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Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Siegmund Ehrmann . . . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Birgit Homburger als ordentliches Mitglied und des Abgeordne- ten Joachim Spatz als Stellvertreter des Ge- meinsamen Ausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Dr. Martin Schwanholz als Mitglied der Parlamentari- schen Versammlung des Europarates . . . . . Wahl des Abgeordneten Horst Meierhofer als ordentliches Mitglied und des Abgeordne- ten Michael Kauch als Stellvertreter in den Beirat bei der Bundesnetzagentur . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Paul Schäfer als or- dentliches Mitglied in das Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundes- republik Deutschland“ . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Kerstin Tack als Schriftführerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 27 . . . Tagesordnungspunkt 3: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Um- setzung eines Maßnahmenpakets zur Stabi- lisierung des Finanzmarktes (Zweites Fi- nanzmarktstabilisierungsgesetz – 2. FMStG) (Drucksachen 17/8343, 17/8487) . . . . . . . . . . Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Marianne Schieder (Schwandorf), Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Koopera- tiven Bildungsföderalismus mit einem neuen Grundgesetzartikel stärken (Drucksache 17/8455) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18477 A 18477 B 18477 B 18477 B 18477 B 18477 C 18477 C 18477 D 18478 A 18478 B 18479 D 18482 A 18483 D 18484 C 18486 D 18487 C 18488 D 18490 A 18491 C 18492 B 18493 C 18495 A 18496 D 18497 A 18499 B 18499 D 18501 B 18503 D Inhaltsverzeichnis

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Plenarprotokoll 17/155

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

155. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

I n h a l t :

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord-neten Siegmund Ehrmann . . . . . . . . . . . . . .

Wahl der Abgeordneten Birgit Homburgerals ordentliches Mitglied und des Abgeordne-ten Joachim Spatz als Stellvertreter des Ge-meinsamen Ausschusses . . . . . . . . . . . . . . . .

Wahl des Abgeordneten Dr. MartinSchwanholz als Mitglied der Parlamentari-schen Versammlung des Europarates . . . . .

Wahl des Abgeordneten Horst Meierhoferals ordentliches Mitglied und des Abgeordne-ten Michael Kauch als Stellvertreter in denBeirat bei der Bundesnetzagentur . . . . . . .

Wahl des Abgeordneten Paul Schäfer als or-dentliches Mitglied in das Kuratorium derStiftung „Haus der Geschichte der Bundes-republik Deutschland“ . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wahl der Abgeordneten Kerstin Tack alsSchriftführerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Absetzung des Tagesordnungspunktes 27 . . .

Tagesordnungspunkt 3:

Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachtenEntwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Um-setzung eines Maßnahmenpakets zur Stabi-lisierung des Finanzmarktes (Zweites Fi-nanzmarktstabilisierungsgesetz – 2. FMStG) (Drucksachen 17/8343, 17/8487) . . . . . . . . . .

Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . .

18477 A

18477 B

18477 B

18477 B

18477 B

18477 C

18477 C

18477 D

18478 A

18478 B

18479 D

Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . .

Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) . . . . . . . .

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . .

Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 4:

Antrag der Abgeordneten Marianne Schieder(Schwandorf), Swen Schulz (Spandau),Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der SPD: Koopera-tiven Bildungsföderalismus mit einem neuenGrundgesetzartikel stärken(Drucksache 17/8455) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . .

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . .

Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18482 A

18483 D

18484 C

18486 D

18487 C

18488 D

18490 A

18491 C

18492 B

18493 C

18495 A

18496 D

18497 A

18499 B

18499 D

18501 B

18503 D

Inhaltsverzeichnis

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II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Ludwig Spaenle, Staatsminister (Bayern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulla Burchardt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . .

Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . .

Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . .

Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . .

Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . .

Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Absetzung der Tagesordnungspunkte 28 c und28 f . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 28:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Fünf-ten Gesetzes zur Änderung des Allge-meinen Eisenbahngesetzes(Drucksache 17/8364) . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Neuordnung des Energiever-brauchskennzeichnungsrechts(Drucksache 17/8427) . . . . . . . . . . . . . . . .

d) Antrag der Abgeordneten Anette Kramme,Ottmar Schreiner, Josip Juratovic, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion derSPD: Erosion der Tarifvertragssystemestoppen – Sicherung der Allgemeinver-bindlichkeitsregelung von Tarifverträ-gen(Drucksache 17/8459) . . . . . . . . . . . . . . . .

e) Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,Dorothée Menzner, Eva Bulling-Schröter,weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKE: Die Energiewende brauchtEnergieeffizienz(Drucksache 17/8457) . . . . . . . . . . . . . . . .

g) Bericht des Ausschusses für Bildung,Forschung und Technikfolgenabschätzunggemäß § 56 a GO-BT: Technikfolgenab-schätzung (TA) – Fortpflanzungsmedi-zin – Rahmenbedingungen, wissen-schaftlich-technische Entwicklungen undFolgen(Drucksache 17/3759) . . . . . . . . . . . . . . . .

h) Bericht des Ausschusses für Bildung, For-schung und Technikfolgenabschätzung ge-

18505 C

18507 B

18509 A

18510 A

18510 D

18512 D

18514 A

18515 A

18515 D

18517 A

18518 B

18518 C

18518 D

18519 A

18519 A

18519 A

18519 B

18519 B

mäß § 56 a GO-BT: Technikfolgenab-schätzung (TA) – Pharmakologische In-terventionen zur Leistungssteigerungals gesellschaftliche Herausforderung(Drucksache 17/7915) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 29:

a) Zweite und dritte Beratung des von denFraktionen der CDU/CSU und FDP einge-brachten Entwurfs eines Zwanzigsten Ge-setzes zur Änderung des Bundeswahlge-setzes(Drucksachen 17/8350, 17/8483) . . . . . . .

b) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Geset-zes über die elektromagnetische Ver-träglichkeit von Betriebsmitteln, desGesetzes über Funkanlagen und Tele-kommunikationsendeinrichtungen so-wie des Luftverkehrsgesetzes(Drucksachen 17/8234, 17/8468) . . . . . . .

c) Antrag der Fraktion der SPD: Erfah-rungsbericht zum Erneuerbare-Ener-gien-Wärmegesetz unverzüglich vorle-gen(Drucksache 17/8458) . . . . . . . . . . . . . . .

d) – j)

Beratung der Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses: Sammelübersich-ten 374, 375, 376, 377, 378, 379 und 380zu Petitionen(Drucksachen 17/8365, 17/8366, 17/8367,17/8368, 17/8369, 17/8370, 17/8371) . . .

Zusatztagesordnungspunkt 1:

Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionDIE LINKE: Zweifelhafte Überwachungvon 27 MdB der Fraktion DIE LINKEdurch den Verfassungsschutz . . . . . . . . . . .

Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . .

Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Fritz Rudolf Körper (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . .

Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU)

18519 C

18519 D

18520 A

18520 B

18520 B

18521 A

18521 A

18522 B

18524 B

18525 C

18526 C

18527 D

18529 B

18530 C

18531 C

18533 A

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 III

Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) . . . . . . . . . . . . .

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . .

Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) (Erklärung nach § 30 GO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 5:

Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP,DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN: Einsetzung eines Untersuchungsaus-schusses(Drucksache 17/8453) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Peter Altmaier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . .

Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sebastian Edathy (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 6:

Antrag der Abgeordneten Jan Korte, AgnesAlpers, Steffen Bockhahn, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion DIE LINKE: Erhaltder Gedenkstätten nationalsozialistischerVernichtungslager sicherstellen(Drucksache 17/7028) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Cornelia Pieper, Staatsministerin AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . .

Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . .

18534 C

18535 D

18537 B

18538 C

18538 D

18539 C

18539 D

18539 D

18541 A

18542 B

18543 A

18544 A

18545 B

18546 A

18547 B

18548 C

18549 C

18550 B

18552 B

18552 B

18553 A

18554 B

18555 C

18556 C

18557 A

18558 B

Tagesordnungspunkt 7:

– Beschlussempfehlung und Bericht desAuswärtigen Ausschusses zu dem Antragder Bundesregierung: Fortsetzung derBeteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte an dem Einsatz der Inter-nationalen Sicherheitsunterstützungs-truppe in Afghanistan (InternationalSecurity Assistance Force, ISAF) unterFührung der NATO auf Grundlage derResolutionen 1386 (2001) und folgenderResolutionen, zuletzt Resolution 2011(2011) vom 12. Oktober 2011 des Si-cherheitsrates der Vereinten Nationen(Drucksachen 17/8166, 17/8393) . . . . . . .

– Bericht des Haushaltsausschusses gemäߧ 96 der Geschäftsordnung(Drucksache 17/8394) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Stefan Rebmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . .

Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . .

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . .

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU)

Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Namentliche Abstimmungen . . . . . . . . . . . . .

Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Heidrun Dittrich (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Schlecht (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18559 A

18559 A

18559 B

18560 B

18561 B

18562 D

18563 D

18564 B

18564 C

18565 B

18565 D

18566 C

18568 A

18568 C

18569 A

18569 D

18571 B

18572 B

18572 D

18574 B, C, D

18575 D, 18579 C18581 B

18575 A

18575 C

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IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Tagesordnungspunkt 8:

Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner,Ingrid Hönlinger, Bettina Herlitzius, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Wohnraum inDeutschland zukunftsfähig machen – Fürein sozial gerechtes und klimafreundlichesMietrecht(Drucksache 17/7983) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . .

Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jan Mücke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 9:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Kultur und Medien

– zu dem Antrag der Abgeordneten AnsgarHeveling, Wolfgang Börnsen (Bönstrup),Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten ReinerDeutschmann, Burkhardt Müller-Sönksen,Jimmy Schulz, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDP: Digitalisierungsof-fensive für unser kulturelles Erbe be-ginnen

– zu dem Antrag der Abgeordneten SiegmundEhrmann, Martin Dörmann, PetraErnstberger, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD: „Kulturelles Erbe2.0“ – Digitalisierung von Kulturgüternbeschleunigen

– zu dem Antrag der AbgeordnetenDr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte,Jan Korte, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE: Die Digitalisierungdes kulturellen Erbes als gesamtstaatli-che Aufgabe umsetzen

– zu dem Antrag der Abgeordneten AgnesKrumwiede, Ekin Deligöz, Katja Dörner,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rechtssi-cherheit für verwaiste Werke herstellenund den Ausbau der Deutschen Digita-len Bibliothek auf ein solides Funda-ment stellen

18578 A

18578 B

18584 A

18585 C

18586 C

18587 C

18588 A

18588 C

18589 C

18590 C

(Drucksachen 17/6315, 17/6296, 17/6096,17/8164, 17/8486) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Siegmund Ehrmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . .

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 10:

a) Antrag der Abgeordneten Heinz Paula,Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion derSPD: Ökologische Land- und Lebens-mittelwirtschaft stärken(Drucksache 17/7186) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz

– zu dem Antrag der AbgeordnetenDr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone,Petra Ernstberger, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der SPD: Ge-meinsame europäische Agrarpolitiknach 2013 weiterentwickeln

– zu dem Antrag der AbgeordnetenFriedrich Ostendorff, Cornelia Behm,Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Gemeinsame europäischeAgrarpolitik nach 2013 – Förderungauf nachhaltige, bäuerliche Land-wirtschaft ausrichten

(Drucksachen 17/2479, 17/4542, 17/5299) .

c) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Ernährung, Landwirtschaftund Verbraucherschutz zu dem Antrag derAbgeordneten Dr. Wilhelm Priesmeier,Heinz-Joachim Barchmann, Doris Barnett,weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD: Gemeinsame EuropäischeAgrarpolitik nach 2013 – Konzept zum„Greening“ der Direktzahlungen vorle-gen(Drucksachen 17/6299, 17/7413) . . . . . . .

d) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zu dem An-trag der Abgeordneten Heinz Paula,Dr. Wilhelm Priesmeier, Sören Bartol,weiterer Abgeordneter und der Fraktion

18591 C

18592 A

18593 A

18595 A

18596 B

18597 A

18598 A

18599 B

18599 C

18599 D

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 V

der SPD: Klare Regelungen für Inten-sivtierhaltung(Drucksachen 17/6089, 17/7198) . . . . . . .

e) Antrag der Abgeordneten Dr. KirstenTackmann, Dr. Dietmar Bartsch, HerbertBehrens, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE: Gemeinsame Eu-ropäische Agrarpolitik ab 2014 sozialund ökologisch ausrichten(Drucksache 17/8378) . . . . . . . . . . . . . . . .

f) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Ernährung, Landwirtschaftund Verbraucherschutz zu dem Antrag derAbgeordneten Dr. Kirsten Tackmann,Cornelia Möhring, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKE: Agrarförderung in Deutsch-land und Europa geschlechtergerechtgestalten(Drucksachen 17/5477, 17/6385) . . . . . . .

Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . .

Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU) . .

Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . .

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . .

Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Carola Stauche (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Heinz Paula (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 14:

Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE: Abschiebestopp und Bleiberechtfür Flüchtlinge aus Syrien(Drucksache 17/8456) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 12:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Arbeit und Soziales

– zu dem Antrag der Abgeordneten AntonSchaaf, Gabriele Hiller-Ohm, Josip Juratovic,weiterer Abgeordneter und der Fraktion

18599 D

18600 A

18600 A

18600 B

18601 A

18602 D

18603 D

18605 C

18606 C

18608 B

18609 D

18610 A

18611 A

18612 A

18613 B

18614 C

18615 B

der SPD: DDR-Altübersiedler und-Flüchtlinge vor Rentenminderungenschützen – Gesetzliche Regelung imSGB VI verankern

– zu dem Antrag der AbgeordnetenDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, WolfgangWieland, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: DDR-Altübersiedler und-Flüchtlinge vor Rentenminderungenschützen – Gesetzliche Regelung imSGB VI verankern

(Drucksachen 17/5516, 17/6108, 17/6390) . .

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . .

Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) .

Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . .

Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 13:

a) Antrag der Abgeordneten Uwe Schummer,Albert Rupprecht (Weiden), MichaelKretschmer, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-geordneten Heiner Kamp, Dr. MartinNeumann (Lausitz), Dr. Peter Röhlinger,weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDP: Gleichwertigkeit von Berufs-bildung und Abitur gewährleisten(Drucksache 17/8450) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung

– zu dem Antrag der Abgeordneten WilliBrase, Klaus Barthel, Dr. Ernst DieterRossmann, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD: Gleichwertig-keit von Berufsbildung und Abitursichern

– zu dem Antrag der Abgeordneten KaiGehring, Ekin Deligöz, Katja Dörner,weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Deutschen Qualifikationsrahmen zumErfolg führen – Gleichwertigkeit

18616 C

18617 A

18618 A

18618 D

18619 C

18621 B

18622 B

18623 A

18624 C

18625 B

18626 B

18627 C

18628 D

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VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

von Abitur und Berufsabschlüssensicherstellen

(Drucksachen 17/7957, 17/8352, 17/8490) .

Tagesordnungspunkt 11:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung: zu dem Vorschlag für eine Verord-nung des Europäischen Parlaments unddes Rates über Leitlinien der Union für denAufbau des transeuropäischen Verkehrs-netzes – KOM(2011) 650 endg.; Ratsdok.15629/11 (Drucksachen 17/7918 Nr. A.18, 17/8484) . .

Tagesordnungspunkt 15:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Neue Impulse für die Sport-bootschifffahrt(Drucksachen 17/7937, 17/8482) . . . . . . . . . .

Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . .

Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . .

Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Matthias Lietz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 16:

Antrag der Abgeordneten Josef PhilipWinkler, Viola von Cramon-Taubadel, VolkerBeck (Köln), weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Fürwirksamen Rechtsschutz im Asylverfah-ren – Konsequenzen aus den Entscheidun-gen des Gerichtshofs der EuropäischenUnion und des Europäischen Gerichtshofsfür Menschenrechte ziehen(Drucksache 17/8460) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 17:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesVierzehnten Gesetzes zur Änderung desLuftverkehrsgesetzes(Drucksachen 17/8098, 17/8467) . . . . . . . . . .

18629 A

18629 C

18629 D

18630 A

18631 C

18633 A

18634 C

18635 C

18636 D

18637 D

18639 A

18639 B

Tagesordnungspunkt 18:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-torsicherheit: zu dem Vorschlag für eineRichtlinie des Europäischen Parlamentsund des Rates zur Änderung der Richtlinie1999/32/EG hinsichtlich des Schwefelge-halts von Schiffskraftstoffen – KOM(2011)439 endg.; Ratsdok. 12806/11(Drucksachen 17/6985 Nr. A.63, 17/8211) . .

Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 19:

Erste Beratung des von den AbgeordnetenMartin Dörmann, Gerold Reichenbach, DorisBarnett, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines… Gesetzes zur Änderung des Telemedien-gesetzes (TMG)(Drucksache 17/8454) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 20:

Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:Renten für Leistungsberechtigte des Ghetto-Rentengesetzes ab dem Jahr 1997 nach-träglich auszahlen(Drucksache 17/7985) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . .

Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 21:

Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer,Stephan Kühn, Undine Kurth (Quedlinburg),weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein neuesBergrecht für das 21. Jahrhundert(Drucksache 17/8133) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18639 C

18639 D

18641 C

18642 A

18642 C

18643 B

18644 B

18644 C

18644 C

18646 A

18647 B

18647 D

18648 C

18649 B

18649 C

18650 D18651 C

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 VII

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . .

Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 22:

Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,Friedrich Ostendorff, Markus Tressel, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Regionale Produk-tions-, Verarbeitungs- und Vermarktungs-strukturen stärken(Drucksache 17/7249) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rainer Erdel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Alexander Süßmair (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

Anlage 2

Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichenAbstimmung über die Beschlussempfehlungund den Bericht zu dem Antrag: Fortsetzungder Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-kräfte an dem Einsatz der Internationalen Si-cherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan(International Security Assistance Force,ISAF) unter Führung der NATO auf Grund-lage der Resolutionen 1386 (2001) und fol-gender Resolutionen, zuletzt Resolution 2011(2011) vom 12. Oktober 2011 des Sicherheits-rates der Vereinten Nationen (Tagesordnungs-punkt 7)

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . .

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

18652 B

18653 A

18654 B

18654 C

18655 D

18656 C

18657 B

18658 A

18659 A

18661 A

18661 D

18662 A

18662 B

18662 C

18663 A

18663 B

18663 D

18664 A

18664 C

Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . .

Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 3

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenDr. Tobias Lindner und Tabea Rößner (beideBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentli-chen Abstimmung über die Beschlussempfeh-lung und den Bericht zu dem Antrag: Fortset-zung der Beteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte an dem Einsatz der Internationa-len Sicherheitsunterstützungstruppe in Afgha-nistan (International Security AssistanceForce, ISAF) unter Führung der NATO aufGrundlage der Resolutionen 1386 (2001) undfolgender Resolutionen, zuletzt Resolution2011 (2011) vom 12. Oktober 2011 des Si-cherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages-ordnungspunkt 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 4

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenUte Koczy und Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)zur namentlichen Abstimmung über die Be-schlussempfehlung und den Bericht zu demAntrag: Fortsetzung der Beteiligung bewaff-neter deutscher Streitkräfte an dem Einsatzder Internationalen Sicherheitsunterstützungs-truppe in Afghanistan (International SecurityAssistance Force, ISAF) unter Führung derNATO auf Grundlage der Resolutionen 1386(2001) und folgender Resolutionen, zuletztResolution 2011 (2011) vom 12. Oktober2011 des Sicherheitsrates der Vereinten Natio-nen (Tagesordnungspunkt 7) . . . . . . . . . . . . .

18665 C

18666 A

18666 C

18666 D

18667 A

18667 B

18667 D

18668 A

18668 D

18669 B

18670 A

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18671 A

18671 C

18672 B

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VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Anlage 5

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenCornelia Behm, Hans-Josef Fell, TomKoenigs, Omid Nouripour, Manuel Sarrazinund Daniela Wagner (alle BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN) zur namentlichen Abstimmungüber die Beschlussempfehlung und den Be-richt zu dem Antrag: Fortsetzung der Beteili-gung bewaffneter deutscher Streitkräfte andem Einsatz der Internationalen Sicherheits-unterstützungstruppe in Afghanistan (Interna-tional Security Assistance Force, ISAF) unterFührung der NATO auf Grundlage der Reso-lutionen 1386 (2001) und folgender Resolu-tionen, zuletzt Resolution 2011 (2011) vom12. Oktober 2011 des Sicherheitsrates derVereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 7) .

Anlage 6

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenAgnes Brugger, Katja Dörner, Dr. AntonHofreiter, Uwe Kekeritz, Sven-ChristianKindler, Sylvia Kotting-Uhl, Maria Klein-Schmeink, Agnes Krumwiede, Monika Lazar,Beate Müller-Gemmeke, Lisa Paus, UlrichSchneider und Dorothea Steiner (alle BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Ab-stimmung über die Beschlussempfehlung undden Bericht zu dem Antrag: Fortsetzung derBeteiligung bewaffneter deutscher Streitkräftean dem Einsatz der Internationalen Sicher-heitsunterstützungstruppe in Afghanistan (In-ternational Security Assistance Force, ISAF)unter Führung der NATO auf Grundlage derResolutionen 1386 (2001) und folgender Re-solutionen, zuletzt Resolution 2011 (2011)vom 12. Oktober 2011 des Sicherheitsrates derVereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 7) . .

Anlage 7

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenAngelika Graf (Rosenheim), Uwe Beckmeyer,Lothar Binding (Heidelberg), Martin Burkert,Elvira Drobinski-Weiß, Petra Ernstberger,Dr. Barbara Hendricks, Gustav Herzog, ChristelHumme, Dr. Bärbel Kofler, Dr. MatthiasMiersch, Aydan Özoğuz, Swen Schulz (Span-dau) und Stefan Schwartze (alle SPD) zur na-mentlichen Abstimmung über die Beschluss-empfehlung und den Bericht zu dem Antrag:Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an dem Einsatz der Interna-tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe inAfghanistan (International Security Assis-tance Force, ISAF) unter Führung der NATOauf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001)und folgender Resolutionen, zuletzt Resolu-tion 2011 (2011) vom 12. Oktober 2011 des

18673 A

18673 D

Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Ta-gesordnungspunkt 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 8

Erklärung nach § 31 GO der AbgeordnetenMartin Gerster, Hans-Joachim Hacker, UweBeckmeyer, Lothar Binding (Heidelberg),Willi Brase, Martin Burkert, Siegmund Ehrmann,Gabriele Fograscher, Dagmar Freitag, UlrikeGottschalck, Gustav Herzog, Steffen-ClaudioLemme, Heinz Paula, Dr. Carsten Sieling undAndrea Wicklein (alle SPD) zur Abstimmungüber die Beschlussempfehlung und den Be-richt zu dem Antrag: Neue Impulse für dieSportbootschifffahrt (Tagesordnungspunkt 15) .

Anlage 9

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Beschlussempfehlung und des Berichts zudem Vorschlag für eine Verordnung des Euro-päischen Parlaments und des Rates überLeitlinien der Union für den Aufbau destranseuropäischen Verkehrsnetzes (Tagesord-nungspunkt 11)

Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Martin Burkert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 10

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung

Antrag: Gleichwertigkeit von Berufsbildungund Abitur gewährleisten

Beschlussempfehlung und Bericht zu den An-trägen:

– Gleichwertigkeit von Berufsbildung undAbitur sichern

– Deutschen Qualifikationsrahmen zum Er-folg führen – Gleichwertigkeit von Abiturund Berufsabschlüssen sicherstellen

(Tagesordnungspunkt 13)

Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . .

Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

18675 B

18676 B

18677 A

18678 A

18679 A

18680 A

18680 D

18681 C

18682 B

18683 D

18684 C

18686 A

18687 A

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 IX

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 11

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Für wirksamen Rechtsschutz imAsylverfahren – Konsequenzen aus denEntscheidungen des Gerichtshofs der Euro-päischen Union und des Europäischen Ge-richtshofs für Menschenrechte ziehen (Tages-ordnungspunkt 16)

Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . .

Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 12

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines 14. Gesetzes zur Ände-

18687 D

18688 C

18689 D

18690 D

18691 D

18692 B

18692 D

18693 C

rung des Luftverkehrsgesetzes (Tagesord-nungspunkt 17)

Peter Wichtel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Daniela Ludwig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jan Mücke, Parl. Staatssekretär BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 13

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderungdes Telemediengesetzes (Tagesordnungs-punkt 19)

Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18477

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155. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert:Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! VorEintritt in unsere Tagesordnung möchte ich dem Kolle-gen Siegmund Ehrmann zum 60. Geburtstag gratulie-ren, den er am Dienstag dieser Woche gefeiert hat, undim Namen des Hauses alle guten Wünsche übermitteln.

(Beifall)

Wir haben einige Wahlen durchzuführen.

Der Kollege Michael Link scheidet als ordentlichesMitglied aus dem Gemeinsamen Ausschuss gemäßArt. 53 a des Grundgesetzes aus. Die FDP-Fraktionschlägt als Nachfolgerin die Kollegin BirgitHomburger vor, die bisher stellvertretendes Mitglieddieses Gremiums war. Als neuer Stellvertreter soll fürsie der Kollege Joachim Spatz berufen werden. SindSie mit diesen Vorschlägen einverstanden? – Das ist of-fensichtlich der Fall. Dann sind die beiden Kollegenhiermit als Mitglieder des Gemeinsamen Ausschussesgewählt.

Der Kollege Holger Ortel hat auf seinen Sitz in derParlamentarischen Versammlung des Europaratesverzichtet. Die SPD-Fraktion schlägt deshalb vor, denKollegen Dr. Martin Schwanholz als Nachfolger zu be-rufen. Ich vermute, dass es auch dazu Einvernehmengibt. – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist der Kol-lege Schwanholz damit als Mitglied der Parlamentari-schen Versammlung des Europarates gewählt.

Aus dem Beirat bei der Bundesnetzagentur schei-det der Kollege Patrick Döring als ordentliches Mitgliedaus. Die Fraktion der FDP schlägt den Kollegen HorstMeierhofer als Nachfolger vor, der bisher stellvertreten-des Mitglied des Beirates war. Als neuer Stellvertretersoll der Kollege Michael Kauch berufen werden. –Auch dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann sind diebeiden Kollegen hiermit gewählt.

In das Kuratorium der Stiftung Haus der Ge-schichte der Bundesrepublik Deutschland soll aufVorschlag der Fraktion Die Linke der Kollege PaulSchäfer als ordentliches Mitglied für den Kollegen JanKorte berufen werden. Darf ich auch dazu Ihr Einver-

nehmen feststellen? – Das ist der Fall. Dann ist der Kol-lege Schäfer hiermit gewählt.

Schließlich schlägt die SPD-Fraktion vor, für die Kol-legin Sonja Steffen die Kollegin Kerstin Tack alsSchriftführerin zu wählen. – Auch das ist einvernehm-lich. Damit ist die Kollegin Tack als Schriftführerin be-stellt.

Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die ver-bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktlisteaufgeführten Punkte zu erweitern:

ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derSPD gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO-BT

zu den Antworten der Bundesregierung aufdie Fragen 45 und 46 auf Drucksache 17/8404

(siehe 154. Sitzung)

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIELINKE:

Zweifelhafte Überwachung von 27 MdB derFraktion DIE LINKE durch den Verfassungs-schutz

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten LisaPaus, Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Dienstwagenprivileg abbauen und Besteue-rung CO2-effizient ausrichten

– Drucksache 17/8462 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.

Der Tagesordnungspunkt 27 wird abgesetzt und durchden Zusatzpunkt 3 ersetzt. – Auch damit sind offensicht-lich alle einverstanden. Dann ist das so beschlossen.

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Präsident Dr. Norbert Lammert

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Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Umsetzungeines Maßnahmenpakets zur Stabilisierungdes Finanzmarktes (Zweites Finanzmarkt-stabilisierungsgesetz – 2. FMStG)

– Drucksache 17/8343 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-ausschusses (8. Ausschuss)

– Drucksache 17/8487 –

Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider (Erfurt)Florian ToncarRoland ClausPriska Hinz (Herborn)

Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der SPD-Fraktion sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre keineEinwände. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Kollegen Norbert Barthle für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Norbert Barthle (CDU/CSU):Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Wir beraten heute abschließend dasZweite Finanzmarktstabilisierungsgesetz. Mit diesemGesetz stellen wir vorsorglich Notfallinstrumente bereit,um ein Übergreifen der Staatsschuldenkrise auf unserFinanzsystem, auf unsere Realwirtschaft zu verhindern.Wir schützen damit nicht nur das Finanzsystem; wirschützen damit unsere Wirtschaft, wir schützen damitdie Beschäftigten, wir schützen damit letztlich auch dieSteuerzahler vor Belastungen.

Kern dieser Regelung ist es, den ursprünglich bisEnde 2010 befristeten Bankenrettungsfonds Soffin biszum Ende dieses Jahres erneut für Anträge zu öffnen.Wir hatten den Bankenrettungsfonds, Soffin genannt, da-mals im Herbst 2008 unter der Führung von Bundes-kanzlerin Angela Merkel als Antwort auf die Finanz-und Wirtschaftskrise eingerichtet. In der Folgezeit wurdesein Instrumentarium etwas ausgeweitet. Ich möchte dieMöglichkeit der Einrichtung von Bad Banks nennen.

Heute können wir sagen: Die Errichtung des Banken-rettungsfonds Soffin hat ganz wesentlich zur Stabilisie-rung der Finanzmärkte beigetragen und war insoferneine Erfolgsgeschichte.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir mussten damals sehr schnell handeln, wir musstensehr schnell intervenieren, wir mussten sozusagen am

offenen Herzen operieren. Heute haben wir dagegen eineetwas andere Situation. Heute wollen wir mit der befris-teten Wiedereröffnung des Soffin insbesondere präven-tiv wirken. Das heißt, heute geht es darum, durch vor-beugende Bereitstellung adäquater Hilfsinstrumente eineakut krisenhafte Situation erst gar nicht entstehen zu las-sen.

Mit dem Gesetz leisten wir, leistet die Koalition einenBeitrag dazu, dass in Deutschland die europäischenZiele zur Eigenkapitalausstattung von Banken im Ernst-fall auch mit staatlicher Hilfe erfüllt werden können. Wirhatten dazu am vergangenen Montag eine Anhörung imHaushaltsausschuss des Deutschen Bundestages. In die-ser Anhörung haben alle Experten – ich betone: alleExperten – hervorgehoben, dass das der richtige Weg istund dass das Gesetz notwendig ist.

Mit dem neuen Gesetz bleibt die bisher bestehendeReihenfolge erhalten. Das heißt, wenn eine Gefährdungentsteht, sind zunächst die Eigentümer der Banken, alsodie Aktionäre, gefordert. Erst anschließend wird über-prüft, ob staatliche Unterstützungsleistung notwendigist. Um keine Missverständnisse entstehen zu lassen,möchte ich vorab darauf hinweisen, dass die Nutzungder Notfallinstrumente wirklich nur für den Notfall vor-gesehen ist. Im Regelfall zieht zunächst einmal das soge-nannte Restrukturierungsgesetz, das wir zwischenzeit-lich geschaffen haben.

Wir müssen künftig bei allen Entscheidungen sehr ge-nau prüfen, ob eine Maßnahme des Finanzmarktstabili-sierungsfonds erforderlich ist, und zwar immer unterdem Gesichtspunkt, ob eine drohende Gefährdung derFinanzmarktstabilität vorliegt; denn wir sind uns sehrbewusst: Es geht hier um die Übernahme von Risiken imNamen des Steuerzahlers. Wenn ein einzelnes Finanz-institut in eine Notlage gerät, dann sind die Instrumentedes Restrukturierungsfonds anzuwenden. Das heißt, derBankensektor muss mit den über die Bankenabgabe ein-gesammelten Mitteln reagieren und die Situation selbstbereinigen.

Mit der Wiedereröffnung des Soffin schaffen wir ne-ben den Gewährleistungen, die es schon im Soffin I gab,weitere Kreditermächtigungen. Wie schon bei derErstauflage verfügen wir über einen Garantierahmen vonrund 400 Milliarden Euro; zusätzlich gibt es Kredit-ermächtigungen von 70 Milliarden Euro zuzüglich10 Milliarden Euro mit besonderer Zustimmung desHaushaltsausschusses.

Auch die Instrumentarien bleiben im Kern erhalten.Der Fonds kann Garantien ausgeben, kann Banken durchneu ausgegebene Aktien rekapitalisieren oder stille Ein-lagen erwerben. Darüber hinaus können sogenanntetoxische Wertpapiere in Bad Banks ausgelagert werden.Wir haben den Begriff der toxischen Wertpapiere erwei-tert auf alle Wertpapiere, die eventuell bilanzbelastendsein könnten.

Darüber hinaus haben wir für die BaFin, für die Ban-kenaufsichtsbehörde, neue Möglichkeiten geschaffen.Die Aufsichtsbehörde kann, wenn auf dem Finanzmarkteine besondere Risikolage vorliegt, zur Abwehr drohen-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18479

Norbert Barthle

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der Gefahren anordnen, dass die Eigenkapitalausstattungder Banken erhöht werden muss. Sie kann das durch ei-nen Erfüllungsplan, der vorgelegt werden muss, überwa-chen, und sie kann im Notfall sogar einen Sonderbeauf-tragten gemäß Kreditwesengesetz einsetzen.

Ein Punkt ist mir sehr wichtig, der im Vorfeld der De-batte in der öffentlichen Diskussion eine Rolle gespielthat, und zwar das Thema Schuldenbremse. Es wurdespekuliert, ob mit diesem Gesetz die Schuldenbremseeventuell umgangen werden kann. Das Gegenteil ist derFall. Wir schaffen mit den im Gesetz enthaltenen Formu-lierungen erst die Voraussetzung dafür, dass die Schul-denbremse in jedem Fall eingehalten wird.

Da es sich bei Finanzmarktstabilisierungsaktivitätenum mehrjährige Kreditermächtigungen handelt, musstedieser Problemfall gelöst werden, weil die Schulden-bremse genauso wie der Haushalt jährlich „denkt“. Wirhaben das deshalb so geregelt, dass dann, wenn einestrukturelle Verschuldung eintreten sollte, die schulden-bremsenrelevant ist, sofort ein Plan dazu vorgelegt wer-den muss, wie diese wieder getilgt werden kann, also einTilgungsplan. Insofern greift die Schuldenbremse in je-dem Falle.

Ich will noch einen zweiten Aspekt hervorheben, dermir wichtig ist. Das ist die sogenannte Parlamentsbeteili-gung. Bei der Parlamentsbeteiligung haben wir uns in-tensiv Gedanken darüber gemacht, wie diese auszuge-stalten ist. Wir haben die Situation, dass uns dasBundesverfassungsgericht auferlegt hat, dass immerdann, wenn größere Risiken für den Steuerzahler entste-hen, eine weiter gehende Parlamentsbeteiligung vorzu-sehen ist.

Wir treffen deshalb in dem Gesetz die Regelung, dassbei den Kreditermächtigungen zunächst nur ein Volumenvon rund 20 Milliarden Euro für frei verfügbar erklärtwird und weitere 30 Milliarden Euro gesperrt sind. DieseSperrung kann, vor allem aus Gründen der Geheimhal-tung, nur in dem sogenannten §-10-a-Gremium aufgeho-ben werden, wenn dort die entsprechenden Gründe dar-gelegt werden. Über diesen Vorgang ist dann umgehendder Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages zuunterrichten.

Wir sind davon überzeugt, dass wir auf diese Art undWeise einen wirklich angemessenen Ausgleich schaffenzwischen den notwendigen Spielräumen der Exekutiveeinerseits und der Kontrollverantwortung des DeutschenBundestages, des Haushaltsgesetzgebers, andererseits.Wir denken, mit dieser Vorgehensweise ist dieser Aus-gleich so geschaffen, dass er auch verfassungsfest istund dass das Bundesverfassungsgericht mit diesem Vor-gehen einverstanden sein kann.

Erlauben Sie mir abschließend noch eine Bemerkungzum Thema Wettbewerbsverzerrungen. Wir sind uns da-rüber im Klaren, dass jede Inanspruchnahme dieses Sta-bilisierungsfonds potenziell zu Verzerrungen des Wett-bewerbs führen kann. Das stellt immer einen Eingriff indas Bankensystem dar. Das ist logisch. Aber wir habendie Formulierungen im Gesetz so gewählt, dass das Zielerreicht werden soll, Wettbewerbsverzerrungen so weit

als irgend möglich auszuschließen bzw. durch entspre-chende Kompensationsmöglichkeiten zu beseitigen.

Ich fasse zusammen: Mit diesem Gesetz stellen wirvorsorglich Notfallinstrumente bereit, um ein Übergrei-fen der Staatsschuldenkrise auf das deutsche Finanzsys-tem, auf die Realwirtschaft zu verhindern. Wir wollendie Steuerzahler vor größeren Belastungen im Falle einerkrisenhaften Zuspitzung schützen. Wir wollen dafür ge-wappnet sein. Sollte dieses Gesetz nie zur Anwendungkommen, was für den Gesetzgeber ein Ausnahmefallwäre, dann wären wir auch nicht traurig. Das beziehenwir in unsere Überlegungen ganz bewusst mit ein.

Dennoch bin ich davon überzeugt: Mit diesem Gesetzsenden wir ähnlich wie 2008 ein starkes Signal in die Fi-nanz-, in die Wirtschaftswelt hinein – insofern als wirbereit sind, dann, wenn es notwendig sein sollte, unserFinanzsystem zu stabilisieren, zu sichern. Das, meineDamen und Herren, erzeugt Vertrauen, das erzeugt Sta-bilität. Vertrauen und Stabilität sind bei allen – auch eu-ropäischen – Fragen immer Voraussetzung für Solidari-tät.

In diesem Sinne fügt sich auch dieses Gesetz in alledie Maßnahmen ein, die wir bisher getroffen haben. Ichbitte Sie deshalb um Ihre Zustimmung. Ich kann mir nurwenige Gründe ausdenken, weshalb man diesem Gesetznicht zustimmen sollte.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Da haben Sie im Haushaltsaus-schuss gestern nicht zugehört!)

Ich bin davon überzeugt, im Kern ihres Herzens ist auchdie Opposition davon überzeugt. Ich bin gespannt da-rauf, was Sie an Argumenten vorzutragen haben.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort hat nun der Kollege Carsten Schneider für

die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Carsten Schneider (Erfurt) (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Dieses Gesetz ist ein weiterer Beleg für die Gültigkeitdes Merkel’schen Gesetzes: Was vorher heftig demen-tiert und ausgeschlossen wird, wird später umso deutli-cher und schneller Realität.

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das ist Unsinn!)

Genau das ist hier der Fall.

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Daswird leider durch Wiederholungen nicht richti-ger!)

Sie haben zu Beginn dieser Koalition – ich habe mirden Koalitionsvertrag noch einmal angesehen –, nach-dem Sie das Restrukturierungsgesetz, auf das KollegeBarthle hingewiesen hat, durch den Bundestag gebracht

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18480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Carsten Schneider (Erfurt)

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haben, ausgeschlossen, dass jemals wieder die Notwen-digkeit bestünde, dass ein Gesetz wie das Soffin-Gesetz,das der Bankenrettung dienen soll, das Licht der Welt er-blickt. Aber jetzt legen Sie ein Gesetz vor, das Sie selbst„Soffin-II-Gesetz“ nennen.

Herr Minister Schäuble, ich habe Sie im Haushalts-ausschuss des Bundestages im November/Dezember2010 mehrfach gefragt, ob es sinnvoll und klug ist, dasSoffin-Gesetz auslaufen zu lassen, sich die Möglichkeitzu nehmen, mit Kapital, aber auch mit Garantien zur Sta-bilisierung des Finanzmarkts beizutragen. Sie habenstets geantwortet: Das brauchen wir nicht mehr. Wir ha-ben das Restrukturierungsgesetz. Wir haben das gere-gelt. – Jetzt sehen wir: Genau dieses Gesetz – es gibt nurein paar Änderungen; Kollege Barthle hat das erläutert –wird dem Deutschen Bundestag wieder vorgelegt. Dasist wieder eine 180-Grad-Wende in Ihrer Politik. Erst ha-ben Sie die ökonomische Einschätzung des IWF, vonTeilen der SPD und anderen, dass dieses Gesetz notwen-dig ist, für absurd erklärt. Sie haben gesagt, dass Sie dasnicht brauchen. Heute brauchen Sie es aber doch.

(Beifall bei der SPD)

Worum geht es? Wieder werden 400 Milliarden Euroan Garantien zur Verfügung stehen, für die der Bund unddamit der deutsche Steuerzahler geradesteht. Das istnicht ohne Risiko. Banken können Garantien bekom-men, um Anleihen zu platzieren. Wir als SPD sehen diegrundsätzliche Notwendigkeit für ein solches Gesetz.Allerdings sind wir bei einzelnen Maßnahmen andererMeinung. Das betrifft zum Beispiel die Frage: Wer zahlteigentlich die Zeche, wenn es zu einem Ausfall kommt?Sie sagen – das werden Sie heute beschließen –: DieZeche zahlt die Allgemeinheit, die zahlt der Steuerzah-ler. – Das halten wir für nicht vertretbar.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Hier sehe ich eine große Einigkeit mit der Bundes-kanzlerin. Sie ist heute nicht anwesend. Abstimmen wirdsie wahrscheinlich auch nicht. Am Mittwoch, dem15. September 2010, hat sie im Rahmen ihrer Rede zumHaushalt 2011 gesagt – es ging da um den Bankenre-strukturierungsfonds; ich zitiere –:

Es ist vollkommen klar: Je risikobehafteter das Ka-pital ist und die Geschäfte sind, umso mehr Abgabe

– Bankenabgabe –

muss gezahlt werden, damit in Zukunft nicht mehrder Steuerzahler für solche Krisen eintreten muss,sondern die Banken das selber tun müssen.

Das hat die Bundeskanzlerin vor anderthalb Jahren ge-sagt.

Was ist heute? Was wird mit diesem Gesetzentwurfvorgeschlagen? Kommt es durch Ausfälle – ich halte dasfür nicht ganz so unwahrscheinlich wie Kollege Barthle –zu einer Inanspruchnahme des Bundes, dann zahlt derdeutsche Steuerzahler, die Allgemeinheit, und es zahleneben nicht die Banken und der Finanzsektor. Das ist der

entscheidende Grund, warum wir als SPD diesem Ent-wurf so nicht zustimmen werden.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das heißt nicht: Wir entziehen uns der Verantwor-tung. Wir sagen: Wir brauchen das. Wir werden auchnicht populistisch sagen: Jetzt gibt es wieder Geld für dieBanken und für die anderen nicht.

(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Das ist verant-wortungslos, was Sie da machen, Schneider!)

Ich sage nur: Der Sektor muss diese Kosten im Zweifelselbst tragen – durch eine Besteuerung oder eine Verän-derung der Bankenabgabe –; denn diese Kosten entste-hen. Wir sehen das bereits bei dem bestehenden Soffin-I-Gesetz. Durch die damals notwendig gewordene Enteig-nung und Abwicklung eines Teils der Hypo Real Estatewird es zu hohen Verlusten kommen. Schätzungen lie-gen vor; das genaue Ergebnis werden wir kennen, wenndas Portfolio nicht mehr besteht.

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Warten wir ein-mal ab, Herr Kollege!)

Herr Minister Schäuble, man hat den Eindruck, dassbei Ihnen außer Europa nichts mehr stattfindet. Sie sindimmer noch Finanzminister der BundesrepublikDeutschland. Es geht um die Zukunft des Finanzmarktesin Deutschland. Was Sie diesbezüglich in den vergange-nen zwei Jahren auf den Weg gebracht haben, ist fastnichts. Dabei geht es um die Struktur des Bankensys-tems in Deutschland. Nehmen Sie das Beispiel Landes-banken: Im September 2010 haben Sie zu einem Gipfeleingeladen. Ziel war es, das Problem zu lösen. Was wardas Ergebnis? Es gab keins. Die Bundesregierung hat dieSegel gestrichen. Der Bund hat 2 Milliarden Euro zu-sätzlich bei der WestLB investiert und höchstwahr-scheinlich verloren. Das war Ihre Entscheidung. An derStruktur des Landesbankensystems – hier brauchten wirwirklich Reformen, sowohl hinsichtlich der Anzahl alsauch hinsichtlich des Bilanzvolumens – gibt es aberkeine Veränderungen.

Nehmen Sie als zweites Beispiel die Einlagensiche-rung. Es gibt ein Einlagensicherungssystem der privatenBanken, eines der Genossenschaftsbanken und eines derSparkassen. Ich persönlich habe ernsthafte Zweifel ander Notwendigkeit von drei verschiedenen Systemenund an der Leistungsfähigkeit der Systeme. Was habenSie diesbezüglich in den letzten anderthalb, zwei Jahrenauf den Weg gebracht? Nichts, gar nichts! Auch an die-ser Stelle: Versagen.

Jetzt komme ich zu den Eigentumsverhältnissen.Nehmen wir die Hypo Real Estate als Beispiel. Ich willgar nicht auf den Buchungsfehler von 55 MilliardenEuro eingehen – das war ja nur eine „Kleinigkeit“, die dadurchgegangen ist –, sondern auf die Frage: Was passierteigentlich mit dem Rest der Hypo Real Estate? Ist eswirklich notwendig, dass Sie als bürgerliche, marktwirt-schaftlich – das gilt vor allem für die FDP – orientierteKoalition versuchen, die Deutsche Pfandbriefbank, dieSie nebenbei abgespalten haben – sie ist zu 100 Prozent

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18481

Carsten Schneider (Erfurt)

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staatliches Eigentum –, zu finanzieren, obwohl es für de-ren Geschäftsmodell nur einen sehr schwierigen Marktgibt? Die Expertenkommission von Professor Zimmer,die Sie per Koalitionsvertrag und Bundesregierungsbe-schluss einberufen haben, hat Ihnen empfohlen, dieseBank abzuwickeln, sie vom Markt zu nehmen. Das wärefür den Finanzplatz Deutschland eine wichtige struktu-relle Entscheidung gewesen. Was machen Sie? MitStaatsgeld, mit Staatsgarantien halten Sie diese Bank amLeben; dies birgt ein hohes Risiko, dass zukünftig wie-der Verluste entstehen. Da kann ich keine Ordnungspoli-tik erkennen, im Gegenteil. Deswegen meine ich, dassSie auch an dieser Stelle im Finanzsektor in Deutschlandversagt haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich könnte diese Liste noch weiterführen. Ich willjetzt aber erläutern, was wir als SPD-Fraktion an diesemGesetzentwurf kritisieren; wir haben – in Teilen gemein-sam mit Bündnis 90/Die Grünen – entsprechende Ände-rungsanträge im Ausschuss eingebracht.

Die erste Frage, die Frage der Kosten, habe ich schongenannt.

Die zweite Frage ist: freiwillige Eigenkapitalzufüh-rung oder notfalls durch Zwang? Die Amerikaner unddie Briten haben gute Erfahrungen damit gemacht, dasssie im Rahmen der Finanzkrise gesagt haben – es warvor allem der damalige Finanzminister Paulson –: Wennihr in Schwierigkeiten seid und zusätzliches Eigenkapi-tal braucht, um Verluste auszugleichen und Vertrauenwiederzugewinnen, dann ist es notwendig, das schnellund zügig zu erledigen.

Sie legen jetzt eine rein freiwillige Lösung vor. Es gabja den Referentenentwurf. In der Phase konnten die Ban-ken bzw. die Vorstände sozusagen überlegen, ob manstaatliche Hilfe haben möchte oder nicht. Ich zitiere nurHerrn Blessing, den Chef der Commerzbank, der sagte:Da gehe ich nie wieder hin. – Die wollen das also nicht.Diese Einzelinteressen mögen nachvollziehbar sein; imInteresse des öffentlichen Gutes Finanzmarktstabilitätund öffentliche Finanzen ist das aber nicht. Deswegen istein staatliches Eingriffsrecht an dieser Stelle unumgäng-lich. Sie selbst hatten im Referentenentwurf eine bessereMöglichkeit vorgesehen. Herr Minister Schäuble, ichkann die Veränderung des Entwurfs nur so interpretie-ren, dass Sie sich gegenüber der FDP nicht durchsetzenkonnten; aber es ist ein großer Fehler, sich auf die Frei-willigkeit und die Einsicht der Bankvorstände zu verlas-sen. Das haben die vergangenen drei Jahre gezeigt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die dritte Frage lautet: Wie beteiligen wir uns an Ban-ken? Niemand hier will Staatsbank spielen, im Gegen-teil: Wir haben immer deutlich gemacht, dass man sichso schnell wie möglich lösen sollte, zum Beispiel vonder Deutschen Pfandbriefbank, und dort als Staat dauer-haft kein Kapital halten sollte. Wenn es aber notwendigist, dass wir uns beteiligen, dann, so meine ich, muss eszwingend so sein, dass wir auch das Sagen haben. Das

ist ebenfalls eine Lehre aus den vergangenen drei Jahren.Das Sagen zu haben, bedeutet, sich tatsächlich Aktien-kapital und Mitspracherechte zu sichern und in Teilenauf die Geschäftspolitik Einfluss zu nehmen; denn es istunser Geld, das Geld des Steuerzahlers, das hier inves-tiert wird. In diesem Sinne muss klar sein, dass wir alsBundestag dann auch die Rechte haben, zu kontrollierenund Einfluss zu nehmen. Das steht für uns an ersterStelle. Sie sehen das nur als Möglichkeit im Gesetzent-wurf vor. Diese Möglichkeit kann so oder so genutztwerden. Das ist uns eindeutig zu wenig. Ganz klar:Wenn man sich beteiligt, dann muss man auch Aktien-kapital halten!

Der vierte Punkt findet sich auch in einem unsererÄnderungsanträge wieder. Wir sind der Auffassung:Wenn eine Bank Stabilisierungsmaßnahmen erhält, darfes keine Boni und keine Dividendenausschüttung geben.Solange die Bank vom Staat gestützt wird, muss klarsein, dass Gewinne nicht an Mitarbeiter und Aktionäreausgezahlt, sondern dazu verwendet werden, das Eigen-kapital zu stärken, sodass wir als Staat nicht mehr dasRisiko tragen. Es kann nicht sein, dass der Staat für dieRisiken geradesteht und das private Kapital die Gewinnemitnimmt.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das ist nicht soziale Marktwirtschaft, wie wir sie unsvorstellen.

Der fünfte Punkt: die Befristung des Gesetzes. Sie be-fristen das Gesetz bis zum 31. Dezember 2012; es wirdalso letztendlich in der praktischen Anwendung etwa einDreivierteljahr gelten. Sie haben – das ist ein gutes Bei-spiel, wie man Europapolitik nicht machen sollte – durchdie Stresstests der europäischen Bankenaufsicht mehrVerunsicherung geschaffen als Sicherheit.

Herr Minister Schäuble, Sie gehören der EBA ja nichtan. Aber Sie haben als Finanzminister mit den Beschlussgefasst, dass ein Stresstest durchgeführt werden soll, undnach dem Beschluss, dass er durchgeführt werden soll,zugelassen, dass sechs bis acht Wochen lang hin und herüberlegt und hoch und runter über die Frage diskutiertwurde: Was ist hartes Eigenkapital und was nicht? DieAnforderungen wurden permanent verändert. Staatsan-leihen wurden „gestresst“ – das heißt, sie müssen näheram Marktwert bilanziert werden –, was dazu führt, dassjetzt keiner mehr Staatsanleihen kauft. Deswegen: EinGrund dafür, dass sich Europa jetzt in einer Krise befin-det, besteht darin, dass Sie diesen verkorksten Stresstestzugelassen haben. Sie hätten ihn verhindern müssen.

(Beifall bei der SPD)

Der Stresstest hatte zur Folge, dass Staatsanleihen alsunsicher gelten. Sie befördern das sogar durch die Auf-sicht, indem festgelegt wurde, dass sie derzeit zumMarktpreis zu bilanzieren sind. Das führt dazu, dass jetztkeine Staatsanleihen mehr gekauft werden. Die Nullge-wichtung, die wir bisher hatten, wurde ad absurdum ge-führt. Sie selbst haben einen Katalysator geschaffen, derbewirkt, dass die Verunsicherung an den Märkten größerwird.

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Carsten Schneider (Erfurt)

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Deswegen, meine Damen und Herren: Wir stimmendiesem Gesetzentwurf so nicht zu, weil er unvollkom-men ist, weil er die Rechte des Parlaments und des deut-schen Steuerzahlers nicht ausreichend würdigt und weilSie der FDP an dieser Stelle viel zu weit entgegen-gekommen sind.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Aha! Aber zu einem eigenen Gesetzent-wurf kein einziges vernünftiges Argument!Das ist interessant!)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Florian Toncar ist der nächste Redner für die FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Florian Toncar (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

aktuelle Schuldenkrise in Europa zwingt uns, inDeutschland und europaweit zu handeln, und zwar auchmit Blick auf die Stabilität des Finanzsektors. Wir habenin der Krise vor drei Jahren gelernt: Wenn in einer an-gespannten Lage ein problematisches, ein auslösendesEreignis hinzukommt – damals war es die Pleite vonLehman Brothers –, kann Panik ausbrechen und kannsich Verunsicherung breitmachen, und dann ist der Scha-den allein deshalb weit größer, als er sein müsste. Genaudeshalb sorgen wir jetzt dafür – europaweit, aber ebenauch in Deutschland –, dass dieses Mal bessere Vorbe-reitungen getroffen werden und man sich absichert, auchgegen unerwünschte oder unerwartete Ereignisse.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Banken sollen einen Sicherheitspuffer anlegen, der sie indie Lage versetzt, kritische Situationen zu überstehen.Das nutzt unserer gesamten Wirtschaft, unserer Wirt-schaftsleistung, den Sparern und damit auch der Allge-meinheit.

Dieses Gesetz ist, anders als der Kollege Schneidergesagt hat, kein Gesetz zur Bankenrettung. Es ist keinGesetz, das Banken, die eigentlich insolvent werden wür-den oder kein Geschäftsmodell mehr haben, am Lebenund am Markt hält. Für Situationen, in denen eine Bankfaktisch pleite ist oder kurz vor der Pleite steht – solcheFälle gab es in den letzten drei Jahren auch in Deutsch-land –, haben wir ein eigenes Gesetz geschaffen, dasweiterhin gültig bleibt: das Restrukturierungsgesetz.Eine Bank, die kein Geschäftsmodell hat bzw. pleiteoder fast pleite ist, wird geordnet und gesteuert vomMarkt genommen. Das ist der richtige Weg, weil wirnicht lebensfähige Banken nicht mit Steuergeldern amMarkt und am Leben halten können.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Worum es hier geht, ist etwas anderes. Wir reden überBanken, die eigentlich alle rechtlichen Vorgaben erfüllenund bisher genug Kapital hatten. Diesen Banken sagenwir: Ihr müsst für schwierige Situationen, die in dennächsten Monaten vielleicht auf euch zukommen, einen

zusätzlichen Sicherheitspuffer, den wir bisher nicht voneuch verlangt haben, vorhalten. – Im Grunde werden dieBanken also mit einem Airbag nachgerüstet, wenn sienicht schon einen haben. Darum geht es. Das bedeutetaber nicht, dass das Auto nicht mehr fahren kann bzw.dass ein Schaden vorliegt. Deshalb ist dies auch keineKehrtwende, Kollege Schneider, sondern ein neuer An-satz und ein neues Instrument, das sicherlich nicht imWiderspruch zum Restrukturierungsgesetz steht.

Es läuft so, dass die Bankenaufsicht bis zum 30. Junidieses Jahres jeder einzelnen Bank Vorgaben macht underklärt, ob sie nachsteuern muss. In Deutschland gibt essechs Banken, die nachsteuern und weiteres Kapital mo-bilisieren müssen, um für schwierige Situationen, die wirhoffentlich nicht erleben werden, die wir aber auch nichtausschließen können, gewappnet zu sein. Dabei ist klar:Jede der sechs betroffenen deutschen Banken hat biszum 30. Juni dieses Jahres Zeit. Sie muss zunächst ein-mal alles dafür tun, das, was sie nachholen muss, selberund mit eigenen Mitteln hinzubekommen. Es geht nichtdarum, dass man ihr Steuergelder aufdrängt. Es gehtauch nicht darum, gedankenlos Steuergelder zur Verfü-gung zu stellen. Vielmehr sind erst einmal die Unterneh-men selber gefragt, wie es in der sozialen Marktwirt-schaft selbstverständlich sein sollte, liebe Kolleginnenund Kollegen.

Alle Banken in Deutschland, die nachsteuern müssen,haben übrigens erklärt, dass sie das auch tun wollen.Keine von ihnen möchte Steuergeld haben,

(Lachen der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE])

sondern die Banken, die betroffen sind, möchten ersteinmal selber ihre Pflicht erfüllen.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ja, ja! Das sagen sie zum Schein!)

Ich kann nur sagen: Ich begrüße das, weil ich es fürselbstverständlich halte, dass ein Unternehmen, das pri-vat Gewinne erwirtschaften will, mit eigenen Mittelnalles, was möglich ist, tut, um die rechtlichen Vorgabenzu erfüllen. Das, was angekündigt worden ist, ist sehr inunserem Sinne.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dass die deutschen Banken alles dafür tun, dass siekein Steuergeld brauchen, beweist doch eines: DieserHilfsfonds ist keine Hängematte und kein bequemerWeg. Die Banken können sich also nicht einfach Geldvom Steuerzahler holen und weitermachen wie bisher,sondern das ist schmerzhaft, weil es mit Gegenleistun-gen und Kosten, die die Banken dafür zahlen müssen,verbunden ist. Deshalb wollen sie es auch nicht. Auchdas muss hier gesagt werden: Wir sind sehr streng, wennes doch einmal jemanden gibt, der Steuergeld will, sostreng, dass das niemand von sich aus einfach so bean-tragen würde. Auch das ist politisch gewünscht, weil wirwollen, dass die Banken ihre Hausaufgaben selber ma-chen und nicht zum Staat rennen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18483

Florian Toncar

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Deswegen verlangen wir von denen, denen mit die-sem Fonds geholfen werden soll, einiges. Sie müssen zu-nächst einmal ein stabiles Geschäftsmodell entwickeln,und sie müssen die Dinge, die nicht mehr tragfähig undauch unverantwortlich gewesen sind, abbauen und ein-stellen. Sonst können sie keine Hilfe von uns bekom-men. Darüber hinaus müssen sie angemessene Vergü-tungsregeln vereinbaren und sich vor allem – das ist diewichtigste Aufgabe des Finanzsektors – der Versorgungder Realwirtschaft, der produzierenden Unternehmenund auch der privaten Kunden verpflichten. Dafür sindBanken da, und das verlangen wir, bevor wir überhauptdarüber nachdenken, ob es auch nur 1 Euro Steuergeldfür eine deutsche Bank gibt.

Der Kollege Schneider hat die Themen Aktien undMitspracherechte angesprochen. Kollege Schneider, ei-nerseits sagen Sie, wir dürften die Kosten für solcheAktionen nicht dem Steuerzahler aufbürden, und imgleichen Atemzug fordern Sie, dass wir mehr Aktien er-werben und Mitspracherechte erhalten müssen. Sie müs-sen sich einmal überlegen, was Sie wollen. Wenn Siemehr Aktien und mehr Mitspracherechte wollen, dannmüssen Sie dafür Steuergeld in die Hand nehmen. WennSie das nicht wollen, dann bekommen Sie auch nichtmehr Mitsprache. Beides zusammen funktioniert nicht;das ist ein Widerspruch in sich. Innerhalb von acht Mi-nuten Redezeit haben Sie hier ganz bemerkenswerte Wi-dersprüchlichkeiten von sich gegeben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Zu den Kosten der Rettungsaktionen in der Vergan-genheit will ich nur eines sagen: Die Commerzbank hatin zwei Schritten insgesamt 18 Milliarden Euro ausSteuermitteln bekommen. Den Großteil davon, nämlich90 Prozent, erhielt sie als stille Einlage, und nur für einZehntel davon haben wir Aktien erhalten. Dass ausge-rechnet die Sozialdemokraten, die damals den Finanz-minister gestellt haben, uns jetzt sagen, wir müsstenmehr Aktien verlangen, ist wirklich ein Treppenwitz.Als Sie es hätten tun können und als es auch geboten ge-wesen wäre,

(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!)

haben Sie darauf verzichtet, viele Aktien zu erwerben,und genau das Gegenteil gemacht. Jetzt fordern Sie dasplötzlich. Sie müssen uns das gar nicht sagen; denn wirwürden es ohnehin anders machen, als Sie es getan ha-ben, als Sie die Möglichkeit dazu hatten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Mir hat übrigens in den letzten drei Jahren noch nie-mand von den Sozialdemokraten erklären können, wa-rum man die Aktien der Commerzbank, die man erwor-ben hat, so teuer gekauft hat. Der Börsenkurs derCommerzbank lag zu dem Zeitpunkt, als Sie eingestie-gen sind, bei 3,80 Euro, und Minister Steinbrück, der da-mals verantwortlich war, hat die Aktien für 6 Euro ge-kauft.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das ist nicht richtig!)

