgestaltet wird.

(Manfred Reimann [SPD]: So ist es!)

Ich möchte zunächst betonen, daß sich eine rechtli-che Verpflichtung zu einer Kodifizierung aller Sach-bereiche des Arbeitsschutzes weder aus dem EG-Recht noch aus der Neuordnungspflicht des Eini-gungsvertrages ergibt. Die zu behebenden Mängel im deutschen Arbeitsschutzrecht sind nämlich nicht darin begründet, daß für verschiedene Sachgebiete auch besondere Arbeitsschutzvorschriften bestehen. Dies liegt in der Natur der Sache und ist im Arbeits-schutz nicht anders als beispielsweise auch im Umweltschutz.

Vielmehr besteht das Manko im staatlichen Arbeits-schutzrecht bisher da rin, daß die allgemeinen und grundlegenden Pflichten im betrieblichen Arbeits-schutz nicht vollständig und nicht für alle Beschäftig-ten und Tätigkeitsbereiche einheitlich geregelt sind. Genau diesen Mangel beseitigt der vorgelegte Ent-wurf eines Arbeitsschutzrahmengesetzes.

Meine Damen und Herren, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der anhaltenden deutschen Standortde-batte muß sich jedes neue Gesetz an zwei grundlegen-den Fragen messen lassen. Frage Nummer eins: Welche zusätzlichen Belastungen bringt es für die Wirtschaft und für die Arbeitsplätze? Frage Nummer zwei: In welchem Ausmaß verursacht es zusätzliche öffentliche Bürokratie?

Zu diesen beiden Fragen an den Gesetzentwurf müssen im Laufe der Ausschußberatungen noch eine Reihe von Hausaufgaben erledigt werden. Insbeson-dere darf es zu keinen Überreglementierungen im Bereich des Arbeitsschutzes kommen, die in der Praxis dann kaum mehr umsetzbar sind. Ich glaube, da habe

ich Sie, Herr Kollege Reimann, in etwa richtig verstan-den. Hier sind wir uns sicher einig.

Der Unfallverhütungsbericht 1992, über den wir heute ebenfalls debattieren, weist für das Jahr 1992 insgesamt über 2,3 Millionen angezeigte Unfälle aus. Jeder dieser Unfälle ist natürlich einer zuviel. Aber man kann davon ausgehen, daß der überwiegende Teil dieser Unfälle nicht etwa deshalb passiert ist, weil es bisher zu wenig Arbeitsschutzvorschriften gege-ben hätte, sondern vielmehr deshalb, weil bestehende Arbeitsschutzvorschriften schlicht und einfach miß-achtet worden sind.

(Manfred Reimann [SPD]: Woher wissen Sie das denn?)

— Können Sie das Gegenteil beweisen, Herr Kollege Reimann? Wir werden uns über den Unfallverhü-tungsbericht nachher unterhalten, und über diesen Punkt müssen wir halt einmal ganz offen sprechen, ob unsere Bestimmungen nicht ohnehin schon zu kom-pliziert sind mit Regelungen, die von den Arbeitneh-mern selbst nicht mehr angenommen werden, so daß, wenn der Kontrolleur der Berufsgenossenschaft hin-ausgeht, wieder irgendeine Schutzvorrichtung weg-genommen wird. Darüber ist zu sprechen.

In all diesen Fällen hilft es daher nicht, wenn noch immer weitere Arbeitsschutzvorschriften aufgepfropft werden. Deshalb warne ich vor einem Überziehen von Regelungen, die dann in der Praxis leider Gottes nicht mehr eingehalten werden.

Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund, aber auch im Hinblick auf eine einigermaßen einheit-liche europäische Basis beim Arbeitsschutz plädiere ich deshalb eindringlich dafür, bei der Schaffung dieses Arbeitsschutzrahmengesetzes nicht mehr zu tun, als die europäischen Richtlinien lediglich um bereits bestehendes deutsches Arbeitsschutzrecht zu ergänzen. Alles, was darüber hinaus aufgepfropft wird, wird auch die Wettbewerbsfähigkeit und damit den Standort Deutschland berühren.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Dies ver-anlaßt den Abgeordneten Hans Büttner, eine Frage zu stellen.

Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Das habe ich auch nicht anders erwartet, Herr Präsident.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr.

Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Kollege Ram-sauer, würden Sie es angesichts der Tatsache, daß die berufsbedingten Unfälle und Erkrankungen, wie es Herr Staatssekretär Günther vorhin schon erwähnt hat, im Jahr allein fast 90 Milliarden DM volkswirt-schaftliche Kosten verursachen, nicht für dringend notwendig halten, mehr und mehr integriert im Gesundheitsschutz zu tun, weil diese Kosten mehr ausmachen als all das, was im Bereich der Selbstbe-teiligung und bei anderen Fragen vorgesehen ist, etwa der Pflegeversicherung? Glauben Sie nicht, daß es lohnt, alles daranzusetzen, und zwar nicht nur im Interesse der Menschen, sondern vor allem auch im

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18316 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Hans Büttner (Ingolstadt)

Interesse der volkswirtschaftlichen Kosten, diese Belastungen zu verringern?

Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Herr Kollege Bütt-ner, ich habe ja vorhin schon gesagt, daß viele Arbeitsschutzvorschriften bereits heute überzogen sind. Sie wissen genausogut wie ich, daß die sechs oder sieben EU-Mitgliedsländer, die die Rahmen-richtlinie bereits umgesetzt haben, nichts anderes getan haben, als die Richtlinie in ihre eigene Sprache zu übersetzen. Wir müssen, wenn wir uns mit der Umsetzung in deutsches Recht auseinandersetzen, schon berücksichtigen, was die anderen Länder tun, nicht zuletzt im Hinblick auf die Wettbewerbsfähig-keit der deutschen Wirtschaft.

Die Kosten, die Sie angesprochen haben, sind natürlich zu hoch. Das ist ganz klar; das gestehe ich ein. Aber ich sage noch einmal und unterstreiche: Ich gehe auch auf Grund meiner eigenen beruflichen Erfahrung — wenn Sie mit Leuten, die in Betrieben tätig sind, und auch mit Arbeitsschutzbeauftragten in den Betrieben reden, wird das deutlich — davon aus, daß die allermeisten Unfälle in den Betrieben nicht zu passieren bräuchten, wenn die bestehenden Arbeits-schutzvorschriften korrekt eingehalten würden.

Ich betrachte die Frage damit als beantwortet. Die Uhr kann weiterlaufen.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich hoffe, daß der Fragesteller das ähnlich sieht.

Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aber auch einige Beispiele dafür geben, wo am Gesetzentwurf gehobelt werden muß.