Vielleicht können Sie sich einmal dazu äußern, warumSie dem Steuerzahler 700 Millionen Euro ungerechtfer-tigte Extrakosten zugemutet haben, die in die Commerz-bank geflossen sind, wodurch die Alteigentümer unge-rechtfertigterweise bereichert wurden. Ich habe bisherkeinen sachlichen Grund dafür gehört, warum Sie dasgemacht haben. Sie haben damals unnötigerweise Geldausgegeben.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Nein, nein, das weißt du besser!)

Wir achten auf Kostenkontrolle und würden das sicher-lich zu Börsenkursen abwickeln und nicht, wie Sie, ein-fach noch einmal 50 Prozent zulasten der Steuerzahlerin-nen und Steuerzahler in Deutschland draufschlagen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Amnesie!)

Ich stelle übrigens fest: Sie hätten in dieser DebatteGelegenheit, uns einmal zu erklären, warum die 6 Eurorichtig waren, aber Sie tun es nicht. Das schlechte Ge-wissen ist Ihnen anzusehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Gesetzentwurfselber.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Kollege Toncar, darf der Kollege Schneider Ih-

nen eine Zwischenfrage stellen?

Florian Toncar (FDP):Ja, dazu habe ich ihn ja fast aufgefordert.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Insofern muss ich sie nun auch zulassen. Bitte schön.

Carsten Schneider (Erfurt) (SPD):Herr Kollege Toncar, Sie haben das ja gestern im

Haushaltsausschuss und auch im Zusammenhang mit derHypo Real Estate schon gesagt. Ich gehe davon aus, dassIhnen bekannt ist, dass es sowohl zum Zeitpunkt derMaßnahmen zur Enteignung der Hypo Real Estate alsauch im Fall der Commerzbank kein Restrukturierungs-gesetz gab. Das war ein Problem. Mir liegt allerdingsauch kein Entwurf der FDP-Fraktion aus dieser Zeit vor.Das ist geändert worden; das ist in Ordnung. Weil da-mals aber kein entsprechendes Gesetz vorlag, musstenwir mit einem eigenen Enteignungsgesetz – nach Vor-lage und auf Empfehlung des BaFin-Chefs und des da-maligen Bundesbankchefs Weber, die gesagt haben, wirsollen das so machen – handeln.

Sie haben zwei Punkte genannt. Ich möchte Sie fra-gen, ob Ihnen bekannt ist, dass Sie, wenn Sie eine Aktieerwerben, ein Angebot machen müssen und dass es zwi-schen dem vorherigen Angebot, das Sie nach dem Ak-tiengesetz veröffentlichen müssen – Sie sind ja Juristund wissen das –, und dem, was Sie dann tatsächlichzahlen müssen, einen Unterschied gibt. Es gilt natürlichder vorherige Zeitpunkt, und da lag der Kurs bei 6 Euro.Durch den Staatseinstieg war der Kurs zum Zeitpunkt

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18484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Carsten Schneider (Erfurt)

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des Kaufes niedriger; deswegen hat der Kauf real zu die-sem niedrigeren Kurs stattgefunden. Wenn Sie andererAuffassung wären, wenn Sie meinen, der damaligeFinanzminister Steinbrück hätte das unkorrekt gemacht,müssten Sie ihn verklagen. Warum tun Sie das nicht?

Florian Toncar (FDP):Kollege Schneider, wir werden den Vorschlag und die

Option, jemanden zu verklagen, prüfen. Aber daraufwollte ich nicht hinaus. Ich glaube, dass es politischnicht vertretbar ist, wenn der Börsenkurs einer Aktie bei3,80 Euro liegt und dann auf Kosten des Steuerzahlersfür 6 Euro gekauft wird. Sie haben dieser Deutung nichtwidersprochen; das muss man noch einmal sagen.

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Doch! Dasist falsch! – Rolf Schwanitz [SPD]: Sie habennichts verstanden!)

Es sind 6 Euro pro Aktie gezahlt worden. Es gibt keinerechtliche Verpflichtung, das zu machen.

Übrigens hätten Sie damals für den gleichen Preis einDrittel der Aktien erwerben können; das wäre gesetzlichmöglich gewesen. Sagen Sie also nicht, dass es dafürkeine gesetzlichen Grundlagen gab. Es war eine reinpolitische Entscheidung, dass Sie ein Viertel aller Aktienwollten, dass Sie dafür 1,8 Milliarden Euro gezahlt ha-ben, was einem Preis von 6 Euro pro Aktie entspricht.All das ist politisch entschieden worden. Das war einefalsche Entscheidung, weil diese Lösung für die Steuer-zahler in Deutschland ungerechtfertigt teuer war.

(Beifall bei der FDP)

Ich will zu dem Entwurf noch einiges sagen. Wir ha-ben in dem Entwurf das Thema parlamentarische Betei-ligung geklärt. Bisher hatte der Deutsche Bundestag beider Verwaltung des Fonds nur reine Informationsrechte.Wir haben jetzt dafür gesorgt, dass die Regierung auf dereinen Seite da schnell handeln kann, wo es nötig ist. Aufder anderen Seite haben wir einen Teil der Kredit-ermächtigung, also einen Teil des Geldes, das demFonds zur Verfügung steht, gesperrt. Denn wenn wirk-lich größere Summen ausgegeben werden sollen, dannwollen wir das vorher kontrollieren. Dann ist es unserePflicht als Deutscher Bundestag, zu kontrollieren, ob dieGelder sinnvoll eingesetzt werden und damit wirtschaft-lich umgegangen wird.

Deswegen müssen größere Summen von uns freige-geben werden. Das haben wir neu eingeführt. Das heißt,das Parlament ist in einer stärkeren Rolle als bisher. Na-türlich haben Sie recht, Kollege Schneider, dass das zueinem guten Teil die Handschrift meiner Fraktion ist.Für dieses Lob darf ich Ihnen abschließend besondersdanken.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg.Dr. Michael Meister [CDU/CSU] – Lachen beiAbgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Kollege, das war doch eigentlich ein guter

Schlusssatz.

Florian Toncar (FDP):Jetzt kommt der Schlusssatz des Tages, jedenfalls was

mich angeht. – Wir haben notwendige, aber nicht hinrei-chende Voraussetzungen dafür geschaffen, dass derFinanzmarkt stabilisiert werden kann. Dazu müsseneuropäische Maßnahmen kommen, die in Arbeit sindund um die es auch in der nächsten Woche geht. Ich be-danke mich für die guten Beratungen. Natürlich wird dieFDP-Fraktion dem Gesetzentwurf zustimmen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Die Kollegin Sahra Wagenknecht ist die nächste Red-

nerin für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller [Er-langen] [CDU/CSU]: Jetzt wird die Redebeobachtet!)

Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Vom organisierten Geld regiert zu werden, ist ge-nauso schlimm, wie vom organisierten Verbrechenregiert zu werden.

(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abge-ordneten der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Da haben Sie ja Erfahrung!)

Nein, liebe Damen und Herren vom Verfassungsschutz,Sie müssen diesen Satz nicht mitschreiben. Er stammtnicht von einem Kommunisten.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Blödsinn!)

– Sie sagen „Blödsinn“. Wissen Sie, von wem der Satzstammt? Dieser Satz stammt von dem amerikanischenPräsidenten Franklin D. Roosevelt.

(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund[CDU/CSU]: Er kann sich nicht mehr wehrengegen das Zitat!)

Franklin D. Roosevelt hat diesen Satz nicht einfach nurdahergeredet, sondern er hat die Konsequenzen darausgezogen. Er hat nämlich in seiner Regierungszeit denFinanzsektor massiv reguliert. Das war die Konsequenzaus diesem Satz. Von solcher Konsequenz ist die Bun-desregierung leider Lichtjahre entfernt.

Der Ausbruch der letzten großen Finanzkrise liegt in-zwischen gut drei Jahre zurück. Damals haben die Staa-ten die Banken zum ersten Mal mit Billionen an Steuer-geld aus dem selbstverschuldeten Schlamassel gerettet.Viele Staaten haben sich dadurch so viele Schulden auf-gehalst, dass sie jetzt selbst zunehmend in die Pleiteschlittern. Angeblich ging es nur um die Konten derKleinsparer. Angeblich sollte dieser großen Rettungs-welle damals eine mindestens so große Regulierungs-welle folgen. So sollte verhindert werden, dass es jemalswieder Cash for Trash, also Steuergeld für Finanzmüllgeben muss.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18485

Sahra Wagenknecht

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Das ist fast drei Jahre her. Drei lange Jahre wurde dieÖffentlichkeit mit Scheinaktivitäten hingehalten und ge-täuscht. Drei lange Jahre ist faktisch nichts passiert. DasKasino wurde nicht geschlossen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist heute größer als je zuvor. Es wird aktuell sogar ge-rade von der Europäischen Zentralbank noch einmal mitzusätzlichen Hunderten Milliarden an Spielgeld ausge-stattet.

Nahezu alle Geschäfte, die 2008 den Finanzcrash aus-gelöst haben, sind unverändert legal und werden unver-ändert gemacht. All die undurchsichtigen und dubiosenDerivate, vor denen Warren Buffett schon 2002 gewarnthat, indem er gesagt hat, das seien finanzielle Massen-vernichtungswaffen, sind nach wie vor auf dem Markt.Banken wie die Deutsche Bank verdienen sich dummund dämlich damit. All die zweifelhaften Verbriefungen,die sich damals als Giftpapiere, als toxische Papiere ent-puppt haben, werden nach wie vor fleißig von den Ban-ken zusammengebastelt und neuerdings zum großen Teilbei der EZB abgeladen.

„Keine Bank darf so groß sein, dass sie wieder Staa-ten erpressen kann.“ Das hatte Frau Merkel im Krisen-jahr 2008 öffentlich verkündet. Und? Haben Sie ir-gendeine private Bank in Deutschland verkleinert? Siehaben das Gegenteil gemacht. Sie haben gefördert undunterstützt, dass die zwei größten privaten Banken nochgrößer geworden sind, indem sie weitere Banken, näm-lich die Commerzbank die Dresdner Bank und die Deut-sche Bank sogar zwei Banken, übernommen haben. Dashaben Sie auch noch politisch unterstützt. Das lässt nureinen Schluss zu: Sie fühlen sich offenbar ganz wohl inder Abhängigkeit von den Banken. Das mag vielleichtauch damit zu tun haben, dass von Allianz und Co. re-gelmäßig Millionen an Spenden fließen, sowohl an dieRegierungsparteien als auch an SPD und Grüne.

(Beifall bei der LINKEN)

Bei einer solchen Bankenhörigkeit kommen immerwieder Gesetzentwürfe wie der heraus, den wir heute be-raten. Ihre letzte Bankenrettungsrunde, damals noch inder Großen Koalition, hat die deutsche Staatsverschul-dung um 265 Milliarden Euro nach oben getrieben. Jetztsollen den Banken erneut 480 Milliarden Euro zur Verfü-gung gestellt werden, zu ähnlich unsäglichen Konditio-nen wie 2008. Ich finde es, ehrlich gesagt, unglaublich,was Sie sich trauen.

Auch die tolle Bankenabgabe hat sich als völligerFlop erwiesen. Es gab große Ankündigungen: Die Ban-ken sollten einen Fonds speisen, aus dem künftige Ret-tungsmaßnahmen finanziert werden. 70 Milliarden Eurosollten dadurch zusammenkommen.

Die Linke hatte schon damals gewisse Zweifel, dasssich die nächste Finanzkrise an Herrn Schäubles Planunghalten und erst in 35 Jahren eintreten wird. Denn Siesind damals davon ausgegangen, dass die Bankenabgabejährlich 2 Milliarden Euro einbringt. Das hieße, nach35 Jahren hätte man die 70 Milliarden Euro zusammen-gehabt. Aber das war alles viel zu optimistisch. Von

2 Milliarden Euro Einnahmen kann keine Rede sein. DieBankenabgabe hat im letzten Jahr gut 500 MillionenEuro eingespielt. 500 Millionen Euro wurden bei denBanken einkassiert. Das ist nichts.

Allein der Betrag, den die Deutsche Bank den Steuer-zahlern verdankt, beläuft sich auf 30 Milliarden Euro.30 Milliarden Euro an Forderungen hat die DeutscheBank nicht abschreiben müssen, weil die Staaten andereBanken gerettet haben, nämlich die Hypo Real Estate,die IKB, in den USA die AIG usw. 30 Milliarden Euro:Das entspricht dem gesamten harten Kernkapital derDeutschen Bank. Das heißt, auch dieses Institut wärekomplett pleite gewesen, wenn die Staaten nicht mit Ret-tungsmilliarden eingegriffen hätten. Aber die Idee, sichdie 30 Milliarden Euro von einem Finanzinstitut zurück-zuholen, das Boni und Dividenden ausschüttet, liegt of-fenbar völlig außerhalb der Vorstellungskraft dieserBundesregierung.

(Beifall bei der LINKEN)

Fordern und Fördern: Das gilt offenbar nur für Ar-beitslose, wobei es hier in der Regel auf Fordern undDrangsalieren hinausläuft. Bei den Banken dagegen giltoffensichtlich: Fördern und Vergessen, und auf Zurufwieder Fördern, wenn die Banken wieder etwas brau-chen. Ich finde, diese Politik ist ein einziger Skandal.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Schätzung, dass die Deutsche Bank dem Steuer-zahler 30 Milliarden Euro verdankt, hat Herr Steinbrückin die Öffentlichkeit gebracht. Er kann das vermutlichgut einschätzen. Denn er war damals deutscher Finanz-minister, als die erste große Bankenrettungsrunde lief.Das heißt, er hat sie wesentlich mit verbrochen. Deswe-gen muss ich noch einmal auf die Rettung der Commerz-bank zurückkommen, und zwar nicht deshalb, weil da-mals alles so schlimm war – das war es allerdings –,sondern weil genau das Gleiche wieder droht.

Erinnern wir uns daran, was damals passiert ist: DieRettung der Commerzbank ist in einer Art und Weiseverlaufen, die nicht nachteiliger für den Steuerzahler undnicht vorteilhafter für die Aktionäre hätte sein können.18 Milliarden Euro – das ist schon mehrfach erwähntworden – wurden in diese Bank gepumpt, die am Markt3 Milliarden Euro wert war. Mit diesen 18 MilliardenEuro hätten Sie natürlich alle Aktien der Commerzbankkaufen können. Sie hätten sogar alle Aktien der Deut-schen Bank mitkaufen können. Aber stattdessen habenSie sich auf einen Anteil von 25 Prozent beschränkt. DerRest wurde dieser Bank als stille Einlage faktisch zumNulltarif zur Verfügung gestellt. Nicht einmal 2010, alsdie Commerzbank wieder Milliardengewinne gemachthat, hat diese Bank einen müden Euro an Zinsen gezahlt.Ich kann mir wirklich keinen privaten Investor vorstel-len, der zu solchen Harakiri-Konditionen Geld zur Ver-fügung stellen würde.

(Beifall bei der LINKEN)

Mindestens 2 Milliarden Euro sind dem deutschenFiskus durch diese aberwitzige Konstruktion an Einnah-men verloren gegangen. Mit diesen 2 Milliarden Euro

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18486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Sahra Wagenknecht

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hätten Sie übrigens 20 Jahre lang ohne Probleme für alleWohngeldempfänger in Deutschland den Heizkostenzu-schuss zahlen können. Aber Sie brauchen ja keinenHeizkostenzuschuss zu zahlen, weil er von dieser neoli-beralen Koalition 2010 wegen unerbittlicher Spar-zwänge eben einmal gestrichen wurde; diesen Zuschusskonnte man sich nicht leisten.

(Beifall bei der LINKEN)

Das zeigt doch offensichtlich: Wir müssen scheinbar im-mer nur deshalb sparen, um uns immer wieder solcheRundum-sorglos-Pakete für die Banken leisten zu kön-nen. Das ist eine unerträgliche Politik.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist kein Wunder, dass die einzige begeisterte Rück-meldung auf den vorliegenden Gesetzentwurf vom Ban-kenverband kam. Selbst Herr Hüther vom arbeitgeberna-hen Institut der deutschen Wirtschaft fordert inzwischeneine zwangsweise Teilverstaatlichung der Banken. Erhat natürlich recht; denn viele kleine und mittlere Unter-nehmen haben schon seit Jahren Schwierigkeiten, Kre-dite zu günstigen Konditionen zu bekommen. Natürlichbesteht die Gefahr, dass diese Schwierigkeiten jetzt nochakuter werden, weil die Banken wegen ihrer eigenenProbleme noch schlechtere Kreditkonditionen anbieten.Eine Bank wie die Deutsche Bank verwendet übrigensgerade einmal 4 Prozent ihrer Bilanzsumme für gewerb-liche Kredite. Mit dem Rest wird gezockt und spekuliert,bis der Staat wieder retten muss. Auch das zeigt einmalmehr: Finanzstabilität ist ein öffentliches Gut. Deswegengehört der Finanzsektor nicht in die Hände unverant-wortlicher Zocker und Renditejäger, sondern in die öf-fentliche Hand,

(Beifall bei der LINKEN)

weil das die einzige Chance ist, die Banken endlichkleinzuregulieren und sie dazu zu verpflichten, ihre Auf-gabe zu erfüllen. Ihre Aufgabe ist verdammt noch malnicht, zu spekulieren, sondern die Aufgabe ist, Dienerder Realwirtschaft zu sein und den Unternehmen güns-tige Kredite zur Verfügung zu stellen.

(Beifall bei der LINKEN)

Unregulierte Wettbuden dagegen mit immer neuen Steu-ergeldern zu stützen, ist unerträglich und verantwor-tungslos.

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die DDR lässt grüßen!)

Es geht aktuell nicht nur um die Kosten des neuen Ban-kenrettungsfonds. Auch der neue Euro-RettungsschirmESM muss noch einmal mit 22 Milliarden Euro ausgestat-tet werden. Hinzu kommen 168 Milliarden Euro für Bürg-schaften, und das in einer Situation, in der hier im Landunzählige wichtige Dinge nicht finanziert werden, weilwir angeblich kein Geld haben. Viele Schulen befindensich in einem beklagenswerten Zustand. Kommunen kön-nen ihre Krankenhäuser nicht mehr ordentlich ausstatten,weil sie kein Geld haben. Der Hartz-IV-Regelsatz fürKinder ist nach wie vor verfassungswidrig niedrig.

(Beifall bei der LINKEN)

Für all das fehlt angeblich das Geld. Das ist doch eineriesige Heuchelei, die Sie hier betreiben. Sie diktierenganz Europa Schuldenbremsen, und im selben Atemzugerlassen Sie Gesetze, von denen Sie ganz genau wissen,dass sie die Staatsverschuldung weiter in die Höhe trei-ben werden. Das ist Ihre Politik. Nehmen Sie sich ei-gentlich selbst noch ernst?

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt zeigt sich natürlich auch: Eine Behörde, die sichum den Schutz unserer Verfassung tatsächlich kümmernwürde, hätte heute in Deutschland einiges zu tun. Siekönnte sich beispielsweise um diejenigen kümmern, dieder Ansicht sind, dass man zum Zweck der Bankenret-tung auch mal das Budgetrecht des Parlaments ein-schränken oder umgehen kann, oder um diejenigen, dieder Meinung sind, dass parlamentarische Prozesse ei-gentlich nur stören, wenn sie denn die Märkte beunruhi-gen, oder um diejenigen, die ins Gespräch bringen, dasswir plötzlich eine marktkonforme Demokratie brauchen.Keine dieser Absurditäten ist im Grundgesetz vorgese-hen. Sie widersprechen ihm sogar ausdrücklich.

(Beifall bei der LINKEN)

Es bleibt dabei: Vom organisierten Geld regiert zuwerden, ist genauso schlimm, wie vom organisiertenVerbrechen regiert zu werden. Heute werden Deutsch-land und Europa vom organisierten Geld regiert, unddiese Bundesregierung ist eine besonders emsige und de-vote Vollstreckerin seiner Wünsche.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Frau Kollegin!

Sahra Wagenknecht (DIE LINKE):Die Linke wird sich im Unterschied auch zur SPD

und zu den Grünen an diesem schmutzigen Geschäft nie-mals beteiligen. Deswegen werden wir heute gegen die-sen Gesetzentwurf stimmen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort erhält der Kollege Jürgen Trittin für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt in

der aktuellen Euro-Finanzkrise mindestens drei großeLebenslügen von Schwarz-Gelb. Die erste lautet, wirseien keine Transferunion. Dieses Europa war schon im-mer eine Transferunion. Die zweite Lebenslüge lautet,wir würden Schulden nicht vergemeinschaften. DieWahrheit ist: In diesen Tagen liegen in der EuropäischenZentralbank in einer Größenordnung von rund 200 Mil-liarden Euro Staatsanleihen aus Italien, Spanien und an-deren Ländern. Damit wir diese Staatsanleihen bekom-men und Schulden vergemeinschaften, geben wirprivaten Banken in diesen Ländern billiges Geld zu ei-nem Zinssatz von 1 Prozent. Die dritte Lebenslüge hat

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18487

Jürgen Trittin

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die Bundeskanzlerin gestern in Davos hinzugefügt. Siehat gesagt: Man muss aufpassen, dass Deutschland indieser Situation nicht überstrapaziert wird.

Am nächsten Morgen wird hier im Deutschen Bun-destag beschlossen, 400 Milliarden Euro an Bürgschaf-ten und am Ende 80 Milliarden Euro zur Rettung vonBanken auszugeben. Ich sage an dieser Stelle: Ich kriti-siere nicht den Anlass des Gesetzes. Nicht, dass wir unsda missverstehen; es ist nötig. Aber so zu tun, als gäbe eseine erbitterte Debatte innerhalb der Koalition darüber,ob man das Notwendige für den Euro, für unsere ge-meinsame Währung, tun könne, und gleichzeitig kondi-tions- und bedingungslos Geld in der Größenordnungdes gesamten ESM – das ist nämlich die gleiche Größen-ordnung – für ein solches Projekt auszugeben, das lassenwir Ihnen nicht als eine konsistente Politik durchgehen.Das ist schlicht und ergreifend eine Veräppelung der Öf-fentlichkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie setzen damit etwas fort, was vom InternationalenWährungsfonds und von vielen anderen kritisiert wurde.Deutschland ist gut durch die Krise gekommen. AberDeutschland ist nicht deswegen gut durch die Krise ge-kommen, weil es gut gemanagt worden wäre. Deutsch-land ist vor allen Dingen sehr teuer durch die Krise ge-kommen. Die Bankenrettung in Deutschland war dieteuerste weltweit. Kein Land hat seine Mittel so ineffi-zient wie die Bundesrepublik Deutschland eingesetzt,um durch die Finanzkrise zu kommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Beispiel der Commerzbank ist schon sehr strapa-ziert worden: 18 Milliarden Euro für eine Bank, die, jenach Schätzung, 3 Milliarden bis 5 Milliarden Euro wertwar. Diese Bank zahlt bis heute keine Zinsen für diesestille Einlage. Jetzt kommen Sie mit genau dem gleichenModell erneut auf die Bevölkerung und den DeutschenBundestag zu. Sie schlagen vor, faktisch diesen Wegwieder zu beschreiten. Dazu sage ich: Der Verzicht da-rauf, Banken, die in Schieflage geraten, nicht nur zu ver-staatlichen, sondern sie zu zwingen, sich zu rekapitali-sieren, also der Verzicht auf wirkliche Maßnahmen, istder Beleg dafür, dass es falsch ist, wie Sie agieren. WennSie die Banken selber darüber entscheiden lassen, ob siesich rekapitalisieren, wenn Sie nicht die Bereitstellungvon Bürgschaften oder von Geld zum Beispiel damitverbinden, dass die Banken gezwungen werden, ihr Ei-genkapital aufzustocken, wenn Sie nicht als Bedingungfür Geld und Bürgschaften von Steuerzahlern dafür sor-gen, dass auch für Banken eine Schuldenbremse gilt,dann wird im Ergebnis auch die Schuldenbremse fürDeutschland überstrapaziert. Sie müssen an dieser Stelleendlich zu einer konsistenten Politik kommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf vonder CDU/CSU: Von hinten durchs Knie insAuge!)

In der Tat brauchen wir einen solchen Fonds. Wirbrauchen ihn auf europäischer Ebene. Aber wir müssen

als Gegenleistung verlangen, dass es innerhalb der Ban-ken zu einer massiven Rekapitalisierung kommt – da,wo Geld gegeben wird, muss der Staat mitreden –, undwir müssen gleichzeitig dafür sorgen, dass Spekulationbegrenzt und vermindert wird.

Ich würde mir wünschen, dass die CDU/CSU die Tat-kraft, die sie gelegentlich an den Tag legt, wenn es zumBeispiel darum geht, Kolleginnen und Kollegen wieFrau Wagenknecht durch den Verfassungsschutz be-obachten zu lassen, auch einmal aufbrächte, wenn es umdie Umsetzung und Durchsetzung der Finanztransak-tionsteuer geht.

(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])

Da lassen Sie sich ja von der FDP schlicht und ergrei-fend am Nasenring durch die Manege führen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort hat nun der Bundesminister der Finanzen,

Dr. Wolfgang Schäuble.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Die Debatte hat einen weiten Bogen ge-schlagen. Es war nicht wirklich überraschend, aber be-merkenswert, dass sich Frau Wagenknecht gar nicht da-gegen ausgesprochen hat, dass Abgeordnete – notfallsauch vom Verfassungsschutz – beobachtet werden, son-dern dass sie nur gesagt hat, sie hätte gern andere Abge-ordnete unter Beobachtung gestellt.

(Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Das habe ich so nicht gesagt!)

Aber ich möchte mich zu dem Gesetz äußern. Aufdem Weg, die durch die Staatsschuldenkrise einiger Mit-gliedsländer der gemeinsamen europäischen Währungausgelöste Verunsicherung in der Euro-Zone als Ganzeszu bekämpfen, stellt es einen wichtigen Beitrag dar. Sinnund Anlass des Gesetzes sind nämlich, für Banken nunetwas zu haben, was wir damals, im Jahr 2008, nicht hat-ten. Es ist, glaube ich, nicht vorzuwerfen, dass wir es da-mals nicht hatten; aber deswegen mussten wir die Pro-bleme seinerzeit anders lösen. Inzwischen haben wir mitdem Bankenrestrukturierungsgesetz das richtige Instru-mentarium geschaffen, um in einem solchen Fall eineBank ordnungspolitisch sauber vom Markt nehmen zukönnen. Dafür brauchen wir dieses Gesetz nicht. Wirbrauchen es aber – für eine begrenzte Zeit; deswegen istes auch bis Ende des Jahres befristet – im Rahmen derStabilisierungsbemühungen in Bezug auf die gemein-same europäische Währung. Ich will, weil das so wichtigist, noch einmal daran erinnern: Die Bekämpfung dieserKrise muss bei der Bekämpfung der Ursachen der Kriseansetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

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18488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble

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Das ist und bleibt der erste notwendige Schritt, an demkein Weg vorbeiführen darf, und alles, was wir sonst ma-chen, darf nicht dazu führen, dass bei der Bekämpfungder Ursachen der Krise nicht bei den Mitgliedsländernder Europäischen Union angesetzt wird. Sonst würdenwir falsche Anreize setzen.

Außerdem brauchen wir eine Stabilitätsunion. Das istdas, was wir in diesen Tagen und Wochen mit dem Euro-päischen Stabilisierungsmechanismus und dem FiscalCompact zustande bringen. Das ist bei der Konstruktionder europäischen Verträge nicht ganz einfach. Es wäreeinfacher gewesen, wenn eine Vertragsänderung gelun-gen wäre; aber Vertragsänderungen sind in Europa nureinstimmig möglich. Diese Einstimmigkeit war im Eu-ropa der 27 nicht zu erreichen. Deswegen müssen wirden Weg über den Fiscal Compact gehen, um das zuschaffen, was wir für die vergemeinschaftete Geldpolitikbrauchen, damit die Währung stabil bleibt und das Ver-trauen in die Währung zurückkehrt. Notwendig sindnämlich eine Stabilitätsunion, Grenzen für die Finanz-politik zu schaffen und darüber hinaus die Wettbewerbs-fähigkeit aller Mitgliedsländer der gemeinsamen Wäh-rung zu stärken. Das ist das Ziel des Europäischen Ratsam kommenden Montag. Ich sage das nur, um den Zu-sammenhang herzustellen.

Dann gehört dazu, Ansteckungsgefahren, die durchdie Verflechtungen in den Finanzmärkten der Welt ent-standen sind – die haben wir 2008 in einem Ausmaßkennengelernt, wie wir es vorher nicht für möglich ge-halten haben –, zu bekämpfen. Dazu brauchen wir einenRettungsschirm, und dazu brauchen wir eine hinrei-chende Kapitalausstattung der systemrelevanten Bankenin Europa. Das war der Beschluss, den wir, ausgehendvon der Frühjahrstagung des Internationalen Währungs-fonds, im vergangenen Jahr gefasst haben. Die Europäi-sche Bankenaufsichtsbehörde muss in der Zusammen-arbeit mit den nationalen Bankenaufsehern ihren Wegfinden. Das hat ein bisschen gebraucht; sie ist ja erst seitAnfang letzten Jahres tätig. Das ist nicht ganz einfach.Das geht auch nicht ganz konfliktfrei. Das ist bei solcheneuropäischen Institutionen so.

Diese Behörde hat definiert, welche systemrelevantenBanken in Europa – in Deutschland sind es sechs – biszum 30. Juni auf der Basis der Bewertung der Beständevom 30. September vergangenen Jahres hinreichend Ka-pital nachweisen müssen, damit sie im Falle eines Fallesgegen eine Ansteckungsgefahr gewappnet sind.

Jetzt kommen wir zum Gesetz. Wir alle in Europa ha-ben uns verpflichtet, dass wir den Beschluss der Euro-päischen Bankenaufsichtsbehörde durch die nationaleBankenaufsicht umsetzen. Die Regel ist auch ganz klar:Die Banken müssen zunächst versuchen, sich das not-wendige Kapital zu beschaffen. Es sieht danach aus, dassdie deutschen Banken das auch schaffen; aber das ist biszum 30. Juni offen. Die Banken haben jetzt ihre Plänevorgelegt; die BaFin überprüft das in diesen Tagen undWochen.

Für den Fall, dass sie dazu nicht in der Lage sind,müssen die Mitgliedstaaten dies sicherstellen. Es gibtnicht den direkten Weg über Europa – das möchten man-

che –, nein, es geht nur über die Staaten. Aber dazu brau-chen wir das Instrumentarium. Deswegen haben wir – esist auch kein Widerspruch, Herr Kollege Schneider, zudem, was ich vor einem Jahr gesagt habe; da hatten wirdas Restrukturierungsgesetz – den Beschluss, in dem wiruns verpflichtet haben, dies notfalls umzusetzen. Deswe-gen muss dieses Gesetz auch in den Instrumenten einStück weitergehen als das erste Soffin-Gesetz.

Ohne dieses Gesetz hätte die nationale Bankenauf-sicht nicht die Möglichkeit, ein Institut zu zwingen, dasnotwendige Kapital vorzusehen. Denn bisher, nach gel-tendem Recht, kann nur bei einer konkreten Bestandsge-fährdung durch die nationale Bankenaufsicht eingegrif-fen werden. Jetzt führen wir die Möglichkeit ein, dassbei einer besonderen Risikolage auf dem Finanzmarktund insbesondere im Rahmen eines abgestimmten Vor-gehens auf europäischer Ebene oder aufgrund entspre-chender Empfehlungen des Europäischen Ausschussesfür Systemrisiken und der Europäischen Bankenauf-sichtsbehörde gehandelt werden kann. Das ist der Sinndes Ganzen. Dafür rufen wir das alte Gesetz noch einmalauf. Wir geben auch nicht, Herr Kollege Trittin, wie Siegesagt haben, 400 Milliarden Euro aus.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Bürgschaften“ habe ich gesagt!)

– Sie haben den Begriff „ausgeben“ gebraucht, und daswar nun leider irreführend.

Lassen Sie mich es doch ganz einfach darstellen: Wirstellen in der Tat den vorhandenen Bürgschaftsrahmenbis zum Ende dieses Jahres und die entsprechenden Ka-pitalmöglichkeiten zur Verfügung, in der Erwartung,dass sie nicht in Anspruch genommen werden müssen,aber für den Fall, dass sie notwendig sind. Das ist einepräventive Maßnahme, um unsere gemeinsame europäi-sche Währung gegen Ansteckungsgefahren stabiler zumachen. Um nicht mehr und um nicht weniger geht es.Meine Damen und Herren, dazu müssen wir dieses Ge-setz – ich bitte darum; wir brauchen es dringend; sonstwürden wir unseren europäischen Verpflichtungen nichtgerecht werden – heute verabschieden.

Präsident Dr. Norbert Lammert:Herr Minister, darf der Kollege Schick eine Zwi-

schenfrage stellen oder eine Bemerkung machen?

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:

Bitte, gerne.

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Minister, Sie haben gerade zwischen dem diffe-renziert – das ist völlig richtig –, was an Rahmen zurVerfügung gestellt worden ist, und dem, was konkretausgezahlt worden ist. Wenn wir dieses Gesetz jetzt nocheinmal in Kraft setzen, haben die Bürgerinnen und Bür-ger, finde ich, einen Anspruch, zu wissen, was bisherwirklich ausgegeben worden ist, wie viele Verluste sichin dem Finanzmarktfonds bisher tatsächlich angesam-

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Dr. Gerhard Schick

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melt haben. Ich darf diese Zahl nicht nennen; Sie dürfenes.

Deswegen möchte ich Sie bitten: Nennen Sie denBürgerinnen und Bürgern die Milliardensumme, die bis-her an Verlusten aufgelaufen ist. Können Sie uns auchsagen, wer diese Verluste tragen soll? Werden sie durchdas allgemeine Steueraufkommen, also von allen Bürge-rinnen und Bürgern, oder durch den Finanzsektor getra-gen? Oder werden sie, wie wir Grünen uns das vorstel-len, mit einer Abgabe auf sehr große Vermögenabgetragen? Die Frage ist also: Wie viel ist konkret aus-gezahlt worden, und wer soll das bezahlen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:

Herr Kollege Schick, ich werde Ihnen die Zahlenheute nicht nennen, sondern wir machen das in den zu-ständigen Gremien, wie das Gesetz es vorsieht. Dabeibleibt es auch.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Unter Geheimhaltung! – WeitereZurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Die Zahlen stehen auch noch gar nicht abschließendfest. Deswegen dient diese Frage nur dazu, Verunsiche-rungen zu schaffen, die so gar nicht begründet sind, unddeswegen lasse ich mich darauf gar nicht ein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Im Übrigen hilft es nichts: Wenn es am Ende haus-haltswirksam ist, trägt es der allgemeine Haushalt. Dazu,wie die erforderlichen Mittel aufgebracht werden sollen,gibt es in unserem Parlament unterschiedliche Vorstel-lungen; das ist auch wahr. Wir haben in der Steuer-politik, wie in anderen Fragen auch, unterschiedlicheVorstellungen. Es ist der Vorzug der pluralistischen De-mokratie, dass es unterschiedliche Meinungen gibt, überdie am Ende mit Mehrheit entschieden wird.

Wir sind in diesen Jahren eine ziemlich solide Haus-haltspolitik gefahren; denn wir haben die staatliche Neu-verschuldung immerhin von der ursprünglich in Kaufgenommenen Rekordsumme auf weniger als 20 Milliar-den Euro im vergangenen Jahr zurückgeführt. Wir wer-den diesen Weg konsequenter Rückführung, aber maß-voller Defizitreduzierung entschieden weitergehen.

(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist doch keine Antwort gewesen!)

– Ich habe erklärt, warum ich keine Antwort gebe, näm-lich aus den genannten Gründen. Dabei bleibt es auch.

Im Übrigen – ich sage es noch einmal –: Dieses Ge-setz wird vermutlich gar nicht in Anspruch genommenwerden müssen; es ist auf eine kurze Zeit befristet. Esgibt uns aber das rechtliche und tatsächliche Instrument,die Anforderungen, die wir in Europa beschlossen ha-ben, um unsere gemeinsame Währung stabil zu halten

und zu verteidigen, zu erfüllen – nicht mehr und nichtweniger.

Wenn Sie wollen, versuche ich noch einmal, es Ihnenzu erklären: Es ist ein Element bei der Stabilisierung dergemeinsamen Währung – das war die weltweite gemein-same Beurteilung, und zwar im Internationalen Wäh-rungsfonds, in der G 20 und auch in Europa –, dass wirsicherstellen müssen, dass die systemrelevanten Bankenin Europa in dieser schwierigen Zeit genügend Eigenka-pital haben, und zwar mehr, als von Basel III zu diesemZeitpunkt vorgesehen ist.

Herr Kollege Schneider, Sie haben die Mark-to-Mar-ket-Bewertung angesprochen. Von vielen Seiten – auchin der Finanzwelt – wird dies als Argument benutzt. Dortheißt es jetzt, dies sei die Ursache der Probleme. Ichkenne diese Debatte sehr genau, und Sie kennen sieauch. Jede europäische Entscheidung, die systemrele-vanten Banken mit hinreichend Eigenkapital zu verse-hen, ohne dies auf der Grundlage einer Mark-to-Market-Bewertung zu tun, wäre von allen finanzmarktrelevantenInstitutionen als irrelevant angesehen worden. Deswe-gen haben wir für diesen speziellen Test, für die EBA-Entscheidung, gesagt, dass die Grundlage eine Mark-to-Market-Bewertung ist.

Das ändert aber nichts daran, dass wir die Fristen fürdie Nullunterlegung von Staatsanleihen, die in Basel IIIvorgesehen sind, weiterhin voll ausschöpfen werden.Auch dies sage ich bei dieser Gelegenheit. Diejenigen,die daraus Argumente als Ausreden dafür ableiten, dassman spekulativ darauf setzt, die Finanzmarktkrise nichtzu lösen, sondern zu verschärfen, haben kein Argumentaus dieser Entscheidung. Das ist eine besondere Situa-tion. Sie zeigt, dass unsere gemeinsame europäischeWährung auf dem Weg ist, das Vertrauen der Finanz-märkte zurückzugewinnen.

Meine Damen und Herren, wir sind nicht über denBerg. Ich warne vor zu schnellen, vor voreiligen Erfolgs-meldungen. Ich habe in Zeitungskommentaren vor einpaar Tagen auch schon gelesen, das Schlimmste liegehinter uns. Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass dieFinanzmärkte beginnen, zunehmend Vertrauen zu fas-sen. Ich weiß, dass wir auf dem richtigen Weg sind. DieProbleme in einer Reihe von Mitgliedsländern werdenwirklich energisch angegangen. Was beispielsweise Ita-lien unter der Regierung von Mario Monti beschlossenund auf den Weg gebracht hat, verdient unsere Unterstüt-zung und unseren Respekt und hat Vertrauen auf denFinanzmärkten gefunden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Deswegen hat Frau Merkel das Treffen abge-sagt!)

Die Schaffung einer Stabilitätsunion mit dem FiscalCompact und dem Europäischen Stabilisierungsmecha-nismus findet zunehmend Vertrauen. Wir sind auf demrichtigen Weg, aber wir müssen ihn konsequent fortset-zen. Ein notwendiges Element ist dieses Gesetz, das wirjetzt beraten. Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

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18490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

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Präsident Dr. Norbert Lammert:Carsten Sieling ist der nächste Redner für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Carsten Sieling (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Bundesfinanzminister, Sie haben die Notwendig-keit dieses Gesetzes eingangs Ihrer Ausführungen damitbegründet, dass aufgrund der europäischen Staatsschul-denkrise eine Situation entstanden ist, die zu einer Un-terkapitalisierung von Banken geführt hat. Zu diesen Er-gebnissen kam auch der EBA-Stresstest. Das ist richtig.

Es muss aber doch erlaubt sein, darauf hinzuweisen,warum es zu dieser Situation in diesem Maße gekommenist. Hierzu will ich deutlich sagen: Die Situation, die wirin Europa haben, ist maßgeblich dadurch ausgelöst wor-den, dass Sie und die Kanzlerin in den europäischen Ver-handlungen, in den europäischen Beratungen blockierthaben, dass Sie nicht den Mut hatten, den Schritt einerGemeinschaftshaftung auf europäischer Ebene zu gehen,um damit sicherzustellen, dass die Entwicklung nichtimmer weiter nach unten geht.

Das Ergebnis sehen wir heute hier. Wir debattierenständig – das ist schon gesagt worden – über die Milliar-densummen auf europäischer Ebene. Heute sollen maleben 480 Milliarden Euro beschlossen werden. Auch derdeutsche Steuerzahler wird für die Fehler der Bundes-regierung auf europäischer Ebene herangezogen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der zweite Grundfehler, der überhaupt dazu geführthat, dass wir heute wieder über ein solches Volumen re-den müssen, ist die Tatsache, dass Sie die Jahre seit derFinanzkrise nicht genutzt haben, um konsequente Regu-lierungen des Finanzsektors durchzusetzen und möglichzu machen. Es gibt keine ordentliche Beschränkung desDerivatehandels. Der Anteil des High Frequency Tradeist sogar noch gestiegen. Schattenbanken sind nach wievor ohne Grenzen unterwegs. Beim Anlegerschutz sindSie als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet.Auch viele andere Dinge fehlen. Jetzt kommen Sie sogardaher und revidieren den von Ihnen vertretenen Ansatzzu dem wichtigen Thema Finanztransaktionsteuer undwollen sich einer Minimallösung anschließen – so kannman lesen –, die sich auf das britische Modell bezieht.Damit vermeiden Sie es, den Finanzsektor entsprechendheranzuziehen. Das ist der zweite Kardinalfehler, der einsolches Gesetz nötig macht und der dazu führt, dass dieSteuerzahlerinnen und Steuerzahler am Ende zahlenmüssen.

(Beifall bei der SPD)

Wir beraten heute über das Zweite Finanzmarktstabi-lisierungsgesetz. Wir Sozialdemokraten werden diesemGesetz nicht zustimmen, weil Sie

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Weil Sie inkompetent sind!)

in Ihrer Vorlage aus der Konstruktion des Finanzmarkt-stabilisierungsgesetzes I, das eine Notreaktion gewesenist und aus dem gewisse Konsequenzen gezogen werdenmüssten, keine hinreichenden Konsequenzen gezogenhaben. Hätten Sie dies getan, dann wäre die notwendigeReparatur im Finanzsektor vollzogen worden und würdeverhindert, dass, noch einmal gesagt, die Steuerzahlerin-nen und Steuerzahler dies im Wesentlichen zahlen müs-sen.

Sie wollen das Gesetz dann noch in Eile durchsetzen.Ich will das Verfahren hier einmal ansprechen. Vor einerWoche hatten wir die erste Lesung des Gesetzentwurfs.Es gab eine Beratung in den Ausschüssen, die holprigwar. Der Finanzausschuss hat in den letzten 20 Minutenseiner Sitzung darüber gesprochen. Im Haushaltsaus-schuss gab es gestern noch Unklarheiten über die Frage,wie viele Fonds eigentlich errichtet werden. Es gab Un-klarheiten bei der Frage, wie viel Geld wirklich zur Ver-fügung steht. Das ist eine Folge dessen, dass Sie Zeitverplempert haben. Diese Beratungen hätte man bereitsim Oktober letzten Jahres, nach dem EU-Gipfel, begin-nen können. Jetzt aber treiben Sie zur Eile, weil Sienächste Woche beim europäischen Gipfel als deutscherMusterschüler dastehen wollen. Das hat nichts mit deninhaltlichen Zielen zu tun. Das ist nur Show und ist demThema nicht angemessen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir uns das Gesetz anschauen, erkennen wir ei-nen riesigen Konstruktionsfehler dahin gehend, dass Sieaus der Frage, wie man künftig solche hohen Lasten ver-meiden kann, keine Lehre gezogen haben.

Mir geht es wie dem Kollegen Schick; auch ich darfdie Zahlen nicht nennen. Das werde ich auch nicht tun.Die von ihm aufgeworfene Frage, Herr Bundesfinanz-minister, hätten Sie jedoch vor dem Hintergrund des Än-derungsantrages der Koalition wenigstens ansatzweisebeantworten können. In diesem Änderungsantrag istnämlich dargelegt, dass aus dem Soffin-Vermögen bzw.den Kreditermächtigungen schon 19 Milliarden Euroverausgabt worden sind. Klar, es gibt die Hoffnung, dassman dieses Geld wieder zurückholen kann. Wenn manaber auf Unternehmen wie die HRE schaut, weiß man,dass dieses Geld wahrscheinlich nicht wieder einzufan-gen ist.

Zumindest mit dieser einen Zahl bekommt man eineIdee, in welche Richtung die Lasten gehen, was schließ-lich auch zu einer Reduzierung unserer Möglichkeitenhier führt. Das hätten Sie hier ruhig sagen können. Estäte gut, wenn der Bundesfinanzminister an dieser Stelleein bisschen Klarheit und Transparenz in die Debattebringen würde.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der eigentliche Konstruktionsfehler liegt darin, dasses vermieden wird, zum einen die direkten Eingriffs-möglichkeiten zu nutzen, die mit einer Beteiligung ver-bunden wären, und zum anderen im Falle einer Notsitua-tion die Banken dazu zu zwingen, entsprechend zu

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Dr. Carsten Sieling

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agieren. Diese beiden Vorschläge machen wir ja nicht,weil wir Lust haben, die staatliche Hoheit und den staat-lichen Zugriff zu organisieren

(Zuruf von der LINKEN: Warum eigentlich nicht?)

und hineinzuregieren, sondern weil ein solches Vorgehenzu einer Einsparung führen würde.

Ein Vergleich mit den Rettungsmaßnahmen in denUSA zeigt dies. In den USA wurde beispielsweise diedamalige Citigroup gerettet. Allein bei diesem Geschäft,das man nur über direkte Aktienbeteiligung getätigt hat,ist es zu einem Überschuss von 12 Milliarden Dollargekommen. Das zeigt deutlich: Wenn man nicht nur mitstillen Einlagen hineingeht, kann man auch Steuerzahler-geld schonen.

In erster Linie aber führt ein solches Vorgehen dazu,dass man den Pfad der Stabilisierung eines Unterneh-mens beschreiten kann. Ich darf an dieser Stelle aberauch sagen: Es gibt Korrekturbedarf. Viele dieser Ban-ken sind „too big to fail“. Es wäre nicht schlecht, wennman an dieser Stelle die Möglichkeit nutzen würde, ein-zugreifen und steuernd dafür zu sorgen, dass die Bankendort, wo es sein muss, aufgeteilt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nicht nur der politische Raum spricht sich für diesePosition aus, sondern auch in der Anhörung am vergan-genen Montag wurden genau diese Themen angespro-chen. Der Sachverständige Professor Siekmann hat die-sen Punkt sehr deutlich als die entscheidende Schwächedes deutschen Rechts auch im Vergleich zum Auslandbezeichnet. Frau Professorin Buch hat ebenfalls sehrdeutlich gesagt – ich zitiere –:

Der Staat muss dafür Sorge tragen, dass er eine sei-nen Finanzbeiträgen angemessene Mitwirkungs-kompetenz bekommt.

Darum geht es uns. Dafür setzen wir uns ein, unddarum sagen wir: Ihr Gesetz ist nicht hinreichend. Dasist eine zu kleine Münze für die große Notsituation undden Handlungsbedarf, vor dem wir stehen.

(Beifall bei der SPD)

Um noch einmal klarzumachen, dass nicht nur dieWissenschaft in diese Richtung tendiert, will ich an die-ser Stelle auch auf Herrn Hüther vom Institut der deut-schen Wirtschaft verweisen. Er ist arbeitgebernah undhat wirklich nichts mit Sozialdemokratie zu tun oderjedenfalls nur wenig. Es ist ganz selten, dass wir hiereinmal Berührungspunkte haben. Aber er hat recht,wenn er sagt: Für den Fall, dass die private Rekapitali-sierung – die primäre Vorgehensweise ist natürlich, dassdie Banken zusehen müssen, wie sie das Geld zusam-menbekommen – nicht gelingt und die Banken nicht mit-ziehen, entsteht eine Situation, in der man „den schmerz-haften Pfad der obligatorischen Kapitalisierung“ gehenund auch Staatsgelder einsetzen muss. – Ich glaube, dasdarf man nicht nur auf freiwilliger Basis anbieten; dasmuss man auch wirklich machen, wenn man den deut-schen Finanzsektor stabilisieren und damit in der Tat ein

öffentliches Gut sichern will, ohne Steuerzahlergeld aus-zugeben.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Das Wort erhält nun der Kollege Björn Sänger für die

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Björn Sänger (FDP):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Der eine oder andere mag sich möglicherweise ver-wundert die Augen reiben und fragen: Geht es dennschon wieder um die Bankenrettung? Müssen wir schonwieder Geld in die Hand nehmen, um die Branche zustützen? Was ist denn eigentlich aus dem Banken-Restrukturierungsgesetz geworden, über das die Politikgesagt hat, man könne damit systemisch relevante Ban-ken vom Markt nehmen?

Dazu ist natürlich eines festzustellen – es ist hierschon mehrfach gesagt worden –: Dieses Gesetz giltnatürlich. Vor der Gewährung von Hilfen nach demFinanzmarktstabilisierungsgesetz ist zu prüfen, ob nichtdas Banken-Restrukturierungsgesetz Anwendung fin-det, nämlich dann, wenn ein Institut kein angemessenesGeschäftsmodell hat, wenn man also durch unternehme-rische Fehlentscheidungen in eine Schieflage geraten ist.In einem solchen Fall würde das Institut mithilfe desspeziellen Insolvenzrechts für Banken nach demRestrukturierungsgesetz abgewickelt, das diese Bundes-regierung geschaffen hat. Das folgt einem sehr gutenPrinzip der sozialen Marktwirtschaft, das nach wie vorgilt.

Mit dem Soffin 2.0 reagieren wir auf die anhaltendenProbleme der Krise. Wir haben im Rahmen des EBA-Stresstests festgestellt: Es gibt bei dem einen oder ande-ren Institut Defizite. Wir ergreifen eine präventive Maß-nahme, damit wir nicht möglicherweise in ein größeresProblem hineingeraten. Die meisten Unternehmen – da-von bin ich fest überzeugt – werden die Probleme selbstlösen können. Gerade deshalb ist das Gesetz nur bis Endedes Jahres befristet. Aber der vorsichtige Kaufmann bauteben vor.

Wir müssen zudem feststellen, dass eine Vielzahl derProbleme darauf zurückgeht, dass die EBA die Rahmen-bedingungen schnell verändert. Ich will gerne gewisseAnfangsschwierigkeiten zugestehen und durchaus miteiner gewissen Milde darüber hinwegsehen. Wir müssenaber sehen: Es ist schlussendlich die staatliche Seite, diedurch richtigerweise erhöhte Anforderungen an dieFinanzbranche dafür sorgt, dass das eine oder andereUnternehmen möglicherweise nicht in der Kürze derZeit angemessen reagieren und sich am Markt rekapitali-sieren kann. Für diesen Fall haben wir die entsprechen-den Maßnahmen vorgesehen.

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Björn Sänger

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Bei aller Notwendigkeit eines staatlichen Eingriffsmuss man natürlich feststellen, dass ein staatlicher Ein-griff immer den Wettbewerb verzerrt. Darauf muss mansorgfältig achten. Hier ist richtigerweise eine Prüfungvorgesehen. Ich habe Verständnis für die anderen Markt-teilnehmer, die sagen: Da kommen jetzt Institute, dievom Staat gestützt werden, mit Zinssätzen an den Markt;wir könnten das gar nicht so machen. – Ich kenne dieseKlagen und höre sie häufig. Finanzmarktstabilisierunghat aber auch etwas mit dem Vertrauen der Kunden inden Finanzmarkt insgesamt zu tun. Insofern helfen dieseMaßnahmen auch den Wettbewerbern, die sich mög-licherweise über die eine oder andere Maßnahme be-klagen. Völlig klar ist auch – darauf möchte ich hinwei-sen –: Wem vom Staat geholfen wird, der kann dasentsprechende Geld nicht einsetzen, um es für Boni zuverausgaben. Das ist im Gesetz so geregelt; das ist imÜbrigen bereits im sogenannten Vergütungsgesetz gere-gelt.

Die Bundesregierung steht hier in der Finanzmarktre-gulierung blendend da. Hätten alle anderen europäischenStaaten bereits so reagiert, wie diese Bundesregierungreagiert hat, wären wir in einer vollkommen anderenSituation. Das beste Beispiel ist hier das Banken-Re-strukturierungsgesetz. Es zeigt sich: Der kluge Mannbaut vor. Die Bundesregierung baut mit dieser Maß-nahme vor: Wir sind für alle Eventualitäten gerüstet undsichern damit die Stabilität des Standortes. Das zeigterneut, dass unser Land bei dieser Bundesregierung inden allerbesten Händen ist.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Richard Pitterle [DIELINKE]: Karneval!)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Der Kollege Schick hat jetzt das Wort für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.

(Richard Pitterle [DIE LINKE]: Jetzt nennen Sie mal die Zahlen!)

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

kann Ihnen von der Koalition einen Rückblick auf dieverschiedenen Finanzmarktdiskussionen, die wir hier ge-führt haben, nicht ersparen. Es war das Ceterum Censeojeder meiner Reden zur Finanzmarktstabilität, dass diedeutschen Banken mit zu wenig Kapital ausgestattet sindund es deswegen Aufgabe der Bundesregierung ist, ihreKapitalbasis zu stärken.

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch nichts Neues!)

– Ich kann mich noch gut an Ihr Kopfschütteln und anIhre Zwischenrufe erinnern, Herr Michelbach.

Wir fragen uns: Warum muss man jetzt kurzfristigsechs deutsche Banken schnell mit Kapital versorgen?Das schafft Unsicherheit an den Märkten. Die Antwort:Weil diese Bundesregierung, dieser Bundesfinanzminis-

ter, nicht für die Kapitalausstattung deutscher Bankenvorgesorgt hat. Vielmehr wurde auf Ihren Auftrag hin inBrüssel und in Basel so verhandelt, dass härtere Kapi-talanforderungen verhindert worden sind. Das muss amheutigen Tag klar gesagt werden. Sie haben nicht vorge-sorgt. Deswegen muss jetzt bei der Kapitalausstattungdeutscher Banken kurzfristig nachgesteuert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD –Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie schei-nen der Rede von Herrn Schäuble nicht zuge-hört zu haben!)

– Ich habe auch in den vergangenen Debatten sehr gutzugehört. Herr Schäuble hat gesagt: Wir reden über diegenauen Zahlen in den Gremien. Was meint denn derBundesfinanzminister damit? Er meint damit, dass dasalles nur in Gremien, die der Geheimhaltung unterliegen,diskutiert werden soll, damit den Bürgerinnen und Bür-gern und auch diesem Parlament in seiner Gesamtheitdie relevanten Informationen vorenthalten werden. Dasgeht so nicht!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und derLINKEN)

Warum diskutieren wir innerhalb einer Frist von einerWoche über einen Gesetzentwurf, dessen Notwendigkeitseit Ende September bekannt ist? Weil man so wenig wiemöglich darüber reden will! Warum wird über die Fehl-buchung von 55 Milliarden Euro bei der Hypo RealEstate, die den Schuldenstand der BundesrepublikDeutschland erheblich verändert – das ist eine öffent-liche Zahl –, im Finanzmarktgremium, das geheim tagt,erst Wochen später gesprochen, anstatt der Öffentlich-keit und dem Haushaltsausschuss sofort Bericht zu er-statten? Warum wird nicht hier und jetzt über die Ver-luste des Finanzmarktfonds gesprochen und Bilanzgezogen? Warum wird den Bürgerinnen und Bürgernnicht gesagt, was die erste Bankenrettung bisher gekos-tet hat?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Weil der Bundesfinanzminister Angst vor der Wahrheithat! Herr Minister, ich finde das alles sehr intransparent.Man fragt sich: Warum beklagen Sie ständig das entstan-dene mangelnde Vertrauen, wenn Sie selber eine solcheGeheimniskrämerei betreiben? Das passt nicht zusam-men.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – RichardPitterle [DIE LINKE]: Dann sagen Sie sieuns!)

– Ich würde diese Zahlen sehr gerne nennen, aber Siewissen genau, Herr Kollege, dass es strafrechtlich sank-tioniert würde, wenn ich das tun würde, und ich werdemich nicht strafbar machen. Aber Herr MinisterSchäuble hätte die Antwort geben können.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18493

Dr. Gerhard Schick

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Man muss sich auch fragen, wie das haushaltstech-nisch verbucht wird. Sie sind der Antwort auf die Frage,wer das zahlen soll, ausgewichen. Wenn am Ende in vie-len Jahren abgerechnet wird, dann werden Kinder, die2007, als die Finanzkrise ausgebrochen ist, geboren wur-den, dann, wenn sie ins Berufsleben einsteigen, als Ers-tes die Kosten dieser Krise mit ihrer Steuerzahlungabzahlen müssen. Ist es generationengerecht, dass wirdas alles nach hinten schieben? Nein, natürlich ist es dasnicht. Natürlich muss der jetzige Bundestag bestimmen,wer für die Kosten für die Finanzkrise von 2007 und fol-gende aufkommt. Um diese Debatte drücken Sie sich,anstatt klar zu sagen, was passiert. Wir finden es unan-ständig, das unseren Kindern und Kindeskindern zuüberlassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Da es wieder darum geht, 400 Milliarden Euro anGarantievolumen und 80 Milliarden Euro an Kapitalhil-fen bereitzustellen, also quasi wieder einen Blanko-scheck für die Regierung auszustellen, muss man sichschon fragen: Warum gibt das Parlament seine Kontroll-rechte aus der Hand?

(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Was heißt denn„aus der Hand geben“? – Bartholomäus Kalb[CDU/CSU]: Das ist doch nicht wahr!)

Warum kann das nicht der Haushaltsausschuss im Ein-zelnen entscheiden?

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie bauen doch hier einen Popanz auf!)

– Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen. Dannhabe ich noch mehr Zeit, die Geheimhaltungspraxis auf-zuzeigen.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: So dumm müsste ich sein!)

Wenn es um so viel Geld geht, muss es unserer Mei-nung nach auch ein ordentliches Kontrollverfahren ge-ben; denn wir haben doch 2008 gesehen, wie groß dieGefahr ist, dass man sich selbst bedient. Wir erinnernuns doch noch an die Luxusrenten bei der Hypo RealEstate. Wir wissen genau, wie wichtig es ist: Wo es umso viel Geld geht, haben wir als Parlamentarier diePflicht, ganz genau hinzuschauen, damit niemand sichauf Kosten der Steuerzahler bedienen kann. Sie nutzendie Kontrollmöglichkeiten als Parlamentarier nicht. Des-wegen können wir dem Gesetz, das Sie hier vorlegen,nicht zustimmen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Nächster Redner ist der Kollege Hans Michelbach für

die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

erleben zweifellos stürmische Zeiten an den Finanz-märkten, in der Weltwirtschaft, in der europäischen Poli-tik. Ich meine, in solchen Zeiten bedarf es eines festenAnkers,

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Transparenz zum Beispiel!)

damit das Schiff nicht abtreibt. Unserem Land kommt inder gegenwärtigen Krise eine besondere Verantwortungzu – für die Arbeitsplätze, für die europäische Idee, fürdie gemeinsame Währung, der auch Deutschland, unserLand, viel verdankt. Deutschland sollte und muss alsStabilitätsanker in der Europäischen Währungsunionund im internationalen Finanzmarkt dienen, für eine Sta-bilitätsunion, für die Sicherung der Finanzwirtschaft.Darum geht es letzten Endes.

Wir müssen uns immer wieder fragen, wie dieseStaatsschuldenkrise wirksam und ordnungspolitisch sau-ber eingedämmt werden kann, und zwar so, dass die Ret-tung nicht das zerstört, was es letzten Endes zu rettengilt.

Wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, 2010 und2011 zwölf kapitalrelevante Gesetzgebungsverfahren aufden Weg gebracht. Das ist die Regulierungsleistung die-ses Finanzministers und dieser christlich-liberalenKoalition. Da lassen wir uns von niemandem übertref-fen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wieder ein Karne-valsbeitrag!)

Jetzt gilt es, weiteren Ansteckungsgefahren im Ban-kensektor vorzubeugen, damit die Institute die Realwirt-schaft verstärkt finanzieren, anstatt bei der EZB immermehr Kapital zu parken. Wir handeln vorbeugend fürden Fall, dass die EBA eine höhere Kapitaldeckung for-dert. Das ist ein Beitrag gegen die verbreitete Verunsi-cherung. Das Kernproblem ist doch heute die wachsendeUnsicherheit. Sie entsteht, wenn Vertrauen verlorengeht. Vertrauen aber ist die Grundlage von Stabilität.Das, was die Opposition hier vorträgt, ist ein Beitrag zurVerunsicherung, aber kein Beitrag, um die wachsendeUnsicherheit einzudämmen. Es bedarf des Vertrauens inden Ordnungsrahmen, in die Finanzwirtschaft und in dieRegulierungsgesetze, des Vertrauens in die Institutionen,in die handelnden Personen. Schuldenstaaten und Fi-nanzmarktteilnehmer müssen wieder Vertrauen zurück-gewinnen. Das ist ohne Zweifel so. Nur dann, wenn dieBanken wieder dauerhaft einander vertrauen, könnenauch die Bürger in der Zukunft wieder uneingeschränktVertrauen in ihre Institute haben.

Wir alle sind gefordert, dem allgemeinen Vertrauens-verlust entgegenzuwirken. Daher dürfen wir unserenBlick nicht nur auf kurzfristige Entscheidungen und Kri-senbekämpfungen verengen; vielmehr müssen wir kon-zeptionell handeln und vorgehen. Da gehen wir mit demheutigen Gesetz einen weiteren wichtigen Schritt, umdiese Konzeption weiter voranzubringen.

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18494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Dr. h. c. Hans Michelbach

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Die SPD stiehlt sich wieder einmal aus der Verant-wortung. Ich verstehe das nicht. Die SPD schürt hier ge-radezu – wie auch Herr Dr. Schick – das Misstrauen undträgt widersprüchliche Argumente vor. Herr Schneiderhat gesagt, wir sollten die Garantieleistungen nicht vonden Steuerzahlern abhängig machen. Gleichzeitig forderter aber mehr Staat. Was denn nun, Herr Schneider? IhreAussagen sind widersprüchlich.

(Beifall des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/CSU])

Wir müssen hier Verantwortung übernehmen, weil inletzter Konsequenz nur der Staat regulieren und damitSicherheit geben kann.

(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Dann soll man auch Einfluss aufdie Banken nehmen!)

Völlig falsch wäre eine Vergemeinschaftung, für dieSie jetzt wieder sind. Das zeigt Ihre ökonomische In-kompetenz. Wir wollen keine Vergemeinschaftungen.Wir wollen Eigenverantwortung.

(Manfred Zöllmer [SPD]: Eigenverantwor-tung! Was ist denn das für ein Unsinn?)

Wir wollen eigene Anstrengungen seitens der Banken.Deswegen hat die Rekapitalisierung der Banken absolu-ten Vorrang vor diesen Vorbeugungsinstrumenten. Des-wegen müssen auch die Schuldenstaaten zunächst ein-mal ihre Eigenverantwortung wahrnehmen und eigeneAnstrengungen erbringen, bevor sie durch Ihre Euro-Bonds glattgestellt werden. Das, was Sie vorschlagen, istder falsche Weg. Die Vergemeinschaftung von Schuldenund Zinsen, jede Form von Vergemeinschaftung ist völ-lig falsch. Der Staat muss dort eintreten, wo er letztenEndes eintreten muss, weil es keine weiteren Sicherhei-ten mehr gibt.

Wir stellen uns diesen Herausforderungen und über-nehmen Verantwortung nach ordnungspolitischenGrundsätzen. Deshalb wollen wir heute erneut eine ge-nerelle Handlungsoption nach dem Soffin, um präventivwirken zu können und die rechtzeitige Einflussnahmeder Aufsicht zu ermöglichen. Es ist nicht sinnvoll, dassdie Aufsicht immer nur nachbessert. Sie sollte im Vor-feld sagen, wie es ordnungspolitisch gehen sollte. Des-wegen war der Soffin für die Sicherung unseres Finanz-marktes ein Glücksfall. Herr Trittin hat heute gesagt,dass das der teuerste Weg war. Nein, das war der effi-zienteste und letzten Endes erfolgreichste Weg zur Ret-tung unseres Finanzmarktes.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Dr. Schick hat sich hier hingestellt und gesagt,dass er über die Zahlen informieren möchte. Das ist letz-ten Endes nur das Schüren von Unsicherheit in einemlaufenden Prozess. Endgültige Zahlen können noch garnicht genannt werden. Sie müssten sich eigentlich dieseFrage stellen: Was wäre denn gewesen, wenn wir denSoffin nicht gehabt hätten?

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das hat doch überhaupt nichtsdamit zu tun!)

Dann hätten die Bürgerinnen und Bürger Angst um ihreKonten, um ihr Erspartes und um die Geldwertstabilitäthaben müssen. Das ist der Kern, um den es hier letztenEndes geht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie schüren die Angst!)

Der Schutz dieses Systems wird mit diesem ZweitenFinanzmarktstabilisierungsgesetz weiter vorangebracht.Die Bürger und die Unternehmen unseres Landes sollensich weiterhin auf ein intaktes Finanzsystem verlassenkönnen, das den Zugang zu Krediten gewährleistet undes den Bürgern ermöglicht, sicher und mit Gewinn zusparen. Das sind die Ziele, die wir im Kopf haben. Beiallen Maßnahmen geht es letzten Endes darum, dieseZiele zu erreichen.

Es geht auch um die richtige Balance. Herr Dr. Schickhat gesagt, wir hätten keine vorbeugenden Maßnahmengetroffen für den Fall höherer Kapitalanforderungen andie deutschen Banken. Auch Banken können ihr Geldnur einmal ausgeben. Bei den Banken geht es in ersterLinie darum, das vorhandene Eigenkapital für die Ver-gabe von Krediten an die Realwirtschaft zu nutzen.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sie haben doch vorhin die Bilanz-zahlen der Deutschen Bank gehört! Was erzäh-len Sie denn da?)

Darum geht es doch in erster Linie. Es geht um die Ba-lance: Auf der einen Seite sind die Banken durch einehöhere Eigenkapitalanforderung sicherer zu machen.Die Schrauben dürfen auf der anderen Seite aber nicht sostark angedreht werden, dass die Banken letzten Endeskein Geschäft mit der Realwirtschaft mehr machen kön-nen; denn dann würden Menschen ihre Arbeitsplätzeverlieren. Es geht um die richtige Balance, um die rich-tige Ordnungspolitik, um ökonomische Vernunft. Das istes, was wir hier voranbringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich glaube – das möchte ich abschließend sagen –,dass das Zweite Finanzmarktstabilisierungsgesetz einweiterer wichtiger Baustein für die europaweite Be-kämpfung der Staatsschuldenkrise ist. Ich bin dankbar,dass wir es heute auf den Weg bringen. Das zeigt: Es istgut, dass diese christlich-liberale Koalition in dieser ZeitVerantwortung trägt, weil wir diese Probleme mit Ver-nunft, mit Augenmaß und mit Kompetenz lösen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist

die Kollegin Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18495

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Antje Tillmann (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Der Gesetzentwurf,den wir gleich verabschieden, ist ein Teil eines Straußesvon Möglichkeiten, das Vertrauen in die Finanzmärkteund in deren Stabilität wiederherzustellen. Anders als ei-nige Redner der Opposition versuchen uns glauben zumachen, haben wir seit dem ersten Finanzmarktstabili-sierungsgesetz 19 Gesetze zur Kontrolle des Finanz-markts, zur Stabilisierung und zur Stärkung der Finanz-kraft, aber auch zur Regulierung der Vergütungen undzur Sicherheit des Anlegerschutzes verabschiedet. FrauWagenknecht muss dies nicht wissen – sie begibt sichselten in die Niederungen von Ausschüssen und Anhö-rungen –, aber Herr Schneider, Sie könnten es durchauswissen. Mein Kollege Brinkhaus hält hervorragendeVorträge zu diesem Thema – diese kann ich Ihnen nurempfehlen – und erklärt, was alles seit 2008 in diesemBereich reguliert worden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ein großer Vorteil gegenüber dem Soffin-I-Gesetz ist,dass wir aus mehreren Gesetzen auswählen können, dasswir je nach Situation ein eigenes Gesetz haben, sodass wirsehr gezielt überprüfen können, ob sich ein Institut selberhelfen bzw. retten kann oder ob Gelder des Steuerzahlerserforderlich sind. Wir garantieren, dass das Soffin-II-Ge-setz, das Finanzmarktstabilisierungsgesetz, letztes Mittelin einer solchen Prüfungskette ist.

Herr Kollege Schick, Sie haben recht, es geht umgroße Summen: 400 Milliarden Euro Garantien, 70 Mil-liarden Euro Kreditermächtigungen plus 10 MilliardenEuro, die der Haushaltsausschuss zur Verfügung stellenkann. Deshalb ist die Frage, ob wir uns parlamentarischeRechte aus der Hand nehmen lassen, richtig. Wir müssendiese Frage beantworten. Ich kann sie für uns beantwor-ten: Wir werden und wollen die Verantwortung für dieSteuergelder der Bürgerinnen und Bürger wahrnehmen.Wir beweisen das mit diesem Gesetz.

Wir haben Teile der Kreditermächtigungen gesperrt.Teilweise kann sie der Haushaltsausschuss entsperren,teilweise das Finanzmarktgremium mit Bericht an denHaushaltsausschuss, sodass aus den Kreditermächtigun-gen, die wir heute freigeben, nur Mittel in einem Um-fang von 22 Milliarden Euro zur freien Verfügung ste-hen. Alles darüber hinaus muss durch das Parlamentoder unter Kontrolle des Parlamentes freigegeben wer-den.

Wir haben weiterhin dieses Gesetz bis zum 31. De-zember 2012 befristet. Liebe Kolleginnen und Kollegender Opposition, ich kann Ihre Kritik hier nicht verstehen.Was kann denn besser die Transparenz und die Diskus-sion in diesem Parlament sicherstellen als die Verpflich-tung, vor dem 31. Dezember 2012 hier in diesem Hauserneut zu beraten, ob die Instrumente funktioniert haben,ob nachgebessert werden muss und ob das Gesetz ver-längert werden muss? Das ist eine ganz klare parlamen-tarische Kontrolle, nicht nur durch den Haushaltsaus-schuss, sondern durch uns alle und in der Öffentlichkeit,

sodass die Bürgerinnen und Bürger uns wiederum kon-trollieren können.

Eine weitere Variante der Kontrolle ist durch dieSchuldenbremse gegeben. Der Finanzminister hat überdie Regeln der Schuldenbremse hinaus für den Fall einerkurzfristigen Überschreitung einen Tilgungsplan vorge-sehen, der durch Bundestagsbeschluss gefasst werdenmuss. Das heißt, wieder sind wir in der Öffentlichkeitund wieder müssen wir den Bürgerinnen und Bürgerngenau erklären, was wir mit ihren Geldern machen, so-dass aus meiner Sicht die parlamentarische Kontrolledurchaus gegeben ist. Es liegt an uns, sie wahrzuneh-men. Sie können sich darauf verlassen, dass wir das tunwerden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir haben die Möglichkeiten des Finanzministeriumszur Kontrolle der Finanzmarktstabilisierungsanstalt ge-stärkt. Das Finanzministerium kann diese Anstalt sehrviel deutlicher als bisher kontrollieren und Auskünfteeinholen. Sie muss Rede und Antwort stehen. Das Fi-nanzministerium wird diese Kontrollrechte wahrneh-men. Es ist unsere Aufgabe, zum Beispiel die Aufgabeder Mitglieder des Finanzausschusses, das Finanzminis-terium dazu zu befragen; dadurch üben wir unsere Kon-trolle über das Finanzministerium aus.

Weiter werden wir durch dieses Gesetz die Befugnisseder BaFin stärken. Die BaFin soll sicherstellen, dass dieEigenkapitalvorgaben des Europäischen Rates – sie die-nen dem Schutze der Gläubiger, der Erhöhung der Solidi-tät und der Stärkung der Vertrauenswürdigkeit auf demKapitalmarkt –, die im Oktober 2011 beschlossen wur-den, umgesetzt werden. Zur Abwehr drohender Gefahrenfür die Finanzstabilität und drohender Störungen derFunktionsfähigkeit des Finanzmarktes kann die BaFinsogar darüber hinausgehende Eigenkapitalanforderungenstellen. Die etwaigen Auswirkungen müssen erheblicheAusmaße haben. Aber der Bund muss die Möglichkeithaben, gesetzlich einzugreifen, um drohende große Ge-fahren für den Finanzmarkt abzuwehren.

Das unterscheidet sich von den Vorstellungen der Op-position, Stichwort Zwangskapitalisierung. Ich habe so-wieso nicht verstanden, Frau Wagenknecht, wie manzuerst die Heizkostenzuschüsse zahlt und danach dieFinanzinstitute zwangskapitalisiert.

(Zuruf der Abg. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE])

Auch bei Herrn Schneider habe ich den Spagat nichtnachvollziehen können. Wir sollen kein Geld der Steuer-zahler ausgeben, aber gleichzeitig fordern Sie Zwangs-kapitalisierung. Der erste Satz der Rede passt mit demzweiten nicht zusammen. Wir hingegen verfolgen einschlüssiges Konzept.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die BaFin hat die Möglichkeit, diese Anforderungen zustellen. Selbstverständlich wird sie das, weil es Auswir-kungen auf das Geld der Steuerzahler haben könnte, nurdann tun, wenn es ansonsten zu erheblichen Verwerfun-gen auf dem Kapitalmarkt kommen würde.

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18496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Antje Tillmann

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Die BaFin hat weiterhin die Möglichkeit, anzuordnen,dass Entnahmen durch die Inhaber oder Gesellschafter,die Ausschüttung von Gewinnen und die Auszahlungvariabler Vergütungsbestandteile nicht zulässig sind, so-lange die angeordnete Eigenmittelausstattung nicht er-reicht ist. Boni und Dividenden sind in diesem Fall alsozur Eigenkapitalaufrüstung heranzuziehen. Die Bürge-rinnen und Bürger fragen zu Recht, ob es sinnvoll seinkann, dass sich auf der einen Seite Vorstände hohe Ge-hälter zahlen und Anteilseigner hohe Ausschüttungenbekommen, während wir auf der anderen Seite die Insti-tute mit Steuergeldern finanzieren. Das kann nicht sein.Die Kompetenz, dafür zu sorgen, werden wir der BaFinmit diesem Gesetz geben. Ich bin sicher, die BaFin wirdmit dem Geld der Steuerzahler verantwortungsbewusstumgehen. Wir werden das auch entsprechend kontrollie-ren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Dieses Gesetz soll unter Beachtung der von uns imGrundgesetz verankerten Schuldenbremse vollzogenwerden. Das heißt: Wir werden sicherstellen, HerrSchick, dass künftige Generationen nicht alle Lasten zutragen haben. Wir werden sicherstellen, dass diejenigen,die jetzt über diesen Fonds entscheiden, auch diejenigensein werden, die den Tilgungsplan verabschieden. Wirwerden mit dieser Regelung auch sicherstellen, dass derTilgungsplan in einer angemessenen Zeit verabschiedetwird.

Ich bin ganz optimistisch, dass wir es in dieser Legis-laturperiode schaffen werden, die Haushaltskonsolidie-rung über die Grenzen der Schuldenbremse hinausweiter voranzutreiben. Wir müssen deutlich machen,dass der bisher geplante Umfang nicht ausreicht. Wir alsParlamentarier müssen uns daher bei den nächsten Haus-haltsberatungen mit der Frage auseinandersetzen, wieeine Tilgung bei eventuellen Überschreitungen derSchuldenbremse zu gewährleisten ist. Das heißt: Wir, diewir diese Mittel heute freigeben, sind diejenigen, dieverantworten müssen, dass nicht künftige Generationenfür uns bezahlen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ausmeiner Sicht beinhaltet dieses Gesetz gegenüber demSoffin-I-Gesetz, das Sie damals in der Großen Koalitionmitgetragen haben, sechs entscheidende Verbesserun-gen. Wir haben die damaligen Regelungen weiter ver-bessert. Ihre Ausführungen dazu, warum Sie sich heutetrotzdem aus der Verantwortung schleichen, haben michnicht überzeugt. Ihre Hinweise auf eigene Anträge kannich nur schmunzelnd zur Kenntnis nehmen. All dieseAnträge sind nämlich schon von den Grünen vorgelegtworden. Sie haben sich lediglich die Mühe gemacht,„SPD“ draufzuschreiben.

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU], anden Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN] gewandt: Warum lassen Siedie denn bei Ihnen abkupfern?)

Von Ihnen ist darin kein eigener Gedanke enthalten.

(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Tja! Wenn man keinen hat!)

Ich weiß nicht, welche Maßnahmen ergriffen werdenmüssten, damit Sie unserem Gesetzentwurf zustimmenkönnten. Das ist aber Gott sei Dank auch nicht erforder-lich. Die Koalition wird dieses Gesetz tragen und verant-worten. Dafür stehen wir.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Hochmutkommt vor dem Fall!)

Präsident Dr. Norbert Lammert:Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von denFraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-wurf eines Zweiten Gesetzes zur Umsetzung eines Maß-nahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes. DerHaushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf der Drucksache 17/8487, den Gesetzentwurfder beiden Fraktionen auf der Drucksache 17/8343 in derAusschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zwei-ter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen dieStimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Das istnicht der Fall. Dann ist dieser Gesetzentwurf mit dergleichen Mehrheit der Koalition gegen die Stimmen derOpposition angenommen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent-schließungsanträge.

Zunächst zum Entschließungsantrag der SPD-Frak-tion auf der Drucksache 17/8488. Wer stimmt für diesenEntschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Damit ist der Entschließungsantrag mehr-heitlich abgelehnt.

Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/8489: Wer stimmt diesemEntschließungsantrag zu? – Wer stimmt dagegen? – Wermöchte sich der Stimme enthalten? – Damit ist auch die-ser Entschließungsantrag mehrheitlich abgelehnt.

Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 4:

Beratung des Antrags der AbgeordnetenMarianne Schieder (Schwandorf), Swen Schulz

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18497

Präsident Dr. Norbert Lammert

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(Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD

Kooperativen Bildungsföderalismus mit einemneuen Grundgesetzartikel stärken

– Drucksache 17/8455 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auchhierfür 90 Minuten vorgesehen. – Das ist offenkundignicht streitig, sodass wir so verfahren können.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bil-

dungspolitische Debatten führen wir in diesem Hause jahäufiger,

(Monika Grütters [CDU/CSU]: Stimmt!)

meistens mit Routine und dem Austausch bewährter Ar-gumente.

(Monika Grütters [CDU/CSU]: Und das ist auch gut so!)

Das stellt das eigene Parteipublikum möglicherweise zu-frieden, aber die Bürger in diesem Lande häufig genugnicht. Ich habe mich in dieser Debatte deshalb zu Wortgemeldet, weil ich der Meinung bin, dass wir in einementscheidenden Punkt in der bildungspolitischen Debatteganz dringend die Routine durchbrechen müssen, wennwir von den Bürgern weiterhin ernst genommen werdenwollen.

(Beifall bei der SPD)

Nun hören Sie, wie ich, dass sich die Menschen indiesem Lande gelegentlich über die Politik ärgern,manchmal sogar nicht nur über die Politik dieser Bun-desregierung, sondern über die Politik insgesamt. Wa-rum ärgern sie sich? Sie tun das, weil sie natürlich erken-nen, dass wir zwar lange Zeit über Missstände reden, sieanalysieren, sie bewerten, sie nach einigen Jahren neubewerten und sie dann mit Experten der Wissenschaftund in der Debatte hier im Hause miteinander bespre-chen, sich aber nichts ändert. Missstände werden bespro-chen, aber sie werden nicht beseitigt.

Ich bin mir sicher, dass an den Abendbrottischen dermeisten Familien hier in Deutschland zurzeit vielleichtüber den Bundespräsidenten gestritten wird und mit Si-cherheit Sorgen über die Zukunft Europas ausgetauschtwerden. Ich sage Ihnen aber: Es gibt einen Dauerbren-ner, der die Menschen – und vor allem die Eltern – über-all schier aus der Haut fahren lässt, nämlich die Tatsa-

chen, dass noch immer Unterricht ausfällt, dass Plätze inGanztagsschulen fehlen, dass die sanitären Anlagen inSchulen zum Grausen sind und vieles andere mehr.

Meine Damen und Herren, das verursacht nicht ein-fach nur Ärger. Die Menschen verstehen nicht, dass dasvon uns allen zwar beklagt wird, sich aber nichts ändert,und am wenigsten verstehen sie, dass sich Bund undLänder auch noch gegenseitig verbieten, gemeinsam ander Beseitigung der Missstände zu arbeiten. Das darfnicht so bleiben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Sie alle kennen wahrscheinlich diesen schönen – ichfinde ihn ganz wunderbar – Merksatz von BertoltBrecht:

Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann aucherkennen, dass A falsch war.

Das Kooperationsverbot, das wir im Paket der Föderalis-musreform beschlossen haben, war ein Fehler. Wir ha-ben es mitgetragen, weil wir die Föderalismusreforminsgesamt nicht gefährden wollten, aber ich sage Ihnenund auch für mich persönlich: Es war falsch, und dasmuss bereinigt werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derFDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Einen Irrtum zuzugeben, fällt in der Politik schwer.Allen Seiten hier im Hause fällt das gelegentlich schwer,zumal ja bekanntlich immer die jeweils andere Seiteschuld ist. Deshalb will ich in meiner Rede auch aufSchuldzuweisungen, wer für welche Regelung im Rah-men der Föderalismusreform verantwortlich war, ver-zichten, und zwar erstens, weil die meisten Menschen inDeutschland das heute nicht mehr interessiert, und zwei-tens, weil ich wirklich glaube, dass wir alle in diesemHause etwas davon haben könnten und die Politik insge-samt sogar an Glaubwürdigkeit zurückgewinnen könnte,wenn wir einmal die Kraft hätten, gemeinsam zu sagen:Wir haben uns geirrt, das Kooperationsverbot ist Blöd-sinn, es muss weg.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derFDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden gleich die Beiträge in der Debatte hören.Da ich die gewollten Missverständnisse, die es in derDebatte immer gibt, auch aus der Diskussion in den ei-genen Reihen kenne, eines zur Klarstellung vorneweg:Ich war selbst acht Jahre auf Länderseite tätig, bevor ichin den Bund kam.

(Alois Karl [CDU/CSU]: Vom Saulus zum Paulus!)

Ich weiß, was in vielen Ländern geleistet wird, um dortden Kindern bestmögliche Bildung zu ermöglichen.

(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Trotz SPD!)

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18498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier

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– Sie können darüber spotten. Machen Sie das dochgleich vom Mikrofon aus, wenn Sie Rederecht bekom-men. – Erst recht bin ich nicht der Meinung, dass Bun-despolitik in Bildungsfragen klüger ist als Landespolitik.Die Länder sind zuständig für Bildungspolitik, und wirwollen das nicht infrage stellen und ihnen nicht ständighineinreden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Um all das geht es aber nicht beim Kooperationsver-bot. Beim Kooperationsverbot geht es um den geradezuskurrilen Fall, dass wir per Gesetz, sogar per Verfassungverbieten, dass Bund und Länder ihre Kräfte bündeln,um objektiv erkannte Probleme in der Bildungsland-schaft endlich wirksam anzugehen. Das kann beim bes-ten Willen nicht der richtige Weg sein. Das wird keinerverstehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derFDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Ich nehme einmal die Klage auf, die in diesem Landgeführt wird, dass wir zu wenige Plätze an Ganztags-schulen haben. Wir vom Bund haben vor Jahren einGanztagsschulprogramm auf den Weg gebracht. Viel-leicht beurteilt die rechte Seite des Deutschen Bundesta-ges das mit einigem zeitlichen Abstand heute etwas ge-lassener als früher. Ich jedenfalls finde, im Rückblickwar das ein durchaus erfolgreiches Programm. Das warwegen der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländernerfolgreich. Niemand wird gezwungen, aber wir schaf-fen Möglichkeiten für solche Kinder, die auf Ganztags-schulen besser lernen. Wir schaffen Möglichkeiten fürEltern, die wegen eigener Berufstätigkeit gerade auf sol-che Schulangebote dringend angewiesen sind.

Heute – das muss jedem bewusst sein –, nach der Ein-richtung des Kooperationsverbotes, wären solche An-stöße in der Bildungslandschaft nicht mehr möglich.Nun mag es sein, dass das der eine oder andere hier indiesem Hohen Hause noch richtig findet. Nur sollte nie-mand damit rechnen, dass Kinder, Eltern oder Lehrer da-für Verständnis aufbringen. Das versteht keiner. Deshalbmuss das Kooperationsverbot weg!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derFDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Genauso versteht nach meiner Überzeugung keiner,dass wir trotz PISA und trotz OECD-Studien in den letz-ten Jahren in Deutschland vor allen Dingen über einesreden: über Zuständigkeiten, und zwar bei ganz vielenbildungspolitischen Themen und zuletzt und neuerdingsauch bei dem aus meiner Sicht so wichtigen Thema derInklusion. Wir wollen mehr Schüler mit Behinderungenauf Regelschulen bringen. Wenn Sie von der Seite derUnion und der FDP das sagen, glaube ich Ihnen das.Aber ich füge hinzu: Das kann doch nicht im Ernst daranscheitern, dass die Länder für das Fachpersonal an denSchulen zuständig sind, der Bund aber für Eingliede-rungshilfen und individuelle Betreuung zuständig ist.Lassen Sie uns doch endlich anfangen, über die jeweils

besten Lösungen zu reden – statt nur über Zuständigkei-ten; das wird nicht reichen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen eben keine Fortsetzung des Zuständig-keitsstreits. Wir brauchen keine Fortsetzung dieses ewi-gen Kompetenzgerangels. Wir brauchen mehr Zusam-menarbeit. Wir brauchen mehr Bildungsinvestitionen.Das sind wir nicht nur unseren Kindern schuldig. Daswird zu einer Überlebensfrage dieser Gesellschaft;davon bin ich fest überzeugt. In einem Hochtechnologie-land mit starker Exportwirtschaft, wie wir es sind, des-sen Bevölkerungszahl zugleich schrumpft, hängt die ei-gene Zukunft daran, dass die weniger werdenden Kinderbestmöglich ausgebildet werden und möglichst keinerzurückbleibt. Bei einem solchen Land hängt alle Zukunftdaran, dass Bildung oberste Priorität auf der politischenSkala hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Glaubt jemand in dieser Runde ernsthaft daran, dasswir schon an diesem Punkt sind? Ich denke, das Gegen-teil ist der Fall. Auf der einen Seite binden wir uns durchdas Kooperationsverbot gegenseitig die Hände. Auf deranderen Seite verschwenden wir auch auf BundesseiteMillionen, die auf der Länderseite dringend für eine bes-sere Bildung gebraucht werden. Wenn Sie mir dann die-sen Vorwurf erlauben: Ich finde diese Weichenstellungsogar gleich dreifach falsch.

Das gilt erstens für das Lieblingsprojekt von Frau vonder Leyen: Die Bildungsgutscheine ziehen nicht, selbstwenn Sie noch ein paar Millionen Euro in die Werbungstecken würden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Doch!)

Zweitens wird das familien-, frauen- und bildungs-politisch völlig verkehrte Betreuungsgeld

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

dazu führen, dass gerade die Kinder nicht in öffentlicheBetreuung kommen, die es am nötigsten hätten.

Drittens schlagen Sie sich mit Steuersenkungen, aufdie in diesem Lande niemand wartet, die Instrumenteselbst aus der Hand, die wir dringend für eine bessereBildung brauchten.

Das sind gleich drei falsche Weichenstellungen. Dasist verhängnisvoll für ein Land, dessen Zukunft so sehrvon guter Bildungspolitik und guten Schulen abhängt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich komme zum Schluss. Bildung ist der Schlüssel.Mehr Kooperation und Investitionen sind die Instru-mente. Dem kann und darf sich niemand in diesemHause verweigern. Dass ausgerechnet die FDP auf ihremBundesparteitag noch einmal die Beibehaltung desKooperationsverbotes bekräftigt hat, wundert michnicht.

(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Ist das so?)

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18499

Dr. Frank-Walter Steinmeier

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Das bestätigt, dass Sie von der Realität in diesem Landeein Stück weit entfernt sind.

(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist jalächerlich! Sie haben das herbeigeführt! Dawäre ich ein bisschen vorsichtiger mit Schuld-zuweisungen ausgerechnet an uns!)

– Vorsicht würde ich auf Ihrer Seite walten lassen. Aberich habe Ihnen dazu keine Ratschläge zu geben.

(Heiner Kamp [FDP]: Sie haben es doch ver-schuldet! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]:Sie haben das eingeführt! Da wäre ich jetzt einbisschen vorsichtiger!)

– Das hat die Föderalismuskommission, eine Bund-Län-der-Kommission, vorgeschlagen.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Das stimmt nicht! Das war die Große Koali-tion, Herr Steinmeier!)

Ich hatte Ihnen vorgeschlagen: Wenn wir Auswegesuchen, dann sollten wir nicht wieder die Debatte führen,wer in der Föderalismusreform für welche VorschlägeVerantwortung getragen hat.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Steinmeier, erlauben Sie eine Zwischen-

frage?

Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):Selbstverständlich.

Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Sehr geehrter Herr Kollege Steinmeier, wären Sie be-

reit, sich mit mir gemeinsam daran zu erinnern, dass dieFöderalismuskommission gescheitert ist – sie ist unteranderem an dem Streit über die Frage gescheitert, wie esin der Bildung weitergehen soll und ob es ein Koopera-tionsverbot geben soll – und dass es dann nach Verhand-lungen zwischen Herrn Müntefering und Herrn Stoiber,die hinter verschlossenen Türen geführt wurden, dieGroße Koalition war, die diese Regelung durchgesetzthat,

(Heiner Kamp [FDP]: So ist es!)

die mit der Föderalismuskommission eben nicht zu ver-einbaren war?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):Meine Damen und Herren, liebe Kollegin, machen

Sie sich gerne alle weiße Füße in dieser Debatte. Ichhabe nichts dagegen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wer sich aber einer Änderung der jetzigen Situation ver-weigert, die aufgrund eines Fehlers entstanden ist, an

dem wir mitgewirkt haben – das habe ich im ersten Satzmeiner Rede gesagt –,

(Ulla Burchardt [SPD]: Jeder darf seine Lern-fähigkeit demonstrieren!)

nutzt weder den Bürgern noch den Schülerinnen undSchülern, sondern macht das den Eltern in diesem Landenur vor.

Setzen Sie ruhig Ihre Rechthaberei fort. Ich will Bil-dungspolitik machen.

(Beifall bei der SPD – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Das war Rechthaberei!)

Was die Union angeht, hat sich zwar die offizielle Be-schlusslage noch nicht geändert; aber ich sehe, dassnicht nur die Wissenschaftsministerin – sie ist, wie ichsehe, anwesend – erfreulicherweise Handlungsbedarf er-kennt, sondern auch die schleswig-holsteinische Landes-regierung. Sie hat gestern einen Antrag zur Beseitigungdes Kooperationsverbotes vorgelegt, mit dem sich derBundesrat befassen wird. Man kann sich zwar darüberstreiten, ob es die Glaubwürdigkeit erhöht, wenn maneine Legislaturperiode lang etwas anderes vertreten hatund dann kurz vor den Wahlen das Gegenteil vertritt;trotzdem ist der Weg der Beseitigung des Kooperations-verbotes richtig. Deswegen nehmen wir das gerne auf.

Mehr Bildung ist nicht mit weniger Zusammenarbeitzwischen Bund und Ländern zu erreichen. Deshalb mussdas Kooperationsverbot weg. Wir legen einen Vorschlagvor, den wir mit unseren Ländern beraten haben und dendiese mittragen werden. Ich bitte Sie herzlich um Unter-stützung dieses Vorschlags.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kretschmer

von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Michael Kretschmer (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Dass Bildung die Grundlage unseres Wohl-stands ist und dass deswegen Investitionen in nennens-werten Größenordnungen notwendig sind, haben wirnicht nur gesagt, sondern seit unserem Regierungsantritt2005 mit jedem Haushalt aufs Neue bewiesen. KeineRegierung in der Geschichte hat so viel in Bildung undWissenschaft investiert wie die unter Angela Merkel.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir haben das nicht mit Ad-hoc-Programmen gemacht– heute so und übermorgen so –, sondern wir haben et-was geschaffen, das von größter Wichtigkeit ist, wennman es mit der Bildungsrepublik ernst meint. Wir habenNachhaltigkeit durch kontinuierlichen Aufwuchs – inden ersten Jahren 3 Prozent pro Jahr und nun 5 Prozentpro Jahr – organisiert; das gab es so in der Geschichte

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18500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Michael Kretschmer

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ebenfalls noch nicht. Das führt dazu, dass mittlerweileWissenschaftler selbst in Amerika daran denken, nachDeutschland zu kommen, weil die Arbeitsbedingungenhier besser sind. Wir haben wirklich etwas für den Wis-senschafts- und Bildungsstandort Deutschland geleistet.Das gilt es anzuerkennen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir haben mit dem Hochschulpakt und dem Bologna-Qualitätspakt auf die aktuellen Entwicklungen reagiert.Wir haben nicht nur Geld bereitgestellt, sondern sind diegroßen Themen der Bildung in diesem Land aktiv ange-gangen, sei es die Alphabetisierung, sei es die frühkind-liche Bildung, sei es die kulturelle Bildung usw. Wir ha-ben überall Akzente gesetzt, und zwar auf eine Art undWeise, dass das Ganze nicht ein Strohfeuer ist, sondernnachhaltig ist. Eines haben wir gelernt: So etwas wie zuZeiten von Rot-Grün, als die Haushalte regelrecht über-rollt wurden und die Wissenschaftsorganisationen nichtwussten, wie es weitergehen soll, soll nicht noch einmalpassieren. So etwas ist auch nicht mehr passiert. Wir ha-ben das Versprechen, eine Bildungsrepublik zu schaffen,wahrgemacht, und zwar mit jedem Haushalt aufs Neue.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Deswegen hat diese Koalition beim Thema Bildung eineso große Glaubwürdigkeit.

Herr Steinmeier, Ihr Ausflug in die Bildungspolitikwar nicht sehr überzeugend. Sie haben vor allen Dingenüber Geld gesprochen, darüber, wie möglichst viel Gelddes Bundes zu den Ländern kommt. Aber darum darf esnicht in erster Linie gehen. Es muss doch zuerst um dieStrukturen und die Qualität der Bildung gehen und erstin zweiter Linie um Geld.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die CDU/CSU hat bewiesen, dass sie nicht nur in finan-zieller, sondern auch in gesetzgeberischer Hinsicht tätigwerden kann, wenn es sein muss. Das gilt auch im Hin-blick auf eine Grundgesetzänderung; das ist überhauptkeine Frage. Aber wir wollen das nicht so machen, wieSie uns das vorschlagen. Eine Grundgesetzänderung istIhnen gerade einmal einen Antrag mit anderthalb Seitenwert. Was davon zu halten ist, zeigt ein Blick auf dieBundesratsbank: Nicht ein einziger SPD-Minister isthier, um diesem Antrag zu folgen und Sie dabei zu unter-stützen. Ich sehe das ganz genauso.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Wir müssen einige Leitplanken und Grundsätze be-achten, wenn wir in der Diskussion über Föderalismus-reform und Kooperationsverbot die richtige Lösung fin-den wollen. Zuerst muss es darum gehen, was derBildung nutzt, was strukturell notwendig ist. Es darfkeine reine Geldverschiebeaktion werden. Keiner derunterschiedlichen Akteure, die im Bildungsbereich tätigsind und dafür sorgen, dass Deutschland ein Bildungs-land ist und als solches weiterhin existiert, darf aus derVerantwortung entlassen werden. Das ist das große Pro-

blem des vorliegenden Antrags. Er stellt nichts anderesals die Einladung an die Länder dar, sich einen schlan-ken Fuß zu machen und sich zurückzuziehen. Nein, sokönnen wir es nicht machen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist auch nicht richtig, nicht über Verantwortlichkei-ten und Zuständigkeiten zu sprechen. Das genaue Ge-genteil ist richtig. Wenn alle zuständig sind, ist niemandwirklich zuständig. Das erleben wir oft, und das darfnicht sein. Von dem Geld, das wir zur Verfügung gestellthaben und über das wir keine Kontrolle haben, ist viel inden Landeshaushalten versickert. Der Kollege Gehring– hochgeschätzt von uns – hat Anfang dieser Woche kri-tisiert, dass Hamburg 600 000 Euro – ein eher kleinerBetrag; aber es geht um das Prinzip – aus dem Hoch-schulpakt zweckentfremdet und nicht für den Aufbauvon Studienplätzen, sondern für andere Aufgaben ver-wendet hat. Der Kollege Matschie, früher Staatssekretärim Bundesforschungsministerium, enthält seinen Hoch-schulen Landesgeld vor mit dem Argument, die Hoch-schulen bekämen das Geld vom Bund. So war das nichtgedacht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es geht letztlich um mehr Geld, nicht um weniger. Eskann doch nicht das Ziel der Übung sein, dass der BundGeld gibt und die Länder ihre Mittel kürzen. Nein, amEnde muss mehr und nicht gleich viel oder sogar weni-ger da sein. Wir brauchen mehr Geld für die Bildung.Das ist die Aufgabe.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das gilt auch für viele andere Bundesländer, für Bran-denburg und für Mecklenburg-Vorpommern. Überall istdie SPD ordentlich mit dabei. Das ist nicht unsere Vor-stellung von Kooperation. Kooperation muss auf Augen-höhe erfolgen, sie muss am Ende einen Mehrwert erzie-len, aber sie darf nicht weniger Mittel zum Resultathaben.

(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wollt ihr das Grundgesetz ändern, oder nicht?)

Wir müssen uns auch alle miteinander ehrlich ma-chen. Das gilt insbesondere für die SPD. Wenn Sie sichanschauen, wie viel Geld Länder und Kommunen für dieBildung ausgeben, dann stellen Sie fest, dass das im Jahr100 Milliarden Euro sind. Wir im Deutschen Bundestaghaben trotz der Kürzung der Etats in anderen Politikbe-reichen, in der größten Wirtschaftskrise dieser Zeit, einegewaltige Bildungsexpansion von 61 Prozent erzeugtund kommen auf 6,9 Milliarden Euro. 6,9 MilliardenEuro wurden im vergangenen Jahr für die Bildung von-seiten des Bundes zur Verfügung gestellt. Das ist im Ver-gleich zu 2005 ein Aufwuchs von 61 Prozent. Das isteine gewaltige Leistung.

Trotzdem stehen diese 6,9 Milliarden Euro im Ver-hältnis zu den 100 Milliarden Euro der Länder und Kom-munen. Man kann doch nicht den Eindruck erwecken,dass wir mit diesem Geld oder einem weiteren Auf-wuchs, möglicherweise noch einmal um 60 Prozent, dieProbleme der Länder im Bildungssektor lösen können.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18501

Michael Kretschmer

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Nein, wir müssen an die Verantwortung der Länder ap-pellieren, wir müssen ihnen klarmachen, dass Bildungdas Wichtigste für ein deutsches Bundesland ist und dassjeder Euro für Bildung ein richtig eingesetzter Euro ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich bin der Meinung, dass wir das Gespräch mit denBundesländern auf Augenhöhe führen müssen – dareicht kein anderthalbseitiger Antrag im Deutschen Bun-destag – und dass wir in einem stärkeren Maße eine Lö-sung für das Problem der Kooperation finden sollten.Aber das setzt auch voraus, dass wir miteinander defi-nieren, wo die Verantwortung und der Platz des Bundesim Bereich der Wissenschaft und der Bildung sind undwo die Länder zuständig sind. Ich halte von der Verant-wortungsteilung sehr viel, weil das auch die Frage derAbrechenbarkeit betrifft und weil man später dem Wäh-ler sagen kann, wer wofür verantwortlich ist, wer seineArbeit geleistet hat und wer nicht.

Es spricht sehr viel dafür, dass der Bund in stärkeremMaße als bisher im Bereich der Wissenschaft tätig wer-den sollte. Das sagen uns der Wissenschaftsrat und dieExperten, mit denen wir gesprochen haben. In dieseRichtung sollten auch die Gespräche mit den Länderngeführt werden. Herr Steinmeier, der Zustand der Toilet-ten und der Stundenausfall sind keine Probleme, die derBund lösen kann. An der Aufgabe kann er nur scheitern.Das weiß auch jeder von Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Das sind Dinge, die in den Ländern geklärt werden müs-sen. Dafür gibt es Instrumente, über die man reden muss,zum Beispiel den Länderfinanzausgleich und die hori-zontale und vertikale Finanzverteilung. Das sind wich-tige Dinge. Aber wir sollten nicht den Eindruck erwe-cken, als könnten wir hier alles leisten. Nein, dannwerden wir uns überheben, und es wird nichts besser,sondern vieles schlechter werden. Ich bin für ein Ge-spräch auf Augenhöhe. Wir werden sehen, wer am Endeerfolgreicher ist. Ich habe nicht den Eindruck, dass derVorschlag der SPD, der jetzt vorliegt, in irgendeiner Artund Weise geeignet ist, die Probleme im Bereich der Bil-dung zu lösen. Ich denke, wir müssen selber handeln unddie Vorschläge austauschen. Ich freue mich auf den Re-debeitrag des Staatsministers aus Bayern und auf dieweitere Beratung.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Rosemarie Hein

von der Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE):Danke schön, Herr Präsident. – Meine Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde,Selbstgerechtigkeit ist bei diesem Thema in diesemHause völlig unangebracht.

(Beifall bei der LINKEN)

Ebenso unangebracht ist das Hin- und Herschieben unddas Verweisen auf die Schuld des jeweils anderen.Würde man heute auf der Straße eine Umfrage starten,wer denn künftig in Bildungsfragen zuständig sein soll,so gäbe es womöglich eine übergroße Mehrheit für einealleinige Bundeszuständigkeit.

Den Grund dafür kann man in einem Forum bezüg-lich einer Petition lesen, die die Zuständigkeit des Bun-des in Bildungsfragen fordert. Ich will aus einem Eintragin dieses Forum zitieren, das seit dem Jahr 2009 auf denInternetseiten des Bundestages zu finden ist. Dort heißtes:

Ich halte dies für eine sehr sinnvolle Forderung. Ei-nerseits wird von den Arbeitnehmern gefordert,dass sie maximal ortsflexibel sein sollen, anderer-seits scheitert dies aber schon an den unterschiedli-chen Bildungssystemen der Länder, in denen sichoft eher ungeeignete Bildungspolitiker selbstver-wirklichen können.

Ich finde, das ist ein vernichtendes Urteil. Da ichviele Jahre selbst Bildungspolitik in einem Bundeslandgemacht habe, möchte ich meine Kolleginnen und Kol-legen eigentlich lieber in Schutz nehmen; aber wir allemüssen uns fragen, was wir an dieser Stelle falsch ge-macht haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Seit März 2010 haben die Oppositionsfraktionen al-lein sieben eigenständige Anträge gestellt, in denenmehr oder minder klar gefordert wird, in der Bildungstärker zusammenzuarbeiten und diese unsinnige Grund-gesetzänderung aus dem Jahr 2006 zurückzunehmen.Die ersten Landesparlamente, darunter Sachsen-Anhalt,haben das auch begriffen und dies auch so beschlossen.Aber bei den Koalitionsfraktionen – wir konnten es ebenhören – wird nach wie vor der Kopf in den Sand ge-steckt,

(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)

von der Bundesministerin hört man auch nichts mehr indieser Richtung, und auf Herrn Spaenle bin ich nachhersehr gespannt.

(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das sind wir alle!)

Tatsache ist: Das Verbot der Zusammenarbeit in Bil-dungsfragen hat der Bildung in Deutschland nicht ge-nutzt, sondern geschadet.

(Beifall bei der LINKEN)

Es können weniger Schulen saniert werden, und zur Um-setzung der UN-Konvention über die Rechte von Men-schen mit Behinderung, also zu einer inklusiven Schule,die darin ja gefordert wird, gibt es trotz der Ratifizierungdieser Konvention durch die Bundesregierung nur halb-seidene Absichtserklärungen.

(Beifall bei der LINKEN)

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18502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Dr. Rosemarie Hein

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Weil es die vorher möglichen gemeinsamen Finanzie-rungen von Bildungsprojekten, wie zum Beispiel dasGanztagsschulprogramm, nicht mehr gibt, werden nunUmwege gesucht, die kuriose Blüten treiben. Dazu nurein Beispiel aus der jüngsten Zeit:

In meiner Rede vom Dezember zum Bildungs- undTeilhabepaket der Bundesregierung habe ich Ihnen et-was über den Lerntreff in Olvenstedt, einem Stadtteilvon Magdeburg, erzählt, der nun von der Arbeitsagenturnicht mehr gefördert wird und darum geschlossen ist.Nun hat der Oberbürgermeister den Betroffenen mitge-teilt, warum das so ist: Die Weiterführung dieses Pro-jekts führe zu einer Wettbewerbsverzerrung, meint dieAgentur, weil doch mit dem Bildungspaket nun Lernför-derung durch private Anbieter gefördert würde. – Hallo,geht’s noch? War das Bildungspaket also nur eine Fi-nanzspritze für den ohnehin boomenden privaten Nach-hilfemarkt, oder was sollte es am Ende sein?

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Thomas Feist[CDU/CSU]: Staat gegen privat! Das ist diealte Leier!)

Ein zweites Beispiel aus Sachsen-Anhalt: Im Land-kreis Stendal hat eine Schülerin Lernförderung bean-tragt, weil sie Gefahr lief, den von ihr angestrebten Real-schulabschluss nicht zu schaffen. Das Jobcenter lehntezunächst ab, weil sie ja noch den Hauptschulabschlusserreichen könne. Was, bitte, ist denn das für eine Bil-dungspolitik?

(Beifall bei der LINKEN)

Jobcenter können eben nicht die Verantwortung für Bil-dungsaufgaben übernehmen. Sie sind dazu nicht befä-higt. Das ist einfach nicht ihr Job, sondern das ist der Jobvon Schulen.

Aber vielleicht hat man auch die Antwort der Bundes-regierung auf die Kleine Anfrage der Linken besondersgenau gelesen. Dort steht nämlich, dass das Erreichen ei-nes höheren Schulabschlusses regelmäßig kein Grundfür Lernförderung sei. – Meine Damen und Herren, werdieses Bildungspaket geschnürt hat, sollte sich seinLehrgeld zurückgeben lassen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Zeche der verfehlten Bildungspolitik von Bundund Ländern, der eigensüchtigen Kleinstaaterei und derWagenburgmentalität, die in vielen Ländern immer nochherrscht, zahlen die Kinder und Jugendlichen in unserenLändern und deren Familien.

Die Autorinnen und Autoren des wissenschaftlichenGutachtens für Forschung und Innovation in Deutsch-land, also des EFI-Gutachtens, wie es heißt, haben unsim Sommer des vergangenen Jahres auch ins Stamm-buch geschrieben – ich zitiere –:

Die Expertenkommission spricht sich für eine aus-gewogene Zusammenarbeit zwischen Bund undLändern aus, die zur Lösung zentraler Probleme imBildungsbereich beiträgt. Konkret empfiehlt sie dieRücknahme des Kooperationsverbots zwischenBund und Ländern.

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: „Ausgewo-gen“ heißt doch nicht Zentralismus!)

Sie fordern damit die Rücknahme des seit dem Jahr2006 entstandenen Wettbewerbsföderalismus, den esvorher so nicht gegeben hatte. Das ist das Problem: In-zwischen können stärkere Länder mehr leisten undschwächere eben nicht. Deshalb steht in dem EFI-Gut-achten auch:

Die Bildungschancen von Kindern dürfen nicht vonder Finanzsituation eines Bundeslandes abhängen.

Zurzeit ist das aber so.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie kritisieren außerdem die fehlende Transparenzund Durchlässigkeit zwischen den Bildungssystemenund Schulformen der Länder. Dort steht: Die Schulfor-men, die gleiche Abschlüsse bieten, heißen in den Län-dern verschieden. Und Schulformen, die den gleichenNamen tragen, sind in ihrer inneren Struktur zumeisthöchst unterschiedlich. – Wonach aber soll man sichrichten, wenn man aus beruflichen Gründen mit der Fa-milie von einem Bundesland in das andere ziehen muss?Diese Probleme beseitigt man aber nicht, wenn man nurbei der Finanzierung ansetzt. Hier bedarf es anderer,weitreichenderer Lösungen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es gibt weitere Stolpersteine. In den Ländern gibt esunterschiedliche Fächer, Fächergruppen und Schulbü-cher. Die Anerkennung von Abschlüssen und erreichtenBildungsergebnissen in anderen Ländern ist nicht ge-währleistet. Allerdings muss man auch sagen: Schon derWechsel von einer Schule zur anderen im gleichen Bun-desland kann zu extremen Hürden führen. Auch darübermüssen wir reden.

Zwar gibt es nun gemeinsame Bildungsstandards ineinigen wichtigen Fächern, aber sie bestimmen nochlange nicht das, was in den Schulen gelernt wird. Darumrufen heute immer mehr Menschen nach einer Bundes-verantwortung und einem Zentralabitur. Das ist so, weilwir unsere Aufgaben in der Bildungspolitik nicht bewäl-tigen, und schon gar nicht gemeinsam.

Um es deutlich zu sagen: Ich halte eine solche Zentra-lisierung und auch ein Zentralabitur für falsch, weil ichdavon überzeugt bin, dass damit keine bessere Schuleund keine bessere Bildung zustande kommen. Wer Bil-dungsföderalismus will, muss ihn modernisieren. Viel-falt und Qualität, Kreativität und hohes Anspruchsni-veau gedeihen nicht in einem Korsett starrer Regeln, undauch Demokratie braucht Vielfalt. Aber wenn sich dieLänder, die Kultusminister eingeschlossen, nicht endlichbewegen und Vielfalt ermöglichen, wenn sie Vielfaltwollen, dann wird der Bildungsföderalismus immermehr zur Bildungsbremse, und sein Ansehen in der Be-völkerung nimmt weiter Schaden. Aus der angestrebtenVielfalt wird dann nur noch Einfalt.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Wer das riskieren will, kann weitermachen wie bisher.Wer das nicht riskieren will, muss endlich die Föderalis-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18503

Dr. Rosemarie Hein

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musreform von 2006 zurücknehmen, und zwar komplett.Der Bund muss diesen Prozess moderieren. Da könnenwir uns nicht aus der Verantwortung stehlen, wenn es dieLänder allein nicht tun. Es gibt eine gemeinsame Verant-wortung für Bildung in diesem Land.

Der Bund muss allerdings verstärkt auch die eigenenAufgaben wahrnehmen. Manches ginge schon heute,auch mit Bundesgeld, nur wird es nicht getan. So hat dieBundesregierung den Rechtsanspruch auf einen Krip-penplatz ab dem Jahr 2013 beschlossen und dafür Geldfür den Bau von Einrichtungen und für die Ausrüstungzur Verfügung gestellt.

Dass aber eine gute Kinderbetreuung auch gut ausge-bildetes Personal erfordert, wurde absichtsvoll ausge-blendet bzw. heimlich, still und leise den Ländern über-lassen. Darum beschränkt sich die Bundesregierung aufein groß gefeiertes Weiterbildungsprogramm. Mit einemWeiterbildungsprogramm für Quereinsteiger kann manaber keine solide Ausbildung der notwendigen Zahl vonErzieherinnen und Erziehern leisten. Dabei könnte derBund nach dem Kinder- und Jugendhilferecht – § 83SGB VIII; vielleicht wollen Sie nachlesen – ein Pro-gramm zur Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehernmitfinanzieren; denn die Länder sind dazu derzeit alleinnicht in der Lage, und das berechtigt uns, ein solchesAngebot zu machen. Die Linke hat dazu einen Antraggestellt. Sie haben ihn abgelehnt.

Mit dem Hochschulpakt finanziert die Bundesregie-rung bereits zusätzliche Studienplätze. Aber einen sol-chen Pakt ausdrücklich für eine zusätzliche Ausbildungvon Lehrerinnen und Lehrern einzurichten, weigert siesich beharrlich. Dabei wird mehr als die Hälfte der Leh-rerinnen und Lehrer in den nächsten 15 Jahren aus demSchuldienst ausscheiden; denn sie sind über 50 Jahre alt.Ich glaube, dass wir, um diese Bildungsziele in derSchule umsetzen zu können, mehr Lehrerinnen und Leh-rer brauchen, mehr gut ausgebildete, zum Beispiel inbestimmten Fächern, wo es schon seit langem einenMangel gibt; wir brauchen mehr Pädagoginnen und Pä-dagogen mit sonderpädagogischer Ausbildung. Das allesbrauchen wir. Die Linke hat einen solchen Hochschul-pakt gefordert. Er wurde von Ihnen abgelehnt.

Möglicherweise haben die Länder daran ja auch garkein Interesse. Der Haushaltsposten für Lehrpersonal istin allen Bundesländern nun einmal der, der die meistenMittel bindet. Da der Bund die Schuldenbremse be-schlossen hat, kann ich mir vorstellen, dass die Haushäl-ter sagen: Bei diesem großen Posten kann man gut kür-zen. Also sparen wir doch einmal bei den Lehrerinnenund Lehrern. Die Kinderzahlen gehen sowieso zurück.Also, was soll’s? Hier ist unsere Sparbüchse. – Ich haltedas für falsch.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn wir das aber nicht wollen, dann brauchen wireine andere Politik in Bund und Ländern, eine anderePolitik bei der Herbeischaffung von Finanzmitteln. Dazuist vorhin in einer langen Debatte geredet worden, wieauch schon in anderen Sitzungen. Wir brauchen einebessere Finanzierung für eine gute Bildungslandschaft.

Die Qualität der Bildung in Deutschland geht sonst wei-ter zurück.

Das wäre ganz einfach zu machen: Wir brauchen einegemeinsame Finanzierung von Bildung. Wir brauchengemeinsame Bildungsziele und -standards, damit Mobi-lität zwischen den Ländern möglich wird. Wir brauchendie gegenseitige Anerkennung – beinahe hätte ich ge-sagt: ausländischer Abschlüsse – inländischer Ab-schlüsse, die in den einzelnen Bundesländern vergebenwerden, und die Akzeptanz für unterschiedliche Bil-dungswege. Wir brauchen ein anderes Herangehen andas Lehren und Lernen, sodass die Kinder dort abgeholtwerden, wo sie sind, und nicht dort, wo man sie sich hinwünscht.

(Beifall bei der LINKEN)

Das bedeutet aber auch, dass man den Lehrerinnen undLehrern die Zeit geben muss, sich entsprechend mit denKindern zu beschäftigen.

Außerdem brauchen wir kostenfreie Lernmittel, damitSchülerinnen und Schüler, die die Schule wechseln müs-sen, ihre Eltern nicht mit dem Kauf neuer Schulbücherbelasten müssen; oder man braucht einheitliche Schulbü-cher, aber das fordert hier, glaube ich, keiner ernsthaft.

Nach unserem Dafürhalten ginge das alles am bestenin Gemeinschaftsschulen. Aber auch das müssen dieLänder beschließen.

Ich bin gespannt, was Herr Spaenle nachher sagt.Aber wenn wir uns nicht bewegen, dann werden uns dieMenschen zum Teufel jagen, und sie haben recht damit.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt der Kollege Heiner Kamp von der

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Heiner Kamp (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Lieber Herr KollegeSteinmeier, dass Sie das Kooperationsverbot schlechtfinden: schön und gut. Dass Sie die Aufhebung des Ko-operationsverbotes fordern: schön und gut. Dass Sie IhreVerantwortung für das Kooperationsverbot – ich will eseinmal vorsichtig ausdrücken – hier nicht erwähnen: warzu erwarten.

(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wir ha-ben es mitgetragen, und es war falsch! Waswollen Sie denn noch?)

Dass Sie dann aber über Bildungsgutscheine, Betreu-ungsgeld und Steuersenkungen sprechen und kein Wortzur Strategie Ihrer Minister im Bundesrat sagen, dasfinde ich – gelinde gesagt – etwas traurig. Da hätte ichmehr von Ihnen erwartet.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr.Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Hört! Hört! –

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18504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Heiner Kamp

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Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Re-den Sie mal über Ihre Strategie!)

Als ich 2009 in den Bildungsausschuss kam, ist mireines sofort aufgefallen: Die bildungspolitische Arbeitgeht zu einem Großteil an der Lebenswirklichkeit derMenschen vorbei. Wenn ich in meiner Heimat im KreisGütersloh mit Bürgern ins Gespräch komme und er-zähle, dass ich in Berlin im Bildungsausschuss sitze,kommen immer wieder die gleichen Fragen: Was unter-nehmt ihr denn gegen das Chaos im Bildungssystem?Warum tut ihr nichts gegen marode Schulen, gegen Leh-rermangel und gegen Unterrichtsausfall? – Und so gehtes weiter. Bei solchen Fragen kann ich nur auf die föde-ralen Zuständigkeiten verweisen, darauf, dass der Bundim allgemeinschulischen Bereich nicht dort helfen kann,wo es zwickt.

Das ist ein Unding. Das müssen wir ändern. Daherbrauchen wir ein zielgerichtetes Zusammenwirken allerstaatlichen Ebenen in einer gelebten Bildungspartner-schaft auf Augenhöhe. Die Kommunen, die Länder undder Bund müssen gemeinsam für die besten Bildungsbe-dingungen vor Ort arbeiten. Es kann doch nicht sein,dass einer außen vor bleibt.

Das von der letzten Bundesregierung eingeführte Ko-operationsverbot war ein Fehler.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Grund war ein Kuhhandel – gibst Du mir, geb ich Dir –im Kontext der Föderalismusreform, der die Stärkungder Bildung zu keinem Zeitpunkt im Blick hatte. Es sindgroße Fehler gemacht worden. Deswegen habe ich die-ses Thema in meiner Fraktion auf die Tagesordnung ge-setzt. Wir sind geschlossen der Auffassung, dass dieAufhebung des Kooperationsverbotes unbedingt not-wendig ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN und des Abg. Uwe Schummer[CDU/CSU])

Nur durch eine gemeinsame Anstrengung können wirdie bildungspolitischen Herausforderungen der Zukunftmeistern.

(Ulla Burchardt [SPD]: Wie war denn Ihr Par-teitagsbeschluss dazu?)