Beispielsweise können die in § 11 vorgesehenen Dokumentationspflichten in unnötige zusätzliche Bürokratie ausarten, die letztlich in keiner Weise sachdienlich ist. Daneben nimmt der Gesetzentwurf an mehreren Stellen nicht auf die besonderen Belange kleiner und mittlerer Unternehmen Rücksicht. Dem-gegenüber enthält die europäische Rahmenrichtlinie an mehreren Stellen ausdrücklich Klauseln für mittel-ständische Unternehmen. Daran sollten wir uns hal-ten.

Meine Damen und Herren, es geht mir gegen meinen politischen Strich, daß für die Durchführung des Gesetzes Mehraufwendungen beim Bund durch diverse Ausführungsbehörden entstehen. Eine wei-tere personelle Aufstockung der Ausführungsbehör-den wird vom BMA für unumgänglich gehalten. Ich sage dagegen: Weitere Aufstockungen im öffentli-chen Dienst können wir uns nicht leisten, wenn nicht nachgewiesenermaßen an anderer Stelle des öffentli-chen Dienstes entsprechend abgebaut wird.

Meine Damen und Herren, für mich ist es in diesem Zusammenhang nicht begreiflich, daß den beiden Bundesanstalten, der für Arbeitsschutz einerseits und der für Arbeitsmedizin andererseits, noch zusätzliche Aufgaben aufgebürdet werden sollen. Das Gegenteil sollte meines Erachtens der Fall sein, und es sollte sogar — dies betone ich — intensiv geprüft werden, ob

nicht diese beiden Bundesanstalten gänzlich abge-schafft werden können.

(Manfred Reimann [SPD]: Schafft doch die Regierung gleich mit ab!)

— Herr Kollege Reimann, hören Sie mir doch zu; wir können ja im Ausschuß dann darüber sprechen.

Möglicherweise werden sehr viele Aufgaben im Bereich des Arbeitsschutzes heute schon von den vielen am Arbeitsschutz beteiligten Behörden, Orga-nisationen, Unfallversicherungsträgern usw. doppelt und dreifach erledigt, so daß eine Straffung ohne weiteres möglich wäre. Manche Aufgaben dieser Bundesbehörden könnten vielleicht zusätzlich auf die Träger der Unfallversicherung übertragen, manche Aufgaben vielleicht auch gänzlich privatisiert wer-den. Auch in diesem Bereich gibt es für mich keine Tabus, und entsprechende Fragen muß man stellen dürfen.

Meine Damen und Herren, soweit die Wirtschaft betroffen ist, erwartet die Begründung des Gesetzent-wurfs zwar keine nennenswerten zusätzlichen Ko-stenbelastungen. Angesichts der erheblichen, büro-kratisch bedingten Kosten in den Unternehmen kön-nen wir jedoch auch geringfügige zusätzliche Kosten-belastungen nicht hinnehmen. A ll dies muß im Aus-schuß noch einmal grundsätzlich beleuchtet wer-den.

Meine Damen und Herren, auch die Arbeitsschutz-rahmenrichtlinie und die auf ihrer Basis erlassenen Einzelrichtlinien, die nun auch in deutsches Recht als Verordnungen der Bundesregierung umgesetzt wer-den sollen, müssen wir uns sehr genau ansehen, denn sie enthalten eine Reihe von vollkommen überzoge-nen Vorschriften, die in der Praxis nicht umgesetzt werden können, beispielsweise die sogenannte Lastenhandhabungsverordnung, die es nicht zuläßt, daß öfter als nur gelegentlich Lasten von zehn Kilo gehoben werden. Dies würde eine ganze Reihe von Tätigkeiten, beispielsweise im Baugewerbe oder in der Mühlenwirtschaft, aus der ich komme, vollkom-men zum Erliegen bringen. Dies ist praxisferner Unfug; das sollten wir uns nicht leisten.

Insgesamt, meine Damen und Herren, stellt dieser Gesetzentwurf jedoch eine sehr gute Grundlage dar, um die europäischen Richtlinien in deutsches Recht umzusetzen. Wir sollten uns, meine lieben Kollegin-nen und Kollegen von der Opposition, zusammenset-zen und gemeinschaftlich versuchen, ein gutes, neues Gesetzeswerk zustande zu bringen.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions

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los])

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Pe tra Bläss das Wort.

Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Zeit wird im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung das neue Arbeitszeit-rechtsgesetz beraten. Es ist zu befürchten, daß es trotz enormer Proteste gegen diesen neuen Akt der Dere-

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18317

Petra Bläss gulierung per Koalitionsmehrheit durchgepeitscht wird.

Eigentlich wird damit die Arbeit an einem Arbeits-schutzrahmengesetz fast überflüssig. Denn was dort bereits an weiterer Flexibilisierung von Arbeit und an Abbau von Schutzrechten vorgesehen ist, wird teil-weise zu unverantwortlichen Belastungen der abhän-gig Beschäftigten führen. — In meinem Büro stapeln sich jedenfalls Protestbriefe von Be troffenen. — Ich erinnere nur an die Möglichkeit, den Beschäftigten über Monate die 60-Stunden-Woche zu verordnen, Ausnahmen von Sonn- und Feiertagsruhe allein aus wirtschaftlichen Erwägungen festzulegen, ganz zu schweigen von Verschärfungen der Nachtarbeit.

Zum vorgelegten Gesetzentwurf, zum Arbeits-schutzrahmengesetz: Zunächst finde ich es begrü-ßenswert, daß damit der Versuch gemacht wird, Arbeitsschutzvorschriften, die teilweise dem vergan-genen Jahrhundert entlehnt und fortschrittshemmend sind, zu reformieren und in einem Regelwerk zusam-menzufassen. Dies erleichtert die Mitwirkungsmög-lichkeit der Betroffenen und die Kontrolle der Einhal-tung der gesetzlichen Vorschriften, wobei genau auf dieser Ebene meine Hauptkritik liegt. Ich finde es notwendig, daß Beschäftigte und ihre Vertretungen im Betrieb ein wirkliches Mitbestimmungsrecht auf diesem Gebiet haben müssen. Die diesbezüglichen Regelungen sind mir zu unverbindlich. Ich halte es auch für erforderlich, daß die Beschäftigten bei Fra-gen des Arbeitsschutzes nicht nur unterrichtet werden müssen, sondern ihnen ein Initiativrecht eingeräumt wird, denn es geht vor allem um ihre Gesundheit.