Bildung ist die soziale Frage unserer Zeit. Um sie zu be-antworten und den Weg in die Wissensgesellschaftweiterzugehen, muss der Bund wieder im Allgemein-schulbereich mithelfen dürfen. Gesamtstaatliche Heraus-forderungen verlangen gesamtstaatliches Handeln. DemBund in einem so zentralen Politikfeld die Tür zu wei-sen, war ein riesengroßer Fehler. Das haben mittlerweileauch einstige Väter des Kooperationsverbotes eingese-hen.

Hier in diesem Hause sind wir uns über die Fraktions-grenzen hinweg weitgehend darüber einig, dass das vonSPD und Union eingeführte Kooperationsverbot vor

allem eines war: ein bildungspolitischer Murks. DasKooperationsverbot hat unserem Bildungssystem unddem Bildungsstandort Deutschland stark geschadet.

(Beifall der Abg. Ulla Burchardt [SPD] und Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE])

Die Belege dafür sind zahlreich. Wenn wir uns ansehen,wer dafür ist, das Kooperationsverbot aufzuheben, undwie klein im Vergleich dazu das Häufchen derer ist, diees beibehalten wollen, spricht doch alles dafür, diesenschwarz-roten Fehler zügig zu korrigieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Hier im Deutschen Bundestag herrscht grundsätzlichEinigkeit darüber, dass wir das Kooperationsverbot auf-heben müssen. Wir müssen uns dieser Einigkeit nichtandauernd versichern, ganz besonders nicht auf demWege uninspirierter Anträge wie dem Antrag der SPD-Fraktion. Von Ihnen kam wirklich schon Kreativeres,liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Dagmar Ziegler [SPD]: Was kommt von Ih-nen?)

Jetzt sollten wir uns darum kümmern, die gemeinsamePosition auch in Handeln umzusetzen: Ich nenne hierden Bundesrat.

(Zurufe von der SPD: Ja! Genau!)

Als Erstes gilt es, die kurzsichtige und ängstliche Blo-ckadehaltung aufseiten der Länder aufzulösen. In man-chem Kopf spukt noch das Gespenst herum, mit einerAufhebung des Kooperationsverbotes würde man dieLänder ihrer letzten Zuständigkeitsfelder Schule undPolizei berauben. Doch: Wir hatten vor dem Koopera-tionsverbot keinen Bildungszentralismus in Deutsch-land, wir hatten während des Kooperationsverbotes kei-nen Bildungszentralismus in Deutschland, und wirwerden auch nach einer Aufhebung des Kooperations-verbotes keinen Zentralismus bekommen.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was wir aber hinbekommen müssen, ist, dass einegesamtstaatliche Herausforderung in eine gesamtstaat-liche Verantwortung kommt. Denn wir müssen feststel-len, dass die Bundesländer ihrer Aufgabe, sich auf dieSicherung der Bildungsinvestitionen zu konzentrieren,nach 2006 nur unzureichend nachgekommen sind. Werfür sich alleinige Zuständigkeit für ein besonderes, zen-trales Politikfeld reklamiert, der muss es auch bestellen.Wenn es Tante Ernas größte Sorge ist, den Garten einzu-zäunen und Onkel Alfred aus ihrem Hoheitsfeld zu ver-bannen, dann müssen am Ende zumindest ihre Kartof-feln dick sein. Betrüblicherweise fiel die Erntebilanz derLänder bislang mager aus – wie die Ernte von TanteErna.

Wenn wir auf den Hochschulbereich blicken, könnenwir sehen, wie es funktionieren kann. Dort dürfen derBund und die Länder zusammenwirken. Dort haben wirgroße Fortschritte. Sie speisen sich unter anderem ausden großen Programmen wie der Exzellenzinitiative,dem Hochschulpakt und dem Qualitätspakt Lehre.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18505

Heiner Kamp

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(Ulla Burchardt [SPD]: Ja! Weil wir das Grundgesetz geändert hatten!)

Bund und Länder müssen gemeinsam und harmonischden bildungspolitischen Garten bestellen. Und wennbeim Ernteeinsatz auch noch die Kommunen ihren Bei-trag leisten – umso besser für den BildungsstandortDeutschland. Ich freue mich deswegen sehr, dass diechristlich-liberale Landesregierung von Schleswig-Hol-stein, insbesondere der FDP-Kultusminister EkkehardKlug, am Dienstag eine Bundesratsinitiative zur Auf-hebung des Kooperationsverbotes auf den Weg gebrachthat. Handeln, liebe Kollegen von der SPD, und nicht nurReden, das ist christlich-liberale Regierungsarbeit.

(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Aber dasmachen wir doch! Deswegen gibt es einen ent-sprechenden Antrag!)

Das Land Schleswig-Holstein wird eine Grundgesetz-initiative zur Aufhebung des Kooperationsverbotes inden Bundesrat einbringen. Dort kommt es dann zumSchwur. Dort können Sie unter Beweis stellen, liebeKolleginnen und Kollegen von der SPD, wie ernst esIhnen wirklich mit Ihren Reformbemühungen ist. Wirwerden sehr genau darauf achten und auch verfolgen, obdie SPD-geführten Länder den Vorstoß aus Schleswig-Holstein konstruktiv begleiten oder ob sie ihn sabotie-ren. Im Bundesrat wird sich zeigen, ob die hier vonIhnen so sehr propagierte Vernunft obsiegt.

(Ulla Burchardt [SPD]: Der Bundestag muss sich entscheiden!)

Im Bundesrat wird sich auch zeigen, liebe Kollegin FrauBurchardt, ob Sie tatsächlich Ihre Ministerpräsidentenund Kultusminister überzeugt haben, wie Sie zuletzt inder EFI-Debatte getönt haben, oder ob die rot-grüne par-teitaktische Kungelei mit Ihrem engstirnigen Klein-Klein die Oberhand behält.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Worüber reden Sie denn jetzt?)

Die FDP-Bundestagsfraktion wird die Initiative desLandes Schleswig-Holstein positiv und konstruktivbegleiten und sich weiter für eine Aufhebung des Koope-rationsverbotes einsetzen. Uninspirierte Schaufensteran-träge wie der von Ihnen vorgelegte sind für die Errei-chung dieses Ziels weder dienlich noch erforderlich. Wirwerden ihn daher ablehnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP – Dr. Frank-WalterSteinmeier [SPD]: Wo ist denn Ihr Vorschlag? –Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wo ist dennIhr inspirierter wegweisender Antrag? Wannkommt der denn?)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt der Kollege Kai Gehring von

Bündnis 90/Die Grünen.

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Große Koalition aus CDU/CSU und SPD hat mit derFöderalismusreform 2006 den Bund aus jeder Mitverant-wortung für den Schul- und Bildungsbereich heraus-gedrängt. Dieses völlige Fehlen von Kofinanzierungs-und Mitgestaltungsmöglichkeiten hat sich in der Praxisals Kooperationsverbot negativ ausgewirkt. Es hat denBildungsföderalismus geschwächt und der Ausfinanzie-rung unseres Bildungssystems geschadet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Obwohl unser Bildungssystem weiterhin unterfinan-ziert ist, darf der Bund bei der Bildung nicht mitfinanzie-ren. Obwohl es Kindern nützt und Eltern unterstützt, darfder Bund kein Ganztagsschulprogramm auflegen. Ob-wohl es immer noch Schulen gibt, die verfallen und indie es hineinregnet, geht eine Schulbaumodernisierungnur mit einer abenteuerlichen Umgehung unseres Grund-gesetzes, wie dem Rückgriff auf eine „außergewöhnlicheNotlage“ bei den Konjunkturpaketen. Bildung ist abernichts Außergewöhnliches und auch keine Naturkata-strophe, sondern eine zentrale gesamtstaatliche Dauer-aufgabe.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das Kooperationsverbot hat uns zudem die bürokra-tischste Sozialleistung aller Zeiten beschert: das soge-nannte Bildungs- und Teilhabepaket. Kinder und Jugend-liche aus ALG-II-Familien brauchen die besten Kitas,die besten Schulen, die besten Lehrkräfte. Was sie undihre Eltern nicht brauchen, ist eine Bildungsgutschein-Bürokratie mit Antragswirrwarr zwischen Jobcentern,Kommunen und Trägern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wer gute Ganztagsschulen mit individueller Förde-rung ausfinanziert, braucht keine Gutscheine für privatekommerzielle Nachhilfeinstitute auszugeben. OhneKooperationsverbot ließe sich gezielt in bessere Bil-dungseinrichtungen und in ein qualitativ gestärktesöffentliches Bildungswesen investieren. Dies käme allenKindern und Jugendlichen, aber vor allem bildungs-armen direkt zugute. Dies wäre auch ein sachgerechterund effektiver Einsatz von Steuermitteln. Aus all diesenGründen muss das Kooperationsverbot wieder fallen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Den Wissenschaftsbereich hat die Föderalismusre-form weniger hart getroffen, da in letzter SekundeKooperationen wie der Hochschulpakt von Bund undLändern möglich blieben. Probleme gibt es künftiggleichwohl bei den Hochschulbaumitteln, wenn dieZweckbindung fällt.

Intransparente, willkürlich erscheinende Förderun-gen wie zum Beispiel zuletzt bei GEOMAR, der Berli-ner Charité oder den Gesundheitszentren zeigen aber,dass zunehmend auch hier die Umgehung unserer

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Kai Gehring

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Grundgesetzregeln droht. Förderungen über Umwegeund nach Gutsfrauenart sind definitiv kein sinnvollerWeg. Daher braucht es auch im Wissenschaftsbereichbessere Kooperationsregeln.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie der Abg. Marianne Schieder [Schwan-dorf] [SPD])

Das Kooperationsverbot hat sich nicht bewährt. Eshat eine kluge und transparente Zusammenarbeit vonBund und Ländern im Bildungsbereich verunmöglicht.Deshalb haben wir Grüne damals, 2006, und auch davorimmer vor den Auswirkungen eines solchen Koopera-tionsverbotes gewarnt. Wir haben 2006 hier im Bundes-tag gemeinsam mit der Linksfraktion klar dagegen ge-stimmt und wussten dabei viele Bildungsexperten undVerbände auf unserer Seite. Wir kämpfen seitdem für dieÜberwindung des Kooperationsverbots.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wenn die SPD-Fraktion ebenso wie Bundesbildungs-ministerin Schavan ihren Fehler aus der Großen Koali-tion korrigieren möchte, diesen Lernprozess erkennenwir ausdrücklich an.

(Beifall bei der SPD – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Danke!)

Auch der Beschluss der FDP-Bundestagsfraktion warein wichtiger Schritt nach vorn.

(Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Heiner Kamp [FDP])

Wir brauchen jetzt einen gemeinsamen Kraftakt, um imBundestag und im Bundesrat eine Zweidrittelmehrheitzu gewinnen. Wir fordern Ministerin Schavan auf, einenVorschlag für eine Grundgesetzänderung vorzulegen.Außerdem bieten wir allen Bundestagsfraktionen sehrernsthaft Gespräche mit dem Ziel einer Grundgesetz-änderung an, die eine neue Kooperationskultur zwischenBund und Ländern ermöglicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Lassen Sie uns gemeinsam das Zeitfenster nutzen, dassich 2012 auftut.

Für niemanden in unserem Land ist nachvollziehbar,warum Bund und Länder in zentralen Bildungsfragennicht kooperieren dürfen. Unsere Gesellschaft ist längstweiter: Die Menschen möchten eine Modernisierung desBildungsföderalismus. Sie fordern bessere Kitas, Schu-len und Universitäten ein und honorieren auch, wenn eszu Verbesserungen im Bildungssystem kommt.

Ans Wolkenkuckucksheim „Wettbewerbsföderalis-mus“ glauben sie dagegen schon lange nicht mehr, weilsie erleben, dass arme Kommunen und finanzschwä-chere Länder dabei eben nicht chancengerecht mithaltenkönnen. Sie wollen einen kooperativen statt eines kon-frontativen Bildungsföderalismus; denn sie wollenChancengleichheit für ihre Kinder, Jugendlichen undEnkel, unabhängig von der Herkunft und vom Wohnort.

Das hat nichts mit Gleichmacherei zu tun, sondern mitStartchancen und Leistungsgerechtigkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Agnes Alpers [DIE LINKE])

Wer gute Bildung wirklich als zentrale soziale undökonomische Frage betrachtet, muss eine gesamtstaat-liche Strategie verfolgen – statt bildungspolitischerKleinstaaterei. Wer sonntags eine Bildungsrepublik aus-ruft, der darf werktags die Zusammenarbeit von Bundund Ländern eben nicht blockieren, weil Kindeswohl vorKooperationsverbot gehen muss.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Heiner Kamp [FDP])

Bildung entscheidet wie kein anderes Thema übersozialen Aufstieg sowie Wettbewerbsfähigkeit, Wachs-tum und Wohlstand. Die Folgen mangelnder Bildungwie Fachkräftemangel, Arbeitslosigkeit und steigendesoziale Transfers betreffen übrigens alle staatlichen Ebe-nen und die gesamte Gesellschaft. Gerechtigkeits- undInnovationsfragen von solch gesamtstaatlicher Trag-weite erfordern die Kooperation aller politischen Ebenenstatt Selbstblockade. In diesem Sinne ist Bildung eineGemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Kommu-nen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Heiner Kamp [FDP])

Das heißt nicht, dass wir eine Bundesbildungskompe-tenz wollen; Bildungszentralismus würde die Problemevor Ort keinesfalls besser lösen können. Mit dergewünschten Grundgesetzänderung wollen wir Grünevielmehr zweierlei erreichen: erstens eine solidarischeModernisierung unserer föderalen Ordnung im Bil-dungs- und Wissenschaftsbereich und zweitens, unsererVerfassung wieder den hohen Stellenwert einzuräumen,der ihr gebührt, den sie aber aufgrund von immer mehrUmgehungen einzubüßen droht.

Bildung bleibt dabei Kern der Landespolitik; aber derBund muss in Mitverantwortung mitwirken können, umVergleichbarkeit und Mobilität im Inland zu gewährleis-ten und zu erleichtern. Wir schlagen daher vor, die gro-ßen Herausforderungen auf den bildungspolitischenHandlungsfeldern unter Wahrung der Kulturhoheit derLänder gemeinschaftlich anzupacken und mit Bund undLändern Lösungen nachhaltig zu erarbeiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Wenn wir die verfassungsrechtlichen Grundlagen neujustiert haben, lassen sich zwischen Bund und Länderngemeinsam vereinbarte Projekte endlich wieder ange-hen. Für uns Grüne wäre eine neue bundesweite Ganz-tagsschuloffensive vordringlich. Der Ausbau von Ganz-tagsschulen darf nicht ins Stocken geraten, da dieGanztagsschulen im Hinblick auf Chancengerechtigkeitfür unsere Kinder, Wahlfreiheit sowie Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf für die Eltern unbestreitbare Erfolgegebracht haben. Des Weiteren zählen dazu Programmezum Beispiel zur Umsetzung der UN-Konvention zur

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Kai Gehring

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Inklusion oder zur Sprachbildung von Kindern undJugendlichen mit und ohne Einwanderungsgeschichte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das sind die zentralen Herausforderungen, die wir an-packen müssen.

Herr Steinmeier, es geht uns nicht darum, dass derBund zukünftig wieder nur in Beton mit investieren darf.Wir brauchen auch gemeinsame Investitionen in einequalitative Verbesserung, die mit Personal- und Sachaus-gaben verbunden sind. Der Vorschlag der SPD ist daherfür uns nicht die erste Wahl. Auch wenn in Ihrem Antragzutreffend davon die Rede ist, „dauerhafte Finanzhilfendes Bundes für Bildung“ zu ermöglichen, so ist klar,dass ein neuer Art. 104 c GG keine Investitionen in Per-sonal- und Sachmittel ermöglichen würde.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Nein, das ist ein Missverständnis!)

Das hielten wir für zu kurz gesprungen. Es könnte näm-lich bedeuten, dass neue Umgehungsstatbestände produ-ziert werden. Denken Sie nur einmal an den Bereich derInklusion und daran, was sich in den Schulen neben denbaulichen Voraussetzungen alles verändern muss. An derStelle geht es eben nicht ohne Personal- und Sachmittel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unserer Auffassung nach ist es zielführender, denArt. 91 b des Grundgesetzes zu öffnen, sodass Bund undLänder zur Förderung und Sicherstellung der Leistungs-fähigkeit des Bildungswesens und der Wissenschaft aufder Basis von Vereinbarungen zusammenarbeiten kön-nen. Für diesen Reformweg möchten wir hier werben.

Die Gesellschaft würde es uns sicherlich hoch anrech-nen, wenn uns hier im Bundestag ein Konsens gelänge.Würden wir ein fraktionsübergreifendes Vorgehen, wiezum Beispiel zuvor im Landtag von Schleswig-Holstein,als Allparteien- und -fraktionenkompromiss hinbekom-men, dann würde eine neue Kooperationskultur entste-hen und ein gesamtstaatlicher Bildungsaufbruch funktio-nieren, zumindest aber eine Chance bekommen.Generationen von Schülern, Studierenden, Eltern undLehrern würden es uns danken. Auch deshalb ist es allerMühe wert. Lassen Sie uns 2012 dazu nutzen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Staatsminister für Unterricht und

Kultus des Freistaats Bayern, Dr. Ludwig Spaenle.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Ludwig Spaenle, Staatsminister (Bayern):Sehr geehrter Herr Präsident! Hohes Haus! Das Er-

gebnis der Föderalismuskommission I war kein Fehler.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Das war kein Ergebnis! Erzählen Sie doch kei-nen Unsinn! Die Kommission ist gescheitert!)

Es war kein Fehler, die Kompetenzen zwischen Bundund Ländern aufgabengerecht, klar und deutlich heraus-zuarbeiten und mit unterschiedlichen Profilen Verant-wortlichkeiten deutlich zu machen.

Die Kraft unseres Landes liegt in seiner Vielfalt nachder Einheit. Deshalb haben die Väter der Föderalismus-reform in Bezug auf Kompetenz und Zuständigkeitsbe-reiche richtig gehandelt. Warum? Die Menschen in unse-rem Land haben zu dem Thema Bildung eine enge undintensive Beziehung. Wenn Sie die Ergebnisse der Land-tagswahlen im vergangenen Jahrzehnt vertieft analysie-ren, dann wird klar, dass für die Menschen in allen Län-dern der Bundesrepublik Deutschland die Beurteilungder Bildungspolitik in ihrer Umgebung, in ihrer Nähe, inder Lebenswirklichkeit ihrer Familie eines der zentralenEntscheidungskriterien für die politische Willensbekun-dung in den Ländern ist.

(Ulla Burchardt [SPD]: Deswegen ist Rüttgers ja auch abgewählt worden!)

Bildung ist in den Familien das zentrale Thema, wenn esum die Zukunftschancen der jungen Menschen geht.Aufgrund dieser besonderen Zuwendung müssen dieseEntscheidungen nahe bei den Menschen demokratischkontrolliert, verantwortet und entschieden werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Daran hat sich doch garnichts geändert!)

Deshalb hat man richtig gehandelt, als man die Ver-antwortung für die schulische Bildung den Ländernübertragen hat. Man hat ferner den klugen Schritt getan,die Verantwortung im Bereich der Hochschulpolitik undder universitären Bildung auf einem gemeinsamen Wegmöglich und organisatorisch durchsetzbar zu machen.Deshalb ist die Frage, ob und wie Bildung gestaltet wird,in den Händen der Länder gut aufgehoben.

(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Wir wol-len den Ländern doch nichts wegnehmen!)

Wir haben den kooperativen Föderalismus als Realitätin der Bundesrepublik Deutschland.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, haben wir nicht!)

Im Mai des Jahres 2010 hat die Kultusministerkonferenzin München unter meiner Präsidentschaft gemeinsammit dem Bundesministerium für Bildung und Forschungein umfangreiches Maßnahmenpaket inhaltlich abge-stimmt und auf den Weg gebracht. Die getroffene Ver-einbarung sieht in gemeinsamer Verantwortung Maßnah-men des Bundes und der Länder vor, die abgearbeitetwerden können. Sie sieht zusätzliche Maßnahmen derLänder und Maßnahmen in Bereichen vor, in denen derBund die alleinige Kompetenz auf dem Feld der Bildunghat. Das heißt, wir haben eine Verfassungsrealität, diedem Ziel, Bildung zu gestalten, Rechnung trägt. In Ko-

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Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle (Bayern)

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operation zwischen Kommunen, den Ländern und demBund – das ist die richtige Reihenfolge – wird auf dieVerwirklichung des Auftrags und Anspruchs auf diebeste Ausbildung ihrer Kinder, den jede Familie in unse-rem Land hat, geachtet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Die Länder tragen gesamtstaatliche Verantwortung. In-sofern ist der Vorwurf der „Wagenburgmentalität“ unddie Geschichte von Tante Ernas und Onkel Alfreds Gar-ten völlig falsch.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das warvon Ihrem Koalitionspartner! – Ulla Burchardt[SPD]: Der gehört zur FDP! – Kai Gehring[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der letzte bil-dungspolitische Dinosaurier spricht zu uns!)

Die Lebenswirklichkeit erfordert die Wahrnehmungder Letztverantwortung in gesamtstaatlicher Dimension.Deshalb sorgen die Länder für die Entwicklung gemein-samer Standards beim Abitur und dem mittleren Schul-abschluss. Deshalb stellen sich die Länder gemeinsamden zentralen Herausforderungen, zum Beispiel demThema Inklusion. Deshalb ist eine Reihe von Länderndabei, gemeinsame Prüfungsstandards weiterzuentwi-ckeln. Wir wollen, dass die Frage von Vergleichbarkeitund Verlässlichkeit der Bildungsabschlüsse von denLändern in ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung gelöstwird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deshalb legen sieben Länder eine Strategie vor, die da-für sorgen soll, dass Teile von Abituraufgaben in denKernfächern Deutsch, Mathematik und einer Fremdspra-che

(Ulla Burchardt [SPD]: Das ist die „Hauptauf-gabe“ der Politik!)

ab dem Jahr 2014 gemeinsam geschrieben werden kön-nen.

(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Was soll denn dann besser werden?)

Deshalb legen die Länder eine Strategie vor, die dafürsorgen soll, die Vergleichbarkeit der Abschlussprüfun-gen – das ist das zentrale Handlungsinstrument – mit-hilfe entsprechender Aufgabenpools gemeinsam voran-zutreiben.

(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das ist 19. Jahrhundert!)

Die entsprechenden Initiativen sind genau der Aus-druck eines leistungsstarken Wettbewerbsföderalismusin gesamtstaatlicher Verantwortung, der dem Anspruchder Menschen, dem Anspruch der Familien Rechnungträgt, nachvollziehbar in ihrer Lebensumgebung eineBildungslandschaft vorzufinden, die entsprechende leis-tungsstarke Abschlüsse für Kinder, gleich welcher Her-kunft, gewährleistet.

Wir brauchen zusätzliches Geld für Bildung. Wennwir es ernst damit meinen, dass die Zuständigkeit der

Länder für Bildung abschließend geregelt ist – und zwarrichtig geregelt ist – und dass es gemeinsame Gesprächein Bildungsverantwortung zwischen Bund und Länderngeben soll, dann ist dieser Tatsache aus der einstimmi-gen Sicht der Länder dadurch Rechnung zu tragen, dassüber die Finanzverfassung zu sprechen ist und dass überdie Übertragung zusätzlicher Umsatzsteuerpunkte aufdie Länder zu reden ist, damit den Ländern, die hier Un-terstützung brauchen, geholfen wird. Ich habe Verständ-nis für die Kollegen in den Ländern, die zur Unterstüt-zung der Erledigung dieser Kernaufgabe nach stärkerenfinanziellen Möglichkeiten suchen und sich entspre-chend politisch einlassen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Spaenle, gestatten Sie eine Zwischen-

frage?

Dr. Ludwig Spaenle, Staatsminister (Bayern):Vielen Dank, ich möchte die Redezeit gern ausschöp-

fen.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Sie können damit doch nur die Redezeit ver-längern! Aber das würde der Sache nicht die-nen!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Keine Zwischenfrage.

Dr. Ludwig Spaenle, Staatsminister (Bayern):Erst dann, wenn die Möglichkeiten, die Bund und

Länder gemeinsam haben, zum Beispiel auf dem zentra-len Feld der Übergänge von der allgemeinen Bildung indie berufliche Bildung, in den Beruf, bei der Frage derSprachförderung, bei der Frage, wie wir in der berufli-chen Bildung gemeinsam vorwärtskommen – wir habeneine Diversifizierung bei den Berufsbildern; das sindüber 400 Berufe, was in der Beschulung in den Flächen-staaten große Probleme macht –, genutzt worden sind,erst dann, wenn die Zuständigkeiten in einem komple-mentären kooperativen Föderalismus ausgeschöpft sindund wir mit diesen Themen nicht vorankommen, ist derGedanke, die Spielregeln zu verändern, überhaupt legi-tim. Wir müssen die Aufgaben so, wie sie verteilt sind,zum Wohle der Menschen in unserem Land und der Fa-milien so erfüllen, dass die Bedingungen für gute Bil-dung gegeben sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn Sie beim Ländervergleich Ihren Blick auf dieErgebnisse lenken, die Wettbewerbsföderalismus ermög-licht, dann werden Sie feststellen, dass überall dort, wodie Union regiert, die Lebenschancen für die Menschen,gleich welcher sozialen Herkunft, besser sind als in an-deren Ländern.

(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hatten mal die absolute Mehrheit!)

Wir wollen die Lebenschancen nachhaltig verbessern.Wir wollen dies in gemeinsamer Zuständigkeit tun. Wirwollen es in klar definierter politischer Verantwortung

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Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle (Bayern)

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tun, um der Bildungsrepublik Deutschland den Platz ein-zuräumen, den sie im internationalen Vergleich verdient.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – KaiGehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: InBaden-Württemberg regieren Sie doch garnicht mehr! Lächerlich ist das! Sie sind ein bil-dungspolitischer Dinosaurier!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat die Kollegin Ulla Burchardt von der

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Ulla Burchardt (SPD):Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol-

leginnen und Kollegen! Eigentlich hatte ich mir vorge-nommen, heute ganz konsensual zu sein, wie Sie es vonmir kennen.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich muss allerdings sagen, Herr Spaenle: Alle, dieIhre Rede gehört haben, werden sich vermutlich gefragthaben, ob Ihre Problemsicht adäquat ist und ob Sie eineVorstellung davon haben, vor welchen Herausforderun-gen dieses Land insgesamt steht.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zu Herrn Kretschmer ein Wort, bei aller persönlichenWertschätzung – vermutlich hätten Sie auch lieber etwasganz anderes gesagt –: Was wir hier erlebt haben, warnur: Auf das, was ansteht, wozu es einen großen gesell-schaftlichen Konsens gibt – Herr Steinmeier hat das an-gesprochen –, nämlich bei den Menschen, den Wissen-schaftlern und den Fachjournalisten, haben Sie leiderkeine Antwort geboten. Sie haben das Thema überhauptnicht angepackt: Wie steht die Union zum Kooperations-verbot? Sie haben sich auf die Abteilung „Attacke“ ver-legt. Das sind alles beliebte Ablenkungsmanöver; wirkennen sie ja alle. Nur, wir stellen fest: Sie haben zumThema nichts gesagt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Doch!)

Wenn man die Meldung des Tages schreiben würde,dann wäre das: Die Union lässt ihre Ministerin mit ihrerForderung zur Aufhebung des Kooperationsverbots imStich und degradiert sie zur Zuschauerin. – Denn ichhabe sie hier bislang nicht auf der Rednerliste gesehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was die Zuschauerrolle angeht, Herr Kamp, so weißich ja, welche Nöte die Bundesbildungspolitiker in derFDP haben. Ich bin da richtig mitfühlend.

(Zuruf von der FDP: Wie gut von Ihnen!)

Aber Sie haben sich jetzt auf eine Zuschauerrolle festge-legt, wenn der Bundestag über die Zukunft des Koopera-

tionsverbots bzw. darüber redet, wie wir seine Abschaf-fung gestalten.

Eine kleine polemische Anmerkung kann ich mirnicht verkneifen:

(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ihre Rede besteht nur aus Polemik!)

War das etwa eine Vorübung für Ihre Rolle nach derBundestagswahl 2013?

(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie habengesagt, Sie halten eine sachliche Rede, undpolemisieren hier nur herum!)

Herr Lindner, ich glaube, in dieser Frage kennen Siedie Verhältnisse in Ihrer eigenen Partei nicht. Deswegenrate ich Ihnen: Halten Sie sich jetzt einmal ein bisschenzurück.

(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Halten Siesich einmal zurück! Sie haben die Sache ein-gerührt!)

– Wenn Sie nichts zur Sache zu sagen haben, dann gehenSie doch.

(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Reden Sie doch einmal zur Sache!)

Herr Kamp, Herr Professor Neumann, Sie werdennoch gebraucht, wenn sich der Bundestag dazu positio-nieren muss. Dann geht es nicht nur um die Frage, obwir das Kooperationsverbot aufheben wollen, sondernauch um die Frage, an welchen Stellen das Grundgesetzgeändert werden muss. Mit unserem Antrag geben wirheute den Startschuss für eine Debatte, in der wir hier imBundestag nach einer mehrheitsfähigen und konsensfä-higen Lösung suchen.

(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Sie bla-mieren sich mit Ihrem Vorschlag!)

Diese Lösungssuche muss auch im Bundesrat erfolgen.Deswegen sind Ihre Beiträge tatsächlich gefragt.

Ich weiß, dass Konsensfindung nicht einfach ist; ei-nige haben das mitfühlend angesprochen. Das setzt vo-raus, dass man zunächst einmal innerhalb der eigenenPartei einen Konsens findet. Wir haben das geschafft.Wir haben Ihnen im Herbst im Ausschuss angekündigt,dass wir in der SPD eine gemeinsame Position dazu fin-den werden, dass wir das Kooperationsverbot aufhebenund an welcher Stelle wir das Grundgesetz ändern wol-len.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Frau Kollegin Burchardt, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Kamp?

Ulla Burchardt (SPD):Ich möchte diesen Gedanken zu Ende führen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte schön.

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Ulla Burchardt (SPD):An diesem Prozess waren die Ministerpräsidenten

und alle Fachminister beteiligt. Dieser Konsens wird vonder ganzen Partei getragen. Liebe Kolleginnen und Kol-legen von Union und FDP, kriegen Sie das in Ihrem eige-nen Laden erst einmal hin! Das wäre eine entscheidendeVoraussetzung dafür, dass wir insgesamt zu einer mehr-heitsfähigen Lösung kommen.

(Beifall bei der SPD)

Bitte, Herr Kamp.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte schön, Herr Kollege Kamp.

Heiner Kamp (FDP):Vielen Dank, Frau Kollegin Burchardt. – Sind Sie be-

reit, zuzugestehen, dass der Startschuss zur Initiative zurAufhebung des Kooperationsverbotes eben nicht von derSPD gekommen ist, sondern von der FDP-Bundestags-fraktion, von meiner Person? Sind Sie bereit, zuzugeste-hen, dass wir mehrere gemeinsame Positionspapiere er-arbeitet haben? Damals wurde mir, als die erstenentsprechenden Meldungen über den Ticker kamen, vonHerrn Schulz wohlwollend auf die Schulter geklopft,und ich wurde gefragt: Was ist denn bei euch passiert? –Das war sehr anerkennend. Ich bedanke mich dafür.Also: Der Startschuss kam von uns und nicht von Ihnen.

Unser Parteitag wurde mehrere Male angesprochen.Wir haben dort sehr wohl über das Kooperationsverbotgesprochen. Wir haben uns auf einen Grundkonsens zurBildungsfinanzierung geeinigt. Wir haben uns darauf ge-einigt, dass die Beteiligung des Bundes dabei nicht aus-geschlossen werden soll.

Insofern geht Ihr Diskussionsbeitrag an der Sachevorbei. Sind Sie bereit, zuzugestehen, dass der Start-schuss von uns kam?

Vielen Dank.

Ulla Burchardt (SPD):Herr Kamp, ich habe doch gar kein Problem damit,

festzustellen, auch für das Protokoll des Bundestages,dass Sie das Thema als Erster angesprochen haben. Ichsage nur: Die große Volkspartei SPD hat es geschafft, inihren eigenen Reihen einen Konsens über die Aufhebungdes Kooperationsverbotes hinzubekommen. Über De-tailfragen wie zum Beispiel darüber, welche Grundge-setzartikel geändert werden sollen, lieber KollegeGehring, kann man diskutieren. Darüber wird es nochDebatten geben. Dies ist erst die Eröffnung der Debatte.Ohne dass es innerhalb der Parteien einen Konsens undden Willen zur Veränderung gibt, wird in dieser Repu-blik nichts laufen. Ich bitte die anderen Parteien, jetztnachzuziehen.

(Beifall bei der SPD)

Ich gehe gerne darauf ein, dass wir Fehler gemachthaben. Asche auf unser Haupt! Das hat Frank-WalterSteinmeier in seltener Offenheit in diesem Haus gesagt.Aber wir haben daraus gelernt. Ich will nicht verhehlen:

Wir Bundesbildungspolitiker hätten gerne einen weitergefassten Antrag gehabt. Nur, dies ist der Kompromiss,den wir innerhalb der Partei gefunden haben, und dendarf man nicht geringschätzen. Da müssen andere ersteinmal hinkommen. Ich muss niemandem hier erzählen,wie es sich mit der Konsensfindung innerhalb von Par-teien verhält. Wie gesagt: Die Debatte darüber ist eröff-net.

Auf jeden Fall reicht es nicht – darüber wird jetzt imWissenschaftsrat diskutiert; Herr Rupprecht, Sie habenletztes Mal danach gefragt –, nur eine Grundgesetzände-rung für den Bereich der Wissenschaft vorzunehmen. Ichdarf in diesem Zusammenhang den DFG-PräsidentenKleiner zitieren, der in seiner letzten Ansprache gesagthat: Es kommt darauf an, dass alle auch für eine Verbes-serung des Bildungssystems zusammenarbeiten. – Esgeht genau darum, die großen Herausforderungen anzu-gehen, nämlich Bildungsarmut zu beseitigen und dieLeistungsfähigkeit des Bildungssystems als Basis für dieSteigerung der Innovationsfähigkeit des gesamten Lan-des zu verbessern. Das müssen wir „auf die Kette krie-gen“. Das ist eine große Aufgabe. Angesichts dessendarf man sich nicht im Klein-Klein, im Gestrigen und inSchuldzuweisungen verstricken.

Wir sind offen. Wir hängen nicht an einzelnen Buch-staben oder Sätzen. In die Debatte im Bundesrat ist Be-wegung gekommen. Es wäre ganz hervorragend, wennSie jetzt mit dazu beitragen würden, dass wir auch hierim Bundestag in eine Beratung über konstruktive Lösun-gen eintreten. Dafür werbe ich.

Eine ganz entscheidende Voraussetzung wäre – ichrichte meinen Blick auf die Koalitionsfraktionen undauch auf die Ministerin –, nicht nur Themen in den Me-dien zu besetzen, sondern auch einen konkreten Beitragzu leisten. Legen Sie einen Gesetzentwurf oder zumin-dest einen Antrag vor, damit wir etwas haben, mit demwir uns konstruktiv auseinandersetzen können. Ichglaube, die Bürgerinnen und Bürger haben verdient, dasswir uns in dieser Sache ernsthaft um Konsens bemühen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Ich hoffe, Herr Steinmeier, dass Sie die Debatte biszu diesem Punkt interessant fanden. Ich hoffe auch, dasssie nach den nächsten sechs Minuten erkenntnistheore-tisch etwas weiter gediehen sein wird. Ich finde es gut,dass man sich in dieser Diskussion, die wir seit vielenJahren in diesem Hause wie überall im Bildungsbereichführen, sowohl die Pro- als auch die Kontra-Argumenteanhört.

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Marcus Weinberg (Hamburg)

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Sie haben gesagt – ich werde dies gleich aufgreifenund ausführlich darauf eingehen –, dass es Ihnen nichtum Zuständigkeiten, sondern um Lösungen geht. Dasmuss überprüft werden. Diese Debatte müssen wir füh-ren. Wir müssen sehr genau schauen, was wir als Bundzurzeit machen und welche Lösungen wir als Bundestaganbieten.

Zuvor noch eine Bemerkung zur Verantwortlichkeit.Ich hatte vor wenigen Tagen mit großer Freude gehört,dass der neue KMK-Präsident heute reden wird. Erkommt ja aus Hamburg, und wir Hamburger lieben es– fast immer –, Hamburger zu hören. Nun redet er leiderdoch nicht. Das finde ich insoweit verständlich, als einKMK-Präsident eine gewisse Unabhängigkeit wahrenmuss, weil er für 16 Länder spricht. Mich ärgert aller-dings, dass der neue KMK-Präsident am Montag und amDienstag dieser Woche über die Zeitungen groß verkün-det hat, er werde dafür sorgen, dass das Kooperations-verbot aufgehoben wird. Ich glaube, der KMK-Präsidenthat in den nächsten Monaten einiges zu tun, um die Ko-ordination zu verbessern; denn noch läuft die Koordina-tion im Bereich der KMK nicht so, wie wir uns das vor-stellen. Darauf sollte er seinen Schwerpunkt setzen, stattAnkündigungen zu machen, die er nicht einhalten kann,

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

und das sage ich als Hamburger. Ich finde es ja richtig,dass man über die Kooperation diskutiert. Aber ich erin-nere mich: 1996, als die KMK die Abiturprüfungen neudefinierte, hatte das sozialdemokratisch geführte Ham-burg noch nicht einmal die 87er-Regelung umgesetzt.Ich weiß, das ist ein bisschen Historie, Ulla Burchardt.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Richtig!)

Man muss sagen: Es ist gut, dass einige gelernt haben,wie wichtig Kooperation auf der Ebene der Länder ist,und diese Kooperation endlich entwickeln wollen.

Häufig taucht in dieser Debatte die Frage auf: Was sa-gen Sie zu dem Antrag? Wir in der Union führen, wie inallen Parteien, intensive Diskussionen über die Frage,welche Hemmnisse im Bildungsbereich wirken. Wir, dieCDU, haben als Partei nach einer sehr dezidierten, fein-teiligen Diskussion beschlossen – Kollege Kamp, bei unssind Parteitagsbeschlüsse von hoher Bedeutung –, dassdie Regelungen überprüft werden sollen und Hemmnisseabzubauen sind.

Jetzt komme ich zum Kern des Antrags. Ich sage Ih-nen ganz deutlich: Ich finde es nach all den Monaten derDiskussion enttäuschend, wenn die SPD in einem ganznormalen Antrag, der zwei Seiten umfasst – KollegeKretschmer hat darauf hingewiesen –, eine Grundge-setzänderung vorschlägt. So fordern Sie unter Punkteins, der Bund möge dauerhaft Finanzhilfen für die Bil-dung ermöglichen. Unter Punkt zwei fordern Sie, dieBildungshoheit der Länder nicht einzuschränken. Dasbedeutet nichts anderes als eine Neuregelung der Um-satzsteuerverteilung.

(Ulla Burchardt [SPD]: Nein!)

Das bedeutet nichts anderes als eine Verschiebung ein-seitiger Finanzhilfen in Richtung der Länder. Das kannman ja fordern, aber das muss man dann auch deutlichformulieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ich sage Ihnen ganz offen: Kollege Gehring hat fürdie Grünen sehr dezidiert eingefordert, diese Diskussionzu führen; das ist auch richtig so. Man muss und wird beider Frage der Kooperation möglicherweise einen Schrittweiter gehen; hier muss man auch Grundgesetzänderun-gen in Betracht ziehen. Man muss sich zumindest Ge-danken machen, wie man möglicherweise bestehendeHemmnisse abbauen kann. Ich glaube aber, dass mannach einer langen und intensiven Diskussion mit einemso einseitig formulierten Antrag nicht weiterkommt.

(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Dann machen Sie einen besseren Vorschlag!)

Im Übrigen – das sage ich als ehemaliger Landtagsab-geordneter – halte ich sehr viel davon, die Verantwor-tung der Länder und der Landtagsabgeordneten in dieserFrage – Stichworte „Kultur“ und „Bildung“ – zu stärken.Das war in der Debatte des Jahres 2006 und im Rahmender Föderalismusreform insgesamt die Ausgangssitua-tion. Es ging darum, eine klarere Zuständigkeit zu defi-nieren: Was macht der Bund, was machen die Länder?Dies geschah nicht nur, weil Mischfinanzierungen pro-blematisch sind, sondern auch deshalb, weil man klar zu-ordnen können muss, wer im Bereich von Bildung undSchule die Verantwortung hat.

Jetzt komme ich zum Kern der Frage: Wo stehen wireigentlich in Sachen Kooperation? Der Begriff „Koope-rationsverbot“ sollte etwas durchleuchtet werden. Dasklingt für den Außenstehenden so, als ob es beim ThemaBildung keine Kooperation gibt und der Bund in diesemBereich nichts tut. Herr Steinmeier verfolgt den Ansatz,zu sagen: Ich definiere die Probleme und möchte Lösun-gen finden. – Vor welchen Herausforderungen stehen wirdenn, Ulla Burchardt?

Eine Herausforderung ist die frühkindliche Bildung;da sind wir uns alle einig. Was unternimmt der Bund indiesem Bereich? Der Bund gibt für den Krippenausbau4 Milliarden Euro aus und stellt ab dem Jahr 2013700 Millionen Euro für die Betriebskosten bereit. DerBund beteiligt sich also, wenn es darum geht, die He-rausforderung der frühkindlichen Bildung zu bewälti-gen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Eine weitere Herausforderung sind Berufsorientie-rung und Kompetenzfeststellung; Kollege Schummerund Kollege Feist, dies ist in der Tat ein wichtigesThema. Wir haben das Problem, das besteht, diagnosti-ziert. Es gibt momentan zu viele Ausbildungsabbrecher.Zu viele junge Menschen wissen noch nicht, was sie inZukunft in welchem Beruf erreichen wollen. Vor diesemHintergrund stellt der Bund für das Programm „Bil-

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Marcus Weinberg (Hamburg)

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dungsketten“ 362 Millionen Euro bereit. Der Bund ko-operiert also und beteiligt sich auch hier.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ulla Burchardt[SPD]: Da wird ein neuer Dschungel geför-dert!)

Jetzt, liebe Ulla Burchardt, komme ich auf eine wei-tere Herausforderung zu sprechen, auf die des Lesens.Beim Lesen ist vielfach ein Kompetenzdefizit festzustel-len. Aus diesem Grunde hat die Bundesregierung dasProgramm „Lesestart – Drei Meilensteine für das Lesen“gestartet. Dafür werden 26 Millionen Euro zur Verfü-gung gestellt.

(Ulla Burchardt [SPD]: Alles Modellprojekte!)

Ich könnte diese Liste fortführen: von der konkretenAusgestaltung des BAföG über die verschiedenstenPakte und Pakete bis hin zum Thema Stipendien. Daranwird deutlich: Der Bund beteiligt sich, sowohl was For-schung als auch was Bildung und Bildungsintegrationbetrifft, in einem Maße wie nie zuvor.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es sollte allerdings geklärt werden, wo es noch Hemm-nisse gibt. Dann könnte nämlich noch klarer definiertwerden, an welchen Stellen eventuell Änderungen imGrundgesetz vorgenommen werden sollten. Diesem An-liegen stehen wir offen gegenüber.

Wir sollten diese Debatte etwas dezidierter führenund nicht nur sagen: Wir stellen Geld zur Verfügung,und die Bildungshoheit der Länder wird nicht einge-schränkt. – Außerdem möchte ich den Kollegen Schulzbitten, seine Ausführungen zu den Bundesländern ein-mal zu erläutern. In Ihrem Antrag schreiben Sie:

Um die Gleichbehandlung der Länder sicherzustel-len, ist dabei vorzusehen, dass diese Vereinbarun-gen von den Ländern nur einstimmig beschlossenwerden können.

Für mich ist es eine Herausforderung, das zu verstehen.Soll das heißen, man könne die Gleichbehandlung derLänder sicherstellen, wenn es einstimmige Beschlüssegibt? Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich habe nichtverstanden, was das eigentlich soll.

(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Schade! –Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das zu ver-stehen, ist auch unmöglich!)

Wir wollen auf diesem Gebiet zusammenarbeiten. Wirwollen die Gleichbehandlung aber nicht durch das Prin-zip der Einstimmigkeit erzeugen. Dieser Aspekt sollteetwas differenzierter betrachtet werden.

Was bedeutet all dies im Hinblick auf die Ergebnisseim Bildungs- und Forschungsbereich? Michael Kretschmerhat es angesprochen: In der Langzeitbetrachtung seit demJahr 2001 ist festzustellen, dass wir im Bildungsbereichdeutliche Erfolge erzielt haben. Dazu haben auch dieLänder bzw. die Verantwortlichen in den Ländern einenBeitrag geleistet, insbesondere diejenigen, die im Bil-dungsbereich aktiv Verantwortung übernommen haben.Aber – das muss man ganz deutlich sagen –: Das ist auch

das Ergebnis der neuen Politik, die seit 2005 gemachtwird. Seitdem ist Bildung endlich ein Schwerpunktthema.Das Volumen dieses Haushalts ist seit 2005 um 54 Pro-zent gestiegen. Möglicherweise hat gerade die Motiva-tion, die die Bundesregierung und die sie tragenden Frak-tionen in diesem Bereich an den Tag gelegt haben, dazugeführt, dass man nun feststellen kann, dass hier nochweiteres Geld zur Verfügung steht. Aus Zeitgründenwerde ich darauf verzichten, die einzelnen Erfolge, die er-zielt wurden, aufzulisten.

Was bleibt unter dem Strich? Wir werden diese Dis-kussion in den nächsten Monaten weiterführen. Ichglaube, man sollte in dieser Diskussion ehrlich miteinan-der umgehen. Herr Steinmeier – heute hat er übrigenszum ersten Mal eine Routine durchbrochen und an einerBildungsdebatte teilgenommen – sollte sich genau über-legen, wie diese Diskussion konkret geführt werdensollte. Dabei muss nämlich mehr herauskommen als die-ser sehr vereinfachte Antrag, in dem lediglich gefordertwird, den Ländern Geld zur Verfügung zu stellen.

(Ulla Burchardt [SPD]: Machen Sie einen bes-seren!)

Wir müssen dezidiert darüber diskutieren, auf welcherEbene wir was genau unternehmen. Ich glaube, Ihr Vor-schlag ist zu wenig.

(Ulla Burchardt [SPD]: Ablehnen ist auch zu wenig!)

Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Ulla Burchardt [SPD]: Damitwar ja gar nicht zu rechnen!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Swen

Schulz das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Swen Schulz (Spandau) (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! In allen Par-teien gibt es eine Reihe von Landespolitikern, die sehrskeptisch betrachten, worüber wir hier diskutieren. Siewollen nicht, dass der Bund in unzulässiger Weise in dieBildungspolitik der Länder eingreift. Aus Erfahrung mitmeiner eigenen Partei muss ich sagen: Ich habe wirklichVerständnis dafür, dass diese Debatte in den ParteienZeit braucht.

Es ist schon ein Stück weit auffällig, dass die Bundes-bildungsministerin Schavan inzwischen seit Jahren durchdie Lande zieht und in Interviews und bei Sonntagsredendeutlich macht, wie wichtig es doch wäre, das Koopera-tionsverbot im Grundgesetz zu überwinden. Entschei-dend ist aber, was auf dem Platz bzw. hier im DeutschenBundestag geschieht. Wir warten bis heute vergeblich aufeinen konkreten Vorschlag, auf eine konkrete Initiative.Dieses merkwürdige Verhalten zeigt sich letztendlichauch in dieser Debatte. Die BundesbildungsministerinSchavan ergreift überhaupt nicht das Wort – ich will nicht

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Swen Schulz (Spandau)

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darüber spekulieren, warum nicht, ob sie nicht will odernicht darf –, und die Rednerinnen und Redner von der Ko-alition, insbesondere von der CDU/CSU, reden wortreichum den heißen Brei herum.

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Klar und ver-ständlich!)

Am Ende stellt sich doch die Frage: Wofür sind Sie nuneigentlich? Was ist Ihr Vorschlag?

Die SPD bringt heute einen konkreten Antrag ein.Wir wollen mit einem neuen Grundgesetzartikel, mitArt. 104 c, Finanzhilfen des Bundes für Bildung ermög-lichen, und zwar in Vereinbarung mit den Ländern. Dageht es nicht einfach nur um eine Neuregelung derMehrwertsteueranteile. Wir wollen mit den Ländern Fi-nanzhilfen zielgenau für die Bildung vereinbaren. WennSie das missverstehen, Herr Kollege Weinberg, dannwerden wir Ihnen das im Ausschuss gerne noch einmalerklären.

Wir haben mit diesem Antrag eine Debatte ausgelöst,in der sich auch die CDU/CSU einmal bekennen muss.Sie muss hier Farbe bekennen. Wir wollen auch wissen,wo Bildungsministerin Schavan steht.

(Beifall bei der SPD)

Die zentrale Begründung für das Kooperationsverbotist, es gebe bessere Ergebnisse durch Wettbewerb. Nunsind wir in Deutschland beim Wettbewerbsföderalismussicherlich weltweit führend, liegen also wahrscheinlichnoch vor so föderalen Staaten wie Kanada und derSchweiz. Wenn es tatsächlich stimmte, dass der Wettbe-werb bessere Ergebnisse zeitigt, dann müssten wir auchim Bildungsbereich weltweit Spitze sein. Das sind wiraber nicht;

(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Bayern schon!)

denn in dem Wettbewerb, so wie wir ihn organisieren,haben Kommunen und ganze Bundesländer keineChance. Sie werden abgehängt. So wie wir den Wettbe-werb organisieren, ist er kontraproduktiv.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Darum brauchen wir einen Mentalitätswechsel weg vomWettbewerbs- und hin zum Kooperationsföderalismus.Wir brauchen weniger Ellenbogen und mehr Zusammen-arbeit. Das ist das Gebot der Stunde.

(Beifall bei der SPD)

Das ist nicht etwa eine neue Idee oder einfach nurTheorie. Es gibt dafür gute Beispiele, etwa in der Wis-senschaft. Stellen wir uns einmal vor, was geschähe,wenn jemand sagte, die bestehenden Kooperationsmög-lichkeiten von Bund und Ländern im Bereich der Wis-senschaft sollten gestrichen werden. Diese Person würdedoch ausgelacht und nicht ernst genommen werden.Kein Hochschulpakt mehr, keine Exzellenzinitiative,keine Initiativen für eine verbesserte Lehre – das könnenund wollen wir uns nicht vorstellen; aber genau das warder ursprüngliche Plan im Rahmen der Föderalismusre-

form. Es war die SPD-Bundestagsfraktion, die dies inletzter Sekunde verhindert hat. Das war richtig, und ichbin heute noch stolz darauf, dass wir das hinbekommenhaben.

(Beifall bei der SPD)

Kooperation ist aber nicht nur in der Wissenschaft nö-tig, sondern auch und vor allem im Bereich der vorschu-lischen Bildung und im Bereich der Schule. Hier gibt eseine ganze Menge ungelöster Probleme.

Ich will nur einen Bereich ansprechen. Wir haben un-ter Rot-Grün ein Ganztagsschulprogramm durchgesetzt.Das war übrigens ein richtiges Projekt und kein Modell-projekt wie die, die Herr Weinberg gerade angesprochenhat. Das hat wirklich etwas gebracht und einiges ange-schoben; aber da müssen wir jetzt weitermachen. Wirmüssen mehr Angebote schaffen, wir müssen eine bes-sere Unterstützung für die Schülerinnen und Schüler or-ganisieren, und wir müssen auch mehr in Personal inves-tieren. Viele Bundesländer können das aber schlicht undeinfach nicht bezahlen. Jetzt kommt noch die Schulden-bremse hinzu. Das macht das Ganze nicht besser. DieBundesländer müssen einsparen, und gleichzeitig sollensie mehr für Bildung ausgeben. Das geht nicht zusam-men. Die Schuldenbremse darf nicht zur Bildungs-bremse werden. Darum muss der Bund in die Verantwor-tung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Weil mir leider nicht mehr viel Redezeit bleibt, willich zum Abschluss insbesondere an die Adresse derCDU/CSU ein Zitat richten, um deutlich zu machen,dass die Bundesregierung hier schon einmal weiter war:

Das Bund-Länder-Verhältnis wird zu einer Lebens-frage, wenn es sich um Zuständigkeit und Verant-wortung für das Schul- und Bildungswesen oder umdas weite Gebiet der Forschung handelt. So gewißdie Bundesregierung bereit ist, die Zuständigkeitder Länder in der Kulturpolitik zu respektieren, sogewiß hat doch die Bundesregierung die Pflicht,vorausblickend die Lebensbedingungen eines mo-dernen Staates zu garantieren … Bund und Ländermüssen zusammenwirken, um eine große, gemein-same Aufgabe mit Tatkraft anzupacken. Es mußdem deutschen Volk bewußt sein, daß die Aufgabender Bildung und Forschung für unser Geschlechtden gleichen Rang besitzen wie die soziale Fragefür das 19. Jahrhundert.

Das war Ludwig Erhard: Wohlstand für alle. – NehmenSie sich daran ein Beispiel.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Martin

Neumann das Wort.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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18514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

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Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-

nau am 10. Juni 2011 – ich habe im Kalender nachge-schaut – haben wir uns in diesem Hohen Hause bereitsmit dem Thema „Bildungsföderalismus und Abschaf-fung des Kooperationsverbotes“ befasst. Wir hatten kurzzuvor – das hat Kollege Kamp bereits gesagt – ein Posi-tionspapier zu diesem Thema beschlossen, in dem wirden Willen bekunden, die Zusammenarbeit von Bundund Ländern zu stärken. Darin sind wir uns mit denFraktionen in diesem Hohen Haus einig.

Ich habe aber bereits im letzten Sommer darauf auf-merksam gemacht, dass für das Gelingen dieses Projek-tes die Länder mit ins Boot geholt werden müssen. Ohnedie entsprechende Mehrheit im Bundesrat brauchen wirhier im Parlament nichts zu beschließen; denn das würdeaus meiner Sicht die öffentliche Debatte nur verschärfen.In diesem Kontext habe ich Ihnen empfohlen, den Wegüber die Ministerpräsidenten zu beschreiten und eine Ini-tiative im Bundesrat einzubringen. Der FDP-Kultus-minister Dr. Klug aus dem Land Schleswig Holstein– das will ich an dieser Stelle hervorheben; das ist vonmeinem Kollegen auch schon dargestellt worden – isthier vorangeschritten.

(Beifall des Abg. Heiner Kamp [FDP])

Ich muss an dieser Stelle die Kollegen von der SPD kon-kret fragen: Wo bleiben die Initiativen von SPD undGrünen in der Länderkammer?

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die kommen! Keine Sorge!)

Stattdessen bekommen wir von Wowereit, Platzeck undCo. nur warme Worte serviert. Jetzt wärmen Sie Ihrenwenig kreativen Antrag erneut auf.

Es ist heute deutlich gesagt worden: Die Sozialdemo-kraten haben uns dies im Jahr 2006 unter Mitwirkungvon Kurt Beck, der an dieser Stelle eine große Rolle ge-spielt hat, eingebrockt. Jetzt wollen sich die Genossen– so ist der Eindruck – durch eine sogenannte Recycling-schleife in Form dieses Antrages die Hände wieder rein-waschen.

(Ulla Burchardt [SPD]: Das ist unter Ihren Möglichkeiten, Herr Neumann!)

Ich glaube Ihnen durchaus, Frau Burchardt, dass Sie die-sen Fehler bereuen und sich dafür möglicherweise sogarschämen. Doch was hilft diese Litanei? An seinem Han-deln wird man gemessen. Sorgen Sie doch jetzt lieberdafür – das ist meine Aufforderung –, dass sich Ihre Län-derchefs der FDP-Initiative aus Schleswig-Holstein an-schließen.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Vorausgegangen war ein Fraktionskompromissim Landtag! Das heißt, das Parlament muss vo-rausgehen! Der Bundestag ist der Ort!)

Opfern Sie nicht wie damals, also 2006, die Bildung indiesem Land dem billigen politischen Klein-Klein.

Als Wissenschaftspolitiker schmerzen mich die ver-fassungsmäßig verankerten Einschränkungen ungemein,gerade weil ich sehe, wie erfolgreich wir da sind, woBund und Länder zusammenwirken. Viele Beispiele,etwa die Exzellenzinitiative, sind dafür genannt worden,dass Bund-Länder-Kooperationen tatsächlich funktio-nieren und im internationalen Wettbewerb – das scheintmir das Gebot der Stunde zu sein – dringend benötigtwerden. Ich glaube, das zweifelt niemand an.

Ein striktes Kooperationsverbot zwischen Bund undLändern für den Hochschulbereich wäre ein Desaster ge-wesen. Ich frage mich: Was hätten wir erreichen können,wenn wir diese Lockerung des Kooperationsverbotesauch im Bereich der Schule hätten ermöglichen können?Meiner Kenntnis nach ist seit 2006 keine Großinvesti-tion im Schulbereich erfolgreich gewesen. Ich kann Ih-nen sagen: Als Hochschullehrer bin ich froh, dass wir imWissenschaftsbereich nicht komplett vom Kooperations-verbot betroffen sind. Ich sage an dieser Stelle ganzdeutlich, dass der Bund die Möglichkeit braucht, bei derinstitutionellen Finanzierung mitwirken zu dürfen.

Nun zu Ihrem Antrag. Wie schon gesagt: Die Grund-richtung Ihres Antrags stimmt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Doch ich möchte an dieser Stelle zwei wesentliche Ein-wände vorbringen.

Erstens bleibt Ihr Antrag in der Frage, wie eine finan-zielle Unterstützung des Bundes im Bildungsbereichaussehen könnte, extrem unkonkret. Sie stellen – dasmache ich Ihnen zum Vorwurf – den Ländern einenBlankoscheck aus. Das ist uns viel zu wenig. Das reichtnicht. In diesem Bereich muss eine gemeinsame Finan-zierung von Bund und Ländern gesichert werden. Daswird in Ihrem Antrag nicht deutlich.

Ihr Vorschlag birgt die Gefahr, dass sich die Länder ingleichem Maße aus der Finanzierung der Bildungsein-richtungen zurückziehen. Die Beispiele Hamburg, Thü-ringen und Brandenburg sind genannt worden.

(Ulla Burchardt [SPD]: Wer regiert eigentlich in Thüringen?)

Für die Bildung ist nichts gewonnen, wenn der Bundbluten muss und die Länder sich zurückziehen. Als Bran-denburger kenne ich den Reflex: Die Bundesmittel fürdie Hochschulen werden gerne eingestrichen, dann wirdgetrickst, geschüttelt und schöngefärbt, bis der jeweiligeEigenanteil entsprechend heruntergeschraubt ist. AmEnde ist die Grundfinanzierung der Hochschulen totalausgehöhlt.

Mein zweiter Einwand bewegt mich deutlich mehr.Ich frage mich, warum Sie Ihren Antrag nur im Deut-schen Bundestag vorlegen, in dem Sie keine Mehrheithaben.

(Ulla Burchardt [SPD]: Er kommt auch noch im Bundesrat!)

Warum gibt es keine gleichgeartete SPD-Initiative zu derGrundgesetzänderung im Bundesrat?

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Dr. Martin Neumann (Lausitz)

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(Beifall des Abg. Heiner Kamp [FDP] –Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das ist einegute Frage!)

Ich bin gespannt, wie die A-Länder in der Bundesratssit-zung am 10. Februar mit der Initiative aus Schleswig-Holstein umgehen werden.

(Dagmar Ziegler [SPD]: Wir sind gespannt,wie Sie mit unserem Antrag umgehen werden! –Ulla Burchardt [SPD]: Wie geht Herr Spaenledenn damit um?)

An diesem Tag kommt es zum Schwur. An diesem Tagwerden wir sehen, wie ernst es die SPD meint.