Besonders wichtig ist, daß die Verantwortung der Arbeitgeber für Arbeitsschutzmaßnahmen überhaupt aufgenommen wird. Doch genau diese Verantwor-tung wurde gegenüber dem ersten Referentenentwurf wieder aufgeweicht. Das Gesetz schließt jetzt wich-tige Beschäftigtengruppen in den Arbeitsschutz ein, schließt allerdings — auch im Gegensatz zum ersten Entwurf — Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen und ihnen Gleichgestellte aus, was gerade auch deshalb besonders fatal ist, weil hier vorzugsweise Frauen betroffen sind, die ja bekanntermaßen deshalb Heim-arbeit machen, weil sie Mehrfachverpflichtungen haben. Gerade sie zu schützen scheint mir eine wichtige Aufgabe zu sein.

Zu begrüßen ist, daß die Maßnahmen des Arbeits-schutzes unter die allgemeine Forderung nach „men-schengerechter Gestaltung der Arbeit" gestellt wer-den. Doch dazu gehört meiner Auffassung nach auch die Berücksichtigung psychosozialer Faktoren im Arbeitsprozeß, die bisher gar nicht vorkommt.

Ich denke abschließend, daß als Zwecksetzung des Gesetzes deutlicher noch Fragen der Prävention in den Vordergrund gestellt werden müssen. Die recht-lichen Voraussetzungen dafür sind durch die Ver-pflichtung des Arbeitgebers, Gefährdungsanalysen vorzunehmen, besser als jemals zuvor. Es kommt nur darauf an, sie zu nutzen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Paul Friedhoff.

Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der heutigen ersten Lesung zum Regierungsentwurf eines Arbeitsschutzrahmen-gesetzes greifen wir ein Thema auf, mit dem sich der Ausschuß für Arbeit und Soziales schon seit längerem beschäftigt.

Auf Antrag der SPD-Fraktion haben wir bereits Ende 1992 eine Anhörung zum Thema Arbeitsschutz durchgeführt. Im Ergebnis hat sich gezeigt, daß der Arbeitsschutzstandard in der Bundesrepublik Deutschland sicherlich nicht niedrig ist. Er ist jeden-falls um einiges höher, als uns die SPD dies immer glauben machen wollte.

Die Novellierung des Arbeitsschutzgesetzes in Form des Arbeitsschutzrahmengesetzes steht nun auf der Tagesordnung. Zum einen erteilt der Einigungs-vertrag den Auftrag, das öffentlich-rechtliche Arbeits-schutzrecht zu überarbeiten, vor allem aber müssen wir wieder einmal eine europäische Rahmenrichtlinie in verbindliches nationales Recht umsetzen.

Meine Damen und Herren, ich will nicht verhehlen, daß wir Liberalen uns mit dem Gesetzentwurf ausge-sprochen schwer tun. Dies hat vor allem folgende Gründe: Die Regelungsdichte des Entwurfs läuft den Bestrebungen der F.D.P. nach Entbürokratisierung und Deregulierung mit dem Ziel der Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland entschieden zuwi-der. Allein die umfangreichen Dokumentationspflich-ten, die der Gesetzentwurf dem Arbeitgeber aufer-legt, dürften nicht nur für kleine und mittlere Unter-nehmen einige schier unlösbare Probleme mit sich bringen.

Das ist noch nicht einmal alles. Der Gesetzentwurf ermächtigt auch noch zum Erlaß einer Vielzahl von Rechtsverordnungen, an denen der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung schon fleißig st rickt. Was da alles drin stehen wird, mit immensen Auswir-kungen auf die Praxis, ist dem Parlament noch nicht bekannt.

Meine Damen und Herren, insgesamt wird das Arbeitsschutzrahmengesetz eine Flut von Vorschrif-ten nach sich ziehen, die den Arbeitsschutz von vorne bis hinten bürokratisch durchnormieren. Das ist sicher nicht das, was wir Liberalen uns unter Deregulierung vorstellen. Und wenn der Bundesarbeitsminister uns sagt, das alles sei in der Richtlinie der Europäischen Union bereits vorgegeben, beginnen wir, uns allmäh-lich zu fragen, was vom Arbeitsminister in Brüssel eigentlich so alles verhandelt wird.

Ein weiteres Problem ist die Zustimmungsbedürf-tigkeit des Gesetzes. Was die SPD in das ohnehin stark befrachtete Arbeitsschutzrahmengesetz noch alles hineinpacken will, wissen wir schon aus der vorange-gangenen Anhörung. Sie fordert, wie die Länder, die Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches, in dem der Arbeitsschutz umfassend geregelt wird.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist auch notwendig! Das ist überfällig!)

Die Forderung nach dem Arbeitsschutzgesetzbuch wird mit dem zersplitterten Arbeitsschutzrecht in der Bundesrepublik Deutschland gerechtfertigt.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

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18318 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Paul K. Friedhoff

Natürlich ist das Arbeitsschutzrecht kompliziert und zersplittert. Es muß ja auch eine unendliche Vielfalt sehr unterschiedlicher Arbeitsplätze abdecken, die naturgemäß auch mit sehr unterschiedlichen Gefah-ren verbunden sind.

Meine Damen und Herren, Folge der Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches wäre die grundsätz-liche Zustimmungsbedürftigkeit maßgeblicher Rege-lungen zum Arbeitsschutzrecht im Bundesrat. Eine eventuelle spätere Novellierung des Arbeitsschutzge-setzes wäre beispielsweise nur noch mit Zustimmung der Länder zu machen. Bei der gegenwärtigen politi-schen Konstellation kann man sich gut vorstellen, was das hieße. Die Schaffung des Arbeitsschutzgesetzbu-ches führt damit zu einer nicht unerheblichen Schmä-lerung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Bereich Arbeitsschutz.

Meine Damen und Herren, in die gleiche Richtung geht der Wunsch der Bundesländer und auch der SPD

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Arbeits

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schutz ist Gesundheitsschutz!)

nach vorrangiger Gesetzgebungskompetenz vor der Rechtsetzungsbefugnis der Berufsgenossenschaf-ten.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Aus gutem Grund!)

Im Gesetzentwurf des Arbeitsschutzrahmengesetzes sind vorgesehene Verordnungsermächtigungen mit einer Subsidiaritätsklausel zugunsten von Unfallver-hütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften ver-bunden. Das wollen die Länder genau andersherum. Sie reklamieren für sich selbst zuerst die Verord-nungskompetenz vor den Berufsgenossenschaften. Auch dies wird mit der F.D.P., die immer für die Stärkung des dualen Arbeitsschutzsystems eingetre-ten ist, weil es sich bewährt hat, nicht zu machen sein.

Meine Damen und Herren, unsere Bedenken gegen den vorliegenden Gesetzentwurf wiegen besonders im Hinblick auf die weitere Behandlung im Bundesrat schwer. Wir werden im Gesetzgebungsverfahren dar-auf besonders achten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/6752 und 12/6429 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Ausdrücklich möchte ich darauf hinweisen, daß das Arbeitsschutzrahmengesetz auf Drucksache 12/6752 zusätzlich an den Ausschuß für Wirtschaft überwiesen werden soll. Sind Sie damit einverstan-den? — Widerspruch erhebt sich nicht. Damit ist die Überweisung beschlossen, meine Damen und Her-ren.

Damit sind wir am Ende unserer Tagesordnung. Ich möchte es nicht versäumen, mich bei denjenigen zu bedanken, die bis zum Schluß hiergeblieben sind, und Ihnen ein erholsames und ärgerfreies Wochenende wünschen.

(Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Gleich

-

falls!)

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf Mittwoch, den 2. März 1994, 13 Uhr ein. .

Die Sitzung ist geschlossen.

(Schluß der Sitzung: 13.09 Uhr)

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Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18319*

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich

Antretter, Robert SPD 25. 2. 94 Bartsch, Holger SPD 25. 2. 94 Becker-Inglau, Ingrid SPD 25. 2. 94 Berger, Hans SPD 25. 2. 94 Dr. Blanck, CDU/CSU 25. 2. 94

Joseph-Theodor Böhm (Melsungen), CDU/CSU 25. 2. 94*

Wilfried Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 25. 2. 94 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 25. 2. 94

Herta Dörflinger, Werner CDU/CSU 25. 2. 94 Ehrbar, Udo CDU/CSU 25. 2. 94 Eimer (Fürth), Norbert F.D.P. 25. 2. 94 Fischer SPD 25. 2. 94

(Gräfenhainichen), Evelin

Francke (Hamburg), CDU/CSU 25. 2. 94 Klaus

Gallus, Georg F.D.P. 25. 2. 94 Ganschow, Jörg F.D.P. 25. 2. 94 Dr. Gautier, Fritz SPD 25. 2. 94 Gries, Ekkehard F.D.P. 25. 2. 94 Grochtmann, Elisabeth CDU/CSU 25. 2. 94 Gröbl, Wolfgang CDU/CSU 25. 2. 94 Grünbeck, Josef F.D.P. 25. 2. 94 Haack (Extertal), SPD 25. 2. 94

Karl-Hermann Hackel, Heinz-Dieter F.D.P. 25. 2. 94 Haschke (Jena-Ost), Udo CDU/CSU 25. 2. 94 Heinrich, Ulrich F.D.P. 25. 2. 94 Jung (Düsseldorf), Volker SPD 25. 2. 94 Kalb, Bartholomäus CDU/CSU 25. 2. 94 Kastning, Ernst SPD 25. 2. 94 Keller, Peter CDU/CSU 25. 2. 94 Kleinert (Hannover), F.D.P. 25. 2. 94

Detlef Köppe, Ingrid BÜNDNIS 25. 2. 94

90/DIE GRÜNEN

Körper, Fritz Rudolf SPD 25. 2. 94 Kohn, Roland F.D.P. 25. 2. 94 Kolbe, Manfred CDU/CSU 25. 2. 94 Koltzsch, Rolf SPD 25. 2. 94 Koppelin, Jürgen F.D.P. 25. 2. 94 Kors, Eva-Maria CDU/CSU 25. 2. 94 Koschnick, Hans SPD 25. 2. 94 Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 25. 2. 94 Leidinger, Robert SPD 25. 2. 94 Dr. Leonhard-Schmid, SPD 25. 2. 94

Elke Dr. Matterne, Dietmar SPD 25. 2. 94 Mattischeck, Heide SPD 25. 2. 94 Dr. Menzel, Bruno F.D.P. 25. 2. 94 Michels, Meinolf CDU/CSU 25. 2. 94

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich

Dr. Mildner, Klaus CDU/CSU 25. 2. 94 Molnar, Thomas CDU/CSU 25. 2. 94 Müller (Schweinfurt), SPD 25. 2. 94

Rudolf Müller (Völklingen), SPD 25. 2. 94

Jutta Müller (Wesseling), CDU/CSU 25. 2. 94

Alfons Niggemeier, Horst SPD 25. 2. 94 Ostertag, Adolf SPD 25. 2. 94 Dr. Penner, Willfried SPD 25. 2. 94 Pesch, Hans-Wilhelm CDU/CSU 25. 2. 94 Pfuhl, Albert SPD 25. 2. 94 Dr. Pinger, Winfried CDU/CSU 25. 2. 94 Dr. Pohl, Eva F.D.P. 25. 2. 94 Rahardt-Vahldieck, CDU/CSU 25. 2. 94

Susanne Repnik, Hans-Peter CDU/CSU 25. 2. 94 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 25. 2. 94

Ingrid Schaich-Walch, Gudrun SPD 25. 2. 94 Scheffler, Siegfried SPD 25. 2. 94 Dr. Schmude, Jürgen SPD 25. 2. 94 von Schmude, Michael CDU/CSU 25. 2. 94 Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 25. 2. 94 Schütz, Dietmar SPD 25. 2. 94 Schulte (Hameln), SPD 25. 2. 94 **

Brigitte Schuster, Hans F.D.P. 25. 2. 94 Dr. Schwarz-Schil ling, CDU/CSU 25. 2. 94

Christian Seibel, Wilfried CDU/CSU 25. 2. 94 Skowron, Werner H. CDU/CSU 25. 2. 94 Dr. Starnick, Jürgen F.D.P. 25. 2. 94 Dr. Frhr. von Stetten, CDU/CSU 25. 2. 94

Wolfgang Dr. Stoltenberg, Gerhard CDU/CSU 25. 2. 94 Dr. von Teichman, F.D.P. 25. 2. 94

Cornelia Dr. Töpfer, Klaus CDU/CSU 25. 2. 94 Dr. Vogel, Hans-Jochen SPD 25. 2. 94 Vosen, Josef SPD 25. 2. 94 Dr. Warnke, Jürgen CDU/CSU 25. 2. 94 Westrich, Lydia SPD 25. 2. 94 Wettig-Danielmeier, Inge SPD 25. 2. 94 Dr. Wieczorek, Norbert SPD 25. 2. 94 Wieczorek-Zeul, SPD 25. 2. 94

Heidemarie Wieczorek (Duisburg), SPD 25. 2. 94

Helmut Wimmer (Neuötting), SPD 25. 2. 94

Hermann Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 25. 2. 94 Wolf, Hanna SPD 25. 2. 94 Zierer, Benno CDU/CSU 25. 2. 94 Zywietz, Werner F.D.P. 25. 2. 94

* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-lung des Europarates

** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versamm-lung

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Anlage 2

Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den von den Abgeordneten Johannes Gerster (Mainz), Heribert Scharrenbroich und weiteren Abgeordneten eingebrachten Antrag

betr. verhüllter Reichstag — Projekt für Berlin (Tagesordnungspunkt 9)

Hans-Dirk Bierling (CDU/CSU): Ich erkläre hiermit, daß ich mich bei der Abstimmung meiner Stimme enthalten werde, da ich das parlamentarische Verfah-ren namentlicher Abstimmung für den Antragsgegen-stand als überzogen be trachte. Wie ich Herrn Christo bereits früher mitteilte, steht meine Stimmenthaltung nicht für eine grundsätzliche Ablehnung des Projek-tes, zumal dafür öffentliche Mittel nicht beansprucht werden. Eine Entscheidung des Präsidiums oder Älte-stenrates für das Projekt Reichstagsverhüllung hätte ich akzeptiert und nach außen vertreten.