Ich komme zum Schluss. Ich bin skeptisch, aber ichlasse mich an dieser Stelle gerne eines Besseren beleh-ren.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Ulla Burchardt [SPD]: Siesitzen alle im Glashaus!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Grütters für

die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Monika Grütters (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Herr Kollege Steinmeier, ja, es stimmt: Wir führen häu-fig Bildungsdebatten; denn wir sind uns in der Tat einig,dass Bildung das entscheidende Thema unserer gesell-schaftlichen Entwicklung ist. Die letzte Debatte – dashat Herr Neumann richtig gesagt – war am 10. Juni. Üb-rigens tobte damals gleichzeitig, Frau Hein, eine Straßeweiter eine große Demo gegen die rot-rote Bildungspoli-tik des Landes Berlin.

Herr Steinmeier, Sie haben aber auch damit recht: DieMenschen sind nach wie vor unglücklich mit der Situa-tion. Das ist kein Wunder. Richtig ist auch: Aus indivi-dueller Sicht ist Bildung die unverzichtbare Vorausset-zung für gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestim-mtes Leben. Aus gesellschaftlicher Perspektive ist Bil-dung der Schlüssel, um den Wohlstand eines Landes zuerhalten. Gut ausgebildete und kreative Köpfe sind ge-rade für uns der Rohstoff in einer global immer weiterzusammenwachsenden Welt. Ich finde auch – HerrSteinmeier, Sie haben recht –: Die Länder haben nichtimmer noch die gleichen Probleme wie früher; ihre Pro-bleme, die Bildungsaufgaben zuverlässig zu erfüllen,nehmen vielmehr zu.

Wenn wir also heute aufgrund Ihres Antrags über ko-operativen Bildungsföderalismus reden – vielleichtsollte ich lieber gleich sagen, dass ich den Titel Ihres An-trags anders formuliert hätte, nämlich „Bund-Länder-Fi-nanzierungsfragen“ –, dann sollten wir, finde ich, nichtnur beiläufig anerkennen, dass viele diese Kooperatio-nen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich wunderbarfunktionieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Die Erfolgsmeldungen der letzten Jahre mit neuen Re-korden bei den Studienanfängerzahlen und der Gesamt-studierendenzahl wären ohne die Kooperationen, die derBund mit den Ländern ausdrücklich vereinbart hat –Hochschulpakt, Exzellenzinitiative, Spitzencluster undQualitätspakt Lehre –, so nicht denkbar gewesen. Ichfinde, das sollten wir nicht nur beiläufig erwähnen. HerrGehring, Sie haben recht: Das sind Umgehungsstraßen,mit denen die Enge mancher föderalen Zuständigkeitelegant umschifft wird. Aber sie funktionieren.

(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Nein! Sie funktionieren nicht!)

– Doch, sie funktionieren ja wohl; sonst hätten wir dieErfolge nicht.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Das Bildungspaket ist ein Bürokratiemonster! –Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Die Bildungsgutscheine funktionieren dochnicht!)

Ich bin mir übrigens auch sicher – darin sind wir unseinig; insofern müssen wir keineswegs um den heißenBrei herumreden, Frau Burchardt –: Wenn mehr Bil-dungspolitiker an diesen Verfassungsformulierungenmitgewirkt hätten, dann wäre meines Erachtens ein et-was anderer Text herausgekommen als der, den die Mi-nisterpräsidenten verfasst haben.

(Ulla Burchardt [SPD]: Legen Sie doch mal ei-nen Gegenvorschlag vor! Dann reden wir wei-ter!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Frau Kollegin Grütters, entschuldigen Sie die Unter-

brechung. Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-gen Rossmann?

Monika Grütters (CDU/CSU):Ja.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte schön, Herr Rossmann.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):Frau Kollegin Grütters, da wir in vielen Punkten über-

einstimmen und es positiv ist, dass Sie den Prozessge-danken befürworten, sei daran erinnert, dass wir nachdem Unglück der Föderalismusreform I das Grundgesetzbereits ändern mussten, um die große gemeinsame Ini-tiative im Rahmen des Konjunkturpakets für die Bildungüberhaupt erst tragfähig zu machen, wohl wissend, dasses sich hierbei um eine Krückenkonstruktion handelt.Ich frage Sie daher: Können wir nicht zusammenkom-men, indem wir alles, was gut ist, anerkennen, aber auchdie Tatsache, dass ein Grundgesetz auf Krücken nichtgut funktioniert und dass stattdessen klare Spielräumefür Vereinbarungen zwischen dem Bund und den souve-ränen Ländern ausgestaltet werden sollten? Können Sie

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18516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Dr. Ernst Dieter Rossmann

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uns einen Weg zeigen, wie wir zur Verankerung einesentsprechenden Grundsatzes im Grundgesetz kommenkönnen?

Monika Grütters (CDU/CSU):Ich stimme Ihnen, Herr Kollege Rossmann, in der Be-

wertung durchaus zu, obwohl ich wahrscheinlich dieFormulierung „Krücke“ nicht verwendet hätte. Ich ge-höre zu denjenigen, die immer offen zugegeben haben,dass wir allesamt – Länder und Bund – mit der derzeiti-gen Situation unzufrieden sind. Ich glaube aber, dass einAntrag von einer Fraktion im Bundestag, ohne dass sievorher versucht, Gemeinsamkeit mit den Ländern herzu-stellen – Sie regieren in vielen Ländern mit –, natürlichscheitern muss. Wenn, dann funktioniert es nur – geradewenn es um eine Verfassungsänderung geht – zusammenmit Bund und Ländern. Wir arbeiten daran, aber es istschwierig. Ich glaube nur, dass es, wenn nur eine Frak-tion – zumal aus der Opposition – einen Antrag ein-bringt, obwohl wir zuvor so lange auch über das takti-sche Vorgehen geredet haben, lieber Swen Schulz, nichtfunktionieren kann.

(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ihr kommt doch nicht aus dem Knick!)

– Doch! Darf ich weitermachen?

Jedenfalls ist in vielen Bundesländern – momentan istSchleswig-Holstein in der Diskussion; über die Motivemöchte ich gar nicht spekulieren – die Bereitschaft zumehr föderaler Kooperation gegeben. Angesichts desStresses, den Familien – Eltern und Kinder – und Lehrermit einer Bildungslandschaft aus 80 Schultypen in 16Ländern mit 22 Ministern haben, ist es hohe Zeit für eineneue Kooperationskultur.

Herr Steinmeier, es bleibt die Frage, wie wir das Zielerreichen. Mit gemeinsamem Willen und gesundemPragmatismus – den legen wir im Wissenschaftsbereichauch an den Tag – lassen sich die ersten Schritte des We-ges gehen. Es soll nicht bei einer Krücke bleiben. Ich binaber reichlich verwundert, dass es in Ihrem Antrag heißt,ein neuer Artikel solle in das Grundgesetz eingefügtwerden, „der auf Grundlage von Vereinbarungen zwi-schen Bund und Ländern dauerhafte Finanzhilfen desBundes für Bildung ermöglicht, ohne die Bildungshoheitder Länder einzuschränken“. Um eine Ungleichbehand-lung der Länder zu vermeiden, sollen derartige Verein-barungen von den Ländern auch noch einstimmig be-schlossen werden. Das finde ich geradezu verwegen. Alsselbstbewusste Abgeordnete des Deutschen Bundestagesfällt es mir schwer, anzunehmen, dass Sie ernsthaft mei-nen, der Bundestag solle Gelder geben, ohne über ihreVerwendung irgendetwas zu sagen.

(Zuruf von der SPD)

– Das steht nicht in Ihrem Antrag. Sie können hier hun-dertmal Nein sagen. Aber warum haben Sie es nicht inden Antrag geschrieben?

Ich wundere mich darüber, wo die Verantwortung ge-genüber dem Steuerzahler bleibt. Wie gut oder – bessergesagt – wie schlecht das Prinzip der Einstimmigkeit

funktioniert, beobachten wir seit Jahren mit fröhlicherFassungslosigkeit bei der KMK.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich kann nicht nachvollziehen, wie Sie den Gestaltungs-anspruch des Bundestages komplett außer Acht lassenkönnen. Beispielsweise wäre es möglich, dass die Län-der sagen: „Das Geld nehmen wir gern“, und es dann indie Pensionskassen tun. – Wir wollen das ausdrücklichnicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir möchten auch nicht, dass es letztlich nur um eine Er-höhung des Länderfinanzausgleichs geht. Dafür brauchtenwir, ehrlich gesagt, keine Verfassungsänderung; denndas ist auch so möglich. Das sage ich Ihnen, obwohl ichaus dem armen Land Berlin komme. Es wäre schön,wenn es in Ihrem Antrag auch um inhaltliche Bildungs-fragen gegangen wäre. Aber eine Vernebelung der altenLänderforderung nach einer stärkeren Beteiligung anden Umsatzsteuereinnahmen brauchen wir nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zu solchen Unterstellungen komme ich, wenn ich IhrenAntrag lese.

Uns geht es um gemeinsame Standards, eine exzel-lente Aus- und Weiterbildung sowie die Schaffung vonVerlässlichkeit und Vergleichbarkeit. Wie wir alle wis-sen, ist es schwierig genug, ein Zentralabitur durchzuset-zen, das dazu führen soll, dass Prüfungen in einem Fachan allen Schulen Deutschlands zur selben Uhrzeit statt-finden.

(Ulla Burchardt [SPD]: Das macht doch auch keinen Sinn!)

– Ja, aber deshalb funktioniert so etwas auch nicht. –Dass die eingesetzten Mittel – auch die des Bundes –besser und effizienter eingesetzt werden müssen, habenwir am Bildungspaket gesehen. Wenn das über die Schu-len gegangen wäre – dafür hätten wir die Verfassung än-dern müssen; damit haben Sie recht –, wäre es viel bes-ser gelaufen.

Ich komme zum Schluss. Darüber, ob es letztlich ei-ner Grundgesetzänderung bedarf oder nicht – ich hättemich um eine entsprechende Aussage nicht gedrückt,Herr Rossmann –, müssen wir mit den Ländern beraten.Gegen diese geht es nicht, mit knappen Mehrheiten gehtes auch nicht. Vor allen Dingen muss es aber – das findeich in Ihrem Antrag falsch – nach bildungs- und nichtnach finanzpolitischen Erwägungen gehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Im Wissenschaftsbereich gibt es eine viel größere Of-fenheit, weil wir schon so gut kooperieren. Deshalbglaube ich: Über systematische Hilfen des Bundes für dieWissenschaft – Sie haben gesagt, die Politik hinsichtlichder Charité sei willkürlich; ich glaube, es ist ein Anfang,um zu einer systematischen Förderung zu kommen –könnte man den Ländern finanzielle Freiräume schaffen,damit sie ihre eigene Schulpolitik besser finanzieren kön-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18517

Monika Grütters

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nen. Über solche strukturellen Änderungen gerade in derWissenschaft berät der Wissenschaftsrat zurzeit. Wartenwir doch auf seine Empfehlungen. Das jedenfalls wäremeine Empfehlung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Swen Schulz [Spandau][SPD]: Warten! Warten! Warten!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

nun der Kollege Tankred Schipanski von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Tankred Schipanski (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen

Sie mich als letzter Redner in dieser Debatte die Ge-fechtslage ordnen und einige Dinge richtigstellen. Insbe-sondere müssen die pauschalen Behauptungen von derOpposition einer differenzierten inhaltlichen Betrach-tung zugeführt werden; denn Inklusion und Gemein-schaftsschulen, die hier von der Opposition angespro-chen wurden, haben mit dem heutigen Thema nichts zutun.

(Zuruf des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Es geht um Kooperation. Die Meinungsführerschaftin der Debatte über einen modernen und kooperativenFöderalismus in der Bildungsrepublik Deutschland hatdie Union. Wir haben auch keinen gesellschaftlichenKonsens, liebe Frau Burchardt. Sie sollten die Zuhörerhier nicht blenden. Unsere Ministerin Annette Schavanhat erstmals im März 2010 einen konkreten Vorschlagunterbreitet, wie sie sich einen neuen, kooperativen Fö-deralismus vorstellen könnte. Diesen Impuls haben wirin Debatten in diesem Hohen Hause im März 2010, imDezember 2010 und im Juni 2011 aufgegriffen. DieUnionsfraktion hat sich in den Jahren 2010 und 2011 in-tensiv mit der Weiterentwicklung unseres Bildungsföde-ralismus beschäftigt. Meine Fraktionskollegin MonikaGrütters und die Ministerin haben in jeder Rede und injedem Interview von Kooperation gesprochen und dasWort „Kooperationskultur“ geprägt. Wir haben entspre-chende Beschlüsse auf unserem Leipziger Parteitag imletzten Herbst gefasst.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dagmar Ziegler [SPD]: Und hier?)

Was hat die Opposition gemacht? Die Opposition hatmit fleißigen Anträgen diese Debatte mit Sicherheit be-flügelt, doch haben die Oppositionsparteien ihre Forde-rungen nie zu Ende gedacht. Herr Schulz, Ihr heutigerBeitrag, in dem Sie Kooperation gegen Wettbewerb aus-spielen und am Ende noch Ludwig Erhard zitieren, zeigtdas ganz besonders. Er zeigt, dass Sie den kooperativenFöderalismus nicht verstanden haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Swen Schulz [Spandau][SPD]: Was haben Sie gegen Ludwig Erhard?)

Die SPD wählte noch im Juni letzten Jahres den Wegüber eine Änderung des Art. 91 b Grundgesetz, heuteprobiert sie es mit einem Antrag, mit dem Art. 104 bGrundgesetz ergänzt werden soll. Wir müssen deutlichzwischen dem Bildungs- und dem Forschungsbereichunterscheiden. Unsere Vorschläge für den Bildungsbe-reich haben Kollege Marcus Weinberg und für den Wis-senschaftsbereich Kollegin Monika Grütters sehr gutdargestellt. Wir werden diese Parteitagsbeschlüsse kon-sequent umsetzen. Darüber gibt es einen innerpartei-lichen Konsens, der zwischen Bildung und Wissenschaftdifferenziert. Liebe Frau Burchardt, das hat auch derDFG-Präsident, Herr Kleiner, in seiner Neujahrsanspra-che nicht kritisiert.

Die Redner der Koalition, insbesondere MichaelKretschmer, haben aber auch deutlich gemacht, dass wirden kooperativen Föderalismus gerade nicht auf Finanz-ströme oder Mehrwertsteuerpunkte reduzieren können.Das sind primär Fragen des Länderfinanzausgleichs. Daswerden auch die Kollegen aus Schleswig-Holstein ausdieser Debatte mitnehmen können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Kooperation heißt nicht, dass sich die Länder aus der Fi-nanzverantwortung zurückziehen und der Bund ein-springt. Kooperation heißt auch nicht, dass schlecht wirt-schaftende Bundesländer in frischem Geld des Bundesbaden können.

(Beifall des Abg. Heiner Kamp [FDP])

Der Forschungsbereich steht in der Wahrnehmung derBevölkerung aber nicht im Mittelpunkt. Es ist die zuneh-mende Zersplitterung der Schulbildung, die in der Bevöl-kerung und auch bei uns auf Unverständnis stößt. In die-ser Frage führt uns der hier vorliegende SPD-Antragnicht weiter. Im Bildungsbereich wollen wir fraktions-übergreifend Transparenz, Vergleichbarkeit der Ab-schlüsse und Bildungsmindeststandards – MinisterSpaenle hat es angesprochen –, und das erwarten dieLeute auch von uns. Daher brauchen wir eine Koordinie-rung der Bildungszusammenarbeit der Länder. Diese Ko-ordinierung ist der KMK mit ihren gegenwärtigen Instru-menten leider nicht gelungen.

Daher greifen jetzt verschiedene Länderminister –Herr Minister Spaenle hat es in verschiedenen Medien-berichten dargestellt – einen alten Vorschlag auf, näm-lich über einen Staatsvertrag Aufgabentools und Min-deststandards verbindlich zu regeln. Das Mittel desStaatsvertrags hat bereits im Rundfunkbereich und imGlücksspielrecht durchaus Erfolg gehabt. Nun kommt esauf die SPD-Länder an, dass sie diesen Vorschlag unter-stützen und mitmachen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dagmar Ziegler [SPD]: Was ist denn Ihr Vorschlag?)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ministerpräsi-dentin des Saarlandes, Frau Annegret Kramp-Karrenbauer, hat richtig festgestellt: Verantwortung

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18518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Tankred Schipanski

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heißt Kooperation der Länder untereinander und mitdem Bund. – Das ist zugleich dem Bundesstaatsprinzipunserer Verfassung zu entnehmen. Das Grundgesetzselbst mahnt uns zur Kooperation und schließt diesenicht aus. Gelingt den Ländern die Koordination über ei-nen Staatsvertrag nicht, ist der Bund als Koordinator ge-fordert, und wir werden dann über weitere Instrumentezu entscheiden haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind im Zielnahe beieinander, aber wir sind über den richtigen Weguneins. Der Weg, den uns die SPD heute aufzeigt, ist derfalsche.

(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Welcher ist denn Ihrer?)

Denken Sie an das Bildungspaket für bedürftige Kinder,bei dem die Genossen der SPD im Vermittlungsaus-schuss verhindert haben, dass das Geld direkt an dieSchulen fließen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Denken Sie an die Weigerung der SPD, das Deutsch-landstipendium einzuführen, weil sie sich weigert, Leis-tung zu fördern. Denken Sie auch an die irrwitzige Ideeder SPD, eine Bildungsabgabe einzuführen, um falscheSPD-Schulpolitik zu verstetigen und die Bürger nochstärker zu belasten.

Meine Damen und Herren, die christlich-liberale Ko-alition steht für einen modernen Föderalismus, für eineKooperationskultur. Wir stehen zum Prinzip von Verant-wortung und Bundestreue. Kooperation bedeutet inhalt-liche Verbesserung und darf nicht auf Finanzströme oderFinanzierungsfragen reduziert werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dagmar Ziegler [SPD]: Das war ganz schlecht!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Nun folgt noch eine Kurzintervention des Kollegen

Rossmann von der SPD-Fraktion. – Bitte sehr, HerrRossmann.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):Herr Schipanski, Sie haben von einer Sensation ge-

sprochen. Das muss jetzt aufgeklärt werden.

Von Ihnen war eben in Bezug auf das Teilhabepaketzu hören, dass es seitens des Bundes die Möglichkeit ge-geben hätte, Gelder vom Bund direkt an die Schulen zuleiten, um sie stark zu machen und dort Infrastruktur auf-zubauen, und dass die SPD dies angeblich verhinderthätte.

An der Stelle möchte ich nachfragen: Was meinen Sieeigentlich, wenn Sie sagen, dass zur Stärkung der schuli-schen Leistungsfähigkeit im Rahmen des TeilhabepaketsGeld direkt von Bund und Ländern gemeinsam an dieSchulen hätte gegeben werden können und dass wir diesverhindert hätten? Tatsache ist vielmehr: Dass es uns ineiner Schlussrunde gemeinsam gelungen ist, für Schul-sozialarbeit zusätzliches Geld zu mobilisieren, freut uns

alle. Das ist auch nicht verhindert worden, weil es uns ja,wie gerade gesagt, gemeinsam gelungen ist.

Umso verwirrter sind wir über Ihre Einlassungen.Was meinten Sie eigentlich, und wie erklären Sie IhreAussage, dass es angeblich die SPD verhindert hätte,dass der Bund jenseits des Grundgesetzes direkt Unter-stützung an die Schulen gegeben hätte? Das hätten wiruns sicherlich alle gewünscht. Frau von der Leyen hat essich gewünscht, Frau Schavan hat es sich gewünscht,alle Wohlmeinenden, die starke Schulen in Deutschlandwollten, haben es sich gewünscht. Nur, es ging leidernicht, weil es eben das Kooperationsverbot gab und weilwir mit einer Grundgesetzänderung, die diesen Spiel-raum für alle Vernünftigen hätte eröffnen können, nochnicht so weit waren. – Deshalb: Erklären Sie es uns nocheinmal.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Schipanski zur Erwiderung.

Tankred Schipanski (CDU/CSU):Herr Kollege Rossmann, nun sind Sie heute auch

noch zu einem Debattenbeitrag gekommen. Aber ichwill Ihnen das gerne beantworten.

In der Tat war es unser Plan, die Gelder über die Job-center zu verteilen und sie dann gegebenenfalls an dieSchulen zu geben. Das hat die SPD im Vermittlungsaus-schuss nicht mitgetragen.

(Dagmar Ziegler [SPD]: Sie sind ein Unwis-sender!)

Heute können Sie sich anschauen, wie die Kommunendarauf reagieren. Wir mussten den Umweg über dieKommunen nehmen, die das Geld auskehren. Für dieKommunen ist es nicht einfach, dies alles zu organisie-ren.

(Ulla Burchardt [SPD]: Können Sie den Kolle-gen einmal aufklären, wie das wirklich gewe-sen ist? Das ist doch peinlich für Sie!)

Der ursprüngliche Vorschlag unserer Koalition, umdieses Bildungs- und Teilhabepaket auszukehren, wärewesentlich effektiver gewesen als das, was am Ende imVermittlungsausschuss wegen Blockade der SPD heraus-gekommen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/8455 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vor-schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.

Die Fraktionen haben sich über Änderungen im Ab-lauf der heutigen Tagesordnung verständigt. Der Tages-ordnungspunkt 28 c und f soll von der heutigen Tages-ordnung abgesetzt werden. Außerdem sollen dieTagesordnungspunkte 11 und 14 getauscht werden. Gibt

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18519

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

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es Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Das ist dann sobeschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 a, b, d, e, g so-wie h auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zurÄnderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes

– Drucksache 17/8364 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-ordnung des Energieverbrauchskennzeich-nungsrechts

– Drucksache 17/8427 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten AnetteKramme, Ottmar Schreiner, Josip Juratovic, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Erosion der Tarifvertragssysteme stoppen –Sicherung der Allgemeinverbindlichkeitsrege-lung von Tarifverträgen

– Drucksache 17/8459 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaLötzer, Dorothée Menzner, Eva Bulling-Schröter,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

Die Energiewende braucht Energieeffizienz

– Drucksache 17/8457 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

g) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung(18. Ausschuss) gem. § 56 a GO-BT

Technikfolgenabschätzung (TA)

Fortpflanzungsmedizin – Rahmenbedingun-gen, wissenschaftlich-technische Entwicklun-gen und Folgen

– Drucksache 17/3759 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

h) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung(18. Ausschuss) gem. § 56 a GO-BT

Technikfolgenabschätzung (TA)

Pharmakologische Interventionen zur Leis-tungssteigerung als gesellschaftliche Heraus-forderung

– Drucksache 17/7915 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 a bis j auf. Eshandelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 29 a:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-wurfs eines Zwanzigsten Gesetzes zur Ände-rung des Bundeswahlgesetzes

– Drucksache 17/8350 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 17/8483 –

Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelGabriele FograscherDr. Stefan RuppertHalina WawzyniakWolfgang Wieland

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/8483, den Gesetzent-wurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Druck-sache 17/8350 in der Ausschussfassung anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand-zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Bei Ent-haltung der Fraktion Die Linke ist der Gesetzentwurf inzweiter Beratung ansonsten einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –

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18520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

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Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichemStimmenverhältnis angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Gesetzes über die elektro-magnetische Verträglichkeit von Betriebsmit-teln, des Gesetzes über Funkanlagen und Tele-kommunikationsendeinrichtungen sowie desLuftverkehrsgesetzes

– Drucksache 17/8234 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-schuss)

– Drucksache 17/8468 –

Berichterstattung:Abgeordnete Claudia Bögel

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8468, denGesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8234anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltungder Linken angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit gleichem Stimmenverhältnis wie zuvor angenom-men.

Tagesordnungspunkt 29 c:

Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Erfahrungsbericht zum Erneuerbare-Ener-gien-Wärmegesetz unverzüglich vorlegen

– Drucksache 17/8458 –

Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-tionsfraktionen abgelehnt.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses, Tagesordnungspunkt 29 d bis j.

Tagesordnungspunkt 29 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 374 zu Petitionen

– Drucksache 17/8365 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 374 ist einstimmig ange-nommen.

Tagesordnungspunkt 29 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 375 zu Petitionen

– Drucksache 17/8366 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Sammelübersicht 375 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegendie Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen an-genommen.

Tagesordnungspunkt 29 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 376 zu Petitionen– Drucksache 17/8367 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 376 ist einstimmig angenom-men.

Tagesordnungspunkt 29 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 377 zu Petitionen

– Drucksache 17/8368 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –Sammelübersicht 377 ist bei Gegenstimmen der FraktionDie Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen an-genommen.

Tagesordnungspunkt 29 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 378 zu Petitionen– Drucksache 17/8369 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Sammelübersicht 378 ist bei Gegenstimmender SPD-Fraktion mit den Stimmen aller übrigen Frak-tionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)Sammelübersicht 379 zu Petitionen– Drucksache 17/8370 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 379 ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen.

Tagesordnungspunkt 29 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 380 zu Petitionen

– Drucksache 17/8371 –

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18521

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

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Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Sammelübersicht 380 ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-men der Oppositionsfraktionen.

Jetzt rufe ich Zusatzpunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE

Zweifelhafte Überwachung von 27 MdB derFraktion DIE LINKE durch den Verfassungs-schutz

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Jan Korte für die antragstellende Frak-tion Die Linke das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Jan Korte (DIE LINKE):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich bin 1977 in Osnabrück, Niedersachsen,geboren worden, und beim Fall der Mauer war ich zwölfJahre alt. Niemals hätte ich mir erträumt, vom Inlandsge-heimdienst der Bundesrepublik Deutschland beobachtetund überwacht zu werden.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Es gibt Schlim-meres!)

Dass Akten über mich und meine Freunde einmal ge-sammelt werden würden, das wäre für mich schier un-glaublich gewesen, und ist es heute erst recht.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

2009 wurden ich und viele andere der Linken in Sach-sen-Anhalt – das liegt bekanntermaßen in Ostdeutsch-land – direkt in den Deutschen Bundestag gewählt. Jetztfragen sich die Wählerinnen und Wähler zu Recht, ob sieeigentlich noch unbefangen und vertraulich mit ihrenAbgeordneten reden können. Damit zerstören Sie Ver-trauen in die Politik vor Ort. Das ist wirklich bodenlos.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-ChristianStröbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dasstimmt!)

Das Kernproblem, um das es aber eigentlich geht, istdie Tatsache – denken Sie doch einmal darüber nach –,dass ein Geheimdienst parteipolitisch benutzt wird, umeine Oppositionsfraktion zu beobachten. Das ist schlichtantidemokratisch.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist Un-sinn!)

Die Linke setzt auf die Kraft der Argumente gegenKrieg, Sozialabbau und einen völlig enthemmten Fi-nanzkapitalismus. Das ist durch und durch demokratischund angemessen in diesen Zeiten.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will zwei Anmerkungen machen. Die erste richtetsich an den Vorsitzenden der SPD, Sigmar Gabriel; viel-leicht schaut er gerade zu. Wenn Sie ausgerechnet in die-ser Woche und angesichts dieser Situation Rot-Rot mitgroßem Tamtam ausschließen, dann bedeutet das nichtnur, dass Sie auf einen Politikwechsel verzichten, weilSie weiter bis in alle Ewigkeit als Juniorpartner mit derCDU koalieren.

(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Es bedeutet auch, dass Sie sich damit leider zum Werk-zeug des Verfassungsschutzes und der CSU machen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die zweite Anmerkung richtet sich an die CSU, weilSie bei dieser Debatte besonders engagiert und geiferndauftreten. Ausgerechnet von der CSU, die in der Vergan-genheit durch ihre Kumpanei mit dem Pinochet-Regimein Chile und dem südafrikanischen Apartheidregime auf-gefallen ist, brauchen wir keine Nachhilfe!

(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von derCDU/CSU: Oh! – Stefan Müller [Erlangen][CDU/CSU]: Lächerlich!)

Sie sollten bei diesem Thema in Demut schweigen.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das hat ja einenUlbricht-Bart! – Dr. Martin Lindner [Berlin][FDP]: Ihr sitzt ja bei dem Castro immer nochauf dem Schoß!)

Ich fasse zusammen: Erstens. Die Überwachung derOpposition – gleich welcher Opposition – durch einenGeheimdienst verstößt gegen die Grundidee des demo-kratischen Rechtsstaates und verhindert Chancengleich-heit im politischen Wettbewerb.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Nicht Gesetze der Linken, sondern vor al-lem Ihre Gesetze wurden in den letzten Jahren mehrfachvom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrigbeanstandet. Die Linke hat keinem einzigen dieser Ge-setze zugestimmt.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich weiß nicht, inwieweit es bei Ihnen angekommenist: Seit 1990 gibt es die DDR nicht mehr. Das ist für IhrWeltbild, das nur aus Schwarz-Weiß besteht, offenbarein Problem. Der Kalte Krieg ist dementsprechend seitüber 20 Jahren vorbei. Ihre Kalte-Krieg-Rhetorik, dieSie an den Tag legen, ist ohne eine historische Grund-lage, und sie ist intellektuell erbärmlich. Auch das musshier gesagt werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Antikommunismus war in der Tat schon immerdie Grundtorheit unserer Epoche, wie es Thomas Mannzu Recht gesagt hat. Aber unter Adenauer war es zu-mindest noch rhetorisch unterhaltsam. Auch davon istbei Ihnen nichts übrig geblieben. Es ist intellektuellschlecht, und es ist rhetorisch schlecht.

(Beifall bei der LINKEN)

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18522 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Jan Korte

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Zum Schluss. Die Linke, ihre Wählerinnen und Wäh-ler, ihre Sympathisantinnen und Sympathisanten werdensich nicht einschüchtern lassen durch Ihre politische Ge-heimdienstbehörde, die Sie gegen uns in Stellung ge-bracht haben. Wir werden uns – um das klar zu sagen –auch nicht auseinanderdividieren lassen. Keiner der 27gehört auf eine solche Liste – kein Einziger.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir werden die Demokratie und den Sozialstaat wei-ter verteidigen,

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist jalächerlich!)

den Sie – das sage ich Ihnen auch – abreißen und be-schädigen. Das werden wir weiterhin tun. Wir werdenim Übrigen weiter unbeirrbar für eine Gesellschaft derFreien und Gleichen, für die Idee des demokratischenSozialismus eintreten. Da können Sie ganz sicher sein.

(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Vorwärts Genossen!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen mitteilen,

dass Frau Bundesministerin Leutheusser-Schnarrenberger,die zu diesem Thema sprechen wollte, zu ihrem eigenenBedauern wegen Verzögerungen im Flugverkehr nichtrechtzeitig hier sein kann. Dies wurde mir eben mitgeteilt.

Das Wort hat jetzt der Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter Friedrich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-nern:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Debatte, die in den letzten Tagen geführtwurde, überrascht. Sie überrascht deswegen, weil derSachverhalt, der dieser Debatte zugrunde liegt, bereitsseit vielen Jahren existiert. Seit 1995 wird die PDS undihre Nachfolgepartei Die Linke vom Bundesverfas-sungsschutz beobachtet. Seit vielen Jahren ist auch be-kannt, dass unter den Beobachteten Abgeordnete sind.Einige Abgeordnete haben versucht, gerichtlich dagegenvorzugehen. Sie haben aber vor Gericht Niederlagen er-litten. Zuletzt gab es eine sehr breit diskutierte Entschei-dung des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juli 2010.

Die Rechtsgrundlage für die Arbeit des Bundesver-fassungsschutzes hat dieses Hohe Haus in Form einesGesetzes verabschiedet. Dieses Gesetz gibt dem Verfas-sungsschutz den Auftrag,

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht diesen Auftrag!)

Informationen über Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung in diesem Lande zu sam-meln und auszuwerten. Das tut der Verfassungsschutz.

(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Was ist mit der Deutschen Bank?)

Auftrag dieses Nachrichtendienstes ist es auch, dieBevölkerung und die Wählerinnen und Wähler darüberzu informieren, was sich in extremistischen Parteien undOrganisationen tut. Er soll das transparent machen, wasgegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung ge-richtet ist. Ich mache, ebenso wie meine Vorgänger, vondem Recht und der Möglichkeit Gebrauch, den Verfas-sungsschutzbericht der Öffentlichkeit vorzustellen, indem alles genau nachgelesen werden kann.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Die Abgeordneten stehen da nichtdrin!)

Es ist auch dringend notwendig, dass man diese Transpa-renz in einer Demokratie herstellt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Was ist die Voraussetzung für die Beobachtung durchden Verfassungsschutz? Voraussetzung ist, dass es An-haltspunkte gibt, dass eine Organisation gegen die frei-heitlich-demokratische Grundordnung vorgeht.

Ich darf Ihnen – Herr Präsident, wenn Sie gestatten –aus dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münstervom 13. Februar 2009, 16. Senat, zitieren:

Es liegen tatsächliche Anhaltspunkte vor, dass DIELINKE jedenfalls in Bezug auf bedeutende Kräftein der Partei darauf gerichtet ist, zentrale Verfas-sungswerte wie die im Grundgesetz konkretisiertenMenschenrechte, das Recht auf Bildung und Aus-übung einer parlamentarischen Opposition, die Ab-lösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlich-keit gegenüber der Volksvertretung sowie das Rechtauf allgemeine und gleiche Wahlen zu beseitigenoder außer Kraft zu setzen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich! – Zu-ruf von der FDP: Hört! Hört! So ist es! – Wi-derspruch bei der LINKEN)

Weiterhin kommt das OVG Münster bei seiner Entschei-dung zu dem Schluss, dass deshalb eine weitere Aufklä-rung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz erfor-derlich erscheine.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will das ein bisschen näher erläutern. Erstens: Esgibt Anhaltspunkte – in vielen Broschüren, programma-tischen Aussagen der Linken lässt sich das nachlesen –,dass es der Linken, jedenfalls Teilen davon, um die Er-richtung der Diktatur des Proletariats marxistisch-leni-nistischer Prägung

(Lachen bei der LINKEN)

und um die Errichtung eines kommunistischen Systemsgeht, das sichtbar und erkennbar mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht in Einklang zubringen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zweitens: Weiten Teilen dieser Partei fehlt eine klareAbgrenzung zur Gewalt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18523

Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich

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Ich darf Frau Sahra Wagenknecht – zu entnehmen denVerfassungsschutzinformationen Bayern, erstes Halbjahr2009 – zitieren:

Eine vielfältige Protestkultur gegen Neoliberalis-mus und Kapitalismus finde ich sehr unterstützens-wert.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Dazu gehören für mich natürlich auch linke auto-nome Gruppen.

Meine Damen und Herren, ich werde als Innenminis-ter sehr emotional, wenn ich höre, dass FrauWagenknecht linke autonome Gruppen unterstützens-wert findet, und wenn ich zugleich die Bilder vor Augenhabe, die zeigen, wie diese Chaoten auf Polizisten ein-prügeln, bei friedlichen Demonstrationen die Leute auf-hetzen und aggressiv Stimmung machen.

(Zurufe von der LINKEN)

Das ist unerträglich und zeigt, dass sich die Linke in Tei-len nicht von der Gewalt als Mittel der politischen Aus-einandersetzung verabschiedet hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Drittens: Das ist leider ein Punkt von außenpolitischerTragweite. Es gibt starke Verbindungen zwischen Teilender Linken und verbotenen ausländischen Guerilla-Or-ganisationen und der PKK.

(Zuruf von der LINKEN: Ja, ja, ja!)

Die PKK ist in Deutschland seit längerer Zeit verboten.Auf europäischer Ebene bezeichnen es die Funktionäreder PKK als ein wichtiges Ziel, dass Abgeordnete derLinken in Deutschland in die Parlamente gewählt wer-den. Ich fordere Sie auf, diese Verbindungen zur PKKendlich zu beenden, auch im Interesse einer guten Zu-sammenarbeit mit der Türkei.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-rufe von der LINKEN)

Viertens: Unzureichend ist die Distanzierung von Un-rechtsstaaten: die nach wie vor mangelhafte Distanzie-rung vom Unrechtsstaat DDR

(Zurufe von der LINKEN: Oh! – Volker Beck[Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dasist richtig!)

oder die mangelhafte Distanzierung vom UnrechtsstaatKuba.

(Zuruf von der LINKEN: Wer liefert Waffen nach Saudi-Arabien?)

Da werden Jubelbriefe und Liebesbriefe geschrieben anDiktatoren und Personen, die Menschenrechte verletzen.Auch das ist unerträglich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Fünftens – das ist für mich der zentrale Punkt –: Esgibt offen linksextremistische Zusammenschlüsse inner-halb der Partei der Linken. Ich will hier vor allen Dingendas Marxistische Forum und die Kommunistische Platt-

form nennen. Die entscheidende Frage ist: Welches Ge-wicht haben diese linksextremistischen Organisationeninnerhalb der Partei? Zur Beantwortung dieser Frage istes notwendig, dass man sich die Funktionsträger der Par-tei an höchster Stelle genau anschaut und vor allem da-rauf achtet, wie sie sich gegenüber diesen linksextremis-tischen Organisationen verhalten und einlassen.

(Zurufe von der LINKEN)

Deswegen ist es wichtig, dass wir uns auch die Aussa-gen der hohen Funktionsträger der Linken genau an-schauen. In dem Zusammenhang darf ich den KollegenRamelow zitieren, der zu den Themen KommunistischePlattform und Marxistisches Forum: am 23. Juli 2010 inder Jungen Welt gesagt hat:

Die Kommunistische Plattform ist Teil unserer Par-tei, ebenso das Marxistische Forum; und ich werdemich nicht zu einer öffentlichen Distanzierung nöti-gen lassen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist ein klares Bekenntnis eines hohen, damals wich-tigen Funktionsträgers der Linken.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Der ist im-mer noch wichtig! Bitte ins Protokoll: HerrRamelow ist immer noch wichtig!)

Ich zitiere weiter. Der damalige Bundesgeschäftsfüh-rer der Linken, Dietmar Bartsch, hat am 20. Juni 2009gesagt:

Es ist sogar wichtig, dass wir die KommunistischePlattform und die Antikapitalistische Linke in derPartei haben.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Solche Zitate sind deswegen wichtig, weil wir durchsie erkennen können – auch am Beifall der Abgeordne-ten, die jetzt hier sitzen –, welches Gewicht diese links-extremistischen Chaoten in der Partei haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU– Widerspruch bei der LINKEN – SteffenBockhahn [DIE LINKE]: Hallo! Hallo! Auf-wachen! – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]:Peinlich, peinlich!)

Aus diesem Grund ist es dringend notwendig, dass mansich die Reaktionen der Parteispitze anschaut.

(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Völlig über-fordert, der Minister! – Dr. Gesine Lötzsch[DIE LINKE]: Was war das mal für eine stolzePartei, die CSU!)

Nun ist es natürlich so, dass sich bei Abgeordnetendie Frage nach dem Abgeordnetenstatus in besondererWeise stellt. Das freie Mandat, meine Damen und Her-ren, wird durch den Bundesverfassungsschutz in keinerWeise tangiert. Der Kernbereich der Abgeordnetentätig-keit wird selbstverständlich geschützt.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Also das Abstimmungsverhalten!

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18524 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich

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Das kann man bei abgeordnetenwatch nach-schauen!)

Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit – dasist eine beachtliche Grenze – darf der Verfassungsschutz,aufgrund der Anweisung von einem meiner Vorgänger,die ich ausdrücklich bekräftigt habe, nur Material aus of-fen zugänglichen Quellen sammeln

(Diana Golze [DIE LINKE]: Das können wir Ihnen auch geben!)

und entsprechend auswerten.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was bringt das denn?)

Die Beschränkung der Beobachtung auf Führungsper-sonen der Partei, aus den zuvor genannten Gründen, undauf diejenigen, die Mitglieder von extremistischen Teil-organisationen der Partei sind, halte ich für notwendig.Ich habe bereits gestern vor einer Woche angeordnet– gestern habe ich es mitgeteilt –, dass die Liste der Ab-geordneten, die beobachtet werden – der Verfassungs-schutz hat sie jetzt zusammengestellt –, unter diesen As-pekten genau überprüft wird.

Fest steht in jedem Fall, dass sich diese Demokratie,dieser Staat gegen seine Feinde wehren muss und einFrühwarnsystem in Form des Verfassungsschutzes drin-gend notwendig ist.

(Zuruf von der LINKEN: „Frühwarnsystem“? Das hat man ja gesehen bei den Nazis!)

Dass dieses Frühwarnsystem in der Zukunft richtig funk-tioniert, dass es stark ist und dem demokratischen Staatdienen kann, dafür werde ich sorgen.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: „Frühwarnsys-tem“? Quatsch! Zehn Jahre gemordet, und ihrhabt es nicht gemerkt!)

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Michael Hartmann für die SPD-

Fraktion.

Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Soweit das möglich ist, würde ich uns allen gemein-sam raten, mit etwas weniger Aufgeregtheit und Echauf-fiertheit an dieses Thema heranzugehen und mit derganzen Sache etwas deeskalierend umzugehen. Dennohne Frage: Die Verfolgten und Verfemten sitzen hier ei-gentlich putzmunter; ihnen geht es gut, sie sind selbstbe-wusst, und ich habe nicht den Eindruck, dass sie durchgeheimdienstliche Maßnahmen in ihrem freien Wortoder bei ihren lauten Zwischenrufen behindert werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Zum anderen sage ich aber – ich weiß, dass es schwerist, eine mittlere Tonlage zu finden –: Das wichtigsteGut, das wir hier gemeinsam zu wahren haben, ist dieFreiheit des Mandates, wie es in Art. 38 GG konstituiertist, ganz egal, welche Ansichten jemand vertritt. Deshalbmuss es möglich sein, dass Abgeordnete frei sind in ih-ren Äußerungen, in ihrem Agieren gegenüber Interes-sengruppen, gegenüber Bürgerinnen und Bürgern, dieSchutz suchen und zu ihnen kommen, auch bei Kontak-ten zu Organisationen und Personen, die man vielleichtnicht besonders mag. Wenn dieser Spannungsbogennicht ganz falsch beschrieben ist, dann gilt ganz klar– das sollte dieses Haus einen, wie es alle Parlamente ei-nen sollte –: Wir kontrollieren die Exekutive und nichtdiese uns.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der CDU/CSU)

Deshalb sage ich:

Erstens. Es ist gut, sehr geehrter Herr Bundesinnen-minister, dass jene Liste, die jetzt bekannt geworden ist,die, um es offen zu sagen, nicht frei von Peinlichkeitenist, noch einmal genau angeschaut und hoffentlich aucherheblich verändert wird.

Zweitens. Es kann nicht angehen, dass Abgeordnete,die frei gewählt sind, mithilfe verdeckter Maßnahmenbeobachtet werden. Ich bin froh, dass unser Bundesamtfür Verfassungsschutz das nicht getan hat.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was treiben denn die Bayern?)

Ich fordere die Vertreterinnen und Vertreter der Landes-verfassungsschutzämter ebenfalls dazu auf, eine solchePraxis zu unterlassen. Sie ist nach meiner festen Über-zeugung grundgesetzwidrig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Drittens. Es geht gar nicht, dass aus der Mitte des Par-laments – nicht von den Fraktionen – entsandte Abge-ordnete, die im Vertrauensgremium, das über die Haus-halte der geheimen Nachrichtendienste berät, oder imParlamentarischen Kontrollgremium sitzen, vom Verfas-sungsschutz oder einer anderen nachrichtendienstlichenBehörde auch nur beobachtet werden; die sind sakro-sankt.

(Beifall bei der SPD – Hans-Christian Ströbele[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So weitkommt es noch!)

Mein nächster Punkt. Bei der Liste ist mit Sicherheitnicht überall die Verhältnismäßigkeit gewahrt worden.Deshalb muss man sich das noch einmal ganz genau an-schauen. Man darf eine alte Praxis nicht einfach fortset-zen. Ich sage aber auch: Es ist nicht so, dass der Verfas-sungsschutz, weil das Mandat frei ist und auch frei seinsoll, gar nichts mehr tun darf. Das will ich nicht. Wenn ichbeispielsweise in verschiedene Bundesländer des Ostensgucke und mir anhöre, was ein Herr Apfel sagt, und fest-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18525

Michael Hartmann (Wackernheim)

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stelle, welche Verbindungen es zu Kameradschaften undsonst wohin gibt,

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!)

dann will ich, dass der Staat wehrhaft ist und denen aufdie Finger guckt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ich sage: Was bei den einen recht ist, muss auch bei denanderen billig sein,

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

ohne – um nicht missverstanden zu werden – eine Liniezu ziehen.

Bei aller verständlichen Aufgeregtheit, die teilweiseauch eine Pseudoaufgeregtheit ist, liebe Freundinnenund Freunde von den Linken: Klar ist: Man kann auchdaran arbeiten, dass die Neugier und das unberechtigteBeobachten vielleicht etwas reduziert werden.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau, wir treten alle in die CSU ein!)

Es regt einen schon auf – das sage ich als Sozialde-mokrat –, wenn ein Abgeordneter der Linken, der leiderauch einmal unserer Partei angehört hat, bei der Wahlzum Bundespräsidenten in die Kameras sagt, für ihn seidas eine Entscheidung wie zwischen Hitler und Stalin.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Pfui!)

Das ist empörend und unanständig, es ist aber nichtgrundgesetzwidrig.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte uns allen raten, Herr Minister, dass wirnoch einmal genau festlegen, welche Kriterien angemes-sen sind und welche nicht, dass wir Menschen, die nichtsanderes sein wollen als freigewählte, gute und enga-gierte Abgeordnete, nicht einfach unter Beobachtungstellen, sondern politisch mit ihnen streiten. Ich rate unsallen aber auch, unser Bundesamt für Verfassungsschutznicht pauschal und per se zu verunglimpfen.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Beste Lö-sung ist: Auflösen!)

Die Mitarbeiter setzen einen gesetzlichen Auftrag um.Jede Gleichsetzung ist mindestens unangemessen undauch geschmacklos.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Ich kenne dort viele Mitarbeiter, die engagiert, überzeugtund empört gegen Nazis kämpfen. Sagen Sie bitte nicht,dass die blöd oder unfähig seien.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Stefan Ruppert für die FDP-Frak-

tion.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Stefan Ruppert (FDP):Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Art. 38 Grundgesetz schützt den freien Abgeordne-ten. Wir, die wir hier als Abgeordnete reden, sollten die-sen Schutz sehr ernst nehmen. Der Schutz eines jedenfreien Abgeordneten bei seiner Mandatsausübung ist einsehr hohes und in unserer Geschichte leider oft genugmissachtetes Gut.

Meine Damen und Herren von der Linken, ich habeaber nicht den Eindruck, dass Sie, so selbstbewusst undso zahlreich, wie Sie hier sitzen, in irgendeiner Form da-runter leiden, dass Ihr freies Mandat eingeschränkt wird.Ich glaube, Sie üben es sehr aktiv aus. Die Einschrän-kungen, bei denen wir in der Tat sehr wachsam seinmüssen, betreffen Sie nicht wirklich.

(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Und ihr seid eine Bürgerrechtspartei?)

Man kann nun die Frage stellen, ob es überhauptmöglich sein soll, Abgeordnete zu beobachten. DieseFrage haben mehrere Gerichte klar beantwortet. Sie ha-ben gesagt: Ja, wenn Anhaltspunkte bestehen, dann ist eszulässig, auch frei gewählte Abgeordnete zu beobachten.Ich sage ausdrücklich: Ich halte diese Rechtsauffassungverfassungsrechtlich für richtig. Insofern tun wir hier et-was, was mit unserer Rechtsordnung und mit Art. 38Grundgesetz im Einklang steht. Es ist nicht, wie Sie hierinsinuieren wollen, etwas in irgendeiner Form Verfas-sungswidriges.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Mir scheint fast, Sie sind froh, dass Sie ein Thema ge-funden haben, hinter dem Sie sich einig versammelnkönnen. Ihre Empörung lenkt ab von allen Differenzen,die sich in Flügelkämpfen zwischen Realos Ost undWest zeigen; denn da gilt die Empörung bei allen gleich-sam. Insofern scheint mir das von Ihnen hochgezogeneThema etwas künstlich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Hätte Frau Leutheusser das auch er-zählt?)

Herr Friedrich hat ausdrücklich recht, wenn er sagt:Sie haben es selbst in der Hand. – Ich komme aus derKommunalpolitik. Ich habe 20 Jahre kommunalpoliti-sche Erfahrung. Als die Linken dort aufgetreten sind,war ich nicht erfreut. Aber ich war auch nicht so ge-schockt.

Als ich in den Bundestag eingezogen bin, habe ichimmer wieder Erfahrungen gemacht, bei denen mir derMund offen stehen geblieben ist. Ich konnte einfachnicht glauben, dass am Tag der Befreiung von Ausch-witz einige Abgeordnete bei Ihnen nicht aufstehen, dass

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18526 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Dr. Stefan Ruppert

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Sie Gewalt in Berlin hier in dem einen oder anderen Falldurchaus unterstützen. Insofern haben Sie es selbst inder Hand. Wenn Sie Ihr Verhältnis zu Gewalt und Demo-kratie glasklar klären, beobachtet Sie nie mehr jemand.Aber da Sie es nicht geklärt haben, muss diese Beobach-tung in Teilen fortgesetzt werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowiedes Abg. Michael Hartmann [Wackernheim][SPD])

Übrigens haben diese Auffassung auch alle Regierun-gen unter Rot-Grün, unter Schwarz-Rot und jetzt unterSchwarz-Gelb geteilt. Ich kenne auch keine Initiative derGrünen, die beispielsweise an der entsprechenden Ge-setzgebung auch nur irgendeinen Deut hat ändern wol-len.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Einstellen! Das sagen wir jedes Mal!)

Insofern scheint es einen doch breiten demokrati-schen Konsens zwischen den Fraktionen dieses Hauseszu geben, dass eher Sie da Ihre Positionen überdenken,als dass wir Gesetze überdenken müssen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich habe große Achtung vor Menschen, die eine Ver-gangenheit in der DDR haben und die diese Vergangen-heit aktiv aufarbeiten wollen, die sich ihrer Vergangen-heit stellen. Insofern habe ich auch große Achtung voreinzelnen Ihrer Abgeordneten, die diesen Prozess ausmeiner Sicht sehr verantwortungsbewusst und durchausmit einem kritischen Blick auf die Vergangenheit ange-hen.

Leider scheint es aber so zu sein, dass diese Abgeord-neten bei Ihnen zunehmend ins Hintertreffen und in dieMinderheit geraten. Leider ist bei dem Prozess zwischenetwas merkwürdigen Westdeutschen und teilweise ver-nünftigen Ostdeutschen zu erkennen, dass dabei eher dieradikaleren Kräfte die Oberhand gewinnen. Auch dasspricht für eine weitere Beobachtung durch den Verfas-sungsschutz.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Anstatt sich über andere zu beschweren, haben Sie esalso selbst in der Hand, mit klaren Bekenntnissen gegenAntisemitismus, mit unterlassenen Solidaritätserklärun-gen zu Fragen der iranischen oder syrischen Politik, beiThemen, die ein glasklares Verhältnis zur Gewalt zumAusdruck bringen, sich dieser Beobachtung dauerhaft zuentziehen. Ich fordere Sie auf: Nutzen Sie diese Chance!

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das ist doch alles nicht verfas-sungswidrig!)

Ein letzter Punkt, der mir wichtig ist: Ich glaube, dieListe muss in der Tat überarbeitet werden.

(Zurufe von der LINKEN: Oh!)

Mir scheint es, dass nicht jeder, der dort draufsteht, zuRecht dort draufsteht. Gerade die Abgeordneten, mit de-

nen ich zusammenarbeite – Frau Pau, Frau Wawzyniakoder andere –, finde ich, gehören auf diese Liste nichtdrauf. Die FDP fordert eine Einzelfallprüfung. Die zu-ständigen Gremien sollten sich eine Meinung darüberbilden. Dann sollten nur noch die beobachtet werden, dieauch tatsächlich zu beobachten sind.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Namen!)

Über allem steht die Freiheit des Mandats. Dafür wer-den wir immer kämpfen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja, hört sich nicht so an!)

Dafür werden Sie uns immer an Ihrer Seite haben. Beider Mandatsausübung muss jeder frei sein. Aber er darfdiese Freiheit nicht dazu nutzen, die freiheitlich-demo-kratische Grundordnung subkutan zu bekämpfen. Dawerden wir Sie immer stellen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Volker Beck für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Parla-

ment muss die Geheimdienste überwachen, nicht umge-kehrt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

So dilettantisch, wie der Verfassungsschutz nach rechtsgearbeitet hat – das werden wir nachher diskutieren –, soirrational verhält er sich bei der Bekämpfung eines angeb-lichen linken Extremismus bei der Linkspartei. Das ein-zige Argument, das Sie in dieser gesellschaftlichen De-batte geäußert haben, Herr Friedrich, was für dieBeobachtung spricht, ist: Was wir rechts gegen die NPDtun – das haben Sie hier gerade gesagt –, das müssen wirbei der Linken auch tun. Ja, glauben Sie denn im Ernst,diese Fraktion, diese Partei sei eine Gefahr für die Demo-kratie und darauf ausgerichtet, die parlamentarische De-mokratie abzuschaffen? Das ist doch Stuss.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der LINKEN sowie bei Abgeordnetender SPD – Zurufe von der CDU/CSU und derFDP)

Ich bin wirklich keiner, der eine Auseinandersetzungmit bestimmten Positionen in der Linksfraktion scheut.Diese Auseinandersetzung müssen Sie führen; die müs-sen wir auch intern führen. Da werden zum Teil absurdePositionen vertreten, antisemitische Positionen, zum Teilauch ein kruder Retroantiimperialismus. Darüber mussman reden, aber das ist keine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Gesetzes,und das ist kein Fall für den Verfassungsschutz.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18527

Volker Beck (Köln)

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(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und derLINKEN)

Wenn man sich diese Berichte anschaut, denkt man:Da sitzen sieben hochbezahlte Leute im Bundesamt fürVerfassungsschutz und erstellen jedes Jahr per „Copyand paste“ ein Update des Kapitels über die Linkspartei.Informativ ist das, was ich da gefunden habe, nicht. Ichweiß viel mehr über die. Dazu brauche ich keine Zettel-sammelstelle im Bundesamt für Verfassungsschutz.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derSPD und der LINKEN)

Herr Friedrich, Sie haben vorhin schlichtweg die Un-wahrheit gesagt, als Sie gesagt haben, Sie müssten diePersonen, die besonders gefährliche, besonders extremeund besonders krude Positionen vertreten, beobachten.Wenn man sich die Liste ansieht, stellt man fest, dass dasmit zwei Ausnahmen das Who’s who des Reformerflü-gels ist. Auf der Liste steht ein Bartsch, von dem dieKollegin Hänsel sagt, er solle lieber zur FDP gehen, weiler so zentristisch argumentiert. Auf der Liste steht aucheine Petra Pau, unsere Vizepräsidentin, die wir mit derMehrheit dieses Hauses gewählt haben, die an staatstra-gendem Charakter von kaum einem hier im Haus über-troffen wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Was macht die auf der Beobachtungsliste des Verfas-sungsschutzes? Das ist doch wirklich absurd.

Dass der Verfassungsschutz sich erdreistet – ich habegehört, dass in dieser Akte gar nichts wirklich Wichtigessteht –, ein Mitglied des Vertrauensgremiums zu be-obachten, das die Aufgabe hat, die Geheimdienste inhaushalterischer Hinsicht zu beobachten, das verkehrtdie Dinge wirklich ins Gegenteil. Da versucht der Ge-heimdienst, seine eigenen Kontrolleure zu beobachten.Das tangiert die Integrität der parlamentarischen Demo-kratie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Diese Maßnahmen sind willkürlich und ungerechtfer-tigt. Mit der Linkspartei muss man sich politisch aus-einandersetzen. Die Beobachtung und Überwachungdurch den Geheimdienst können Sie getrost einstellen.Das sollten Sie unverzüglich tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der LINKEN sowie bei Abgeordnetender SPD)

Diese Diskussion hat aber auch einen wichtigen par-lamentsrechtlichen Kern, und der geht nicht nur die Mit-glieder der Linkspartei und der Linksfraktion an. Mankann nicht ausschließen – da bin ich ganz bei Ihnen,Herr Hartmann –, dass es Situationen gibt, in denen eineinzelner Abgeordneter vom Geheimdienst überwachtwird, zum Beispiel dann, wenn er für einen feindlichenGeheimdienst arbeitet.

(Fritz Rudolf Körper [SPD]: Das steht im Verfassungsschutzgesetz!)

Das hatten wir schon in der Geschichte der Bundesrepu-blik Deutschland. Da müssen wir uns natürlich wehren,um gegebenenfalls eingreifen zu können. Das ist richtig.

Bei jedem Immunitätsfall, wenn Kollegen mit ihremAuto mal einen Spiegel eines anderen Autos abfahrenund vergessen, ihre Karte zu hinterlassen und die Polizeianzurufen, muss der Staatsanwalt zum Präsidenten kom-men und sagen: „Ich beantrage die Aufhebung derImmunität“, um überhaupt mit strafrechtlichen Ermitt-lungsmaßnahmen beginnen zu dürfen. Aber wenn Abge-ordnete überwacht und beobachtet werden, erfahren wirdas akzessorisch, vielleicht im PKGr. Dann darf es aberkeiner sagen, und das Hohe Haus erfährt davon nichts.

Ich meine: Wir brauchen analog zum Immunitätsrechtein Verfahren, in dem Maßnahmen der Geheimdienstegegen frei gewählte Abgeordnete des deutschen Volkesgenehmigt werden müssen, vom Präsidium oder vomImmunitätsausschuss – das ist mir gleich; da kann mansich verschiedene Konstruktionen vorstellen. Aber:Ohne Genehmigung des Deutschen Bundestages darfkein frei gewählter Abgeordneter, aus welcher Parteioder welcher Fraktion auch immer, vom Geheimdienstbeobachtet werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der LINKEN sowie bei Abgeordnetender SPD)

Das werden wir vorschlagen. Das ist eine Frage der Frei-heit des Mandats. Es darf nicht sein, dass die Exekutivedas Parlament kontrolliert, dass sich die Exekutive einParlament hält und die Opposition beobachten kann. Da-mit muss endgültig Schluss sein. Dafür werden wirkämpfen. Dabei geht es nicht um die Linke, sondern esgeht um die Freiheit des Deutschen Bundestages.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der LINKEN sowie bei Abgeordnetender SPD – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]:Nie wieder „Bündnis 90“! Streicht den Namen„Bündnis 90“!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-

Fraktion.

Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Herr Beck, das war ein ganz merkwürdigerAuftritt:

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)

der Kämpfer für die Freiheit des Abgeordneten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich bin seit 1998 im Deutschen Bundestag und dortim Innenausschuss. Seit 1995 findet jedes Jahr im Innen-ausschuss der Bericht des Präsidenten des Bundesamtsfür Verfassungsschutz statt. Manche hören nicht zu. Es

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18528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Dr. Hans-Peter Uhl

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ist auch manchmal langweilig; das gebe ich zu. JedesJahr wird dort vom Präsidenten des Verfassungsschutzesüber die Beobachtung der Linken und über das, was da-bei festgestellt wurde, berichtet.

(Zurufe von der LINKEN)

Wie Sie hier Beobachten und Überwachen in einen Topfwerfen und umrühren und mal gegen die Beobachtung,mal gegen die Überwachung kämpfen und dabei immerinsinuieren, als wären Abhören und ähnliche nachrich-tendienstliche Mittel im Spiel, das ist nicht korrekt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Volker Beck [Köln] [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind doch Über-wachungsprotokolle mit drin! Warum sind daAkten geschwärzt? – Zurufe von der LIN-KEN)

Ich nehme Ihnen das nicht übel; denn man muss wohlJura studiert haben, um bestimmte Dinge bewerten zukönnen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das Bundesverwaltungsgericht hat all diese Maßnah-men – Herr Wieland, Sie kennen das Urteil –

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja! Und sage jedes Mal: Die Beobach-tung soll aufhören!)

überprüft. Das Gericht hat gesagt: Das Beobachten derPartei Die Linke ist rechtmäßig. Das Gericht hat weitergeurteilt und gesagt: Das Beobachten eines Abgeordne-ten Ramelow der Partei Die Linke ist rechtmäßig.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Deswegen kann es trotzdemQuatsch sein!)