Die Befassung des Plenums jedoch und um so mehr die namentliche Abstimmung über den Antrag im Deutschen Bundestag lehne ich entschieden ab, solange wichtigste Entscheidungen des Hohen Hau-ses mit höchster Bedeutung für unser Volk — wie z. B. die Pflegeversicherung — in dieser Wahlperiode noch nicht durchgesetzt werden konnten.

Ohne die Bedeutung von Kunst und Kultur für das Leben einer Nation unterbewerten zu wollen, sehe ich mich veranlaßt zu erklären: Meinen Wählern im sächsischen Wahlkreis Meißen-Riesa-Großenhain kann und will ich nicht den Aufwand erklären, den das Deutsche Parlament für den S treit um die Reichstags-verhüllung des Herrn Christo betreibt, während für meine Wähler existentiell bedeutsame Fragen noch offen sind.

Da die Regeln des Hohen Hauses mich hindern, der Abstimmung aus Protest fernzubleiben, werde ich mich der Stimme enthalten.

Klaus Bühler (Bruchsal) (CDU/CSU): Heute steht auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages der Gruppenantrag „Verhüllung des Reichstages" (Drucksache 12/6767) zur Beratung und zur nament-lichen Abstimmung an .

An dieser Abstimmung werde ich mich nicht betei-ligen. Ich darf dies wie folgt begründen:

In der derzeitigen Situation scheint es mir nicht gerechtfertigt zu sein, daß der Deutsche Bundestag das Projekt eines Künstlers, den Reichstag zu verhül-len, zum Gegenstand einer parlamentarischen De-batte mit anschließender namentlicher Abstimmung macht. Damit möchte ich keineswegs zum künstleri-schen Wert einer solchen Aktion Stellung beziehen.

Vielmehr bin ich der Meinung, daß sich das Parla-ment gerade jetzt vorrangig mit den Problemen aus-einandersetzen sollte, die unseren Bürgerinnen und Bürgern unter den Nägeln brennen (Einführung einer Pflegeversicherung, Sicherung des Wirtschaftsstand-ortes Bundesrepublik Deutschland, weitere Maßnah-men zur konjunkturellen Wiederbelebung und

Verstärkung der Anstrengungen zum Abbau der Arbeitslosigkeit, Verbesserung der Inneren Sicherheit u. a. m.).

Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Gegen eine Verpak-kung des Reichstagsgebäudes in Berlin durch den amerikanisch-bulgarischen Künstler Christo wende ich mich mit politischen Argumenten. Christos Absicht zielt nämlich auf die Verhüllung eines natio-nalen Symbols. Der Künstler hat bereits verschiedene Gebäude wie die Kunsthalle in Berlin, das Museum für Zeitgenössische Kunst in Chicago, verschiedene Denkmäler in Mailand und antike Stadtmauern in Rom verhüllt. Seit 22 Jahren trägt sich Christo mit der Absicht, den Reichstag in diese Reihe einzugliedern. Keines der genannten Objekte besitzt jedoch annä-hernd die historische, politische und emotionale Bedeutung des Berliner Reichstags.

1. Christos Absicht, den Reichstag zu verhüllen, kann nur angemessen vor dem Hintergrund der spe-zifischen deutschen Geschichte und der immer noch fortwirkenden Akzeptanzprobleme der parlamentari-schen Demokratie bewertet werden. Christos Ansin-nen ist geeignet, zur Beschädigung des Parlamenta-rismus in Deutschland beizutragen.

2. Christo begründet seine Absicht mit den Argu-menten, er wolle den Reichstag als Mahnmal der untergegangenen Weimarer Demokratie und als Symbol des politischen Neubeginns in Deutschl and nach der Wiedervereinigung herausstellen. Es ist jedoch in diesem Zusammenhang an die Beliebigkeit der Argumentation Christos zu erinnern, der in Ver-kennung der geschichtlichen Wahrheit den Reichstag anfänglich für ein Symbol des Dritten Reiches hielt, welches verdeckt werden müsse.

3. Vor allem aber stellt sich die Frage nach der Selbstachtung der Deutschen: Haben sie nicht auch ein Recht auf die Würde ihrer nationalen Symbole? In Frankreich durfte Christo lediglich den Pont Neuf, nicht aber das Parlamentsgebäude oder den Elysee-Palast verpacken. Warum muß ausgerechnet der Reichstag das erste Gebäude dieser Art sein? Viel-leicht versucht sich der amerikanisch-bulgarische Künstler zunächst am Kapitol in Washington oder am Parlament in Sofia.

Ich bekunde meine feste Überzeugung, daß durch die heutige Debatte und die namentliche Abstim-mung der Bundestag die Angelegenheit der geplan-ten Verhüllung des Reichstags stark überbewertet. Der Bundestag hätte wahrlich Anlaß, wesentlich bedeutsamere Probleme einer Lösung zuzuführen. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn im Vorfeld die-ser Debatte ein politischer Konsens, den Reichstag nicht verhüllen zu lassen, zustande gekommen wäre. Da dies bedauerlicherweise nicht der Fall war, betei-lige ich mich trotz meiner dargelegten inhaltlichen Bedenken an der Abstimmung und stimme mit nein.

Dr. Norbe rt Lammert (CDU/CSU): Ich stimme dem Antrag zu, die künstlerische Verhüllung des Reichs-tagsgebäudes zu gestatten, obwohl ich viele der

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18321*

vorgetragenen Einwände bedenkenswert finde und insbesondere den Hinweis auf die herausragende Bedeutung des Reichstages als nationales und histori-sches Symbol für zutreffend halte. Dennoch komme ich persönlich zu einer anderen Bewertung.