Das Gericht hat aber auch das Verhältnis zwischen Exe-kutive und Legislative – dieses Thema wurde hier geradebehandelt – sehr sensibel herausgearbeitet. Es hat gesagt,dass das natürlich ein delikater Vorgang ist, weil die Le-gislative die Exekutive überwacht und nicht umgekehrt.Deswegen müssen wir das Prinzip der Verhältnismäßig-keit bei diesem Beobachtungsvorgang sehr präzise zurAnwendung bringen. Genau dies wird gemacht.

Wenn die Fraktion Die Linke, die heute in vollerKampfstärke angetreten ist,

(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nicht alle! – Zurufe von der LINKEN)

glaubt, ihr würde schreckliches Unrecht in diesemRechtsstaat widerfahren, dann rate ich Ihnen: Gehen Siedoch vor Gericht und versuchen Sie zu erreichen, dassdie höchstrichterliche Rechtsprechung korrigiert wird.

(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Wir sind beim Bundesverfassungsgericht!)

Sie wird nicht korrigiert, Herr Gysi.

(Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])

Ich meine, dies ist richtig. Sie sind führender Vertreterder zu beobachtenden Partei, in der es eine große Anzahlvon Verfassungsfeinden gibt.

(Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])

Mit denen sind Sie nicht im Reinen, Sie haben sie abernicht aus der Partei geworfen. Sie trauen sich nicht, denStreit mit denen aufzunehmen und zu sagen, dass Sie mitdenen nichts zu tun haben wollen. Die Vorstellung, wirhätten in der CDU oder in der CSU Rechtsradikale undhätten nicht den Mut, sie rauszuschmeißen, würde Siealle mit Recht empören. Aber Sie haben nicht den Mut,die Linksextremen, die Verfassungsfeinde rauszu-schmeißen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]:Die machen Gesetze, die verfassungswidrigsind! Alle miteinander macht ihr das!)

Herr Gysi, ich halte es für richtig, dass Ihr Wirken inder Partei Die Linke daraufhin beobachtet wird, ob Sieobsiegen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Nach dem Motto können wir Sieauch überwachen!)

Mit großer Aufmerksamkeit haben wir Ihre Rede im Jahr2008 vor der Rosa-Luxemburg-Stiftung nachgelesen. Siehaben da sehr kluge Sätze gesagt. Sie haben gesagt, HerrGysi: Wenn es der Partei Die Linke nicht gelingt, mit Is-rael und den Juden in Deutschland ins Reine zu kom-men, wenn es ihr nicht gelingt, den Antisemitismus inder Partei Die Linke zu bekämpfen, wird sie niemals inDeutschland eine Chance bekommen, die Regierung zuübernehmen. – Das haben Sie gesagt.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was hat das mit Überwachung zu tun?)

Jetzt geht es um Folgendes: Der Verfassungsschutzhat den Auftrag, dafür zu sorgen, dass Antisemitismus inrelevanten Kräften in der deutschen Parteienlandschaftnie mehr zum Tragen kommt.

(Zurufe von der LINKEN)

Das ist die Aufgabe des Verfassungsschutzes. Jetzt gehtes darum, ob Sie in Ihrer Partei im Kampf gegen Anti-semitismus siegen oder verlieren, Herr Gysi.

(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIELINKE]: Dafür brauchen wir den Verfassungs-schutz nicht und Sie auch nicht! Sie sind nochim Kalten Krieg!)

Wir sollten das Prinzip unserer wehrhaften Demokra-tie ernst nehmen. Ich finde es töricht, die gesetzlich da-für zuständige Behörde, den Verfassungsschutz, in Miss-kredit zu bringen.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das machen die schon selber!)

Wir brauchen eine solche Behörde möglicherweise mehrdenn je. Wenn die Verfassungsfeinde von rechts, was

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18529

Dr. Hans-Peter Uhl

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Gott verhüten möge, eines Tages in dieses Hohe Hauseeinziehen, dann erwarte ich vom Verfassungsschutz,dass er diese Partei und auch die Bundestagsabgeordne-ten dieser Partei nach allen Regeln der Rechtskunst, wiees in dem Urteil im Einzelnen abgehandelt wurde, be-obachtet.

(Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

Es gibt dem Grunde nach keinen Unterschied zwi-schen Rechtsextremismus und Linksextremismus.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Die Franzosen sagen mit Recht: Les extrêmes setouchent. – Es gibt genügend Beispiele für Rechts-extreme und Linksextreme, die von „ganz rechtsextrem“nach „ganz linksextrem“ oder in die andere Richtung ge-wandert sind.

(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Allerdings!)

Sie kennen einen, Herr Ströbele.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie auch!)

Mahler heißt er.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie kennen den auch! Der hat ja sogareinen ganzen Kreis gemacht!)

Ich wiederhole: Les extrêmes se touchent. Wir müssensie alle bekämpfen. Das nennt man wehrhafte Demokra-tie.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Fritz Rudolf Körper für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Fritz Rudolf Körper (SPD):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

möchte einen Begriff, der in dieser Debatte gefallen ist,aufgreifen. Ich glaube, es waren die Kollegen Korte undBeck, die von „Inlandsgeheimdienst“ geredet haben.

(Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist ja auch richtig!)

Ich bin froh, dass wir keinen Inlandsgeheimdienst haben,sondern ein Bundesamt für Verfassungsschutz.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP – Volker Beck [Köln][BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das dennkein Geheimdienst? Wo ist der Unterschied? –Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Erklären Sie mir mal in drei Wor-ten den Unterschied!)

Ich sage sehr deutlich: Das Bundesamt für Verfas-sungsschutz ist vom Gesetzgeber legitimiert. Das Bundes-verfassungsschutzgesetz ist im Jahre 1990 mit großer,breiter Mehrheit im Deutschen Bundestag verabschiedet

worden. Auch die Novellierung, die im Jahre 2007 statt-fand, ist mit großer, breiter Mehrheit vereinbart worden.Das ist die Legitimation des Bundesamtes für Verfas-sungsschutz. Das ist eine demokratisch zustande gekom-mene Legitimation. Ich denke, das sollte man festhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

An einer Stelle unterscheidet sich die Situation inDeutschland von der in anderen Ländern dieser Welt. InDeutschland gibt es eine parlamentarische Kontrolle derNachrichtendienste. Diese findet in einer Art und Weisestatt, die kein anderes Land dieser Welt vorweisen kann.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!)

Ich denke, darauf können wir stolz sein. Wenn in derparlamentarischen Kontrolle etwas verbesserungswürdigist, dann sollten wir es verbessern. Aber die Tatsache,dass es in Deutschland eine parlamentarische Kontrolleder Nachrichtendienste gibt, ist, glaube ich, erwähnens-wert.

Ich kann die Aufregung über diesen Vorgang nichtganz verstehen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Na, na, na! – Volker Beck [Köln][BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wirklichnicht?)

Denn die Beobachtung der Linkspartei ist in den Berich-ten des Bundesverfassungsschutzes seit dem Jahre 1995ausgewiesen;

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Schlimm genug!)

das spricht für uns. Es spricht auch für uns, Frau Lötzsch,dass das, was beobachtet worden ist, nicht im Geheimenverschwunden ist, sondern öffentlich bzw. in öffentlichzugänglichen Publikationen präsentiert wird. Es wirdsehr deutlich gemacht, wo die Kritik ist und wo Bestre-bungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundord-nung festzustellen sind. Ich denke, dies ist die Aufgabedes Bundesamtes für Verfassungsschutz.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Ich will zugeben: Ich hätte mir gewünscht, dass dereine oder andere Redner in dieser Debatte in die Leit-sätze, die das Bundesverwaltungsgericht Leipzig imJahre 2010 formuliert hat, hineingeschaut hätte. Ich kanndiese Leitsätze, die aus zwei ganz wesentlichen Punktenbestehen, nur kurz wiedergeben. Sie betreffen das Prin-zip der Verhältnismäßigkeit und den Schutz des Kern-bereiches parlamentarischer Arbeit. Was die Verhältnis-mäßigkeit betrifft, kommt es entscheidend darauf an,festzulegen, welche Mittel und Methoden beispielsweisedas Bundesamt anwenden darf, und zwar dann, wenn esum Mandatsträger wie Bundestagsabgeordnete geht.Hier sind die Grenzen sehr eng gesetzt. Es darf nur zueiner offenen Beobachtung kommen. Nachrichtendienst-liche Mittel sind ausdrücklich ausgeschlossen und ver-

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18530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Fritz Rudolf Körper

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boten. Daran hat sich das Bundesamt für Verfassungs-schutz gehalten.

Gleiches gilt für den Schutz des Kernbereichs parla-mentarischer Arbeit. Da mich Herr Kollege Gysi – viel-leicht hört er mir jetzt noch einmal zu – gefragt hat:„Wie ist das, wenn ich ein Gespräch in meinem Wahl-kreisbüro führe?“, sage ich: Das ist nicht Gegenstand ei-ner offenen Beobachtung. Dafür wären nachrichten-dienstliche Mittel notwendig. Diese sind an dieser Stelleaber ausdrücklich untersagt. Ich denke, es ist wichtig,darüber sachlich miteinander zu reden und deutlich zumachen, was gegeben und was nicht gegeben ist.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ach! Das ist doch absurd!)

Diese Liste von 27 Abgeordneten der Linken ist imÜbrigen nicht neu. Auf eine Anfrage der Linken hinwurde sie bereits im Jahre 2009 bekannt gegeben.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Auch Quatsch! Das stimmt überhaupt nicht!)

Dass diese Liste diskussionswürdig ist, ist überhaupt garkeine Frage; aber es wäre falsch, auf der Grundlage derListe die Frage zu konstruieren, ob eine offene Beobach-tung zulässig ist oder nicht. Ich bin der Auffassung, dassaufgrund der Entwicklungen in der Partei der Linkeneine offene Beobachtung gerechtfertigt ist.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist ja peinlich für einen Sozialdemokraten!)

Ob die Zusammensetzung der Liste richtig ist, will ichhier einmal ganz ausdrücklich offen halten.

Es ist im Übrigen schwierig, wenn bestimmte Zahlendarüber in die Welt gesetzt werden, wie viele Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfas-sungsschutz für die Beobachtung der Linken zuständigsind und wie viele beispielsweise für die Beobachtungder NPD. Hier sind nämlich Zahlen in der Welt, die imGrunde genommen nicht korrekt sind. Das muss manwissen. Sie taugen nicht dafür, einen Vergleich darüberanzustellen, wie wer wo auf welchem Auge besondersgut sieht oder blind ist. Ich denke, hier brauchen wir einesachliche Debatte.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Die Mitar-beiterzahlen kommen doch vom Verfassungs-schutz selber!)

Ich bin der Meinung, wir müssen hier aufmerksamsein; denn die freiheitlich-demokratische Grundordnungist ein Wert, der immer verteidigt werden muss. Dasmüssen alle Demokratinnen und Demokraten gemein-sam tun.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Frak-

tion.

(Beifall bei der FDP)

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine De-

mokratie lebt von Demokraten und davon, dass sie sichauch gegen Extremisten jeglicher Couleur mit rechts-staatlichen Mitteln zur Wehr setzen kann. Eine wehr-hafte Demokratie lebt davon, dass sie diese rechtsstaat-lichen Mittel auch einsetzt.

(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Das haben wir gesehen!)

Dazu gibt es den Verfassungsschutz. Er muss die ex-tremistischen Umtriebe im Auge haben. Genau dafür ister auch gegründet worden. Dass das den Betroffenennicht gefällt, verwundert nicht wirklich.

Die letzten Monate haben uns gezeigt, dass die Ge-sellschaft insgesamt wieder wachsamer gegenüber extre-mistischer Gesinnung sein und dieser entschlossen ent-gegentreten muss.

(Zuruf von der LINKEN: Deswegen liegen Sie auch bei 3 Prozent!)

Gerade als Demokraten müssen wir aber auch aufpassen,dass wir nicht über das Ziel hinausschießen. Das gilt füralle Aktivitäten. Die Beobachtung von Abgeordneten istauch in der Vergangenheit immer ein umstrittener Punktgewesen. Aber Abgeordnete sind nicht sakrosankt; siestehen eben nicht über Recht und Gesetz. Sie können da-mit folgerichtig auch vom Verfassungsschutz beobachtetwerden;

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

denn das Mandat alleine schützt bekanntlich nicht vorextremistischer Gesinnung.

Wenn eine Bundestagsabgeordnete der Linken dieStaatssicherheit der DDR für ihren Kampf für den Frie-den lobt und die Handlanger dieses Unrechtsregimesnach wie vor glorifiziert, dann ist die Verfassungstreuemehr als fraglich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber deswegengeht doch keine Gefahr davon aus!)

Die regelmäßigen Aussagen einiger linker Politiker, diedie DDR verharmlosen, die das sozialistische Unterdrü-ckungssystem schönreden

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das ist doch alles nicht verfas-sungswidrig!)

und bei denen sich die Parteiführung weigert, solcheElemente konsequent auszuschließen, zeigen, wie wich-tig eine aufmerksame Beobachtung solcher Umtriebenach wie vor ist.

Die unveräußerliche Menschenwürde eines jedenDDR-Opfers und eines jeden Bürgers gebietet es, hierwachsam zu sein. Herr Beck, ich war schon etwas über-rascht, wie wenig Sie sich an das „Bündnis 90“ in IhremNamen erinnert haben; denn gerade wenn es darum geht,die Vergangenheit nicht zu verharmlosen, sollten wir andieser Stelle sehr vorsichtig sein.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18531

Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

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(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Gerade Bündnis 90 war gegen Geheim-dienste! Sie haben das nicht verstanden!)

Meine Damen und Herren, die merkwürdigen Veran-staltungen der heutigen Bundesvorsitzenden der Linken,Frau Lötzsch, mit Stasimitarbeitern haben ihr sogar ausden Reihen der Grünen den Vorwurf eingetragen, dieVergangenheit unter den Tisch kehren zu wollen undsich als „heilige Johanna der Alt-Tschekisten“ zu präsen-tieren. Lieber Herr Wieland, Sie erinnern sich bestimmtan diese Äußerung.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber Heilige bespitzelt man doch nicht,Herr Kollege!)

Vor einem Jahr hat Frau Lötzsch sogar öffentlich überWege zum Kommunismus schwadroniert, und zwar aus-gerechnet in der jungen Welt, die sich im vergangenenSommer auf der Titelseite für den Bau der BerlinerMauer bedankt hat.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das ist aber doch bizarr und nichtgefährlich!)

Frau Lötzsch, da wundern Sie sich noch, dass Sie hierunter Beobachtung stehen?

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ich wun-dere mich gar nicht!)

Genau diese Frau Lötzsch ist noch immer Bundesvor-sitzende. Genau diese Frau Lötzsch wurde in Kenntnisdieser Aussagen von der Parteibasis gewählt. Das lässtden Schluss zu, dass in der Partei Die Linke solche ver-fassungsfeindlichen Haltungen nicht nur punktuellmehrheitsfähig sind, sondern leider offensichtlich voneiner breiten Basis unterstützt werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Beobachtung der Linken durch den Verfassungs-schutz ist aus meiner Sicht deshalb deutlich berechtigt.Es ist zudem kein Urteil über die Verfassungswidrigkeitder Linken, sondern notwendiges Instrument, um da-rüber Erkenntnisse zu erlangen. Beobachten heißt auch– das hat der Bundesinnenminister zu Recht gesagt –,dass damit nicht automatisch technische Überwachungund geheime Maßnahmen verbunden sind.

Eine Beobachtung von Abgeordneten durch den Ver-fassungsschutz bedarf besonderer Voraussetzungen;denn sie sind als gewählte Vertreter des Volkes auch zurKontrolle der Exekutive berufen.

(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Bewer-bungsrede als V-Mann?)

Klar ist auch, dass die führenden Vertreter der Partei DieLinke, die dem Deutschen Bundestag angehören, bei ei-ner rechtmäßigen Überwachung nicht automatisch aus-genommen werden dürfen und können.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Nicht automatisch, aber trotz-dem!)

Das hat das Bundesverwaltungsgericht auch so festge-halten.

Eine besondere Sensibilität braucht es aber schon.Der Kern der Abgeordnetentätigkeit und die Unabhän-gigkeit dürfen nicht beeinträchtigt werden. Unsere De-mokratie muss und wird eine wehrhafte bleiben. AlleExtremisten, ob links oder rechts, alle diejenigen, die diefreiheitlich-demokratische Grundordnung angreifenwollen, werden den massiven Widerstand der Demokra-ten erfahren.

(Diana Golze [DIE LINKE]: Was Sie reden, istnicht freiheitlich und nicht demokratisch! Da-rüber sollten Sie einmal nachdenken!)

Dazu steht die FDP. Das sind wir den Menschen inDeutschland schuldig.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Steffen Bockhahn für die Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Steffen Bockhahn (DIE LINKE):Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Kollege Wolff, was Sie gerade gesagthaben, war ja ganz interessant. Aber liberal, freiheitlichund bürgerlich fand ich das nicht.

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Wenn Sie das definieren, wundert mich das nicht!)

Ihre Bundesminister Niebel und Leutheusser-Schnarrenberger scheinen das auch anders zu sehen, wieich den Verlautbarungen der letzten Tage entnehme. Waswir über Frau Leutheusser-Schnarrenberger gehört ha-ben, kann ich nur schwer glauben; denn der KollegeErnst saß mit ihr im gleichen Flieger. Der Flieger ist umhalb elf gelandet, und der Kollege sitzt hier. An der Ver-spätung des Flugzeugs kann es also nicht gelegen haben,dass Frau Leutheusser-Schnarrenberger nicht hier ist.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)

Auch Herr Wolff hat zum Schluss wieder einmal einetotale Gleichsetzung von vermeintlichen Linksextremis-ten und Rechtsextremisten vorgenommen. Meine Damenund Herren, ist Ihnen nicht aufgefallen, dass in den letz-ten Jahren eine Neonazibande mordend durch Deutsch-land gezogen ist und zehn Leute auf dem Gewissen hat?

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist doch wohl ein Unterschied. Das gleichzusetzen,ist absolut undemokratisch und nicht gerechtfertigt.

(Beifall bei der LINKEN)

Überlegen Sie bitte einmal, was Sie Leuten unterstellen,die sich in einer Partei engagieren, die sich demokratischengagieren, die für diesen Rechtsstaat kämpfen! Nurweil Sie der Meinung sind, dass sie die falschen Zielevertreten, stellen Sie sie unter Generalverdacht. Das istdoch absurd.

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18532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Steffen Bockhahn

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(Beifall bei der LINKEN)

Wissen Sie, Herr Bundesminister Friedrich, Sie habenhier viele komische Sachen gesagt. Auf ein paar will icheingehen.

Es gibt nur ein einziges Urteil, nämlich das des Bun-desverwaltungsgerichts, in dem die Beobachtung nichtuntersagt wird. In den anderen beiden Urteilen wird sieuntersagt. Das sollten Sie noch einmal nachschauen.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])

Sie haben sich auf die Diktatur des Proletariats bezo-gen. Ich darf Ihnen kurz etwas erzählen: Im 19. Jahrhun-dert, als Marx das Kommunistische Manifest und ge-meinsam mit Engels Das Kapital schrieb, war es so, dasseine Minderheit die Mehrheit regierte. Die Minderheitwar nach Marx die Bourgeoisie, die Mehrheit war dasProletariat. Ziel der Diktatur des Proletariats ist, dassendlich eine Mehrheit die Minderheit regiert, nicht dieMinderheit die Mehrheit.

(Beifall bei der LINKEN – Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)

Wenn Sie das undemokratisch finden, dann ist die Frage,wer hier die Verfassungsfeinde sind.

(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth[Kyffhäuser] [FDP]: Das darf ja wohl nichtwahr sein! So etwas hier in diesem Hause zusagen!)

Ich darf Ihnen sagen: Ihre Aufregung über die PKKfinde ich hochgradig spannend. Es war der WestberlinerCDU-Mann Lummer, der zu Öcalan gefahren ist, daswaren nicht wir. Ihr CDU-Mann Lummer ist zu Öcalangefahren.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben die FARC angesprochen. Es waren Mitglie-der der Partei Die Linke, die in Kolumbien vermitteltund Geiseln aus der Hand der FARC befreit haben.Wenn das nicht im Interesse der BundesrepublikDeutschland ist, dann weiß ich auch nicht weiter. Über-legen Sie sich einfach genau, was Sie hier erzählen. Vie-les davon war nur sehr begrenzt sinnvoll.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will Sie noch auf etwas anderes hinweisen. Sie ha-ben bisher immer gesagt, es würden nur Parteifunktio-näre beobachtet oder überwacht. Schauen wir uns dieListe der 27 einmal an: Gregor Gysi – kein Parteifunk-tionär; Dietmar Bartsch – kein Parteifunktionär; JanKorte – kein Parteifunktionär; Kersten Steinke – keineParteifunktionärin; Roland Claus – kein Parteifunktio-när;

(Zuruf von der SPD: Aber schon Mitglied!)

Paul Schäfer – kein Parteifunktionär.

Was ist denn jetzt wahr? Sie belügen das Parlament;nichts anderes tun Sie.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben angeboten, die Liste der 27 noch einmal zuüberprüfen. Das war ein schlauer Vorschlag, aber ichsage es Ihnen in aller Deutlichkeit: Es ist kein glaubwür-diges Angebot, wenn Sie willkürlich festlegen, wer sichgenehm verhält und wer nicht. Wir werden uns nichtauseinanderdividieren lassen.

(Beifall bei der LINKEN)

Kommen wir zu den verdeckten Maßnahmen. Ich tuejetzt einmal so, als ob ich Ihnen glaube, dass das Bun-desamt für Verfassungsschutz selbst keine nachrichten-dienstlichen Mittel einsetzt; ich kann nämlich nichts Ge-genteiliges beweisen. Da aber die Länder inzwischensogar offen erklären, dass sie das tun, frage ich mich,warum für sie das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtsund die Auffassung der Bundesregierung offenbar nichtgelten. Die Frage ist auch, welche Informationen, die ausnachrichtendienstlichen Maßnahmen der Länder gewon-nen wurden, vom Bundesamt für Verfassungsschutz ge-nutzt werden. Auch damit wird Ihre Aussage Lügen ge-straft, dass Sie sich nicht nachrichtendienstlicher Mittelbedienen würden.

(Beifall bei der LINKEN)

Es sei mir erlaubt, kurz darauf zu verweisen, dass esim Gegensatz zur Union bei uns niemanden gibt, dernoch bis vor wenigen Wochen und Monaten die Oder-Neiße-Friedensgrenze infrage gestellt hat. Das finde ichdeutlich verfassungsfeindlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Kollege Uhl, wer wie Sie auf Podien auftritt undmeint, die Ursache des Naziterrors in Deutschland seiwohl vor allen Dingen die Masse an Ausländern, die indie Bundesrepublik gekommen sei,

(Zurufe von der LINKEN: Pfui!)

der sollte sich schwer zurückhalten.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie mich abschließend aus der SchwerinerVolkszeitung von heute zitieren. Darin schreibt MatthiasHufmann, der des Linksextremismus oder der Nähe zuLinken unverdächtig ist, in einem Kommentar:

Die Politiker zu beobachten ist falsch, weil Proporz kein Grund für Überwachung seindarf. Wer die NPD prüft, braucht keinen Rechts-Links-Ausgleich. weil der Blick ins Programm der Partei nicht aus-reicht, um Argumente zu finden. Überwindung desKapitalismus? Dann müsste sich der Verfassungs-schutz auch um Heiner Geißler kümmern. …weil der Innenminister drei Motive verheimlicht,die nichts mit der Linken zu tun haben: Er musssich profilieren, er muss der CSU gerecht werden,er muss die FDP gängeln. weil Hans-Peter Friedrich den Linken alles zutraut,der Demokratie aber nichts. Im Zweifel nicht ein-mal, sich zu wehren. …Vor allem jedoch ist das Beobachten für den Verfas-sungsschutz fatal,

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18533

Steffen Bockhahn

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weil er beim Rechtsextremismus versagt hat – undbei den Linken ganz genau hinschaut. Dieser Ein-druck bleibt.

(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth[Kyffhäuser] [FDP]: Eine Diktatur ist gut, ha-ben wir jetzt gelernt! Es kommt nur darauf an,von wem aus! Proletariat ist gut!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Armin Schuster für die CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Bockhahn, Sie sind Mitglied des Vertrauens-gremiums. Die Vorstellung gerade hat mein Vertrauennicht gestärkt. Ich weiß nicht, wie es den anderen geht.Es war allenfalls eine gute Schauspielausbildung, die Siehatten.

Die Partei Die Linke wird seit 1995 vom Bundesamtfür Verfassungsschutz beobachtet.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Da gab es die Par-tei noch gar nicht!)

Insgesamt vier Bundesregierungen sahen in diesen16 Jahren die Partei in einem zweifelhaften Verhältnis zuunserer Verfassung. Das ist in den unzähligen Verfas-sungsschutzberichten nachzulesen. Seit 2009 gibt es zudiesem Sachverhalt auch eine detaillierte Antwort derBundesregierung auf eine Anfrage der Linken.

Der die aufgeregte Situation in dieser Woche auslö-sende Spiegel-Artikel beinhaltet über diese Antwort hi-naus keine wesentlichen Neuigkeiten. Schon 2009konnte man erfahren, dass 27 Abgeordnete der Linkenbeobachtet werden.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das stand in unserer Kleinen An-frage!)

Die von den Linken beantragte Debatte soll wohl er-neut eine Antwort auf die Frage liefern, ob es nach16 Jahren neue Erkenntnisse gibt, die eine weitere Be-obachtung nicht mehr rechtfertigen würden. Auskunftgibt das Verfassungsschutzgesetz. Der Minister hat esschon gesagt: Voraussetzung ist, dass linksextremisti-sche Bestrebungen nicht mehr erkennbar sind. Dafürgibt es vier Anhaltspunkte:

Erstens. Die Linke hätte dann keine auf Überwindungder freiheitlich-demokratischen Grundordnung gerich-tete Programmatik. Was ist die Realität? Im Parteipro-gramm vom Oktober 2011 findet sich mit keinem einzi-gen Wort die freiheitlich-demokratische Grundordnungerwähnt oder gar ein Bekenntnis zur selbigen.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das steht auch nicht im Parteiprogramm der Union!)

Stattdessen sehen Sie Ihre strategische Kernaufgabe ineiner Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhält-nisse.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Jawohl! Bravo!)

Hier wird offen bekannt, dass Sie eine Veränderung derMacht- und Eigentumsverhältnisse in diesem Land an-streben.

Zweitens. Die Linke dürfte nicht offen extremistischeZusammenschlüsse innerhalb der Partei fördern; davonwar heute schon ein paar Mal die Rede. Ob Kommunisti-sche Plattform, Cuba Sí oder Marxistisches Forum, Siefordern unverblümt die Stärkung aller Tendenzen in derPartei, die einen Systemwechsel zum Ziel haben.

(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Ist das verfassungsfeindlich?)

Inwieweit das übrigens den Deutschen Bundestag be-träfe, können wir nur erahnen. Dafür, Herr Korte, sollendie Menschen mit neuen Wortschöpfungen in die Irre ge-leitet werden. Demokratischer Sozialismus ist für michungefähr genauso plausibel wie die Gründung einerneuen Innung für vegetarische Metzger.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Zuruf von der LINKEN: Das steht im SPD-Programm! – Michael Hartmann [Wackern-heim] [SPD]: Das ist aber ein bisschen schwie-rig!)

Drittens. Bei den Linken müsste es eine klare Abgren-zung gegenüber linksextremistischer Gewalt geben. Wieist die Realität? – Ich zitiere aus dem Parteiprogramm:

Für die Entstehung und Durchsetzung von Klassen-macht sind gewerkschaftliche und politische Orga-nisationen erforderlich, in denen gemeinsame Inte-ressen formuliert und Kämpfe zu ihrer Durchsetzunggeführt werden. Es ist Aufgabe der Partei DIELINKE, diesen Prozess bewusst und aktiv zu för-dern.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau! Jawohl!)

Aufrufe zu Straftaten wie „Schottern“ und Publikationenführender Parteimitglieder bei der Antifa

(Zurufe von der LINKEN: Oh! Oh! –Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Gut, dasswir die in den letzten Jahren hatten! Gut, dasses die gibt!)

stellen keine Abgrenzung dar, sondern sind nichts ande-res als das Hofieren linksextremistischer Gewalt. FrauWagenknecht hält diese linksautonomen Gruppen im-merhin für unterstützenswert.

Viertens. Das Thema „ausländische Guerillaorganisa-tion“ haben wir bereits hinreichend beurteilt. Die PKKerhält von Ihnen Solidaritätsbesuche. Castro wird gelobt.Zu den Regimen in Syrien und im Iran gibt es Ihrerseitsöffentliche Sympathiekundgebungen.

(Zuruf von der LINKEN: Das ist eine Lüge!)

Sie liefern heute wie gestern tatsächliche Anhalts-punkte dafür, dass Sie die freiheitlich-demokratische

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18534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Armin Schuster (Weil am Rhein)

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Grundordnung dieses Staates auf vielfältige Weise an-greifen. Ich bin daher dem BfV sehr dankbar, derlei Ten-denzen ständig zu beobachten und in Berichten zu doku-mentieren. Dieses Amt ist dafür sachlich zuständig undverfügt mit § 8 des Verfassungsschutzgesetzes über einezulässige Befugnisnorm. Genau das haben wir so ge-wollt, und genau das ist auch gut so. Das einzig Uner-trägliche – wenn ich dieses häufig in dieser Woche be-mühte Wort wiederholen darf – ist nicht die Arbeit desBfV, sondern es sind die teils wüsten Kommentare eini-ger Betroffener oder juristisch suboptimal informierterKolleginnen und Kollegen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Meinen Sie die Justizministerin oderwen?)

Die rhetorische Verquickung der Zwickauer Taten mitdem, worüber wir heute diskutieren, ist nichts anderesals absurdes Theater. Die Union wird nicht wie Grünen-Chef Özdemir oder Herr Beck gerade eben in dieseplumpe Falle tappen. Den Versuch, diese Taten dazu zubenutzen, linksextreme Taten weichzuzeichnen und denvon Ihnen ungeliebten Verfassungsschutz öffentlich zudiskreditieren, meine Damen und Herren von der Lin-ken, haben wir erkannt.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das war ein Versagen der von Ih-nen so hochgelobten Dienste!)

Da machen wir nicht mit. Wir werden rechts wie linksauf gar keinen Fall kürzer treten. Ob Mordserien, An-schläge auf Bahnanlagen, brennende Autos, Podiumsdis-kussionen mit RAF-Terroristen oder fehlendes Bekennt-nis zur Verfassung,

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: So ein Quatsch! –Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Das ist eineLüge!)

wir wissen damit verhältnismäßig umzugehen. Das BfVweiß das ebenfalls.

Ich halte übrigens den Vorschlag, der schon gemachtwurde, sich damit im Parlamentarischen Kontrollgre-mium zu befassen, für angemessen. Sie werden dannfeststellen: Die Verhältnismäßigkeit der Mittel wurde ge-wahrt. Dieses Kontrollgremium ist der richtige Ort, umsich damit parlamentarisch auseinanderzusetzen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Da hätte ich gern Akteneinsicht!)

Letzter Punkt. Warum gerade diese 27 Abgeordnetender Linken? Lesen Sie den gestern in der FAZ erschiene-nen Artikel mit Ihrem ostalgisch verklärten Blick!

(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Sie sind ja einganz Schlauer, was? Ein ganz schlauer Spie-ßer!)

Dann kennen Sie genügend Gründe, –

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU):– warum diese Prominenten überwacht werden, Herr

Bockhahn. Es handelt sich um Parteiführer, Parteifunk-tionäre oder Meinungsführer. Von diesen erwarten wirvorbildliches Verhalten im Sinne des Grundgesetzes inIhrer Partei.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen!

Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU):Einen entsprechenden Beweis bleiben Sie uns aber

seit 16 Jahren schuldig.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Dieter Wiefelspütz für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD – Hans-Christian Ströbele[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommtder Demokrat!)

Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich bin hoffentlich völlig unverdächtig, irgend-welche Sympathien für die Linkspartei zu haben.

(Zurufe von der LINKEN: Das stimmt!)

– Ich bedanke mich für die Zustimmung.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ich sehe das anders!)

Aber was uns der Verfassungsstaat Deutschland und dasGrundgesetz wert sind, merkt man, glaube ich, dann,wenn man dieses Grundgesetz ernst nimmt und dieRechte von Menschen verteidigt, die vielleicht nicht dieeigene politische Meinung vertreten. Da müssen doch ei-nige Dinge klargestellt werden.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist Teil desVerfassungsstaats Deutschland. Ich finde es richtig, dasswir einen Inlandsnachrichtendienst, einen Inlandsge-heimdienst haben. Er ist ein Teil unseres Verfassungs-staates. Aber das Bundesamt für Verfassungsschutz istan Recht und Gesetz gebunden, insbesondere an dasGrundgesetz. Das kann nicht streitig sein. Ich bin derfesten Überzeugung – Herr Kollege Hartmann, darüberdarf man sich auch aufregen, finde ich –, dass das Bun-desamt für Verfassungsschutz Recht und Gesetz verletzthat. Ich halte es für eine massive Verletzung des Verhält-nismäßigkeitsprinzips, wenn 27 Abgeordnete der Links-fraktion beobachtet werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Die Beobachtung in dieser Totalität ist nach meinerAuffassung unzulässig und rechtswidrig. An dieserStelle sollten wir uns nicht von Sympathie oder Antipa-

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Dr. Dieter Wiefelspütz

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thie, von politischer Nähe oder Ferne leiten lassen. Esgeht um zentrale Fragen des Verständnisses vom freienMandat in Deutschland. Darüber ist hier schon einigesgesagt worden.

Ich will noch einmal darauf hinweisen: In Deutsch-land gibt es – meine Gedanken kommen da denen desKollegen Beck sehr nahe, was relativ selten ist; aberwenn es nun einmal so ist, dann ist es so – kein Strafver-fahren gegen einen Abgeordneten ohne Genehmigungdes Parlaments. Dem ist nicht so, weil wir etwas Beson-deres wären. Natürlich sind Abgeordnete an Recht undGesetz gebunden, und wenn wir uns strafbar machen,werden wir verurteilt. So ist das in einem Rechtsstaat.Aber es geht um die Funktionsfähigkeit des Parlaments.Dass man dafür besondere Schutzvorkehrungen in unse-rem Grundgesetz schafft, in Art. 38, in Art. 46 und inArt. 47, sollte uns einen, ohne Ansehen der Person. Dasverteidige ich selbstverständlich auch dann mit Leiden-schaft, wenn es um einen Kollegen der Linkspartei geht.Das sollte uns über alle Grenzen der Fraktionen einen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn es bei Strafverfahren so ist, dass das Parlamentmindestens unterrichtet werden muss – warum muss esdann nicht bei der Beobachtung durch einen Nachrich-tendienst informiert werden? Das Grundgesetz schweigtan dieser Stelle,

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Die haben das gar nicht für mög-lich gehalten!)

aber nicht schweigt der Geist des Grundgesetzes.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Genau!)

Deswegen wäre es an sich konsequent, dass man an die-ser Stelle das Grundgesetz demnächst ergänzt. Ob wirdafür eine Zweidrittelmehrheit erhalten, weiß ich nicht.Das wäre eigentlich wunderbar. Der Geist des Grundge-setzes – Art. 38, Art. 46 und Art. 47 – sagt doch: DasParlament muss mindestens informiert werden, wennAbgeordnete überwacht werden.

Liebe Kollegen von der Linkspartei, es kann über-haupt nicht streitig sein, dass es im Einzelfall sehr wohlmöglich sein muss, auch einen Abgeordneten zu be-obachten und möglicherweise sogar zu überwachen,wenn es ganz gravierend ist. Dazu sind einige Beispielegenannt worden. Es kommt letztlich auf den Einzelfallan. Aber es muss geregelt werden, dass das Parlamentüber solche Dinge informiert wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das kann doch gar nicht anders sein.

Ich rate sehr dazu, dass wir darüber nicht parteipoli-tisch diskutieren. Es geht vielmehr um die Qualität unse-res Verfassungsstaats. Dieser ist nicht parteipolitischorientiert. Der Verfassungsstaat ist eine Sache, die unsalle gemeinsam eint. Herr Ruppert, ich meine, wir tungut daran, wenn wir uns zusammenrotten und, was uns

vielleicht gar nicht so naheliegt, die Rechte der Kollegender Linkspartei verteidigen. Nur dann merkt man doch,was uns der Verfassungsstaat Deutschland wirklich wertist, wenn wir uns für diese Leute einsetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Darüber darf man sich aufregen, und darüber rege ichmich auf. Wenn diese Liste von Ihnen, Herr MinisterFriedrich, jetzt überprüft wird, dann ist das das Mini-mum dessen, was geschehen muss. Ich halte es auch fürangebracht, sich zu entschuldigen, weil ich es für völligüberzogen halte, was da geschehen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN – Serkan Tören [FDP]: Die in Ihren Rei-hen klatschen gar nicht mehr!)

– Ja und? Was wollen Sie damit sagen? Was wollen Siedamit behaupten?

(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Machen Sie mal ein Kolloquium mit Ihrer Partei!)

Ich vertrete hier meine persönliche Auffassung.

Ich begrüße es sehr, dass das Bundesverfassungsge-richt angerufen wird, weil endlich höchstrichterlich undnicht nur von dem von mir sehr respektierten Bundesver-waltungsgericht geklärt werden muss, was an dieserStelle möglich ist und was nicht, und ich rate sehr, diebesondere parlamentsrechtliche und die herausgehobeneverfassungsrechtliche Stellung des Abgeordneten in denMittelpunkt der Überlegungen zu stellen. Jedenfalls er-hoffe ich mir an dieser Stelle Klarheit und Wahrheit, undich bitte sehr darum, dass wir alle gemeinsam die Rechteder Parlamentarier verteidigen.

Schönen Dank fürs Zuhören.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen! Sehr

geehrte Kollegen! Zunächst möchte ich auf den Kolle-gen Korte eingehen. Herr Kollege Korte, wenn dieLinkspartei die letzte Partei in Deutschland ist, die diefreiheitlich-demokratische Grundordnung verteidigt, dannmöchte ich – das sage ich Ihnen ganz offen – in diesemLand nicht mehr leben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]:Auf Wiedersehen!)

Nun zu Ihnen, Herr Kollege Dr. Wiefelspütz. Ich habeIhre triefenden Bedenken mit Interesse zur Kenntnis ge-nommen. Ich kann mich allerdings nicht erinnern, dass

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18536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Stephan Mayer (Altötting)

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Sie in den sieben Jahren, als Rot-Grün am Ruder war, je-mals diese Bedenken und diese Aufregung artikulierthaben, dass Sie jemals dem damaligen SPD-Bundesin-nenminister Schily widersprochen haben. Aber selbst-verständlich wurden auch in seiner Amtszeit ein paarAbgeordnete der Linkspartei beobachtet. Wo war dennIhre Aufregung, Ihr Echauffieren damals?

(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Wir haben dazugelernt!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich gebedem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungs-schutz, Herrn Fromm, vollkommen recht, wenn er vonkünstlicher Aufregung spricht, die angesichts dieserThematik in dieser Woche Deutschland ereilt.

(Dr. Eva Högl [SPD]: Ganz so banal ist es auch wieder nicht!)

Ich sage ganz offen: Ich habe Verständnis für die Aufre-gung eines Kollegen der Linkspartei, nämlich des Noch-Parteivorsitzenden Ernst. Herr Ernst, Ihre Nichterwäh-nung auf der Liste besorgt Sie natürlich zu Recht. DieseNichterwähnung zeigt aus meiner Sicht auch sehr deut-lich, welche Bedeutung Sie in der Linkspartei überhauptnoch haben.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU undder FDP – Zuruf von der LINKEN: Das ist jaschon unverschämt!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, in dieserWoche ist nichts Neues zutage gefördert worden. Seit1995 werden Abgeordnete der Linkspartei durch dieVerfassungsschutzämter beobachtet. Auf diese Feststel-lung lege ich Wert. Der Umstand, dass in dieser Wocheso eine große Aufregung ist, dass so ein großes Echauf-fieren stattfindet, lässt für mich nur zwei möglicheRückschlüsse zu. Die eine Möglichkeit ist, dass die Vor-würfe vollkommen unberechtigt sind, dass die Linkspar-tei keinerlei verfassungsfeindliche Tendenzen aufweist,dass Sie alle eine weiße Weste haben, dass Sie alle Un-schuldslämmer sind, dass es keinerlei verfassungsfeind-liche Strömungen in Ihrer Partei oder Ihrer Fraktion gibt.Wenn ich mir aber die letzten Monate vor Augen führe,kann ich diese Möglichkeit nicht für realistisch halten.Es gab deutliche relativierende Äußerungen zur DDR-Vergangenheit, insbesondere zum Mauerbau. Es gab of-fenkundige relativierende Äußerungen von Mitgliedernder Linkspartei zum Existenzrecht Israels.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was heißt hier „offenkundig“?)

Es gab eine hemmungslose Ergebenheitsadresse anläss-lich des Geburtstags des ehemaligen kubanischen Dikta-tors Fidel Castro, und Teile Ihrer Fraktion äußerten of-fene und ungeschminkte Sympathie mit den Diktaturenund Diktatoren in Syrien und im Iran.

(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Lüge! –Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Da hat aber die CDU eine bessereVergangenheit! Wesentlich reichhaltiger!)

Folglich bleibt für mich nur die Alternative übrig:Teile der Linkspartei, einzelne Gruppierungen der Lin-ken, werden völlig zu Recht und gesetzeskonform vonden Verfassungsschutzämtern beobachtet. Dies wurdeauch durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtsvom 21. Juli 2010 eindeutig bestätigt, in dem festgestelltwurde, dass die Beobachtung des Abgeordneten Bartschdurch das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht nurrechtmäßig, sondern auch erforderlich ist.

(Fritz Rudolf Körper [SPD]: Ramelow!)

Ich erlaube mir, aus dem Urteil zu zitieren:

Anhaltspunkte für Bestrebungen einer Partei, diegegen die freiheitliche demokratische Grundord-nung gerichtet sind, sind nicht nur dann gegeben,wenn die Partei in ihrer Gesamtheit solche Bestre-bungen entfaltet; … auch dann …, wenn solche Be-strebungen nur von einzelnen Gruppierungen inner-halb der Partei ausgehen.

Ferner ist festzuhalten, dass der Umstand, dass ein-zelne Abgeordnete beobachtet werden, nicht automa-tisch bedeutet, dass sich die betreffenden Abgeordnetenverfassungsfeindlich verhalten oder Staatsfeinde sind.Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr sehr eindeu-tig herausgearbeitet, dass es im Einzelfall sogar notwen-dig und erforderlich ist, die Parteifunktionäre, die Frak-tionsfunktionäre, also diejenigen, die Spitzenpositioneneinnehmen, zu beobachten, um festzustellen, inwiefernradikale, verfassungsfeindliche Strömungen innerhalbder Partei oder der Fraktion bedeutender werden undvielleicht sogar die Oberhand gewinnen.

Ich darf beispielsweise Frau Sahra Wagenknecht zitie-ren, die zwar ihre Mitgliedschaft in der KommunistischenPlattform, die immerhin 1 200 Mitglieder hat, ruhen lässt,aber deutlich darauf hingewiesen hat, dass sie die Zieleder Kommunistischen Plattform nach wie vor uneinge-schränkt unterstützt, nämlich notfalls auch auf radikalemWeg einen Systemwechsel in unserem Land zu bewirken.Sie wirbt offen dafür, linksextremistische, autonomeGruppen in ihre eigene Partei zu integrieren, um – ich zi-tiere – „eine vielfältige Protestkultur gegen Neoliberalis-mus und Kapitalismus“ zu schaffen.

(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das ist dochnicht verfassungsfeindlich! – Weitere Zurufevon der LINKEN)

In einem Text der Jugendorganisation der Linkenwird zwischen Reform und Revolution kein Wider-spruch gesehen und skrupellos schwadroniert, dass imKampf für einen Systemwechsel alle Mittel recht seien.

Die Parteivorsitzende Lötzsch führte im Januar letz-ten Jahres in einem vorab veröffentlichten Beitrag zu ei-ner Podiumsdiskussion zur Rosa-Luxemburg-Konferenz

(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das hattenwir doch alles schon! – Josef Philip Winkler[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wissenwir doch aus der Zeitung!)

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18537

Stephan Mayer (Altötting)

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unter anderem aus – ich zitiere –:

Die Wege zum Kommunismus können wir nur fin-den, wenn wir … sie ausprobieren, ob in der Oppo-sition oder in der Regierung.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es zeigtsich eindeutig: Es gibt nach wie vor verfassungsfeindli-che Tendenzen, Strömungen innerhalb der Partei DieLinke, und es ist infolgedessen nach wie vor sachgerechtund, wie gesagt, sogar erforderlich, die Linksparteidurch die Verfassungsschutzämter zu beobachten.

(Beifall bei der CDU/CSU – Beifall des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE])

Abschließend möchte ich mir schon noch erlauben, zusagen: Herr Kollege Gysi, wie Sie in dieser Woche dasBundesamt für Verfassungsschutz und vor allem seineMitarbeiter diskreditiert haben, das ist wirklich unan-ständig und ungehörig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Begriffe wie „schwere Meise“, „ballaballa“ und „Pfei-fenverein“

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

werden als unangemessen empfunden. Sie haben damitden Verfassungsschutz und seine Mitarbeiter in höchs-tem Maße diskreditiert.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich kann Sie an dieser Stelle wirklich nur auffordern:Klären Sie endlich Ihr Verhältnis zur freiheitlich-demo-kratischen Grundordnung und zur sozialen Marktwirt-schaft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: PeinlicheRede! – Weitere Zurufe von der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Arnold Vaatz für die CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Schlechterals die vorhergehende Rede kann es eigentlichnicht mehr werden!)

Arnold Vaatz (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Als Erstes möchte ich mich bei dem KollegenKörper dafür bedanken, dass er vorhin den Unterschiedzwischen dem Verfassungsschutz und einem x-beliebi-gen Geheimdienst herausgearbeitet hat.

Die heutige Debatte hat wohl ein Stück weit das Ziel,an der Gleichsetzung von Verfassungsschutz und Staats-sicherheit zu werkeln.

(Lachen bei der LINKEN)

Ich kann Ihnen nur sagen: Ich habe der Robert-Havemann-Gesellschaft in Berlin meine Akten ge-

schenkt. Wenn Sie sie sich ausleihen, können Sie sehen:Ich bin 16 Jahre lang persönlich vom Ministerium fürStaatssicherheit beobachtet worden.

(Zuruf von der LINKEN: Wir auch!)

Das Ministerium für Staatssicherheit hat sich damalsnicht darauf beschränkt, Zeitungsausschnitte aus demNeuen Deutschland auszuschneiden, sondern es hatFreundeskreise, Liebschaften, Familien und überhauptalles ruiniert, was man an zwischenmenschlichen Bezie-hungen in Ostdeutschland aufgebaut hat. Deshalb ist die-ser Vergleich, wie gesagt, fehl am Platz.

Es ist aber richtig, dass wir uns nach 1990 ernsthaftGedanken gemacht haben, ob man nicht auf einen Ver-fassungsschutz verzichten kann. Das zu fordern, daranhat uns allerdings die Überlegung gehindert, dass wir imletzten Jahrhundert in Deutschland insgesamt nur26 Jahre lang Demokratie und 56 Jahre lang Diktaturhatten. Von diesen 56 Jahren herrschte 12 Jahre eineschreckliche faschistische Diktatur und 44 Jahre eine et-was anders geartete linke Diktatur.

(Zuruf von der LINKEN: Etwas!)

Vor diesem Hintergrund erwarte ich von meinem Staat,dass er sich die Frage stellt: Auf welche Weise könnenwir Demokraten verhindern, dass sich die Demokratiejemals wieder selber abschafft?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dafür ist ein Verfassungsschutz notwendig, und dafürist, glaube ich, auch die heutige Diskussion notwendig.

Lieber Herr Kollege Beck, Sie haben vorhin eine inte-ressante Rede gehalten. Ich kenne Sie als einen Redner,der sehr scharfsinnig argumentiert. Aber ich habe vonIhnen noch nie eine so schwache Argumentation vondiesem Pult aus gehört wie die vorhin. Sie haben es unsquasi verboten, die Beobachtung der NPD und die Be-obachtung der Linksabgeordneten in irgendeiner Weisezu vergleichen; denn von den Linken gehe keine Gefahrfür die Demokratie aus. Sie haben gesagt, es sei Stuss, soetwas zu behaupten.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von diesen hier nicht!)

– Ja, genau, von diesen Linken. Das haben Sie gesagt.

Was Sie sonst immer tun, haben Sie dieses Mal nichtgetan: Sie haben Ihre Behauptung nicht begründet. Jetztmöchte ich Ihnen einmal sagen, warum ich in dieser ei-nen Frage völlig anderer Auffassung bin als Sie.

Sie wissen, dass die Bundesrepublik in den 70er-Jah-ren von einer Welle des Linksterrorismus erschüttertworden ist.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Aber das sind doch nicht die dadrüben!)

Sie wissen, dass wir im Jahre 1990 plötzlich feststellenmussten, dass ein Teil der untergetauchten Linksterroris-ten damals in der DDR lebte.

(Zurufe von der LINKEN)

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18538 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Arnold Vaatz

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Da haben wir gedacht, das ist eine bedauerliche Sacheund wird den Linken sehr peinlich sein.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ich habe nicht gesagt, dass es vonlinks keine Gefahr gibt! Aber nicht von dieserPartei, die so heißt!)

Was haben wir dann als Nächstes festgestellt? Am 8. Ja-nuar vorigen Jahres tauchte Frau Inge Viett auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz auf und sagte, das Abfackeln vonMilitärfahrzeugen sei durchaus legitim.

Auch die Linksterroristen im Westen haben eine Spurvon Toten hinter sich hergezogen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das waren doch nicht die hier!)

Ich erwarte von meinem Verfassungsschutz, dass erklärt, ob eine Partei, die im Deutschen Bundestag vertre-ten ist, oder auch Mandatsträger, die im Deutschen Bun-destag vertreten sind, Beziehungen zu solchen Organisa-tionen unterhalten oder ihnen logistische Unterstützungliefern, zumal wenn es begründete Verdachtsmomentewie den Auftritt von Frau Viett gibt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Ich habe gestern in Dresden in der Zeitung gelesen,dass ein Aufruf der Antifaschistischen Aktion durch dieMedien läuft, und zwar unter dem Titel: Dresden zu Sta-lingrad machen. Widerstand mit allen Mitteln am 13.und 18. Februar.

Dazu folgender Aufruf von No Pasaran

(Zuruf des Abg. Alexander Süßmair [DIE LINKE])

– hören Sie zu! –:

Auch am 18. Februar 2012 werden wir wieder bun-desweit nach Dresden fahren, obwohl es den Nazisin diesem Jahr, dank unserer Erfolge, nicht gelingenwird, einen Großaufmarsch zu organisieren.Schließlich gilt es, sächsische Verhältnisse zu kip-pen …

Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass dort Nazisauftauchen, ist plötzlich gar nicht mehr maßgebend. Esgeht gegen den Staat an sich, gegen die Demokratie. Dasist die Zielsetzung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich wünsche, dass diesen Verbindungen auf denGrund gegangen wird. Ich möchte wissen, ob die Antifa-schistische Aktion etwas mit Ihrer Partei zu tun hat,

(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Dann fragen Sie uns, anstatt uns zu bespitzeln!)

zumal deren Aufruf noch heute hier im Bundestag nebender Bürotür Ihres stellvertretenden Fraktionsvorsitzen-den Maurer hängt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Zu persönlichen Erklärungen gebe ich dem Kollegen

Diether Dehm und dann Gregor Gysi das Wort.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Gysi? Der istdoch gar nicht angesprochen worden! Warumkriegt er das Wort? – Gegenruf der Abg.Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Haben SieUhl nicht zugehört?)

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):Kollege Hartmann hat eine Äußerung von mir zitiert,

für die ich mich danach sofort entschuldigt habe, weil esein verunglückter Satireversuch war. Ich glaube, einesolche Äußerung hat, zumal dann, wenn eine Entschuldi-gung ausgesprochen wurde, in einer Debatte über Be-spitzelungen nichts zu suchen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich habe Weihnachten vorletzten Jahres die nicht ge-schwärzten Teile meiner Verfassungsschutzakte einse-hen können. Ich werde seit dem 18. Lebensjahr bespit-zelt; damals war ich – Kollege Hartmann hat das auchangesprochen – noch Mitglied der SPD. Ein Motiv ziehtsich durch alle fünf Aktenordner: dass ich für die Verge-sellschaftung der Deutschen Bank eintrete. Das habe ichseit dem 17. Lebensjahr getan.

Ich möchte darauf hinweisen, dass durch Art. 15 desGrundgesetzes – und ohne diesen Artikel hätte die SPDniemals dem Grundgesetz zugestimmt – die Vergesell-schaftung von Konzernen wie der Deutschen Bank aus-drücklich möglich wird. Das Bundesverfassungsgerichtstellte im Jahr 1954 fest, dass mit Art. 15 des Grundge-setzes eine grundsätzlich andere Wirtschafts- und Sozial-ordnung in Deutschland möglich ist als der Kapitalis-mus.

Ich halte also fest, dass man gelegentlich die Demo-kratie, die Verfassung, den demokratischen Rechtsstaatund den Sozialstaat vor der Deutschen Bank schützenmuss und nicht umgekehrt. Ich halte dies für verfas-sungskonform.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. JosefPhilip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Gregor Gysi.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Uhl

hat gesagt, dass ich in einer Rede erklärt hätte, dass es inder Linken Antisemitismus gebe. Das habe ich zu kei-nem Zeitpunkt erklärt, und das widerspricht auch meinerAuffassung. Allerdings gibt es in unserer Gesellschaft,wie eine Studie jetzt nachweist, in wirklich beachtlichemUmfang Antisemitismus. Deshalb steht in unserem Par-teiprogramm das Ziel der Bekämpfung des Antisemitis-mus. Das ist auch dringend erforderlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Page 75: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18539

Dr. Gregor Gysi

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Ich möchte ferner darauf hinweisen, dass ich die Aus-sage, dass ich nur beobachtet werde, falsch finde. HerrBundesinnenminister, Sie können mir nicht erklären,weshalb auf zig Blättern in meiner Akte steht: „Sperrver-merk“, „Musste entnommen werden“ oder weshalb dieBlätter vollständig geschwärzt sind. Warum darf ich dieUnterlagen, wenn sie öffentlich zugänglich sind, nichtlesen? Das ist doch nicht hinnehmbar. Hier ist doch nichtdie Wahrheit gesagt worden.

Ich möchte noch etwas sagen. Ja, Sie haben recht: Ichhabe abfällig über das Bundesamt für Verfassungs-schutz, das heißt den Inlandsgeheimdienst, gesprochen.Ich nenne Ihnen auch die Gründe: Seit Jahren passierenzehn Morde, organisiert vom Rechtsterrorismus, unddieses komische Bundesamt ist nicht in der Lage, eineneinzigen Beitrag zu leisten, um sie zu verhindern oderwenigstens darauf hinzuweisen, dass der Rechtsterroris-mus dahintersteckt. Dazu ist es nicht in der Lage. Aber27 Abgeordnete meiner Fraktion kann es die ganze Zeitbeobachten. Deshalb sage ich: Die sind ballaballa undein Pfeifenverein, und ich bleibe auch dabei.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. JosefPhilip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege Gysi, Sie haben das Wort zu einer per-

sönlichen Erklärung. Ich habe Ihnen nicht das Wort zueiner Kurzintervention erteilt.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):Das stimmt ja auch.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Deswegen bitte ich Sie, Schluss zu machen.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):Das ist ja auch eine persönliche Erklärung. Mir ist das

ja vorgeworfen worden.

Ich will nur noch sagen, dass wir eine Gesetzesände-rung brauchen. Ich bin auch dafür, dass man einen HerrnApfel beobachtet. Aber das darf doch nicht so willkür-lich geschehen. Wo ist der Vorbehalt? Wo wird das Par-lament gefragt? Wo wird es informiert? Es ist alles in-diskutabel. Deshalb werden wir sehen, wie dasBundesverfassungsgericht über unsere schon längst ein-gereichte Klage und die Verfassungsbeschwerde desHerrn Ramelow entscheiden wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Da Gregor Gysi das Instrument der persönlichen Er-

klärung zu einer Kurzintervention verwandelt hat, mussich nun Kollegen Uhl Gelegenheit geben, auf dieseKurzintervention zu antworten.

(Beifall des Abg. Peter Altmaier [CDU/CSU])

Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):Herr Kollege Gysi, Sie haben nicht recht mit Ihrer Be-

hauptung, Sie hätten nicht zum Antisemitismus in derPartei Die Linke gesprochen. Ich habe hier eine Rede inder Hand, gehalten am 14. April 2008, Überschrift: „DieHaltung der deutschen Linken zum Staat Israel“. Dorthaben Sie, angesichts 60 Jahre Israel, umfangreich über13 Seiten dargestellt, worin die Probleme der antisemiti-schen Kräfte in der Partei Die Linke

(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: In der deut-schen Linken!)

im Umgang mit dem Staat Israel bestehen. Sie habensehr sensibel und sehr klug herausgearbeitet, dass Anti-semitismus heute immer wieder als antiisraelische Poli-tik verkleidet in Erscheinung tritt, auch in Ihrer Partei.

Sie haben dann herausgearbeitet – auch mit Recht –,dass es zur Staatsräson dieser Bundesrepublik Deutsch-land gehört, das Existenzrecht Israels nicht zu verneinen,sondern zu bejahen, dass es zur Staatsräson dieser Repu-blik gehört, Solidarität mit den Juden im Staate Israel zuüben. Sie haben gesagt, wenn die Partei Die Linke mitdieser Staatsräson nicht im Reinen sei – und sie ist nichtim Reinen, sonst hätten Sie die Rede nicht haltenmüssen –, dann werde sie niemals in Deutschland eineRegierungsbeteiligung organisieren können.

(Beifall bei der CDU/CSU – AlexanderSüßmair [DIE LINKE]: Das ist eine Unterstel-lung!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN

Einsetzung eines Untersuchungsausschusses

– Drucksache 17/8453 –

Hierzu liegt je ein Änderungsantrag der Fraktion DieLinke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen PeterAltmaier für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Peter Altmaier (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die abscheuliche Mordserie der rechtsextremis-tischen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrundhat uns alle in diesem Haus so schockiert wie kaum einanderes Ereignis der letzten Jahre. Es hat uns schockiert,weil wir Verbrechen in dieser Art, in diesem Umfang, indieser Größenordnung in unserem Land nicht für mög-lich gehalten hätten. Es hat uns schockiert wegen des un-säglichen Leides, das damit viele Jahre lang über sehr

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18540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Peter Altmaier

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viele Menschen, die friedlich bei uns leben, gekommenist. Es hat uns schockiert, dass es den Betreffenden solange möglich war, unerkannt und unbehelligt ihr Unwe-sen zu treiben. Dies können und dies werden wir für dieZukunft nicht hinnehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Das war der Grund, warum wir in einer eindrucksvol-len Debatte und einer ebenso eindrucksvollen Entschlie-ßung vom 22. November letzten Jahres einstimmig dieseGefühle und unsere Entschlossenheit zur Aufklärungund zur Ziehung der notwendigen Konsequenzen zumAusdruck gebracht haben.

In diese Erklärung des Deutschen Bundestags, diezeigt, wie breit und wie stark der demokratische Nach-kriegskonsens in unserem Land ist, haben wir nach reif-licher Überlegung alle Fraktionen in diesem Haus ein-bezogen. Ich glaube, es war richtig, dass wir alleFraktionen in diesem Haus einbezogen haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da klatschen nur wir!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren von derFraktion Die Linke, erlauben Sie mir aber auch folgen-den Hinweis: Ich gehöre diesem Bundestag seit 17 Jah-ren an. Ich war dafür, dass Sie in das Rubrum des An-trags aufgenommen wurden. Gleichzeitig bin ich aberdeprimiert darüber, wie wenig Sie Ihre 20-jährige Zuge-hörigkeit zum Deutschen Bundestag genutzt haben, umsich in Ihrer eigenen Arbeit von antisemitischen, anti-europäischen, antidemokratischen und antiamerikani-schen Tendenzen zu distanzieren und einen klarenSchlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. SolangeSie das nicht schaffen, dürfen Sie sich nicht wundern,wenn Sie in anderen Fragen der Politik nicht so behan-delt werden, wie dies für die SPD, die Grünen, die FDPund die CDU selbstverständlich ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir halten es für richtig, dass wir den Konsens vom22. November letzten Jahres hinsichtlich der Verurtei-lung der Tat auch hinsichtlich der Aufarbeitung für dieZukunft beibehalten. Wir glauben, dass es für die Ak-zeptanz in unserem Land und für den Erfolg unsererAufklärungsarbeit wichtig ist, dass wir uns nicht übereinzelne prozedurale Fragen zerstreiten.

Deshalb sage ich: Wir von unserer Fraktion warenund sind nicht zu 100 Prozent überzeugt, dass die Einset-zung eines Untersuchungsausschusses das naheliegendeund am besten geeignete Instrument ist, um diese Arbeitzu leisten. Wir hätten einer Expertenkommission vonBund und Ländern den Vorzug gegeben, weil wir glau-ben, dass vieles von dem, was aufzuklären ist, die Zu-ständigkeit der Länder sowie die Schnittstellen zwischeneinzelnen Ländern und auch die Schnittstellen zum Bundberührt. Deshalb haben wir uns sehr früh für eine Exper-tenkommission von Bund und Ländern ausgesprochen,

die der Bundesinnenminister dankenswerterweise vorge-schlagen hat.

Wir haben aber festgestellt, dass es auch zwei Frak-tionen in diesem Haus gibt, die aus ihrer Sicht zu demErgebnis gekommen sind, dass die Einsetzung eines Un-tersuchungsausschusses angezeigt ist. Auch wenn dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktionnicht ganz über das notwendige Einsetzungsquorum ver-fügt haben, waren wir der Auffassung, dass es nicht wertist, sich an dieser Stelle zu zerstreiten.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)

Ich meine, es ist ein Beweis für die Tragfähigkeit un-seres Grundkonsenses, dass wir uns auf eine Gesamtlö-sung geeinigt haben, die den Anliegen aller Seiten indiesem Haus gerecht wird. Es wird eine Expertenkom-mission von Bund und Ländern geben, die in ihrem Um-fang überschaubar ist und die imstande sein wird,schnell und effizient zu arbeiten. Zudem wird es einenUntersuchungsausschuss geben, der vermeiden soll, dasswir im Deutschen Bundestag an vier oder fünf Stellenparallele Arbeiten durchführen. Dieser Untersuchungs-ausschuss wird die Arbeiten bündeln. Außerdem wird ereinen Sonderermittler haben, der ebenfalls imstande seinwird, die Aufarbeitung voranzutreiben. Ich bin über-zeugt, dass diese Lösung auch in der Öffentlichkeit An-erkennung finden wird.

Es ist jetzt unsere Aufgabe, dass wir alles tun, damitin der Praxis tatsächlich eine Aufklärung der Vorgängeerfolgt, damit es möglich wird, aufzuklären, welche Feh-ler, Pannen und Versäumnisse vorgekommen sind,

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Genau!)

damit es möglich wird, die richtigen Konsequenzen fürdie Zukunft zu ziehen.

Nachdem wir es geschafft haben, bereits vor Weih-nachten in der Innenministerkonferenz einen Konsensüber die Expertenkommission herzustellen, nachdem wires geschafft haben, uns auf einen gemeinsamen Antragzu einigen, wäre es, glaube ich, nicht gut, wenn wir unsin den nächsten Wochen und Monaten darüber streitenwürden, wer welche Akten bekommt und wie die Zu-sammenarbeit zwischen Bund, Ländern und den jeweili-gen Gremien auszusehen hat. Deshalb will ich auch imNamen meiner Geschäftsführerkollegen der anderenFraktionen sagen: Wir sehen uns in der Verantwortung,dass wir, der Deutsche Bundestag, gemeinsam mit demBundesinnenminister und den Bundesländern dafür sor-gen, dass wir eine vernünftige Arbeitsteilung herstellenund die Arbeit in einem Geiste der vertrauensvollen Zu-sammenarbeit so organisieren, dass sie in absehbarerZeit zu Ergebnissen führt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will fürmeine Fraktion sagen, dass wir mit der Einsetzung die-ses Untersuchungsausschusses selbstverständlich nicht

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18541

Peter Altmaier

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aufhören werden, schon jetzt die Konsequenzen zu zie-hen, die auf der Hand liegen. Wir erkennen an, dass dieBundesregierung imstande war, sehr schnell erste Maß-nahmen zu ergreifen. Ich gehe davon aus, dass dies auchin Zukunft der Fall sein wird.

Der Umstand, dass wir einen Untersuchungsaus-schuss haben, in dem sich Experten – der KollegeBinninger aus unserer Fraktion und andere – mit diesersicherlich nicht ganz einfachen Materie beschäftigen,entbindet uns, den Bundestag insgesamt, nicht von unse-rer politischen Verantwortung. Wir werden dafür sorgen,dass dieses Thema nicht in Vergessenheit gerät und wirdie notwendigen Konsequenzen ziehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Thomas Oppermann für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Thomas Oppermann (SPD):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die

Morde, Bombenanschläge und Banküberfälle des Natio-nalsozialistischen Untergrunds gehören zweifellos zuden schwersten Verbrechen in der Geschichte der Bun-desrepublik Deutschland. Wir haben gesehen, wie sichaus einer nationalistischen Ideologie über die Zwischen-stufe einer aggressiven rechtsextremen Kameradschaftein rechter Terror entwickelt hat. Ich muss Ihnen ganzehrlich sagen: Es ist für mich immer noch ein unheim-lich schwer zu ertragender Gedanke, dass sich nach demEnde der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft imdemokratischen Deutschland über zehn Jahre hinweg einvom rassistischen Vernichtungswillen geprägter natio-nalsozialistischer Terror ausbreiten konnte.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist ein deprimierender Befund, dass unsere Sicher-heitsbehörden diese Verbrechen nicht verhindern konn-ten, obwohl es möglich gewesen wäre. Es war eineganze Kette von Fehlern, Fehleinschätzungen und Nach-lässigkeiten, die es am Ende den Terroristen leicht ge-macht haben, diese Verbrechen zu begehen.

Dabei geht es im Kern um die Schutzpflichten desStaates, um die elementaren Schutzpflichten, die derStaat gegenüber seinen Bürgern hat, nämlich die Sicher-heit der Bürger vor solchen Verbrechen zu gewährleis-ten. Diese Schutzpflichten hat der Staat verletzt. Insofernist es auch ein ganz schlimmer Fall von Staatsversagen,den wir hier erlebt haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb sind wir es den Opfern und ihren Angehöri-gen schuldig, dass diese Vorgänge umfassend und ohnejede Rücksichtnahme aufgeklärt werden und wir alle

notwendigen Maßnahmen ergreifen, damit sich solcheschlimmen Verbrechen in Deutschland nicht noch ein-mal ereignen können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Die Voraussetzungen dafür sind gut. Peter Altmaierhat darauf hingewiesen, dass der vorliegende Antrag vonallen Fraktionen des Deutschen Bundestages getragenwird. Dass wir einen Konsens der demokratischen Par-teien haben, das ist eine wichtige Voraussetzung. Wirsind nicht dem schnellen Reflex gefolgt, einen Untersu-chungsausschuss als Kampfinstrument der Oppositiongegen die Regierung einzusetzen. Das wäre falsch undkurzsichtig gewesen. Stattdessen haben wir bei genauerPrüfung festgestellt, dass ein Bundestagsuntersuchungs-ausschuss nur begrenzte Möglichkeiten hat,

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Na, na, na! – Hans-Christian Ströbele[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehenwir anders!)

Sachverhalte zu überprüfen, die im Bereich der parla-mentarischen Verantwortlichkeit von Landesregierungenliegen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie sind ja dieses Mal nicht dabei, HerrKollege Oppermann!)

Wir wollen eine umfassende Aufklärung. Uns genügtes nicht, festzustellen, dass die eine oder andere Landes-regierung nicht kooperiert,

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die muss!)

um sie dann dafür zu kritisieren. Das bringt uns in derSache nicht weiter. Deshalb ist die Idee, eine Bund-Län-der-Ermittlungsgruppe aufzustellen, mit den Ländern ge-meinsam die Vorgänge in den einzelnen Bundesländernzu untersuchen, insbesondere die Schnittstellen vonBund und Ländern, richtig. Hier hat sich die Idee einerintelligenten Verknüpfung von Untersuchungsausschussund Bund-Länder-Kommission durchgesetzt.

(Beifall bei der SPD)

Ich bin davon überzeugt, dass es gelingt, ein Gesamt-bild der Vorgänge zu bekommen. Wir müssen den Sach-verhalt feststellen, der sich zugetragen hat. Auf der Basisdieses Sachverhaltes muss eine Schwachstellenanalysedurchgeführt werden. Dann brauchen wir Vorschläge,wie unsere Sicherheitsarchitektur so verändert werdenkann, dass sich ein solcher Vorgang nicht wiederholenkann.

Weil das Ganze so konzipiert ist, bin ich froh darüber,dass dieser Untersuchungsausschuss kein Skandalisie-rungsinstrument ist, sondern ein Aufklärungsinstrumentmit zusätzlichen Möglichkeiten im Sinne einer Gesetz-gebungs- und Empfehlungsenquete, Vorschläge zu erar-beiten, wie wir unser Sicherheitssystem in diesem Be-reich verbessern können.

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18542 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Thomas Oppermann

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Der Untersuchungsausschuss hat drei Ziele:

Erstens die Aufklärung des Sachverhaltes und dieAusarbeitung von Empfehlungen, von denen ich ebengesprochen habe.

Zweitens erhoffe ich mir von diesem Ausschuss, dasswir Belege und Beweise für die Zusammenarbeit zwi-schen NPD bzw. NPD-Mitgliedern und dem braunenUnterstützernetzwerk der Terroristen finden. Wir stellenschon jetzt fest: Ohne die mitwirkenden NPD-Mitgliederwäre das braune Unterstützungs- und Sympathisanten-netzwerk für die Rechtsterroristen nicht möglich gewe-sen. Der Untersuchungsausschuss muss die Möglichkeitnutzen, Belege und Beweise für die Verfassungswidrig-keit der NPD zu sammeln, damit wir sie in einem zwei-ten Verbotsverfahren verwerten können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender FDP und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Nicht zuletzt erhoffe ich mir von diesem Ausschuss,dass er dazu beiträgt, das gesellschaftliche Bewusstseinzu verändern. Die vielen Fehler, die die Sicherheitsbe-hörden gemacht haben, sind für mich kein Zufall. Soviele Fehler macht man nur in einem Umfeld, das von ei-ner nachhaltigen Verharmlosung rechtsextremer Ideolo-gie und neonazistischer Gewalt geprägt ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender FDP, der LINKEN und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Der Rechtsextremismus ist in Deutschland über Jahrehinweg systematisch unterschätzt werden. Deshalb müs-sen wir dazu beitragen, dass sich die Haltung der Men-schen in diesem Land verändert. Die rechtsextremeIdeologie will die demokratische und pluralistische Ge-sellschaft bekämpfen. Sie stellt einen Grundgedankenunserer Verfassungsordnung infrage, nämlich die Gleich-wertigkeit aller Menschen. Die Rechtsextremen wollendie Menschen einteilen in höherwertige und in minder-wertige. Wir alle müssen dieser Ideologie entgegentre-ten,

(Beifall der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])

egal wo sie auftritt: ob am rechten Rand der Gesellschaftoder in der Mitte der Gesellschaft. Auch dazu muss derAusschuss einen Beitrag leisten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Frak-

tion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ent-

hüllungen der letzten Wochen haben das Vertrauen der

Bevölkerung in die Arbeit der Sicherheitsbehördennachhaltig beeinträchtigt. Bei den Morden der Zwick-auer Zelle handelt es sich um die bislang schwerwie-gendsten neonazistisch motivierten Gewalttaten, die dieBundesrepublik Deutschland erlebt hat. Es gab schonjetzt erkennbare erhebliche und kaum fassbare Fehlerund Versäumnisse auch der Sicherheitsbehörden. DieBürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch darauf,eine lückenlose und einheitliche politische Aufklärungdieser Fehler zu erhalten.

Deshalb muss neben einer juristischen Aufarbeitungdurch den Generalbundesanwalt nun auch eine politischeAufklärung erfolgen. Es muss geklärt werden: Werwusste was? Wer trägt für diesen Dilettantismus der Si-cherheitsbehörden die Verantwortung? Wie können wirden braunen Sumpf trockenlegen? Die Fragen nach denKonsequenzen sind wir den Opfern, der schockiertendeutschen Öffentlichkeit und unserer Demokratie schul-dig.

Die FDP-Fraktion hat von Anfang an die Möglichkeiteines Untersuchungsausschusses erwogen. Insofernstimmt es nicht ganz, dass die Größe des Ausschussesverändert werden müsste, damit die Fraktionen, die vonAnfang an einen solchen Ausschuss erwogen hätten, dieViertelminorität erreichen. Die wird jetzt erreicht.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja, aber so richtig Opposition sind Siedoch auch noch nicht, Herr Kollege!)

Die SPD hat in den letzten Wochen mehrmals ihreMeinung gewechselt und trägt aus meiner Sicht die Ver-antwortung dafür, dass wir erst in diesem Jahr die Ver-fahrensfragen abschließend besprechen konnten. Überdie Gründe kann man nur spekulieren. Umso mehr freutes mich aber, dass nun alle Fraktionen sich auf die Ein-setzung dieses Ausschusses geeinigt haben. Der KollegeAltmaier hat die Eckpunkte entsprechend skizziert.

Die FDP hat von Anfang an auf eine lückenlose Auf-klärung gedrängt. Zu viel ist augenscheinlich vor allemauch in der Koordination der Behörden schiefgelaufen.Zu sehr belasten diese Morde das Ansehen unserer Si-cherheitsorgane im In- und Ausland. Insbesondere stehtder Eindruck im Raum, die Länder hätten nebeneinan-derher gearbeitet. Es wäre deshalb unverantwortlich,wenn sich die Innenminister der Länder weigern wür-den, ihren Beitrag zur politischen Aufarbeitung auch ander Stelle zu leisten.

Der Bund hat nach dem Grundgesetz die Alleinzustän-digkeit zur Regelung der Zusammenarbeit der Verfas-sungsschutzbehörden. Offenbar sind sich manche Län-derdienststellen nicht der Verantwortung bewusst, dieihnen der Bund durch das derzeitige sehr länderfreundli-che Verfassungsschutzgesetz einräumt. Das Bundesamtfür Verfassungsschutz hat allerdings schon jetzt sehrweitreichende Kompetenzen, auch Informationen aus denBundesländern einzuziehen. Hier erwarte ich im Aus-schuss erheblich mehr Informationen.

Das Nebeneinander der Sicherheitsbehörden, die un-verhohlene Verteidigung von Ressortegoismen und auchvon Kompetenzen im Bund-Länder-Verhältnis muss auf

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18543

Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

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den Prüfstand. Wer nicht kooperiert, schafft Sicherheits-lücken. Das war bei der Beobachtung der Sauerland-Gruppe so, und das ist in diesem Fall leider auch so. Wirbrauchen eine neue Sicherheitsarchitektur unter Einbe-ziehung der Länder.

Meine Damen und Herren, die bisherigen Initiativendes Bundesinnenministers für ein gemeinsames Abwehr-zentrum und die Zusammenführung von Daten weisen indie richtige Richtung. Weitere, vor allem auch organisa-torische Maßnahmen, insbesondere in Zusammenarbeitmit den Ländern, sind nötig.

Der Untersuchungsausschuss hat die Aufgabe, zu er-mitteln, welche Fehler gemacht wurden. Nur so könnenwir verhindern, dass sich Derartiges wiederholt. DieFDP wird auf der lückenlosen Aufklärung bestehen undkonsequent und konstruktiv im Ausschuss mitarbeiten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Petra Pau für die Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Petra Pau (DIE LINKE):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Innenausschuss des Bundestages hat sich mehrfach mitder Nazimordserie der sogenannten Zwickauer Zelle be-fasst. Stets waren Vertreter des Innenministeriums, desBundeskriminalamtes, des Verfassungsschutzes, der Bun-desanwaltschaft und weiterer Behörden dabei. Es ging umAufklärung. Das hofften wir.

Den mageren Ertrag fasste der Kollege WolfgangBosbach, CDU, so zusammen: Die was wissen, die kom-men nicht. Die, die kommen, wissen nichts. Und die, diewas wissen und dennoch kommen, die sagen nichts. –Prägnanter kann man kaum bündeln, warum wir nun die-sen Untersuchungsausschuss brauchen.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-ten der SPD)

Es sei an zwei Zitate erinnert, beide vom Präsidentendes Bundesamtes für Verfassungsschutz. Heinz Frommmeinte, die Nazimordserie sei eine „Niederlage für dieSicherheitsbehörden“, und er räumte ein:

Wir haben die jetzt bekannt gewordenen Täter nichtwirklich verstanden. … Dabei hätte man es besserwissen können.

Folglich muss der Untersuchungsausschuss auch derFrage nachgehen, warum der Rechtsextremismus so be-harrlich unterschätzt wird. Zehn Menschen mussten diesmit ihrem Leben bezahlen. Ich korrigiere mich: seit 1990mehr als 150 Menschen. Ich denke: Der Bundestagschuldet ihnen und all ihren Angehörigen eine vorbehalt-lose Aufklärung.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD, der FDPund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowiebei Abgeordneten der CDU/CSU)

Rechtsextremismus ist eine Gefahr für Leib und Le-ben. Fragen Sie Initiativen, die sich täglich gegenRechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus en-gagieren. Sie haben längst das Wissen und die Kompe-tenz, die die Familienministerin, Kristina Schröder, nunplötzlich mit einer staatlichen Extrabehörde schaffenmöchte. Viel besser wäre es, diese Initiativen nicht stän-dig infrage zu stellen, nicht politisch und auch nicht fi-nanziell.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-ten der SPD)

Der Bundesinnenminister, Hans-Peter Friedrich, hatrecht, wenn er ermahnt: Der Kampf gegen Rechts isteine „Daueraufgabe der gesamten Gesellschaft“. Ichfrage mich allerdings, warum die Regierung dagegenseit Jahren Knüppel streut.

Es ist gut, dass sich nun alle Fraktionen weitgehendeinvernehmlich auf einen Untersuchungsausschuss geei-nigt haben. Allerdings – das spielte eben schon eineRolle – ist die Gefahr noch nicht gebannt, dass sich maß-gebliche Behörden auf ein angebliches Aussageverwei-gerungsrecht zurückziehen. Wir kennen das auch aus an-deren Untersuchungen. Ich hoffe also, dass die Appelleder Kollegen Altmaier, Wolff und anderer auf fruchtba-ren Boden fallen. Sollte dies aber nicht der Fall sein: DieLinke hat alle einschlägigen Urteile des Bundesverfas-sungsgerichts parat. Deutlicher gesagt: Wir sind vorbe-reitet, das Kontrollrecht des Parlamentes gegenüber denBundesbehörden notfalls auch in Karlsruhe durchzuset-zen.

(Beifall bei der LINKEN – Hans-ChristianStröbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: DasGesetz ist auf unserer Seite!)

Nun gibt es noch einen weiteren Streit, nämlich denüber die zahlmäßige Stärke des Untersuchungsausschus-ses. Im Angebot sind 8, 11 oder 15 Mitglieder. CDU/CSU, FDP und SPD neigen zu 11 Abgeordneten. Dasklingt wie der goldene Mittelweg, ist es aber nicht. Des-halb sage ich allen interessierten Zuhörern: Bei 8 oder15 Mitgliedern hätten Grüne und Linke zusammen eineigenes Beweisantragsrecht. Bei 11 Ausschussmitglie-dern wären beide Fraktionen drittrangig. Ich finde, liebeKolleginnen und Kollegen, ein Elferrat ist kein Beleg fürSouveränität.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN)

Abschließend noch zwei persönliche Bemerkungen:Sie, Herr Bundesinnenminister Friedrich, sind aktuellmehrfach zur Überwachung der Linken durch den Ver-fassungsschutz befragt worden, ganz allgemein, aberauch konkret nach der Vizepräsidentin des BundestagesPetra Pau, also mich. Sie haben darauf mit einem Ver-weis auf die NPD reagiert. Ich finde es unverschämt,mich mit diesem braunen Gesindel auch nur ansatzweisezusammen zu denken.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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18544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Petra Pau

(A) (C)

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Es mag sein, dass Sie schlecht beraten waren. Es magsein, dass Sie in Erklärungsnot waren. Aber eine solcheinfame Unterstellung weise ich persönlich enttäuschtund strikt zurück.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Deshalb will ich auch daran erinnern: Die Nazis ka-men 1933 nicht an die Macht, weil die NSDAP so starkwar, sie wurden mächtig, weil Demokratinnen und De-mokraten zu schwach und zerstritten waren. Diese Lehreaus der Geschichte sollte endlich auch bei Behörden undMinistern ankommen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN – Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]:Demokratieunterricht von den Linken ist dasLetzte, was wir brauchen!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Volker Beck für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die

Morde der rechtsterroristischen Mundlos-Zschäpe-Bande haben Deutschland erschüttert. Das Erschütterndeist, dass Menschen sterben mussten, weil die Sicher-heitsbehörden in unserem Land versagt haben. DieMorde hätte man verhindern können, wenn man die Tä-ter verfolgt, verhaftet und vor Gericht gestellt hätte. Dasist eine Tragödie, die nicht wiedergutzumachen ist. DasVertrauen in unseren Rechtsstaat ist bei Teilen unsererBevölkerung dadurch nachhaltig erschüttert worden.

Das Institut für Migrations- und Politikforschung derUniversität Ankara hat festgestellt: Viele türkische Mi-granten haben durch diese Vorgänge das Vertrauen inden deutschen Rechtsstaat verloren. 55 Prozent glauben,dass die Rechtsterroristen vom deutschen Staat beschütztoder gar gefördert wurden. Wenn man sich die Informa-tionen der letzten Wochen anschaut, kann man sagen:Diese Annahme ist nicht gänzlich falsch. Natürlich wares nicht der Staat selbst, aber einige seiner Beamten ha-ben versagt, haben diese Bande indirekt geschützt undihr sogar Geld zukommen lassen.

Deshalb ist es wichtig, dass der Deutsche Bundestagheute mit allen fünf demokratischen Fraktionen – ich be-tone das – diesen Untersuchungsausschuss gemeinsameinsetzt. Nur ein Untersuchungsausschuss kann Zeugenunter Wahrheitspflicht vorladen und sie zwingen, zu sa-gen, was sie wissen, damit alles auf den Tisch kommt.Ich war nie gegen eine Bund-Länder-Kommission, in derdie Exekutive sie selbst betreffende Vorgänge selbst auf-klärt und schaut, welche ihrer Fehler sie sich zurechnetund welche davon sie der Öffentlichkeit präsentierenwill. Solch eine Kommission kann aber eine parlamenta-rische Untersuchung nicht ersetzen. Sie kann allenfallsUnterstützung bei der Aufklärungsarbeit leisten. Wenn

sie konstruktiv arbeitet, nehmen wir die Informationengerne entgegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich bin froh, dass es jetzt diese Gemeinsamkeit be-züglich des Untersuchungsausschusses gibt; denn daswar im Dezember 2011 noch nicht so. Wir mussten hef-tig kämpfen und Überzeugungsarbeit leisten, dass diesder richtige Weg ist. Wir hatten auch Diskussionen überden Auftrag; einige Formulierungen hätten uns vieleSteine in den Weg gelegt. Es ist gut, dass wir heute Kon-sens feststellen und das Anliegen gemeinsam tragen.

Aber wenn tatsächlich Konsens herrscht, dann frageich Sie: Warum fürchtet jemand das gemeinsame Beweis-antragsrecht von zwei kleinen Fraktionen, damit sie voll-ständig und gleichberechtigt, also auf Augenhöhe, imUntersuchungsausschuss mitwirken können? Wir stel-len dazu Änderungsanträge. Ich finde, Sie sollten IhremHerzen einen Ruck geben. Sie haben zwei Möglichkei-ten: Sie können den Untersuchungsausschuss größeroder kleiner machen. Auf beiden Wegen kommen Sie zudem Ergebnis, dass diese beiden Fraktionen das Beweis-antragsrecht erhalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der LINKEN – Michael Hartmann[Wackernheim] [SPD]: Es gibt drei Opposi-tionsfraktionen!)

Wenn Sie das nicht tun, sollten Sie sich aber ver-pflichten, diesen Anträgen jeweils stattzugeben; ansons-ten versuchen Sie, durch einen Trick bei der Zusammen-setzung die vorbehaltlose Aufklärung zu verhindern.

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Herr Beck, was für ein Trick?)

Wir müssen vorbehaltlos aufklären, wir müssen Fragenstellen. Wir müssen zum Beispiel fragen, wie es seinkonnte, dass man 14 Jahre lang eine Mörder- und Bank-räuberbande aus dem Nationalsozialistischen Unter-grund nicht gefunden und ergriffen hat, ihnen nichtnachgesetzt hat. Wie konnte es sein, dass der Vater einerdieser Terroristen vom Verfassungsschutz angerufenwurde und ihm gesagt wurde, er solle nur von einer Tele-fonzelle aus anrufen, wenn er Kenntnis von Aufenthalts-orten seines Sohnes hat, ansonsten höre auch die Polizeizu? Wie kann es in einem Rechtsstaat sein, dass der Ver-fassungsschutz Mörder und Terroristen vor polizeilicherVerfolgung schützen will? Das ist doch unmöglich!

Unmöglich ist auch, dass man lange Zeit die Opfer zuTätern gemacht hat, indem man das irre Wort „Döner-Morde“, das Unwort des Jahres 2011, verwendet hat. Eshaben nicht Döner gemordet, und es sind auch nicht Dö-ner ermordet worden, sondern es sind Menschen mitMigrationshintergrund von deutschen Rassisten undRechtsextremisten angegriffen worden. In dieser Rich-tung hat man aber nicht gesucht, weil man in den zustän-digen Behörden offensichtlich bestimmte Vorurteilehatte, was dazu geführt hat, dass man in die falscheRichtung ermittelt hat.

Page 81: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18545

Volker Beck (Köln)

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Auch kriminalistisch ist vieles falsch gelaufen. Manhat Beweise, die bei Anschlägen sichergestellt wordensind, vernichtet. Hätte man sie zusammengefügt undzum Beispiel das Material der Rohrbomben, die in denJahren 2003 und 2004 explodiert sind, verglichen, hätteman gemerkt, dass es hier einen Tatzusammenhang ge-geben hat. All das hat man aber nicht getan.

Notwendig ist eine tiefgreifende Analyse. Wir müs-sen überprüfen: Was läuft beim Informationsaustauschfalsch: zwischen Polizei und Geheimdienst,

(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Ja!)

zwischen Bund und Ländern

(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Ja!)

und zwischen den Ländern?

(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Ja! Aber da sind Sie der Bremser!)

Wir müssen uns aber auch fragen: Was für eine Mentali-tät herrscht in manch einer Behörde, wenn es dazu kom-men kann, dass man so grundsätzlich falsch ermitteltund falsch vorgeht? Das sind wir den Menschen imLande schuldig.

Ich denke, durch eine vorbehaltslose Aufklärung kön-nen wir viel Vertrauen in den Rechtsstaat zurückgewin-nen, wenn wir im Anschluss die Pannen und Struktur-probleme unserer Sicherheitsbehörden entsprechend denEmpfehlungen der Kommission beheben. Wir wollendaran gerne mitwirken. Ich hoffe in der Tat, dass es indiesem Ausschuss nicht zu Streit zwischen den Fraktio-nen bzw. zwischen Opposition und Koalition kommt,sondern dass alle vorbehaltlos an der Aufklärung mitwir-ken. Das sind wir den Opfern und deren Angehörigenschuldig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN – Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Dasliegt ganz an Ihnen!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Clemens Binninger für die CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Clemens Binninger (CDU/CSU):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Diese Mordserie hat uns alle erschüttert. Am 22. No-vember letzten Jahres hat der Deutsche Bundestag ge-meinsam ein Zeichen gegen diese schrecklichen Verbre-chen gesetzt. Heute setzt der Deutsche Bundestag wiederein Zeichen, indem er gemeinsam, getragen von allenFraktionen, einen Untersuchungsausschuss einsetzt. VonUntersuchungsausschüssen sind wir aus der Vergangen-heit gewohnt, dass sich sehr schnell ein klassisches Rol-lenverständnis entwickelt: die Opposition auf der einenSeite, die Regierung auf der anderen Seite. Die Fraktio-nen spielen also auch dort eine Rolle.

Dieser Ausschuss wird nicht so sein;

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Hoffentlich!)

dafür kann man, wie ich glaube, schon heute garantieren.Er wird gemeinsam versuchen, diese schreckliche Mord-serie aufzuklären und herauszufinden, wo es Versäum-nisse gab. Eines muss uns klar sein: Wir müssen allesMögliche tun, damit sich solch eine Verbrechensserie inunserem Land nicht wiederholen kann. Das ist unseregemeinsame Aufgabe.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten der SPD, der LINKEN unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn der Untersuchungsausschuss mit seiner Arbeit undden Erkenntnissen, die er gewinnt, dazu einen Beitragleistet, dann hat er seinen Auftrag erfüllt, nicht mehr undnicht weniger.

Von einigen Rednern haben wir schon gehört: Nebendem von uns einzusetzenden Untersuchungsausschussgibt es eine Bund-Länder-Kommission, die die Innen-minister der Länder und der Bundesinnenminister einge-setzt haben; das ist völlig in Ordnung. Auch in Thürin-gen gibt es einen Untersuchungsausschuss. Ebenfalls inThüringen wurden schon eine Kommission und ein Son-derermittler eingesetzt. Das ist kein Widerspruch. Es istdas legitime Recht der Länder – vielleicht sogar ihrePflicht –, auch in ihrem Verantwortungsbereich Aufklä-rung zu betreiben.

Wir alle, die wir in diesem Gremium mitarbeiten,sind, glaube ich, gut beraten, nicht gegeneinander, son-dern miteinander zu arbeiten. Wir müssen einen Wegfinden, zu ermöglichen, dass die verschiedenen Gremienihr Wissen austauschen. Außerdem müssen wir vermei-den, dass wir uns gegenseitig ins Gehege kommen.

Vereinzelt wurde gefragt, ob Vertreter der Länderüberhaupt kommen müssen und ob vonseiten der Länderüberhaupt Akten bereitgestellt werden müssen, wenn wirsie darum bitten.

Frau Kollegin Pau, ich will hier gar nicht so sehr aufrechtliche Fragen und darauf eingehen, ob man daraufklagen müsste.

(Petra Pau [DIE LINKE]: Ich hoffe ja, nicht!)

Das wäre mir schon fast ein Schritt zu weit. Ich will ei-nes deutlich machen: Es mag vielleicht keine Verpflich-tung geben, zu kommen,

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Steht im Gesetz!)

aber es ist auch nicht verboten, dass man uns zur Aufklä-rung in der Sache zur Verfügung steht, wenn wir darumbitten.

(Fritz Rudolf Körper [SPD]: Sehen das alle so?)

Ich will dieses Angebot ausdrücklich machen, und ichbin sehr zuversichtlich, dass wir, wenn wir als Aus-schuss gemeinsam agieren, hier im Interesse der gemein-

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18546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Clemens Binninger

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samen Aufklärung zu einem guten Weg kommen wer-den.

Alles andere wäre den Bürgern dieses Landes auchnicht zu vermitteln. Es wäre den Bürgern nicht zu ver-mitteln, wenn wir uns bei der Aufklärung auf Formalienwie Zuständigkeiten zurückziehen würden, während allehier diese schreckliche Mordserie zu Recht beklagen undsagen, das dürfe sich nicht wiederholen. Ich glaube, des-halb wird es dazu auch nicht kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten der SPD und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN – Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

– Ich würde sie zulassen, aber ich warte auf das Signaldes Präsidenten.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Bitte schön, Herr Ströbele.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU,der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Ich danke sowohl dem Präsidenten als auch dem Red-ner, Herrn Binninger.

Es wird ja hier den ganzen Tag darüber diskutiert– auch in den Medien –, welche Möglichkeiten undRechte der Untersuchungsausschuss eigentlich hat undob der Untersuchungsausschuss außer Bundesbehördenund der Bundesregierung auch aus den Ländern Zeugenladen und Beweismittel und Akten beiziehen kann.

Hier erlaube ich mir den Hinweis auf das Untersu-chungsausschussgesetz, das dieser Deutsche Bundestagja verabschiedet hat. Darin steht das ausdrücklich. Wirhaben uns damals, als wir den entsprechenden Gesetz-entwurf formuliert haben, ja auch über solche Fälle wieden jetzigen Fall Gedanken gemacht. Bundesbehördenwerden dort ausdrücklich genannt, aber darin steht auchganz allgemein, dass der Parlamentarische Untersu-chungsausschuss Gerichte und Behörden, und zwar nichtnur Gerichte und Behörden auf Bundesebene, zur Amts-hilfe verpflichten kann. Das gilt gerade auch für die Bei-ziehung von Beweismitteln und Akten. Das steht also imGesetz. Das heißt, wir haben eine gute und verlässlichegesetzliche Grundlage, auf der wir arbeiten können.

(Gisela Piltz [FDP]: Was ist die Frage?)

Ich frage Sie, ob Sie das beruhigt und ob Sie mir rechtgeben können, dass wir auf dieser Grundlage sehr opti-mistisch sein können, dass die Aufklärung klappen wird.

Clemens Binninger (CDU/CSU):Herr Kollege Ströbele, es kommt sicher selten vor, dass

mich eine Frage von Ihnen beruhigt, aber in diesem FallIhres Verweises auf die Rechtslage, die mir bekannt ist,kann ich das bejahen. Ich wollte bewusst nicht diese recht-

liche Debatte führen, weil ich denke: Noch schöner, alssich über rechtliche Fragen zu streiten – eine ähnliche Be-stimmung gibt es ja im Gesetz über die parlamentarischeKontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes;hier gibt es teilweise unterschiedliche Auffassungen, wiedas unter Juristen nun einmal häufig üblich ist –, wäre es,auf den Konsens zu setzen. Das tun wir, und das sollteauch das Signal sein, das von den heutigen Debattenbei-trägen ausgeht. Ich glaube auch, dass das gelingt.

Wir werden in diesem Untersuchungsausschuss ver-schiedene Fragen stellen müssen. Auch das ist hier heuteNachmittag schon angeklungen. War der Informations-austausch zwischen Bundes- und Landesbehörden rich-tig organisiert? Das gilt übrigens auch für den Informa-tionsaustausch zwischen dem Verfassungsschutz und derPolizei. Verbunden damit stellt sich die Frage, ob das,was wir heute einfordern, damals überhaupt schon recht-lich zulässig gewesen wäre. Wir müssen auch die Fragestellen: Wie konnte es passieren, dass dieses Trio, dasmit Haftbefehl gesucht wurde, 1998 abtauchen konnte?Warum ist es über drei Jahre hinweg nicht gelungen, denStandort zu entdecken und dieses Trio festzunehmen?Warum ist es 2000, als die Mordserie begann – 2001 wa-ren schon vier Morde passiert –, nicht gelungen, auchnur einen Hinweis zu finden, mit dem eine Verknüpfungzwischen dieser Mordserie und diesem Trio hätte ermög-licht werden können? Oder gab es sie und wurden siefalsch bewertet?

Diesen Fragen müssen und werden wir uns stellen.Wir werden dabei sicher auch an den Punkt kommen,dass wir die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehördenbewerten müssen. Ich sage hier ganz deutlich: Wenn wirim Ausschuss feststellen, dass die Sicherheitsarchitekturunseres föderalen Systems bei solch komplexen Verbre-chen mit terroristischem Hintergrund, die mehrere Bun-desländer betreffen, an die Grenzen des Möglichenkommt, dann müssen wir das auch benennen und auchaufzeigen, wo vielleicht Veränderungen notwendig sind.Alles andere wäre der falsche Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und derFDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden uns auch damit zu befassen haben, wel-che Rolle V-Leute gespielt haben. Das haben wir aus-drücklich in den Untersuchungsauftrag aufgenommen,um zu erfahren: Hätte es hier einen Weg gegeben, oderist dieses Instrument in jeder Hinsicht nur sehr begrenztgeeignet? So werden wir die Arbeit der Behörden insge-samt zu bewerten haben. Wir haben auch die Möglich-keit, wenn wir es für notwendig erachten sollten, Ermitt-lungsbeauftragte einzusetzen. Ob wir das brauchen,werden wir sicher gemeinsam festlegen können. Zumjetzigen Zeitpunkt sehe ich das noch nicht, aber es magauf der Strecke durchaus notwendig sein.

Jetzt etwas zur Zusammenarbeit, die hier ein paar Malangesprochen wurde, und zu Ihren beiden Anträgen zurGröße des Gremiums. Die Begründung ist richtig: Wenndie Größenverhältnisse anders wären, dann hätten zwarnicht Sie allein, aber gemeinsam mit der anderen kleine-ren Oppositionsfraktion ein Antragsrecht. Seien wir

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ganz offen: Wenn wir, die wir hier heute Nachmittag an-wesend sind, sagen: „Das machen wir gemeinsam“, istes genauso gut denkbar, dass wir sagen: Wir unterstützenauch Beweisanträge der Grünen und, wenn sie vernünf-tig sind, auch die der Linken. Das ist nicht ausgeschlos-sen.

Ihre Vorstellung, Sie könnten nur agieren, wenn Sieeine entsprechende Größe hätten, weil Sie der SPD, derCDU/CSU oder der FDP nicht trauen, ist genau das Den-ken, das wir in diesem Ausschuss nicht wollen.

(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Erfahrung!)

Wir agieren gemeinsam. Wenn Ihre Anträge sinnvollund berechtigt sind, werden sie an uns nicht scheitern.Dazu brauchen wir aber keine anderen Größenverhält-nisse.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wir nehmen Sie beim Wort!)

– Ja, Sie dürfen mich beim Wort nehmen. Ich will ganzpersönlich sagen: Die Zusammensetzung dieses Unter-suchungsausschusses mit den Kollegen, die ich nament-lich kenne, stimmt mich da sehr zuversichtlich. Wir ken-nen und schätzen uns größtenteils seit vielen Jahren ausden Ausschüssen. Manche kennen sich noch nicht solange, aber die meisten kennen sich seit vielen Jahren.Bei aller Unterschiedlichkeit vertrauen wir uns auch.Das sollte es noch mehr als sonst möglich machen, dasswir hier zusammenarbeiten, und zwar im Interesse derSache der Aufklärung, im Interesse des gemeinsamenKampfes gegen den Rechtsextremismus, im Interesse,dass wir hier einen kleinen Beitrag zur Sicherheit allerBürgerinnen und Bürger hier in unserem Land leisten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten der SPD, der LINKEN unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Sebastian Edathy für die SPD-Frak-

tion.

Sebastian Edathy (SPD):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ja, Rechtsextremismus ist Realität in unseremLand. Nein, das ist eine Realität, die wir als Demokratin-nen und Demokraten niemals, weder heute noch in Zu-kunft, als Normalität akzeptieren dürfen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

In den letzten zehn Jahren hat es im Grunde zwei Ten-denzen in der Entwicklung des Rechtsextremismus inDeutschland gegeben: zum einen eine deutliche Verjün-gung der Akteure. Wir haben es fast gar nicht mehr mitEwiggestrigen zu tun, sondern mit erschreckend jungenNeugestrigen. Zum anderen ist eine wachsende Gewalt-

bereitschaft zu beobachten. Das spiegelt sich in der deut-lich gestiegenen Zahl von Neonazi-Kameradschaften,aber auch in dem Aufkommen einer Bewegung wider,die sich selber als „Autonome Nationalisten“ bezeichnet.

Nach Auskunft des Bundeskriminalamtes werden au-genblicklich 159 deutsche Rechtsextremisten mit Haft-befehl gesucht. Das sind erschreckende Befunde. Manwird auch im Untersuchungsausschuss die Frage stellenmüssen: Gab es denn wirklich vor der viel zu spät er-folgten Identifizierung der sogenannten Zwickauer Ter-rorzelle keine Hinweise auf rechtsterroristische Bestre-bungen?

Ich erinnere an 2003. Da hat eine süddeutsche Neo-nazi-Kameradschaft Anschläge in München geplant. Siekonnten Gott sei Dank verhindert werden. Die Beteilig-ten sind wegen Bildung einer terroristischen Vereinigungverurteilt worden. Es ist also nicht so, dass es keine Vor-läufer, wenn auch in anderer Qualität, gegeben hat.

Wie also war es möglich, dass die Zwickauer Zellejahrelang mordend und raubend durchs Land ziehenkonnte, ohne dass ein Zusammenhang zwischen den Ta-ten erkannt wurde und ein Zugriff erfolgte? Hätte manseitens der Sicherheitsbehörden mehr wissen können,mit vorhandenem Wissen anders umgehen müssen oderanders handeln können? Wie war es eigentlich in den zu-ständigen Behörden um Expertise, aber auch um Sensi-bilität für das Thema Rechtsextremismus bestellt?

Eine weitere Frage ist – darin gebe ich HerrnBinninger recht –: Ist die Sicherheitsarchitektur inDeutschland so ausgestaltet, dass sie den Herausforde-rungen durch einen sich verändernden Rechtsextremis-mus noch wirksam begegnen kann? Nicht zuletzt wirduns im Ausschuss auch die Frage beschäftigen, welcheSchlussfolgerungen sich aus möglichen Defiziten imHandeln und in der Kooperation unserer Behörden erge-ben.

Diesen Fragen nachzugehen sind wir nicht nur demAndenken der Opfer und auch nicht allein den Hinter-bliebenen schuldig. Diesen Fragen nachzugehen sind wirder ganzen Gesellschaft gegenüber schuldig und, ja, ge-rade auch unserer eigenen Selbstachtung als Demokra-tinnen und Demokraten in der Bundesrepublik.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der CDU/CSU)

Wer aus rassistischen Motiven willkürlich Mitbürgerin diesem Land angreift, der greift immer zugleich auchunser aller demokratisches Selbstverständnis an. Deshalbgeht es bei der Arbeit in diesem Untersuchungsausschussim Kern um die Funktionsfähigkeit des demokratischenRechtsstaats. Nur ein funktionierender demokratischerRechtsstaat wird das Vertrauen seiner Bürgerinnen undBürger finden.

Es geht nicht um Schuldzuweisungen, sondern umeine Fehleranalyse. Es geht nicht um Konfrontation; esmuss uns um Kooperation gehen. Es geht nicht um einStreiten zwischen den Parteien, sondern um das gemein-

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Sebastian Edathy

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same Streiten aller Fraktionen in dem Ausschuss für un-sere Demokratie.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe den Wissenschaftlichen Dienst des Deut-schen Bundestages in Anspruch genommen: Der Aus-schuss, dessen Einsetzung wir heute beschließen wollen,ist der 39. Untersuchungsausschuss seit Bestehen desBundestages. Es ist der erste und bisher einzige Aus-schuss, der auf einem gemeinsamen Antragstext aller imBundestag vertretenen Fraktionen beruht. Ich finde, dasist ein gutes Zeichen, auf das wir gemeinsam stolz seinkönnen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben – das ist angesprochen worden – bereits imNovember hier im Hause gemeinsam eine Resolutionverabschiedet, in der wir nicht nur unser aller Betroffen-heit zum Ausdruck gebracht haben, sondern auch unsereVerpflichtung zur Aufarbeitung des Geschehenen undzum Ziehen von Konsequenzen aus Fehlern, die ge-macht worden sind. Ich glaube, genau dieser Geist mussdie Arbeit des Untersuchungsausschusses prägen. Des-wegen gehe ich übrigens auch davon aus – das richte ichan die Adresse von Grünen und Linken –, dass wir imUntersuchungsausschuss Beweisanträge in großem Kon-sens beschließen und wechselseitig Verständigung su-chen werden.

Ich hoffe, wir können am Ende, wenn wir unseren Be-richt vorlegen, gemeinsame Handlungsempfehlungenvorlegen, übrigens nicht nur zur Bekämpfung desRechtsextremismus, sondern auch zur Prävention. Ichbin zum Beispiel ein großer Freund von Programmen,die den Ausstieg aus der rechtsextremen Szene unterstüt-zen. Aber noch viel besser finde ich Programme, die denEinstieg verhindern helfen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowiebei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Bei all dem Entsetzen über das, was passiert ist, mussman vielleicht auch eines sagen: Böhnhardt, Mundlosund Zschäpe haben unermesslich viel Schuld auf sichgeladen, aber sie sind gewiss nicht als Rechtsextremistengeboren worden. Wir müssen dafür sorgen, dass wir einAufwachsen von jungen Menschen in unserem Land er-möglichen, in dem nicht diejenigen, die Freizeitangebotemachen, Rechte sind und die demokratische Kultur ver-nachlässigt wird. Das halte ich für einen sehr wichtigenPunkt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Demokratie ist verletzlich. Sie kann nicht vererbt,sondern muss von jeder Generation aufs Neue erlerntwerden. Auch das sollten wir neben den repressivenMaßnahmen im Ausschuss miteinander besprechen.

Ich möchte mit den Worten von Heinz Galinskischließen, die uns bei unserer anstehenden wichtigen Ar-beit vielleicht ein Stück Wegbegleitung sein können.Heinz Galinski hat als Vorsitzender des Zentralrates derJuden in Deutschland einmal gesagt: Demokratie ist keinGeschenk. Sie muss täglich erkämpft und verteidigt wer-den. – Das ist eine Aufgabe, die heute genauso aktuell istwie damals, als uns Heinz Galinski aufgefordert hat, unsihrer anzunehmen.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Christian Ahrendt für die

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Christian Ahrendt (FDP):Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Viele Redner haben es schon angesprochen:Wir blicken auf eine Pannenserie zurück, die uns allefassungslos macht. Wir antworten hier mit der Einset-zung eines Untersuchungsausschusses, um aufzuklären,wie es zu dieser Pannenserie, in deren Folge zehn Men-schen ihr Leben verloren haben, gekommen ist. Wir wer-fen die Frage auf, ob dadurch das Vertrauen in unserenRechtsstaat – so hat es in diesem Jahr der Präsident desBundeskriminalamtes im Spiegel formuliert – funda-mental erschüttert ist. Dem will ich ausdrücklich wider-sprechen. Der Rechtsstaat ist mehr als die Summe seinerSicherheitsbehörden. Die Krise, über die wir diskutierenmüssen, ist sicherlich eine Krise der Sicherheitsbehör-den, weil diese in einer Zeit intensiver Beobachtung desTerrortrios aus dem rechten Spektrum von 1998 bis 2001verschiedene Gelegenheiten haben verstreichen lassen,um Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe festzunehmen undso die entstandene Mordserie zu verhindern.

Zwei Fragen werden den Untersuchungsausschusszentral beschäftigen: Die eine Frage hat der KollegeEdathy schon angesprochen. Ich möchte noch einmal da-rauf eingehen. Die Frage lautet: Warum ist es den Si-cherheitsbehörden nicht gelungen, das alle Taten verbin-dende Motiv des Rechtsextremismus zu erkennen,mittels dieses gemeinsamen Motivs Aufklärung zu be-treiben und die Täter dingfest zu machen? Ich glaubenicht, dass wir es uns mit der Beantwortung dieser Frageeinfach machen können. Wenn wir den Zeitraum von1998 bis 2001 betrachten, stellen wir als Erstes fest, dasssowohl Landeskriminalämter als auch die Bundesan-waltschaft ermittelt und gefragt haben, ob es sich beidiesem Trio um eine terroristische Vereinigung handelt.Dies wurde verneint.

Wir können auch nicht sagen, dass wir uns in dieserZeit nicht für Rechtsextremismus interessiert hätten;denn 2003 lief das NPD-Verbotsverfahren, bei dem derExtremismus große Aufmerksamkeit bekam. Das ist alsokeine Entschuldigung. Wenn man sich den besagten

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18549

Christian Ahrendt

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Zeitraum genau anschaut, dann stellt man des Weiterenfest, dass das, was uns heute begegnet und fassungslosmacht, nichts Neues ist. 2001 titelte die Bild-Zeitung: Dasgeheime Leben der Terroristen in Hamburg – Terrorbes-tie lebt acht Jahre in Deutschland. – Es geht hier um die-jenigen, die von Hamburg aus die Anschläge in NewYork vorbereitet haben. Obwohl wir damals wussten,dass es islamistischen Terrorismus gibt, war es für un-sere Dienste unfassbar und unvorstellbar, dass Deutsch-land Rückzugsraum und Vorbereitungsraum für solcheTäter ist. Da wir damals die potenziellen Täter nicht er-kannt haben, weil es uns an Vorstellungskraft fehlte,müssen wir uns heute fragen: Konnten wir uns nicht vor-stellen, dass es rechtsextremistischen Terror in Deutsch-land gibt, und ist das ein Grund dafür, dass wir dasMotiv, das alle Taten miteinander verbindet, nicht recht-zeitig erkennen konnten? Das ist die eine Frage, mit dersich der Untersuchungsausschuss zentral zu befassenhat.

Bei der anderen Frage – das ist schon angeklungen –geht es um die Sicherheitsarchitektur. Wie gehen wir mitdem beobachteten Organisationsverschulden um? Infor-mationen wurden nicht weitergegeben. Da beobachtenzwei verschiedene Polizeieinrichtungen dieselbe konspi-rative Wohnung. Die Täter erscheinen, werden abernicht festgenommen. Jeder hat seine Quellen gehütetund Informationen nicht weitergegeben. Als die Quelle2001 den entscheidenden Hinweis gibt, dass dieses Ter-rortrio genügend Geld hat, dass es keine Geldsorgenmehr hat – in den Jahren zuvor wurde das genaue Ge-genteil berichtet –, werden die Ermittlungen eingestellt,und es passiert gar nichts mehr, und das, obwohl zu die-sem Zeitpunkt in Chemnitz bereits zwei Banküberfällebegangen wurden, durch die Herr Mundlos, FrauZschäpe und Herr Böhnhardt mit ausreichend Geld ver-sorgt wurden. Ermittlungen fanden aber nicht mehr statt.Vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen, wie die-ses Organisationsverschulden aufzulösen ist und warumsich die Behörden nicht in ausreichendem Maße gegen-seitig informiert haben. Auch das sind zentrale Fragen,die wir im Rahmen des Untersuchungsausschusses klä-ren müssen.

Der Untersuchungsausschuss wird eingesetzt, weilwir eine Verpflichtung gegenüber den Opfern haben. Wirkönnen uns bei ihren Angehörigen nur dafür entschuldi-gen, dass das, was in den vergangenen zehn Jahren pas-siert ist – das betrifft auch die Verdächtigungen der An-gehörigen –, schlecht war. Wir müssen aber auch sagen:Wir können jetzt nur das tun, was wichtig ist. Das heißt,wir müssen aufklären. Wir müssen diejenigen, die gehol-fen haben, zur Rechenschaft ziehen und dafür sorgen,dass sie verurteilt werden. Wir müssen aus den Ergebnis-sen des Untersuchungsausschusses Konsequenzen zie-hen. Es kann nicht sein, dass es in Deutschland immerwieder verschiedene Organisationen, Behörden undStäbe gibt, die sich überlegen, wie man die Sicherheits-architektur neu organisieren kann – zuletzt war das dieWerthebach-Kommission –, aber alle diese Vorschlägein den Schubladen verschwinden, weil die Behördenselbst entscheiden und sie eigentlich keine Änderungwünschen. Das kann nicht die richtige Antwort sein.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Insofern wünsche ich uns, dass der Untersuchungs-ausschuss gute Vorschläge macht, die nicht in denSchubladen, sondern im Gesetzblatt landen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-

lege Wolfgang Wieland das Wort.

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stünde

ich hier als Anwalt, würde ich sagen: „Ich schließe michden richtigen Ausführungen des Kollegen Binningervollinhaltlich an“, und mich wieder hinsetzen. Aber da-für habe ich nicht drei Minuten Redezeit erstritten. Ausder Verlegenheit hilft mir, wie so oft, der Kollege Uhl.

(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Der hat noch gar nicht geredet!)

– Ja, er kommt nach mir, aber ich ziehe ihn vor.

(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Er weiß schon, was ich sage!)

– Ich weiß immer, was er sagen wird, weil er so bere-chenbar ist. – Aber an einem Freitag, dem 13. – das Da-tum entschuldigt nicht alles –, erklärte er im Deutsch-landradio wörtlich:

Ich halte bei allem Aufklärungsverlangen das In-strument des Untersuchungsausschusses in diesemFall für falsch. Es ist nämlich auch ein Kampfin-strument der Opposition gegen die Regierenden.Ich selbst war ja Vorsitzender des Visa-Untersu-chungsausschusses …

Unvergessen, Herr Kollege Uhl.

(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Joschka Fischer kann sich auch erinnern!)

Aber hier weiß ja die SPD gar nicht, ob sie auf derAnkläger- oder auf der Verteidigerseite steht …

So weit der Kämpfer Uhl, der aus diesem altenSchema, Herr Kollege Binninger, gedanklich noch nichtherausgetreten ist. Wir werden gleich sehen, ob er seit-dem Fortschritte gemacht hat, Fortschritte im Lernpro-zess;

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

denn wenn es auch richtig ist – das geben wir zu –, dassdie Rollenfindung der SPD einige Zeit gedauert hat unddie Erleuchtung wohl erst unter dem Weihnachtsbaumgekommen ist,

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Mit Gottes Hilfe!)

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Wolfgang Wieland

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so zählt doch das Ergebnis. Das Ergebnis ist: Wir wer-den einen vollwertigen Untersuchungsausschuss bekom-men, der auf nichts und niemanden mit seinen Untersu-chungen zu warten hat und der im Untersuchungszweckund seinen Möglichkeiten einzig der Verfassung ver-pflichtet ist. Das wollten wir so, und deswegen sind wirheute sehr zufrieden, dass dieser Ausschuss eingesetztwird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP)

Natürlich hat ein Untersuchungsausschuss immer ei-nen Doppelcharakter. Da sind wir nicht blauäugig. Aberich sehe genauso wie Ihr Kollege, dass hier eine Chancebesteht; denn es interessiert wirklich nicht ernsthaft, obein Landesinnenminister wo auch immer vor 15 Jahrenversagt hat. Vielmehr interessieren diesmal die struktu-rellen Fragen. Diesmal interessiert die Frage, die derKollege Ahrendt zu Recht aufgeworfen hat, nämlich wa-rum man bei dieser Mordserie nicht den gedanklichenSprung gemacht hat; denn das BKA hatte auch die Hy-pothese, dass Fremdenhass als Motiv infrage komme.Warum hat man dann nicht den Sprung gemacht undnach bekannten und untergetauchten Rechtsextremistengesucht? Warum hat das alles nicht funktioniert?

Das ist das, was der türkische Bevölkerungsteil wis-sen muss. Er ist sehr misstrauisch und sehr beunruhigt.Deshalb müssen wir gute Ergebnisse bringen.

Abschließend sage ich in Richtung der Länder: Wirleben hier nicht mehr im Deutschen Bund; wir leben ineinem Bundesstaat mit klar festgelegten Rollen. JederBürger der Bundesrepublik hat vor einem Untersu-chungsausschuss zu erscheinen und auszusagen, undwenn er in seiner Aussage beschränkt wird, ist das ge-richtlich überprüfbar. Ich will hier nicht drohen; ich binauch sehr optimistisch, dass wir gut arbeiten können;aber im Ergebnis wird das Recht auf unserer Seite sein.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Vom Kollegen Wieland freundlicherweise schon an-

gekündigt, hat nun der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl fürdie Unionsfraktion das Wort.

(Zuruf von der SPD: Das ist wahre Kollegiali-tät!)

Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU):Geschätzter Kollege Wieland,

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja!)

Sie werden sich noch wundern, wie ich auf meine altenTage noch aus meinem alten Kampfschema herauskom-men kann.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP –Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dass ich das noch erleben darf! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Keine falschen Ankündigungen!)

Ich werde stellvertretendes Mitglied in diesem einzuset-zenden Untersuchungsausschuss sein und werde immerwieder einmal vorbeischauen, um zu sehen, ob das, wasSie prognostiziert haben, zutrifft, dass nämlich dieserUntersuchungsausschuss kein Kampfinstrument der Op-position sein wird. Man würde sich ja auch sofort fragen:Welcher Opposition eigentlich – der in Thüringen, derin Sachsen, der in Brandenburg, oder wo auch immerdiese Dinge eine Rolle spielen?

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Im Bund! – Fritz Rudolf Körper[SPD]: Auch in Bayern!)

– Auch in Bayern. Ja, eben.

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Wieland [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das darf nun garnicht sein!)

Wir werden auch klären und, wie ich hoffe, Antwortauf die Frage finden, wo durch wen und vor allem wannwelche Fehler gemacht wurden, die dazu geführt haben,dass auch in Bayern fünf Morde nicht aufgeklärt werdenkonnten und dass dieses für diesen Rechtsstaat durchausschlimme Ergebnis herauskam, das zu dem unsäglichenVorwurf führte, die Sicherheitsbehörden seien auf demrechten Auge blind. Das dürfen wir nicht stehen lassen.Es gibt keinen schlimmeren Vorwurf für Deutschland alsdiesen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Auf dem rechten Auge haben wir nicht blind zu sein. Esmuss geklärt werden, wie es zu diesem Ergebnis kom-men konnte.

Herr Wieland, ich gebe Ihnen und auch anderenRecht, dass wir es hier vor allem mit einem Problem zutun haben, das in der Natur unserer BundesrepublikDeutschland zu suchen ist, nämlich in der föderalenGrundstruktur. Eine Zeitung hat dazu sogar kürzlich eineZeichnung gemacht und sie mit „Der Irrgarten“ über-schrieben. Da sind die Sicherheitsbehörden in Deutsch-land und ihre Aufsichten zu sehen: 16 Landeskriminal-ämter, 16 Landesämter für Verfassungsschutz, darüberdie entsprechenden Bundesämter, Kontrollgremien usw.usf. Ich gebe zu, dass in einem zentralistisch aufgebau-ten Staat vom Typ Frankreichs, wo alles in Paris zusam-menläuft, solche Dinge nicht passieren können.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!)

In der Bibel heißt es: „Am Anfang war das Wort, unddas Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Am An-fang dieser Republik standen die Besatzungsmächte.Diese haben gesagt: So etwas wie die Organisations-

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Dr. Hans-Peter Uhl

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struktur des Dritten Reichs nie mehr! – Oder: Jetzt nichtmehr.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nie mehr!)

Das Ergebnis waren die Trennung von Verfassungs-schutz und Polizei und der föderale Aufbau mit mittler-weile 16 Bundesländern. Die Folgeprobleme haben wirin diesem Fall natürlich zu lösen.

Ich denke, dass Innenminister Hans-Peter Friedrichrecht hatte, als er gleich zu Anfang, im letzten Jahr noch,in der Innenministerkonferenz den Landesinnenminis-tern gegenüber sehr deutlich geworden ist und gesagthat: So kann das nicht weitergehen; diese Strukturdefi-zite, die in der Natur der Sache liegen, müssen wir über-winden, und wir müssen für mehr Zusammenarbeit sor-gen. Das wird bei diesem Untersuchungsausschussimmer wieder im Mittelpunkt stehen.

Wir werden, so hoffe ich, auch aufklären können – ichglaube, das Ergebnis schon in etwa skizzieren zu kön-nen –, dass man nicht sagen kann, dass das Nazidenkenwieder in der Mitte der Gesellschaft angekommen seiund dass diese zehn Morde dafür ein Beleg seien. Das istwirklich eine völlig falsche Schlussfolgerung.