Die Verbindung von Kunst und Politik, von künst-lerischem Ausdruck und nationalen Symbolen ist schwierig, aber sie ist weder ungewöhnlich noch unstatthaft. Die Neugestaltung der „Neuen Wache" in Berlin als nationale Gedenkstätte mit der — im übri-gen gegenüber dem Original vergrößerten — Skulp-tur von Käthe Kollwitz ist ein aktuelles, ebenfalls umstrittenes, für mich persönlich überzeugendes Bei-spiel.

Der Reichstag ist in der Tat nicht irgendein Gebäude, er ist ein einzigartiges Monument nicht nur der deutschen Geschichte. Kein anderes Parlaments-gebäude der Welt steht in gleicher Weise für Glanz und Elend der Demokratie, Aufstieg und Fall einer freiheitlich verfaßten Gesellschaft, Stärke und Schwä-che des Parlamentarismus, Konfrontation und Zusam-menbruch von Ideologien, den Ost-West-Konflikt und seine Überwindung. Gerade deshalb ist für mich die Absicht zur Verhüllung des Reichstages und nicht irgend eines anderen Parlamentsgebäudes a lles andere und jedenfalls mehr als ein künstlerisches Experiment oder ein ästhetisches Erlebnis zur Ver-deutlichung einer historischen Zäsur, es ist vielmehr eine grandiose Möglichkeit, auf ein Gebäude, seine Geschichte und seine Bedeutung aufmerksam zu machen und es in den Mittelpunkt einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung mit großer interna-tionaler Aufmerksamkeit zu rücken: Genau dort gehört der Reichstag, das deutsche Parlament, hin.

Für mich geht es bei dieser Abstimmung nicht um die Alternative: Respekt vor der Kunst oder Respekt vor nationalen Symbolen, sondern um die seltene Gelegenheit, das eine mit dem anderen in überzeu-gender Weise zu verbinden.

Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Kunst ist nicht abstimmbar. Aus diesem Blickpunkt halte ich die Abstimmung des Deutschen Bundestages über das Projekt „Reichstagsverhüllung" des Künstlers Christo auch für sehr problematisch.

Unbestritten ist neben dem ästhetischen Aspekt die künstlerische Idee, durch Verhüllung eines Gebäudes und die daraus folgende Verfremdung der üblichen Sichtweise neue Anblicke, Einblicke und Reflexionen zu provozieren, ein Gedanke von beeindruckender Gestaltungs- und Aussagekraft. Mit der Verhüllung der Brücke „Pont Neuf" in Paris durch Christo wurde dies manifest.

Dies ist die eine, nicht eine einem Abstimmungsver-fahren zugängliche Seite.

Die andere Seite ist die Frage, ob es aus der Sicht des deutschen Volkes und seiner gewählten Vertretung angemessen ist, den Sitz des deutschen Parlamentes für solch ein Projekt zur Verfügung zu stellen. Ich bin nicht dieser Ansicht.

Ich bin der Meinung, daß das Reichstagsgebäude gerade im Hinblick auf die damit verbundene Geschichte und seinejetzige und zukünftige Funktion als Plenargebäude des Deutschen Bundestages frei von Entfremdung und Verfügbarkeit für alles und jedes bleiben muß. Das Reichstagsgebäude ist der Sitz des Deutschen Bundestages. Seit den Feierlichkeiten zur Deutschen Einheit in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 hat dieses Gebäude zudem eine neue nationale Symbolik als Kristallisationspunkt des Wil-lens aller Deutschen zur Einheit.

Daraus verbietet es sich, das Gebäude, seine Funk-tion und Symbolik künstlerisch oder sonstwie zur Disposition zu stellen.

Ich stimme aus diesem Grunde gegen den Antrag, die Verhüllung zuzulassen.

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Ein geschäftstüchtiger Mann — sicher auch Künstler — hat es fertig gebracht, daß ein nationales Parlament sich mit der Verhüllung seines Domizils beschäftigt und eine ganze Nation ungläubig, staunend zuschau-end sich fragt, ob ihre Abgeordneten nichts Wichtige-res zu tun hätten. Über Kunst läßt sich sicher streiten, und wer dagegen etwas zu sagen wagt, wird allzu schnell als „Kunstbanause" verschrieen. Ich weiß, daß auch die „Nachtwache" von Rembrandt 100 Jahre auf dem Bodenraum lag, bevor sie als Kunstwerk angese-hen wurde, dennoch wage ich zu sagen, daß uns Christo an der Nase herumführen will. Es mag auch um „Kunst" gehen, es geht aber in erster Linie um Geld, Kommerz und ein potentielles Millionenge-schäft des Künstlers. Christo hat es verstanden, Reklame zu machen, und Presse, Funk und Fernsehen helfen mit. Wir Abgeordneten haben bei den ausste-henden großen Problemen Wichtigeres zu tun, als auch noch namentlich abzustimmen über ein solch „großes Spektakel", um dann als Kunstkenner oder Kunstbanausen abgestempelt zu werden. Die hehren Erklärungen von Christo klingen sehr nach Phrasen, er will schlichtweg Geld verdienen und Publicity machen. Wenn es ihm gelingt, die Abgeordneten so „ einzulullen" wie er den Reichstag einzupacken gedenkt, wird daraus für ihn ein Millionengeschäft. Dazu sollten sich die Abgeordneten nicht hergeben. Ich halte die Abstimmung als solche für eine Zumu-tung.

Dr. Eberhard Brecht (SPD): Deutschland befindet sich gegenwärtig in gedrückter Stimmung. Ob begründet oder nicht: Viele Bürgerinnen und Bürger vergleichen unsere gegenwärtige Situation mit der der Spätphase der Weimarer Republik. Nicht nur, daß Millionen von Menschen ohne Arbeit sind und noch mehr die Zukunft unseres Landes vorwiegend in Grau- und Schwarztönen malen; es sind vor allem die durch Umfragen belegten Zweifel an der Fähigkeit von Politikern, mit den Schwierigkeiten unseres L an

-des fertig zu werden. Zudem müssen wir einen erheb-lichen Mangel an konsensfähigen Wertvorstellungen in unserem Land konstatieren, einen Mangel, von

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dem insbesondere die politischen Ränder profitieren. Wo Subkulturen in unserem Land nicht mehr mitein-ander kommunizieren, um sich auf gemeinsame Para-digmen zu verständigen, muß der Staat als Dompteur mehr und mehr zum Haßobjekt aller werden. Am Ende steht das Gespenst von Chaos und Diktatur.

In einer solchen Situa tion sind solche Kommunika-tionsformen zwischen Politikern und Bürgern gefragt, die die letzteren nicht nur mehr informieren, sondern sie auch stärker in die Entscheidungen und in die Verantwortung für unser Land einbeziehen. Nur so werden wir die Kraft finden, die anstehenden, mitun-ter nicht populären Entscheidungen auch demokra-tisch durchsetzen zu können. Die in der Vergangen-heit bewährten Instrumente des demokratischen Rechtsstaates stellen keine ausreichende Antwort auf die Krise unseres L andes dar. So sollte — auch sichtbar — ein Neuanfang mit dem vereinten Deutsch-land gewagt werden.

Mit diesem Hintergrund stand ich anfangs dem Projekt einer Reichstagsverhüllung durch den Künst-ler Christo wohlwollend gegenüber. Ein verhüllter Reichstag könnte den Wert von Demokratie durch ihre augenscheinliche Verschleierung verdeutlichen; die Verhüllung könnte Neugierde nach Demokratie erzeugen. Mit den genannten Argumenten habe ich bei Menschen aus meiner Umgebung für Christos Idee geworben. Ich stieß jedoch überwiegend auf Ableh-nung:

Einerseits wurde die symbolische Verhüllung des Reichstages als Ersatzhandlung der politischen Kaste für wirkliche Problemlösungen interpretiert, zu denen die Politiker offenbar nicht in der Lage seien.

Zum anderen befürchte ich, daß der Symbolwert des Reichstages bei jenen Bürgerinnen und Bürgern Scha-den nehmen könnte, die Christos Projekt aus künstle-rischen Gründen heraus ablehnen. Wir gestehen ja jedem Kunstwerk zu, daß es nur von einer Minderheit der Bevölkerung akzeptiert wird. Dies wird bei der temporären Verwandlung des deutschen Parlaments nicht anders sein. Die öffentliche Zustimmung zur Reichstagsverhüllung wird Christo zufallen. Die arti-kulierte Ablehnung aber wird in der Konsequenz die Politiker und mittelbar auch die Demokratie treffen. Eine solche bei der Konzeption eines jeden öffentli-chen Denkmals bestehende Spannung bin ich nicht bereit auszuhalten, wenn es um das Symbol des deutschen Parlamentarismus, der Demokratie in unserem Land schlechthin geht.

Als Privatperson befürworte ich Christos Projekt; in meiner Funktion als Parlamentarier kann ich jedoch der oben angeführten Gründe wegen die Verwirkli-chung der Reichstagsverhüllung nicht mittragen.

Martin Grüner (F.D.P.): Mein Eintreten und meine Zustimmung zur Verhüllung des Reichstages durch den Künstler Christo ist — bei allem Respekt vor den Gegenargumenten — von folgenden Überlegungen getragen:

Der verhüllte Reichstag wird nach den bisherigen Erfahrungen mit den Werken von Christo ein Erlebnis von großer visueller Schönheit sein und kann den

Neubeginn des vereinten Deutschlands in einem neuen Bundestag in Berlin symbolisieren.

Unabhängig von der Bewertung des künstlerischen Ranges dieses Ereignisses bin ich als Wirtschafts- und Finanzpolitiker beeindruckt davon, daß Christo und seine Frau Jeanne-Claude die gesamten Kosten die-ses Projektes mit eigenen Mitteln finanzieren und jede öffentliche Förderung oder p rivate Sponsoren ableh-nen. Das ist ein ganz ungewöhnlicher Umstand und wird in weiten Teilen der Bevölkerung ein posi tives Echo haben. Gerade dieser Tatbestand sollte deshalb in der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.

Auch die positiven Beschäftigungswirkungen die-ses Projektes, das immerhin eine Investition in der Größenordnung von ca. 8 Millionen Dollar erfordern wird einschließlich der positiven Auswirkungen auf Hotellerie und Gastronomie in Berlin bei den zu erwartenden Tausenden von zusätzlichen Besuchern, sollte für den Bundestag ein zusätzlicher Anlaß sein, dieses für die Stadt Berlin bedeutsame Projekt zu befürworten. So sieht es auch der Regierende Bürger-meister von Berlin in seinem Schreiben vom 18. Ja-nuar 1994 an die Mitglieder des Deutschen Bundesta-ges.

Alle bisherigen Großprojekte Christos außerhalb unserer Grenzen haben neben großer internationaler positiver Resonanz diese sehr günstigen wirtschaftli-chen Nebenwirkungen gehabt, die auch und gerade für Berlin so wichtig sind.

Da das Reichstagsgebäude lediglich für 14 Tage verhüllt sein soll und während der Verhüllung voll funktionsfähig bleibt, gibt es keine nachteiligen Aus-wirkungen, zumal die verwendeten Materialien wie-derverwertet werden.

Viele bedeutende Städte in Deutschland geben für die Werbung um Ansehen und Anziehungskraft jähr-lich Millionen an Steuermitteln aus. Das künstlerische Ereignis der Verhüllung des Reichstages durch Chri-sto ist eine Werbung für Berlin mit internationaler Ausstrahlung, die keine öffentlichen Mittel in Anspruch nimmt. Berlin verdient es, daß seine Anzie-hungskraft durch dieses Projekt gefördert wird.

Auch aus diesem Grunde stimme ich der Verhül-lung des Reichstages durch Ch risto zu.

Birgit Homburger (F.D.P.): Die Debatte über die Frage der Verhüllung des Reichstages durch den Künstler Christo ist eine Debatte, die die Menschen in unserem Land nicht verstehen. Wir haben wahrlich andere Probleme. Nun ist diese Debatte beantragt — also muß man sich entscheiden.

1. Die Frage der Verhüllung des Reichstages ist keine nationale Frage.

2. Die historische Diskussion und die Kunstdiskus-sion, die sich an diesem Projekt entsponnen haben, sind hochgezogene Diskussionen, die keinerlei Ent-scheidungsargumente liefern.

3. Aufgrund der Tatsache, daß das zur Verhüllung des Reichstages verwendete Mate rial Polypropylen mit einer dünnen Schicht Aluminium sein wird, das später wiederverwendet wird, gibt es auch keinerlei Umweltrelevanz des Projektes.

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4. Als einziges Argument bleibt also die touristische Attraktion für die Hauptstadt Berlin, die darüber hinaus den Steuerzahler nichts kostet.

Daher habe ich, nach anfänglicher Ablehnung des Projektes, mit Ja gestimmt.

Jürgen Türk (F.D.P.): Berlin bleibt eine Reise we rt , solange man über die Stadt nachdenkt, spricht und streitet. Der Charme der Stadt ist ihre Widersprüch-lichkeit, ihr Schmelztiegelcharakter für Menschen, Lebensweisen und Künste. In und durch Berlin ent-stand eine Inspiration für viele Bereiche des gesell-schaftlichen Lebens, auch oder gerade im Kunstge-schehen, immer verbunden mit dem Attribut des Anstoßens und In-Bewegung-Bringens.

Was kann ein Kunstwerk wie die Verhüllung des Reichstags mehr leisten, als zum Nachdenken, dar-über zu sprechen und zum Streiten anzuregen? Daß über die Verhüllung des Reichstags eine Plenarde-batte stattfindet, daß sich viele Parlamentarier über das Für und Wider viele schlaue Gedanken machen, darüber sprechen und streiten, erscheint mir als Rechtfertigung für die Durchführung dieses Kunst-werks mehr als genug. Den Zweck seiner Verhüllung hat der Künstler Christo bei uns 662 Abgeordneten des Deutschen Bundestages schon erreicht. Mit dem Abschluß des Kunstwerks können noch mehr Men-schen erreicht werden. Oder soll die Verhüllung des Reichstags als zweite „Unvollendete" in die Ge-schichte eingehen?

Sollte sich der Deutsche Bundestag gegen eine Verhüllung des Reichstags aussprechen, werden die Gründe dafür schnell in Vergessenheit geraten. Dage-gen wird bei einer Befürwortung Berlin ein einmaliges kunstgeschichtliches Erlebnis geboten, welches sehr viele Menschen anlockt.

Wir zerbrechen uns hier im Bundestag die Köpfe, wie wir Berlin und die neuen Bundesländer für die Menschen und den Tourismus attraktiver gestalten können. Viele gute Vorschläge scheitern an den leeren Staatskassen. Jetzt haben wir einmal eine Gelegenheit, ohne den Einsatz von Steuergeldern, einfach durch bloße Zustimmung, einen wichtigen Beitrag zum Kennen- und Liebenlernen von Berlin und Umgebung zu leisten, und kokettieren mit der Chance des Versagens.

Berlin ist keine Insel mehr. Seine Anziehungskraft wird auch auf das Umland ausstrahlen, und davon wird es profitieren. Denn Berlin ist nicht nur pulsie-rendes Nachtleben, sondern auch der zur Muße ein-ladende Spreewald. 1995 wäre nicht nur das Jahr der Reichstagsverpackung, sondern in die Reiseüberle-gungen könnte auch die Bundesgartenschau in Cott-bus gleich mit eingeplant werden. Berlin als Aushän-geschild für das gesamte Umland, das zur Erkun-dungsfahrt einlädt.

Die Menschen in und um Berlin herum haben es durch die wirtschaftliche Lage sehr schwer. Wer wüßte das nicht besser als ein Abgeordneter aus dieser Region. Versagen wir ihnen nicht durch eine Tourismusattraktion die Chance eines wirtschaftli-chen Vorwärtskommens beim Aufbau ihrer Heimat!

Darum unterstütze ich den Gruppenantrag zur Ver-hüllung des Reichstags.

Anlage 3

Amtliche Mitteilungen

Der Bundesrat hat in seiner 665. Sitzung am 4. Februar 1994 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Art. 77 Abs. 2 GG nicht zu stellen:

1. Gesetz über den Beruf der Diätassistentin und des Diätassi-stenten und zur Änderung verschiedener Gesetze über den Zugang zu anderen Heilberufen (Heilberufsänderungsge-setz — HeilBÄndG)

2. Gesetz über die Voraussetzungen und das Verfahren von Sicherheitsüberprüfungen des Bundes (Sicherheitsüber-prüfungsgesetz — SÜG)

3. Drittes Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßengeset-zes (3. FStrÄndG)

4. Gesetz über den Bau des Abschnitts Wismar West-Wismar Ost der Bundesautobahn A 20 Lübeck-Bundesgrenze (A 11)

5. Gesetz zur Änderung des Binnenschiffahrtsgesetzes

6. Gesetz zur Änderung des Binnenschiffahrtsaufgabengeset-zes

7. Gesetz über Statistiken im Handwerk (Handwerkstatistik-gesetz — HwStatG)

8. Gesetz zu dem Protokoll Nr. 9 vom 6. November 1990 sowie zu dem Protokoll Nr. 10 vom 25. März 1992 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten

9. Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUAndG)

10. Gesetz zur Änderung des Handels- und Lohnstatistikgeset-zes (Statistikänderungsgesetz — StatÄndG)

Zu dem letztgenannten Gesetz hat der Bundesrat folgende Ent-schließung gefaßt:

Der Bundesrat bedauert, daß das im Föderalen Konsolidierungs-programm beschlossene Einsparvolumen für Bund und Länder für den Bereich der Bundesstatistik von insgesamt jeweils 50 Millionen DM in den Jahren 1994 bis 1996 mit dem vorlie-genden Gesetz bei weitem nicht erreicht wird. Er forde rt die Bundesregierung auf, ihrer Verpflichtung aus dem Föderalen Konsolidierungsprogramm nachzukommen und unverzüglich einen weiteren Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem gewährlei-stet wird, daß das erforderliche Einsparvolumen erfüllt wird.

Begründung:

Der Bundesrat hatte bereits in seiner Stellungnahme vom 24. September 1993 — BR-Drucksache 567/93 (Beschluß) — darauf hingewiesen, daß durch den von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung des Handels- und Lohnstatistikgesetzes das Einsparvolumen von insgesamt 50 Millionen DM für Bund und Länder jeweils in den Jahren 1994 bis 1996 bei weitem nicht erreicht wird. Die bislang vorliegenden Sparmaßnahmen ergeben für die Länder insgesamt ein Einspar-volumen von 4,91 Millionen DM und für den Bund von ca. 855 000 DM für den in Rede stehenden Zeitraum.

Nach den Beschlüssen zum Föderalen Konsolidierungspro-gramm handelt es sich um Vorgaben für die Bundesstatistik, so daß der Bund mithin zur Umsetzung verpflichtet ist. Globale Kürzungen in den Landeshaushalten sind insoweit nicht mög-lich, weil der Aufgabenbereich der Statistik nicht nur unverän-dert bleibt, sondern ständig zunimmt (z. B. Asylbewerberlei-stungsstatistik, Handwerkszählung 1995, Sozial- und Jugendhil-festatistik).

Der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. Friedli-che Lösung des Kurdenproblems in der Türkei — Drucksache 12/6728 — wurde zurückgezogen.

Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen bzw. von einer Beratung abgesehen hat:

Haushaltsausschuß Drucksache 12/6780 Nr. 2.3

Ausschuß für Wirtschaft Drucksache 12/3182 Nr. 24

Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 12/5749 Nrn. 3.52, 3.53

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