Was wir natürlich wissen wollen, ist: Wie groß ist derbraune Sumpf? Mit wem haben die drei kommuniziert?Von wem haben sie Hilfe erlangt? Wen haben sie umHilfe gebeten? Dazu wäre es natürlich hilfreich, die vie-len festgestellten Kommunikationsmittel auswerten zukönnen und zu sehen, mit wem per E-Mail, per Compu-ter, per Handy oder wie auch immer kommuniziertwurde. Dann wüssten wir sehr viel mehr. Jetzt muss derherkömmliche Weg beschritten werden, der natürlichschwierig ist.

Ich fürchte, jeder muss an sich arbeiten, damit wir ausdem Untersuchungsausschuss keinen Bund-Länder-Konflikt machen. Die Länder sind natürlich eifersüchtigdarauf bedacht – das weiß jeder, der sie und ihre Innen-minister kennt; ich kenne sie seit vielen Jahren –, ihreKompetenzen um nichts, aber auch gar nichts zu schmä-lern.

(Fritz Rudolf Körper [SPD]: Haben Sie dieRede mit dem bayerischen InnenministerHerrmann abgestimmt?)

– Ich sehe ihn förmlich vor mir.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen brauche ich überhaupt nichts abzustimmen.Aber ich sehe auch Innenminister anderer Länder, egalwelcher Couleur, vor mir, die ziemlich ähnlich denken.

Ich glaube, wir werden dieses Geschäft mühsam be-treiben müssen. Ich hoffe, dass es nicht dazu kommt,dass wir am Schluss sagen: Der Ausschuss wurde dochwieder zum Kampfinstrument. Da bin ich mir noch nichtso ganz sicher; denn wir haben ja auch ein Nebeneinan-der von Ermittlern und Aufklärern, die sich bei diesemGeschäft auch gegenseitig auf die Füße treten und sagen

können: Diese Akten und diesen Zeugen brauchen wirjetzt; den können wir nicht an euch abgeben. Dann kom-men aus dem einen Gremium und aus dem anderenGremium vielleicht Zeugenaussagen heraus, die nichtzusammenpassen und dann zu irgendwelchen Schluss-folgerungen einladen.

Meine Damen und Herren, das ist alles sehr kompli-ziert. Aber wir werden das tun müssen, weil – noch ein-mal – nicht stehen bleiben darf, dass wir auf dem rechtenAuge blind sind. Da sind wir uns alle einig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Ich meine, dass wir uns bei dem Thema „Neonazis inDeutschland“ immer wieder eines vor Augen führenmüssen: dass nationalsozialistisches Gedankengut letzt-lich nicht vom Staat allein bekämpft werden kann, son-dern von der gesamten Gesellschaft bekämpft werdenmuss.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derFDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau so ist es! Deshalb fah-ren wir nach Dresden!)

Das heißt, wir müssen Antisemitismus durch die ge-samte Gesellschaft bekämpfen. Wir müssen Ausländer-feindlichkeit durch die gesamte Gesellschaft bekämpfen.Wir müssen jedes antidemokratische Führerdenkendurch die gesamte Gesellschaft bekämpfen.

Übrigens, dass uns das in den letzten Jahren und Jahr-zehnten gelungen ist, sieht man auch daran, dass eineNPD mit ihren eins Komma soundso viel Prozent in derparlamentarischen Bedeutungslosigkeit verharrt – unddas ist gut so.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war schon mal anders!)

– Das war schon mal anders.

Ich meine, es ist eine gesamtgesellschaftliche Auf-gabe, und es ist eine Aufgabe, die uns nie verlassen wird.Deswegen ist jedes Argumentieren „Damit muss ein füralle Mal Schluss sein“ ein zutiefst unpolitischer Ge-danke.

(Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU])

Mit dem nationalsozialistischen Denken kann nicht einfür alle Mal Schluss ein. Rassistisches Denken, antisemi-tisches Denken, ausländerfeindliches Denken, Führerge-danken wird es immer wieder in kranken Gehirnen ge-ben; diese Gedanken muss man dann bekämpfen. Daskann man nicht allein durch Verbote erledigen; da mussman die Gedanken bekämpfen. Genauso verhält es sichmit anderen extremistischen Gedanken, die wir in derletzten Debatte behandelt haben, nämlich mit kommu-nistischen Fehlideen; diese müssen wir genauso be-kämpfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

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18552 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

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Vizepräsidentin Petra Pau:Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8453 zur Einset-zung eines Untersuchungsausschusses. Die FraktionBündnis 90/Die Grünen hat getrennte Abstimmungenüber Abschnitt A einerseits und Abschnitt B andererseitsverlangt.

Abstimmung über Abschnitt A des Antrags aufDrucksache 17/8453. Wer stimmt für den Abschnitt A? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Abschnitt Aist damit bei Enthaltung der Fraktion Die Linke einstim-mig angenommen.

Abstimmung über Abschnitt B. Hierzu liegen zweiÄnderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen.

Abstimmung über den Änderungsantrag der FraktionDie Linke auf Drucksache 17/8463. Wer stimmt für die-sen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt.

Abstimmung über den Änderungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8464. Werstimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Auch dieser Änderungsantragist abgelehnt.

Wer stimmt für Abschnitt B des Antrags? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag istdamit insgesamt einstimmig angenommen und der2. Untersuchungsausschuss der 17. Wahlperiode ist ein-gesetzt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten JanKorte, Agnes Alpers, Steffen Bockhahn, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Erhalt der Gedenkstätten nationalsozialisti-scher Vernichtungslager sicherstellen

– Drucksache 17/7028 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeJan Korte für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Jan Korte (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Im Sommer 2011 erreichte uns die Nachricht aus Polen,dass die Gedenkstätte Sobibor wegen fehlender Fi-nanzierung schließen musste. Sobibor gehörte zu denVernichtungslagern, die nicht so bekannt sind wieAuschwitz oder Treblinka, aber auch dort wurden in nuranderthalb Jahren über 250 000 Menschen ermordet.

Ich weiß, dass sich der Bund und auch die Länder amErhalt beispielsweise der Gedenkstätte Auschwitz betei-ligen und entsprechende Vereinbarungen bis 2015 getrof-fen wurden, was auch wir als Linksfraktion ausdrücklichbegrüßen. Aber auch die Gedenkstätte Sobibor, eine rela-tiv kleine Gedenkstätte, steht für den Zivilisationsbruchder industriellen Vernichtung von Millionen Frauen,Männern und Kindern.

Sobibor steht übrigens auch für den Widerstand derHäftlinge. Am 14. Oktober 1943 erhoben sich die Häft-linge dieses Vernichtungslagers, und vielen gelang untergroßen Opfern die Flucht.

Es besteht, denke ich, Einigkeit hier im Hause, dasswir nicht nur für die großen bekannten Gedenkstätteneine Verantwortung haben, sondern auch für die nicht sogroßen Gedenkstätten.

Meine Fraktion hat an die Bundesregierung die Fragegerichtet, was Bundestag oder Bundesregierung tun kön-nen, um diesbezüglich Abhilfe zu leisten, um dafür zusorgen, dass die Gedenkstätte wieder ihrer Arbeit nach-kommen kann. Wir haben von der StaatsministerinCornelia Pieper eine Auskunft bekommen, die gezeigthat, was in anderen Bereichen möglich ist. Einen Kritik-punkt will ich in diesem Zusammenhang aber anmelden.Sie antworteten auf unsere Frage, was wir tun können,um die Gedenkstätte Sobibor zu erhalten, etwas lax: Diepolnische Seite hat sich bisher nicht an die Bundesregie-rung mit der Bitte um Unterstützung zum Erhalt der Ge-denkstätte Sobibor gewandt.

Wir müssten damit anders umgehen. Wir sollten vonuns aus fragen, ob wir dort helfen können.

(Beifall bei der LINKEN)

Das wäre die richtige Antwort.

Ich habe erfreut zur Kenntnis genommen, dass sichum den Kollegen Montag eine interfraktionelle Arbeits-gruppe von Abgeordneten zu diesem Thema treffen will.Ich hoffe, dass Sie sich daran beteiligen und diese Hin-weise aufnehmen werden. Frau Pieper, wir möchten,dass Sie vonseiten der Bundesregierung aktiv bei unse-ren polnischen Freundinnen und Freunden nachfragen,wie wir dort helfen können; denn das – auch da herrschtwohl Einigkeit in diesem Hause – ist aufgrund unsererGeschichte eine Verpflichtung.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben morgen, am 27. Januar, die Gedenkveran-staltung für die Opfer des Nationalsozialismus. Geradein der jetzigen Zeit, da die letzten Zeitzeugen sterben,sollte die pädagogische Arbeit insbesondere an den so-genannten authentischen Orten in Polen, wo die Vernich-tungslager standen, fortgesetzt werden. Ich wünsche mir,dass die Bundesregierung da aktiv wird.

Angesichts des morgigen Tages sollten wir uns alle anTheodor Adorno erinnern, der zu Recht gesagt hat, Zielaller Pädagogik müsse es sein, dass Auschwitz sich nichtwiederholt. Ich hoffe, dass wir als Bundestag insgesamtin diesem Sinne bei der Unterstützung der Gedenkstättenin Polen aktiv werden können.

Schönen Dank.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18553

Jan Korte

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(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat die Kollegin Professor Monika Grütters

für die Unionsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Monika Grütters (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! An einem

historisch bedeutsamen Datum führen wir heute diese De-batte. Wir haben vor wenigen Tagen des 70. Jahrestagesder Wannseekonferenz gedacht, und morgen, am27. Januar, wird weltweit der Holocaustopfer gedacht. ImBundestag – das wissen Sie, und wir sehen dem gespanntentgegen – wird Marcel Reich-Ranicki als einer der weni-gen noch lebenden Überlebenden des Warschauer Ghettoszu uns sprechen. Konrad Adenauer hat in einer bewegen-den Rede schon 1952 daran erinnert, dass es – ichzitiere –:

weder nur ein Heute oder Morgen gibt, sonderneben auch ein Gestern, das das Heute und das Mor-gen stark, ja manchmal entscheidend beeinflusst.Man muss das Gestern kennen, man muss auch andas Gestern denken, wenn man das Morgen wirk-lich gut und dauerhaft gestalten will. Die Vergan-genheit ist eine Realität. Sie lässt sich nicht aus derWelt schaffen, und sie wirkt fort, auch wenn mandie Augen schließt, um sie zu vergessen.

(Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU])

So Konrad Adenauer in einer Zeit, 1952, als die Erinne-rung noch viel lebendiger war, als sie jetzt für uns,60 Jahre später, ist. Wenn wir der Opfer gedenken, tunwir das im vollen Bewusstsein der außerordentlichenVerantwortung Deutschlands.

Herr Kollege Korte, Ihr Antrag betrifft das ehemaligeKZ Sobibor in Polen. Es ist heute – Sie haben gesagt,das sei klein – eine wichtige Stätte des Gedenkens an dienationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie. DieseGedenkstätte muss erhalten, gepflegt und finanziert wer-den. Daran besteht kein Zweifel. Dass der GedenkstätteSobibor von kommunaler Seite die Zuschüsse erheblichgestrichen wurden, führte dazu, dass im Sommer 2011das Museum – nicht die Gedenkstätte – vorübergehendgeschlossen werden musste. Das war in der Tat beden-kenswert und schlimm. Trotzdem hat die polnische Seitezu keinem Zeitpunkt um Hilfe ersucht. Ich finde es frag-würdig, gerade in unserer Rolle, sich in einer Weise ein-zulassen, die möglicherweise – Frau Pieper wird dasgleich ausführen – gar nicht erwünscht ist. Das kann ichnicht wissen. Aber ich finde, so selbstverständlich, wieSie das darstellen, ist dieser Akt nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – JanKorte [DIE LINKE]: Man hätte ja fragen kön-nen!)

Mittlerweile, Herr Korte – das wissen auch Sie; theo-retisch könnten wir sagen: Der Antrag ist erledigt –, ist

für die Gedenkstätte Sobibor zum Glück eine Lösung ge-funden worden. Sobibor wurde mit Beginn des JahresTeil der KZ-Gedenkstätte Majdanek bei Lublin und istnun nicht mehr in kommunaler Verantwortung, sonderneine Institution des polnischen Kultusministeriums unddamit direkt diesem Ministerium unterstellt. Künftigsind so eine Absicherung der Finanzierung und auch dieadministrative Förderung auf einer höheren Ebene,durch die polnische Zentralregierung, sichergestellt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Aber jenseits dieses Falles ist es uns wichtig, einmalmehr zu betonen, gerade heute: Dem Erinnern an dieVerbrechen des Nationalsozialismus und dem Gedenkenan seine Opfer kommt in der deutschen Erinnerungskul-tur eine ungemein hohe Bedeutung zu. Dazu haben wiruns nicht zuletzt mit der Fortschreibung des Gedenkstät-tenkonzepts von 2008 klar bekannt. Es bleibt unsereständige Aufgabe, die Erinnerung an die Terrorherr-schaft des Nationalsozialismus wachzuhalten, der Opferder Schoah zu gedenken und – ich finde auch – Schuldeinzugestehen.

Für die Aufarbeitung der NS-Diktatur ist dabei die be-sondere Aussagekraft der authentischen Orte – das habenSie zu Recht erwähnt; die der Opfer übrigens wie die derTäter; von den letzteren gibt es gerade in Berlin sehr viele –unverzichtbar. 2009 wurden die westdeutschen KZ-Ge-denkstätten Bergen-Belsen, Neuengamme, Dachau undFlossenbürg in die institutionelle Förderung des BKMaufgenommen, zusätzlich zu den vier großen KZ-Ge-denkstätten in Thüringen und Brandenburg. Das war bisdahin auch nicht selbstverständlich.

Das ist die innerstaatliche Verantwortung. Danebenunterstützt das Auswärtige Amt internationale Projektezur Erinnerung und zum Gedenken an die Schoah. Da istzum Beispiel die Task Force für Internationale Zusam-menarbeit bei der Holocausterziehung, Erinnerung undForschung, wo Deutschland eines von 27 Mitgliedstaa-ten ist. Die internationale Verantwortung, nicht nur diebilaterale, ist ein besonderer Zug dieser Gedenkpolitik.Es gibt die Stiftung Auschwitz-Birkenau, die die Restau-rierung des ehemaligen KZ und der heutigen Gedenk-stätte finanzieren soll. Sie wurde auf Initiative des polni-schen Staatssekretärs und Auschwitz-ÜberlebendenProfessor Wladyslaw Bartoszewski in Warschau mitdem Ziel gegründet, einen Kapitalstock von 120 Millio-nen Euro einzuwerben, aus dessen Erträgen die Restau-rierungsarbeiten in der Gedenkstätte langfristig finan-ziert werden. An dem Projekt beteiligen sich auchandere europäische Staaten und die USA.

Im Dezember 2010 haben der Bundesaußenministerund Vertreter der Bundesländer – wir haben heute schoneinmal an dieser Stelle über die Zusammenarbeit vonBund und Ländern gesprochen – eine Vereinbarung mitder Stiftung Auschwitz-Birkenau über einen deutschenBeitrag von insgesamt 60 Millionen Euro unterzeichnet.Dieser Beitrag wird jeweils zur Hälfte vom Bund undden Ländern finanziert und kommt der Stiftung seit 2011in fünf gleichen Jahresraten zu.

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18554 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Monika Grütters

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Diese besondere Initiative gibt es deshalb, weil essich eben um Auschwitz handelt, das geradezu symbol-haft für die Verbrechen der Nationalsozialisten steht. Ge-rade diese wichtige Gedenkstätte erinnert in besondererWeise an die Verbrechen. Sie ist ein unverzichtbarer Ortder Erinnerung, der Aufklärung und des Lernens.

Die internationale Konferenz zu Holocaustfragen inPrag 2009, die wir besser als Nachfolgekonferenz derWashingtoner Konferenz kennen, mahnte, die Erinne-rung an den Holocaust wachzuhalten. Wichtig seien hiervor allem Information, Aufklärung, Berücksichtigung inSchule, Hochschule und Forschung. Im Laufe dieserKonferenz wurde von den 46 Teilnehmerstaaten die so-genannte Theresienstädter Erklärung unterzeichnet, dieauch Sie in Ihrem Antrag zitieren und aus der ich zumSchluss etwas vortragen will. Dort heißt es:

In Anerkennung der Bedeutung von Bildung undGedenken hinsichtlich des Holocaust … und ande-rer Naziverbrechen als fortwährende Lehre für diegesamte Menschheit … rufen wir alle Staaten nach-drücklich auf, regelmäßige jährliche Gedenk- undGedächtnisfeiern zu unterstützen beziehungsweiseeinzuführen

– deshalb haben wir durch Proklamation von RomanHerzog bei uns den 27. Januar als Erinnerungstag einge-führt –

sowie Mahnmale und andere Gedenkstätten undOrte zur Erinnerung an das unermessliche Leidenzu erhalten.

So weit die Theresienstädter Erklärung.

Dieser Selbstverpflichtung von 46 Ländern zum Er-halt der authentischen Orte und Gedenkstätten folgend,ist gerade die Erinnerungskultur eine der großen morali-schen, politischen und gesellschaftlichen Aufgaben, aberauch Leistungen der Bundesrepublik Deutschland.Deutschland bekennt sich zu seiner Verantwortung fürdie Schoah. Sie ist unverrückbarer Teil der kollektivenErinnerung in Deutschland, und zwar für alle Zeiten.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten der SPD und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Dietmar Nietan (SPD):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Elie Wiesel hat einmal gesagt: Wer die Opferder Schoah vergisst, tötet sie ein zweites Mal. – Ichglaube, auch aus diesem Grund sind wir uns in diesemHause alle einig, dass wir die dauerhafte Aufgabe haben,aller Opfer des NS-Terrors zu gedenken und alle Opferdes NS-Unrechts zu ehren. Diese Aufgabe hat – das istbereits gesagt worden – auch sehr viel mit Orten der Er-

innerung zu tun. Deshalb, finde ich, ist es eine lobens-werte Initiative der Fraktion Die Linke gewesen, im ver-gangenen Jahr diesen Antrag auf den Weg zu bringen,um darüber nachzudenken, was wir tun können, umnicht nur Sobibor zu erhalten, sondern auch andere Ortedes NS-Unrechts, auch außerhalb der heutigen Bundes-republik Deutschland. Das Ganze ist so wichtig, weil einElement des Erinnerns, des Lernens aus der Geschichte,insbesondere den jungen Menschen nicht mehr lange zurVerfügung stehen wird: die Überlebenden, die Zeitzeu-gen.

Ich hatte die große Ehre, den Herrn Bundespräsiden-ten vor fast genau einem Jahr, am 27. Januar 2011, zubegleiten, als er gemeinsam mit seinem KollegenKomorowski an der Gedenkfeier in Auschwitz teilnahmund vor dem offiziellen Teil die internationale Jugendbe-gegnungsstätte in Auschwitz besuchte, um ein Gesprächmit jungen Menschen und Überlebenden zu führen. Werdas erlebt hat, der weiß, wie wichtig Erinnern und Ge-denken gerade für junge Menschen und für die nächstenGenerationen junger Menschen ist. Auch aus diesemGrund – weil uns eben die Zeitzeugen, die Überleben-den, leider nicht mehr lange zur Verfügung stehen wer-den – sind die Orte des Unrechts von besonders großerBedeutung. Das gilt ausdrücklich auch für die von Deut-schen in Polen errichteten Konzentrations- und Vernich-tungslager.

Ich verstehe die Debatte heute so – da sich ja auch imHinblick auf Sobibor einiges getan hat –, dass wir unsnicht über die Frage streiten müssen, ob wir warten sol-len, bis es etwa eine offizielle Anfrage der Republik Po-len gibt. Vielmehr müssen wir prüfen, ob es möglich ist,dass wir – mit größter Sensibilität; das ist auch von mei-ner Vorrednerin gesagt worden – ein Signal setzen, daszeigt, dass wir selbstverständlich unserer Verantwortunggerecht werden und da Hilfe anbieten, wo es notwendigist. Mit „helfen“ meine ich: nicht nur mit Geld.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Ich habe betont: Das muss mit aller Sensibilität ge-schehen; denn es darf in den Ländern, die besonders un-ter dem NS-Unrecht gelitten haben, niemals der Ein-druck entstehen, dass sozusagen aus dem Land der Tätergute Ratschläge oder gar Bevormundungen und Einmi-schungen kommen. Aber nichtsdestotrotz weiß ich, dasses – gerade bei der Republik Polen und der Bundesrepu-blik, die ein so gutes Verhältnis zueinander haben wienoch nie in der Geschichte – möglich ist, den richtigenWeg zu finden und zu signalisieren: Da, wo wir ge-braucht werden, helfen wir gerne, weil das eine selbst-verständliche Verantwortung ist.

Ausgangspunkt eines solchen Helfens und entspre-chender Überlegungen, was man tun kann, müssen im-mer – auch das will ich deutlich sagen – die Perspektiveund die Interessen der Opfer und Überlebenden sein.Ausgehend von dem Gedanken, die Opfer und Überle-benden zu ehren, müssen wir überlegen, wie wir die Ortedes NS-Unrechts dauerhaft erhalten können. Da solltenwir uns einen Punkt genauer anschauen: Was können wir

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18555

Dietmar Nietan

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in einem zusammenwachsenden Europa tun, um denUmgang mit der gemeinsamen europäischen Geschichtemitzugestalten? Dabei ist immer zu beachten, dass wirunterschiedliche Erinnerungskulturen haben; dennselbstverständlich sind die Erinnerungskulturen der Na-tionen, die unter dem NS-Unrecht unendlich gelitten ha-ben, anders als beispielsweise die Erinnerungskultur inDeutschland, sozusagen dem Nachfolgeland der Täter.Aber ich glaube, dass ein solches Vorgehen möglich ist.

Ich will dabei auf einen weiteren Aspekt hinweisen,der mir wichtig ist: Es geht nicht nur um das Erinnern,um das Gedenken und Ehren der Opfer, sondern ausmeiner Sicht auch um die Frage: Was können wir tun,damit alle in unserem Land und alle Menschen inEuropa, insbesondere die nächsten, jungen Generatio-nen, einen Weg finden, etwas aus der Geschichte, vonden authentischen Orten und aus dem, was dort gesche-hen ist, zu lernen? Deshalb fände ich es gut, wenn wirüber Fraktionsgrenzen hinweg überlegen würden: Wel-chen Beitrag können wir zu einer europäischen Erinne-rungskultur leisten, zu einem Gesamtkonzept, das vor-sieht, alle wichtigen und relevanten Gedenkstätten undOrte des NS-Terrors als Orte des Erinnerns und des Ler-nens zu erhalten und sie, wo es notwendig ist, auszu-bauen? Was können wir tun, damit an diesen authenti-schen Orten auch dann, wenn es keine Zeitzeugen mehrgibt, die authentisch berichten können, jedem, der gutenWillens ist, unverrückbar und unzweifelhaft deutlichwird, welch eine präzedenzlose Barbarei in der NS-Zeit,im Holocaust stattgefunden hat?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN)

Ich hoffe sehr, dass wir den Antrag der Fraktion DieLinke zum Anlass nehmen, einen Weg zu finden, das ingrößter Gemeinsamkeit, mit allen Fraktionen diesesHauses, zu tun;

(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])

denn ich glaube nicht, dass sich dieses Thema zur partei-politischen Profilierung eignet.

(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das giltauch für den Antrag! – Gegenruf des Abg. JanKorte [DIE LINKE]: Das scheinen Sie ja hierzu unterstellen!)

– Das gilt selbstverständlich auch für Anträge. Abermanchmal braucht es – lassen Sie es mich so sagen – ei-nen Stein des Anstoßes, um gemeinsam den richtigenWeg zu gehen. – Deshalb würde ich mich sehr freuen,wenn die Initiative der Kollegin Krumwiede und desKollegen Jerzy Montag von allen Fraktionen unterstütztwird, damit es in der weiteren Beratung dieses Antragsgelingt, einen Weg zu finden, dass der Deutsche Bundes-tag – ich hoffe, mit ihm auch die Bundesregierung – eindeutliches Signal sendet: Wir wollen ein Konzept füralle Gedenkstätten, egal wo sie sich befinden; wir wollengemeinsam einen Beitrag leisten, mit aller Sensibilitätund in der Verantwortung, die wir gemeinsam aus unse-rer Geschichte heraus tragen wollen. Wenn dieser Antrag

bewirkt, dass wir jetzt miteinander eine solche Debatteführen, dann sind wir auf einem guten Weg.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat die Staatsministerin Dr. Cornelia Pieper.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU])

Cornelia Pieper, Staatsministerin im AuswärtigenAmt:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist si-cher wichtig und auch richtig, dass wir gerade heute, amVorabend des 27. Januar, im Gedenken an die Opfer desHolocaust hier im Parlament in der Sache diskutieren.Das steht dem Parlament auch gut an. Ich will für dieBundesregierung erklären, dass wir ohne Wenn undAber zur historischen Verantwortung Deutschlands fürden Holocaust stehen.

Die Bundesregierung setzt sich intensiv für die Pflegeund den Unterhalt von Gedenkstätten ehemaliger natio-nalsozialistischer Vernichtungslager im In- und Auslandein. Das wird auch von unseren Partnern, allen voranvon den Polen, ausdrücklich anerkannt. Einige Beispielewurden genannt. Die Kollegin Grütters hat insbesondereauf die Stiftung Auschwitz hingewiesen. Ich will nocheinmal daran erinnern, dass sich Bund und Länder Ende2009 gemeinsam zu einer Aufstockung des Kapitals derneuen Stiftung auf insgesamt 60 Millionen Euro bis2015 verpflichtet haben. Die erste Rate in Höhe von12 Millionen Euro wurde bereits 2011 ausgezahlt. Diezweite wird in Kürze folgen. Somit sind wir mit Abstandder größte Förderer der Stiftung GedenkstätteAuschwitz, und das ist auch gut so. Darüber hinaus wer-den wir die staatliche israelische Gedenkstätte YadVashem in den kommenden Jahren mit insgesamt10 Millionen Euro unterstützen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])

Bundesminister Westerwelle wird nächste Woche einRegierungsabkommen dazu unterzeichnen.

Ich will daran erinnern, dass wir uns gemeinsam mitden Partnern einig sind. Ebenso wie für andere Staatenist die Theresienstädter Erklärung von 2009 Richtschnurfür unser Handeln. Sie besagt, dass der Erhalt von Ge-denkstätten und jüdischen Friedhöfen grundsätzlich dieAufgabe des Landes ist, in dem sie liegen. Das ist imÜbrigen auch Polen ganz wichtig. Ich stehe sehr intensiv– wie Herr Nietan weiß, weil auch er es tut – mit der pol-nischen Regierung in Kontakt; das hat sicher auch mitmeiner Aufgabe als Koordinatorin für die deutsch-polni-sche Zusammenarbeit zu tun. In dieser Woche habe ichnochmals Kontakt zum polnischen Kulturministeriumaufgenommen und habe mit Herrn Zuchowski, demStaatssekretär im polnischen Kulturministerium, gespro-

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18556 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Staatsministerin Cornelia Pieper

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chen. Ich möchte Sie darüber informieren, dass die Ge-denkstätte Sobibor dem polnischen Kulturministeriumdirekt unterstellt und dem Museum Majdanek zugeord-net ist, sodass der langfristige Erhalt gesichert ist.

In der Tat kam es zu Missverständnissen und Irritatio-nen, die uns beunruhigt haben. 2011 kam es aufgrundvon administrativen Regelungen, die sich scheinbar ne-gativ auf die Finanzierung ausgewirkt haben, zu der vo-rübergehenden Schließung des Museums. Das hat manin Polen inzwischen geklärt. Am 17. Januar dieses Jahreswurde eine Vereinbarung mit dem Landrat, in dessen Be-zirk sich Sobibor befindet, unterschrieben. Die Finanzie-rung von Sobibor ist von polnischer Seite gesichert.

Die Kollegen von der Linken sollten wissen, dassDeutschland bereits angeboten hat, sich an dem gemein-samen Projekt für Sobibor zu beteiligen. Es gibt ein Me-morandum of Understanding mit Israel, der Slowakeiund den Niederlanden. Polen hat uns ausdrücklich da-rauf hingewiesen, dass es nicht will, dass Deutschland indiesem Fall an diesem Projekt beteiligt ist. Das hat etwasmit der Geschichte und den Opfern von Sobibor zu tun.Wir haben das als deutsche Regierung respektiert.

Summa summarum: Ich kann nur betonen, dass unsder Erhalt von Gedenkstätten in jeglicher Form, ob inDeutschland oder in Europa, wichtig ist. Wir werden allesdaransetzen, dass wir als Deutsche der Opfer gedenkenund die Verantwortung für die schrecklichen Gräueltatenübernehmen. Aber ich glaube, man muss respektieren,wenn die polnische Regierung sagt, dass sie uns in demFall bei diesem Projekt nicht dabeihaben will.

In dem vorliegenden Antrag steht, dass die Bundesre-gierung Kontakt aufnehmen soll, um ein Angebot zu un-terbreiten.

Vizepräsidentin Petra Pau:Frau Staatsministerin, Sie können selbstverständlich

weiterreden, aber das hat dann Konsequenzen für nach-folgende Redner Ihrer Fraktion.

Cornelia Pieper, Staatsministerin im AuswärtigenAmt:

Frau Präsidentin, ich möchte gern, dass der Kollegevon der FDP, Patrick Kurth, noch redet.

(Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser][FDP] – Christian Lange [Backnang] [SPD]:Ich hoffe, als anständige Regierung wollen Sieauch die Opposition hören!)

Ich wollte nur sagen: Eigentlich hat sich der Antrag erle-digt. Aber wir unterstützen natürlich weiterhin das Vor-haben, die Gedenkstätten zu erhalten; das dient auchdem Gedenken an die Opfer. Wir werden unseren finan-ziellen Beitrag dazu leisten.

Danke.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-

lege Wolfgang Wieland das Wort.

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wa-

ren 250 000 Menschen, die im Vernichtungslager Sobi-bor zwischen Mai 1942 und Oktober 1943 vergast wur-den. „Sie wurden“, um eine Formulierung von HeinzGalinski zu gebrauchen, des langjährigen Vorsitzendender Jüdischen Gemeinde hier in dieser Stadt, „ermordet,nur weil sie Juden waren.“ 250 000 Menschen – das ent-spricht der gesamten Einwohnerzahl von Städten wieKiel, Braunschweig oder Krefeld. Ermordet wurdendiese Menschen im Rahmen der deutschen „Endlösungder Judenfrage“ – Stichwort Wannsee-Konferenz, an diewir alle zu Recht, wie ich finde, erinnert haben –, imZuge der deutschen „Aktion Reinhardt“ unter dem Kom-mando des deutschen SS-Obersturmführers FranzStangl. Die deutsche Verantwortung hierfür, und zwardie alleinige Schuld, steht außer Frage und wurde hier jaauch von niemandem infrage gestellt.

Nun ist die Frage: Wie stellen wir uns dazu – das isttatsächlich eine nicht einfach zu beantwortende Frage;da gebe ich Ihnen völlig recht, Frau Pieper –, wenn diepolnische Seite Finanzierungsschwierigkeiten hat? Wirhaben dazu schriftliche Anfragen an Ihr Haus gestellt.Wir haben im Rahmen der Haushaltsberatungen durchmeine Kollegen Jerzy Montag, der zurzeit auf der Parla-mentarischen Versammlung des Europarates ist, VolkerBeck und andere einen Antrag gestellt, weil es uns zu-tiefst beunruhigt hat, dass hier möglicherweise eine Ge-denkstätte nicht weiter finanziert werden kann. Es istauch tatsächlich zu hinterfragen, dass die Länder der Op-fer – Sie haben sie aufgezählt: Niederlande, Israel undandere – hier einen finanziellen Beitrag leisten, das Landder Täter aber nicht. Man muss sich fragen, ob das sorichtig ist.

Natürlich können und wollen wir nichts aufdrängen,aber der Hinweis auf die Theresienstädter Erklärung istja noch nicht die ganze Antwort. Sie beinhaltet nur dieVerpflichtung der Länder zum Erhalt der Gedenkstätten,die sich auf ihrem Territorium befinden. Das heißt nochnicht – Sie selber haben ja die Ausnahme Auschwitz indiesem Zusammenhang erwähnt –, dass es nicht aucheine Mitbeteiligung von deutscher Seite geben kann unddass diese auch sinnvoll ist.

Da es sich um eine hochsensible Frage handelt – daswurde hier nicht bestritten –, haben wir den Vorschlaggemacht, eine Runde der Berichterstatterinnen und Be-richterstatter anzusetzen. Wir hoffen, dass auch bei derCDU/CSU-Fraktion Bereitschaft da ist, wirklich heraus-zufinden, ob auf polnischer Seite gar nicht der Wunschdazu besteht oder ob man dort denkt, dass auf deutscherSeite die Bereitschaft fehlt, dass man also ins Gesprächkommt und diese Frage unter Freunden – wir sind ja hierunter Freunden – klärt und so in der Zukunft Irritationenvermeidet.

Eines dürfte doch völlig klar sein: Der Schrecken, derdort geschehen ist, das Unfassbare können wir niemals

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18557

Wolfgang Wieland

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unter Hinweis auf Verpflichtungen anderer Länder in ir-gendeiner Weise verkleinern. In keiner Weise werdenwir das los. Wir werden für immer die Bereitschaft zei-gen müssen, da auch finanziell zu helfen und einzuste-hen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Thomas

Strobl das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! In dem Antrag „Erhalt der Gedenkstätten national-sozialistischer Vernichtungslager sicherstellen“ fordertdie Fraktion Die Linke die Bundesregierung auf, mit Fi-nanzmitteln dazu beizutragen, dass die in Polen gelege-nen Erinnerungsorte der Schoah erhalten werden kön-nen. Hierauf möchte ich antworten: Sie rennen offeneTüren ein. Diese Bundesregierung tut das doch längst,und sie tut das in beträchtlichem Umfang, sowohl inPolen als auch bei uns in Deutschland. Die vier großenKZ-Gedenkstätten in Thüringen und Brandenburg undseit 2009 zusätzlich die westdeutschen KZ-Gedenkstät-ten Bergen-Belsen, Neuengamme, Dachau und Flossen-bürg sind in die institutionelle Förderung des Staatsmi-nisters für Kultur und Medien aufgenommen worden.Der Staatsminister für Kultur und Medien fördert auchdie Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Euro-pas“ sowie das Haus der Wannsee-Konferenz, die ja, wieKollege Wieland schon gesagt hat, fast exakt in diesenTagen vor 70 Jahren stattgefunden hat und an die wir unszu Recht erinnern.

Auch außerhalb Deutschlands übernimmt die Bun-desrepublik Deutschland Verantwortung dafür, dass andie Verbrechen der Nationalsozialisten erinnert wird. Al-lein zum Erhalt der als Erinnerungsort bedeutsamen Ge-denkstätte Auschwitz-Birkenau hat der Bund seit 2009in enger Kooperation mit den Ländern 60 MillionenEuro zur Verfügung gestellt und sich dabei eng mit derpolnischen Seite und weiteren internationalen Partnernabgestimmt.

Das heißt, der im Antrag der Linken implizit enthal-tene Vorwurf, diese Koalition unterstütze die Erinnerungan die NS-Verbrechen nicht oder nicht im nötigen finan-ziellen Umfang, entbehrt jeglicher Grundlage. Das Ge-genteil ist wahr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – JanKorte [DIE LINKE]: Wo steht das im Antrag?Das ist nicht angemessen bei dem Thema!)

Tatsache ist: Die Erinnerung an die NS-Zeit und ihreVerbrechen gehört zu den Kernanliegen dieser Bundes-regierung und dieser Koalition. Daraus folgende finan-zielle Verpflichtungen nimmt sie peinlich genau und invollem Umfang wahr. Wahr ist aber auch: Diese Bundes-

regierung und diese Koalition widerstehen der Versu-chung eines allzu wohlfeilen, geradezu gönnerhaftenAngebots von Finanzhilfen an europäische Nachbarstaa-ten wie Polen, dessen Regierung um solche Hilfen über-haupt nicht gebeten hat.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)

Ein Finanzierungsangebot unsererseits könnte den Ein-druck erwecken, unsere europäischen Freunde seien zumErhalt von Gedenkstätten nicht selbst imstande, obwohlsie sich in den Verhandlungen zur Theresienstädter Er-klärung vom 30. Juni 2009 faktisch genau dazu bekanntund verpflichtet haben.

Vom polnischen Botschafter, mit dem ich letzte Wocheein langes und konstruktives Gespräch geführt habe, weißich, wie entschlossen das polnische Volk ist, aus eigenerKraft seinen internationalen Verpflichtungen vollum-fänglich nachzukommen, und wie ungern es allgemeingesehen wird, durch ungebetene deutsche Finanzhilfenquasi indirekt abgesprochen zu bekommen, dazu in derLage zu sein. Meine verehrten Damen und Herren Kolle-ginnen und Kollegen, gut gemeint ist nicht immer gut ge-macht. Polen ist ein starker Partner Deutschlands, keinhilfsbedürftiger Kostgänger. Wir sollten jeden Eindruck,der in diese Richtung geht, vermeiden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Auf die Gedenkstätte Sobibor, die im Antrag der Lin-ken namentlich erwähnt ist, übertragen, heißt das: Nurweil im Sommer 2011 aufgrund administrativer Rege-lungen vor Ort ein Finanzierungsengpass entstand, be-steht noch lange kein Grund, bei uns die Alarmglockenzu läuten und mit ungebetenen finanziellen Zuwendun-gen in Warschau voreilig vorstellig zu werden. Tatsäch-lich hat die polnische Regierung selbst schon hinrei-chende Korrekturen vorgenommen. Warschau hat dieVerwaltung Sobibors Anfang 2012 dem Kultusministe-rium unterstellt und damit zur Chefsache erklärt, was alshinreichende Garantie für die Zukunft der Gedenkstättenin Polen anzusehen ist. Damit erübrigt sich jede ungebe-tene Finanzhilfe unsererseits. Sie würde, wie gezeigt,möglicherweise beleidigend wirken, falls wir sie Polendennoch anböten, ja, geradezu aufdrängten. Dazu wollenwir es nicht kommen lassen. Deswegen lehnen wir denAntrag der Linken ab.

Erlauben Sie mir zum Schluss noch einen Gedanken,gerade angesichts des morgigen internationalen Holo-caustgedenktages: Wir sind uns alle einig, dass sich diemenschenverachtenden Völkermordaktionen Nazideutsch-lands niemals wiederholen dürfen. Wir sind sicher allegleichermaßen aufgeschreckt angesichts der Zeitungsbe-richte in dieser Woche, denen zufolge antisemitische Ein-stellungen bei uns wieder auf dem Vormarsch sind, zu-mindest in latenter Form. Wenn das zutrifft – davon istangesichts der Seriosität der Erhebungsmethoden auszu-gehen –, muss man sich die Frage stellen: Welchen zu-sätzlichen Weg können wir gehen, um das Wiederaufle-ben judenfeindlicher Gesinnung zu verhindern, wenn diepädagogische Kultur des routinierten Gedenkens es of-

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Thomas Strobl (Heilbronn)

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fenkundig allein nicht schafft, wie es eine deprimierteCharlotte Knobloch am Montag fast schon verzweifeltausdrückte? Was können wir ergänzend tun, um das viru-lente Gift des Rassismus wirksam zu neutralisieren, dasoffensichtlich noch immer in den Menschen steckt? Dieshat übrigens – das sage ich ohne Häme und ohne partei-politische Kampfeslust – längst auch die Linkspartei be-fallen, wie die Vorgänge in ihrem Duisburger Kreisver-band im Jahr 2011 belegen.

Das größte Denkmal, das wir den Opfern des Holo-caust errichten können, liegt nicht in Polen, liegt nicht inDeutschland oder sonst wo, sondern in uns selber.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)

Es ist kein in Stein gehauenes Mahnmal. Es kostet auchkein Geld. Vielmehr ist es der täglich aufs Neue gefassteEntschluss unseres Herzens, Menschlichkeit zu üben,immer und überall und gegenüber jedermann. Eine sol-che Praxis ist alles in allem die bestmögliche Antwort.

Vizepräsidentin Petra Pau:Kollege Strobl, angesichts des Themas bin ich ausge-

sprochen großzügig; aber ich bitte Sie, jetzt das Signalzu beachten.

Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU):Sie kostet nichts außer einer Willensanstrengung und

ist dennoch unendlich viel wertvoller als jede Geldinves-tition.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Das ist der Grund, warum wir den Antrag der Linken ab-lehnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Patrick

Kurth das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP):Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! An den Holocaust, das schwerste Verbrechen inder Menschheitsgeschichte, müssen und werden wir im-mer erinnern. Das ist absolute Staatsräson; das darf nie-mals in Vergessenheit geraten. Dazu gehört selbstver-ständlich, dass die Gedenkinfrastruktur des unsäglichenVerbrechens für alle nachfolgenden Generationen erhal-ten bleibt. Das ist selbstverständlich. Konzentrationslagermüssen als Gedenkstätten erhalten werden. Dies ist un-verhandelbar und Konsens hier in diesem Hause.

Die Theresienstädter Erklärung wurde von 46 Staatenunterzeichnet. Sie enthält die Leitlinien für das künftigeErinnern an den Holocaust in Europa und weltweit und

ist erst recht für Deutschland Maßstab. Sie bringt – dasverschweigen Sie in Ihrem Antrag – den Konsens allerBeteiligten zum Ausdruck, dass das Erinnern an den Ho-locaust eine Aufgabe aller Völker ist. Genau das ist dasWegweisende der Theresienstädter Erklärung. Es wirdfestgelegt, dass das Erinnern an den Völkermord und andie Schreckensherrschaft Aufgabe der gesamtenMenschheit ist. Frau Grütters hat es schon zitiert; ichwiederhole es:

… rufen wir alle Staaten nachdrücklich auf, regel-mäßige jährliche Gedenk- und Gedächtnisfeiern zuunterstützen beziehungsweise einzuführen sowieMahnmale und andere Gedenkstätten und Orte zurErinnerung an das unermessliche Leiden zu erhal-ten.

Dies ist gleichsam eine Selbstverpflichtung aller betei-ligten Staaten, das Gedenken an die NS-Gräuel aufrecht-zuerhalten.

Ganz entscheidend und wichtig ist: Von polnischerSeite – Sie haben dies ganz deutlich gesagt – kam ausbestimmten Gründen keine Anfrage für Sobibor. Des-halb dürfen gerade wir jetzt nicht gönnerhaft an die Po-len herantreten und so tun, als müssten wir ihnen zeigen,wie man Gedenkstättenarbeit macht oder machen sollte.Das gehört sich für uns als Deutsche nicht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Polen hat unser Vertrauen. Das Land betreibt her-vorragende Gedenkstättenarbeit. Das gilt auch für So-bibor. Deutschland beteiligt sich massiv, beispielsweisemit 60 Millionen Euro am Erhalt der GedenkstätteAuschwitz-Birkenau. Der Unterschied zwischenAuschwitz und Sobibor ist, dass die Förderung in engerAbsprache mit der polnischen Seite erfolgt und ebennicht ungefragt. Viele weitere internationale Partner sindbeteiligt.

Unser Nachbarland Polen leistet eine hervorragendeArbeit. Es gibt keinen Grund, dass wir, der DeutscheBundestag, das bezweifeln.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Von daher, Herr Korte: Vielleicht ist Ihr Antrag gut ge-meint, vielleicht ist er aber auch ein Schaufensterantrag.Er ist auf jeden Fall eines: überflüssig.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/7028 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

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Vizepräsidentin Petra Pau

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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an dem Einsatz der Interna-tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe inAfghanistan (International Security Assis-tance Force, ISAF) unter Führung der NATOauf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001)und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution2011 (2011) vom 12. Oktober 2011 des Sicher-heitsrates der Vereinten Nationen

– Drucksachen 17/8166, 17/8393 –

Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderJohannes PflugDr. Rainer StinnerWolfgang GehrckeDr. Frithjof Schmidt

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/8394 –

Berichterstattung:Abgeordnete Herbert FrankenhauserKlaus BrandnerDr. h. c. Jürgen KoppelinMichael LeutertSven-Christian Kindler

Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der FraktionDie Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag derBundesregierung sowie über die beiden Entschließungs-anträge werden wir später namentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Rainer Stinner (FDP):Frau Präsidentin! Verehrte, liebe Kolleginnen und

Kollegen! Gestern ist in der Provinz Balkh der Start-schuss zur Übergabe der Sicherheitsverantwortung andie afghanischen Sicherheitsbehörden gegeben worden.Vorgestern fiel auch der Startschuss für Faizabad und dieRegion Badakhshan, um diesen wichtigen Schritt zu un-ternehmen. Schätzungen besagen, dass sich durch dieSchritte, die vorgestern und gestern gemacht wordensind, schon jetzt circa 25 Prozent der afghanischen Be-völkerung unter dem Sicherheitsschirm der afghanischenSicherheitsbehörden befinden. Bis zum Frühjahr diesesJahres wird eine Quote von 50 Prozent angestrebt. Wiralle wissen: Wir gehen davon aus, dass bis zum Jahre

2014 eine Abdeckung von 100 Prozent erreicht seinwird. Wir befinden uns in Afghanistan auf einem sehrpositiven Entwicklungspfad.

Seit 2010 verbessert sich die Sicherheitslage; das istauch messbar. Die Zahl der Anschläge und Gefechte istdeutlich zurückgegangen. Auch im zivilen Bereich ha-ben wir wesentliche Fortschritte zu verzeichnen. In allenDimensionen des zivilen Aufbaus – ob bei der Kinder-sterblichkeit oder beim Zugang zu Wasser, Bildung,Krankenhäusern bzw. Gesundheitsleistungen – gibt eseine eindeutig positive Entwicklung. Diese Erfolge ver-danken wir ganz wesentlich unseren Soldaten, unserenPolizisten und den vielen zivilen Helfern in Afghanistan.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich rufe diesen Helfern, Polizisten und Soldaten zu: Siekönnen auf das, was Sie tun, stolz sein! Wir als Abge-ordnete können auf unser Personal stolz sein. Wir solltenden Helfern, Polizisten und Soldaten und ihren Familiendeutlich sagen, dass wir auf das, was sie für uns in Af-ghanistan leisten, stolz sind.

Ganz wesentlich beigetragen zu diesem positivenEntwicklungspfad hat das strategische Konzept der Bun-desregierung für diesen wichtigen und wertvollen Ein-satz. Deutlich sichtbar ist: Beginnend mit der Konferenzin London im Januar 2010, der vor einigen Wochen dieKonferenz in Bonn folgte, ist erstmals erreicht worden,dass die NATO ein gemeinsames Verständnis, ein ge-meinsames Konzept und einen gemeinsamen Entwick-lungspfad hat. Daran hat diese Bundesregierung, die seit2009 im Amt ist, mit diesem Außenminister einen ganzwesentlichen Anteil.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der vernetzte Ansatz, über den wir lange diskutierthaben, ist in einer Weise realisiert worden, wie wir esuns noch vor einigen Jahren gewünscht hätten. Ich sagesehr deutlich: Ich bedanke mich ganz ausdrücklich beiallen Ministerien, die in diesen Prozess eingebundensind – insbesondere beim Auswärtigen Amt, beim Ver-teidigungsministerium, beim BMZ und beim Innenmi-nisterium, aber auch bei allen anderen Ministerien –, da-für, dass das Konzept des vernetzten Ansatzeszunehmend Realität wird. Wir können überall noch bes-ser werden. Wir sind aber schon wesentlich besser ge-worden. Herzlichen Dank dafür!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Entwicklungspfad spiegelt sich auch in demMandat, das uns die Bundesregierung heute vorlegt, wi-der. Erstmals kommt es zu einer Reduzierung der Trup-penstärke auf 4 900 Soldaten. Im Mandat steht, dass, so-fern es die Sicherheitslage erlaubt, angestrebt ist, dieTruppenstärke innerhalb von zwölf Monaten auf 4 400Soldaten zu senken. Das ist der richtige Weg, und wirbegrüßen dies außerordentlich.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Natürlich ist inAfghanistan nicht alles gut; das wissen wir.

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18560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Dr. Rainer Stinner

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(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Da haben Sie gerade noch die Kurve gekriegt!)

– Lieber Herr Gehrcke, das wissen wir doch. – Natürlichist die Sicherheitslage prekär. Wir haben heute wiederdrei Tote in Helmand zu beklagen, und es wird weitereAnschläge und Gefechte geben. Da macht sich bei unsdoch keiner Illusionen. Natürlich wird das der Fall sein.Auch die Gewaltkriminalität nimmt zu. Es gibt Korrup-tion und kein geordnetes Staatswesen. Das ist uns durch-aus bewusst. Dennoch müssen wir auch die Perspektivensehen, die wir hier haben.

Wir wissen noch nicht, wie das politische Szenarionach 2014 aussehen wird, aber wir arbeiten daran. Wich-tig ist, dass wir den Entwicklungspfad hinsichtlich derAufgabe, die diese Bundesregierung von der Vorgänger-regierung übernommen hat, systematisch weitergehen.Deshalb sage ich: Die Bundesregierung wird mit vielEinsatz weiter daran arbeiten, und wir unterstützen siedarin.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend sageich speziell zu den Grünen: Ich habe nicht das geringsteVerständnis dafür, dass Sie sich angesichts der Aufgabe,die wir von Ihnen übernommen haben, und angesichtsdes deutlich sichtbaren Entwicklungspfades heute nichtdazu durchringen können, diesem Mandat zuzustimmen.

(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ver-steht keiner!)

Dafür kann ich nur parteiinterne Diskussionen verant-wortlich machen. Inhaltlich ist das nicht geboten.

(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wir führen Diskussionen, im Gegen-satz zu Ihnen!)

Wir werden die Bundesregierung aus voller Überzeu-gung unterstützen und diesem Mandat zustimmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Stefan Rebmann für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Stefan Rebmann (SPD):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir entscheiden heute über die Fortsetzungder Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz derISAF-Truppen in Afghanistan. Wir haben in der SPD-Fraktion und in unserer Task Force Afghanistan mehr-fach sehr offen, ausführlich und kritisch über die Lageund über die Situation der Menschen in Afghanistan ge-sprochen.

Wir haben vor allen, die sich in Afghanistan engagie-ren, die wertvolle Aufbau-, Ausbildungs- und Entwick-lungsarbeit leisten und die für Sicherheit sorgen, ob alsMitarbeiter bei NGOs, als Polizeiausbilder oder als Bun-

deswehrangehörige, hohen Respekt. Ihnen allen gehörtunsere Anerkennung.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP])

Wir halten es als SPD-Fraktion für richtig, uns auchweiterhin im Rahmen der internationalen Gemeinschaftin Afghanistan zu engagieren; denn wir dürfen die af-ghanische Bevölkerung nicht im Stich lassen, auch nichtnach 2014. Das war die wichtigste Botschaft der Afgha-nistan-Konferenz in Bonn; denn unser Ziel, den Aufbauund die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräftesowie den Schutz der afghanischen Bevölkerung so weitvoranzutreiben, dass Afghanistan mittel- und langfristigalleine und eigenverantwortlich in der Lage ist, für Sta-bilität und Frieden zu sorgen, haben wir noch nicht er-reicht. Bis wir dieses Ziel erreicht haben – das wissenwir alle –, ist es noch ein weiter und steiniger Weg. Des-halb sage ich auch: Es hilft nichts, die Lage schönzure-den. Ja, es ist unendlich schwierig, es ist kompliziert,und es gibt auch Misserfolge und Rückschläge; aber esgibt auch Erfolge, im militärischen wie auch im zivilenund im entwicklungspolitischen Bereich.

Afghanistan ist gegenwärtig kein Rückzugsraummehr für international agierende Terroristen. Dieser Er-folg – das muss uns allen klar sein – steht auf wackeli-gen Beinen. Ein sofortiger und vollständiger Rückzugauch der ISAF-Truppen würde das Land sehr wahr-scheinlich wieder im Bürgerkriegssumpf versinken las-sen. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind gerade imAusbildungsbereich nach wie vor auf unsere Unterstüt-zung angewiesen; aber – und das empfinde ich schon alsErfolg – sie übernehmen nach und nach immer mehr Be-reiche in ihre eigene Verantwortung, und das ist auch gutso.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im zivilen und entwicklungspolitischen Bereich siehtes ähnlich aus. Gemeinsam mit den beteiligten Partner-staaten haben wir dringend notwendige Projekte in denBereichen Infrastruktur, Bildung – Aufbau von Schulen,insbesondere von Mädchenschulen – und medizinischeVersorgung sowie beim Zugang zu Elektrizität undTrinkwasser angestoßen und gemeinsam umgesetzt. Umdiese Fortschritte dauerhaft zu sichern, müssen sie kon-zeptionell und finanziell abgesichert werden. Dazu brau-chen wir eine unabhängige Evaluierung aller bisherigenMaßnahmen. Wir müssen wissen, inwieweit die selbst-gesteckten Ziele tatsächlich erreicht wurden und wonoch deutlich nachjustiert werden muss. Der Fort-schrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung ist um-fangreich und liefert durchaus eine ganze Menge an In-formationen und Hinweisen. Eine unabhängige Evalu-ierung ersetzt er allerdings nicht.

Ich will an dieser Stelle noch einmal auf die großar-tige Arbeit und das Engagement der vielen zivilen Ent-wicklungshelfer und der NGOs hinweisen, die oft unterschwierigsten Bedingungen eine hervorragende Arbeitleisten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

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Stefan Rebmann

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Ich muss hier aber auch sagen: Bei den NGOs und beider afghanischen Bevölkerung hat Minister Niebel mitseinem Konzept der vernetzten Sicherheit und der zivil-militärischen Zusammenarbeit für erhebliche Irritationenund Verärgerung gesorgt.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Afghanistan wird weiterhin auf unsere Unterstützungangewiesen sein. Man muss der Regierung in Kabulauch sehr deutlich machen, dass wir Fortschritte erwar-ten, besonders im Bereich Good Governance, bei derEinhaltung demokratischer Grundrechte und Menschen-rechte, bei Pressefreiheit und Frauenrechten, bei freiendemokratischen Wahlen und bei der Bekämpfung vonArmut, Drogenhandel und Korruption. Auch der inner-afghanische Versöhnungsprozess muss ernsthaft voran-getrieben werden; denn nur so – nicht nur militärisch –ist der Konflikt dauerhaft zu lösen. Wir brauchen in Af-ghanistan eine politische Lösung.

(Beifall bei der SPD)

In Bonn ist darauf verzichtet worden, von der Regie-rung Karzai ernsthafte Reformen als Vorbedingung fürweitere finanzielle Unterstützung einzufordern. Über-haupt ist neben dem Versöhnungsprozess die internatio-nale Finanzierung Afghanistans ein zentrales Thema.Klar ist: Der Finanzierungsbedarf für Afghanistan, auchfür die afghanischen Sicherheitskräfte, wird trotz Redu-zierung der Zahl der internationalen Streitkräfte anstei-gen. Auch die zivilen Hilfsprojekte werden noch auf län-gere Zeit von der internationalen Gemeinschaft unter-stützt werden müssen.

Meine Fraktion steht zu ihrer Verantwortung. Deshalbstimmen wir mit großer Mehrheit für die Fortsetzung desdeutschen Engagements – aber auch, weil die Regierungviele unserer zentralen Forderungen übernommen hat.

Aber zum Abzug der Truppen gehört auch eine kriti-sche Bewertung der bisherigen Maßnahmen und ein kla-rer Truppenabzugsplan, ein klares Konzept. Wenn derGrundstein schief liegt, kann die Mauer nicht geradesein, besagt ein afghanisches Sprichwort. Das heißt, einegute Sicherheitslage und ein erfolgreicher Versöhnungs-prozess sind Grundsteine für den Frieden und für einegute Entwicklungszusammenarbeit.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz für die

Unionsfraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ruprecht Polenz (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir entscheiden über den Antrag der Bundesregierung,4 900 Soldaten, das heißt: 450 weniger als bisher, für ein

weiteres Jahr zur Teilnahme an der ISAF-Mission nachAfghanistan zu entsenden. In dem Mandat heißt es auch,dass eine weitere Reduzierung auf 4 400 Soldaten mög-lich ist, sofern es die Lage erlaubt.

In vielen Diskussionen in der Vergangenheit über die-ses Mandat haben wir immer wieder gesagt: Es gibtkeine militärische Lösung. Aber es gibt eben auch keineLösung ohne Militär. Deshalb möchte ich mich genausowie meine Vorredner bei den Soldatinnen und Soldatenbedanken. Denn ohne ihren Dienst wären die Aufbau-erfolge in Afghanistan im Gesundheitswesen, im Bil-dungs-wesen und bei der Infrastruktur nicht möglich ge-wesen. Ohne ihren fortgesetzten Einsatz in Afghanistanwäre auch eine politische Lösung nicht möglich.

Die politische Lösung muss alle Ebenen des Konfliktsadressieren: die internationale Ebene – al-Qaida darfnicht wieder zurückkehren –, die nationale Ebene – esgeht um den Ausgleich der Interessen der Stämme undum den Versöhnungsprozess in Afghanistan – und die re-gionale Ebene, nämlich die Einbeziehung der Nachbarn.Die politische Lösung muss nach dem Motto „Zusam-men rein, zusammen raus“ auch alle Beteiligten, nichtzuletzt alle 40 ISAF-Truppensteller, mit einbeziehen. Ichdenke, auch Frankreich wird sich diesem Grundsatz derBündnissolidarität entsprechend verhalten.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist aus meiner Sicht ein Erfolg der Bundesregie-rung, dass wir über eine realistische Strategie für einesolche politische Lösung verfügen, die diesen komple-xen Anforderungen entspricht. Ich möchte mich bei un-serem Außenminister, Herrn Westerwelle, bei Verteidi-gungsminister de Maizière, aber auch bei dem Afgha-nistan-Beauftragten der Bundesregierung, Herrn Steiner,ganz herzlich für diese konzeptionelle Vorarbeit und denEinfluss, den sie international dafür genommen haben,bedanken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Peinlich!)

Was wollen wir erreichen? „Wir“ heißt nicht wirDeutschen, sondern wir als internationale Gemeinschaft.Wir wollen einen politischen Prozess in Afghanistan.Wir wollen hinreichende Stabilität, und wir wollen dasJahr 2014 als Zeithorizont für den Abzug der Kampf-truppen. Dafür hat die internationale Afghanistan-Kon-ferenz in Bonn sieben Prinzipien formuliert, nämlichzwei für den Friedensprozess und fünf für das Ergebnis,das erreicht werden soll.

Der Friedensprozess muss unter afghanischer Führungstehen. Wir können das afghanische Engagement nichtersetzen. Der Friedensprozess muss auch die legitimenInteressen aller Afghanen berücksichtigen, unabhängigvon Geschlecht oder Status.

Die Friedenslösung muss Folgendes beinhalten, undzwar nicht als Vorbedingung, sondern als zu erzielendesErgebnis – dafür wurden fünf Prinzipien formuliert –:erstens die Bestätigung eines souveränen und stabilengeeinten Afghanistans. Ich weiß, dass verschiedentlich

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18562 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Ruprecht Polenz

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darüber spekuliert wird, ob es nicht vielleicht besserwäre, das Land würde sich irgendwie teilen. Aber ichwarne vor solchen Gedanken. Das ist ein tödliches Re-zept für einen erneuten Bürgerkrieg. Erstes Ziel ist alsoein geeintes, souveränes und stabiles Afghanistan. Zwei-tes Ziel ist der Gewaltverzicht. Drittens ist der Bruch mitdem internationalen Terrorismus notwendig und viertensRespekt gegenüber der afghanischen Verfassung ein-schließlich der darin verankerten Menschen- und Frau-enrechte. Fünftens muss die Region den Friedensprozessund sein Ergebnis respektieren und unterstützen.

Wir stellen uns natürlich die Frage, warum das jetztrealistisch ist. Warum sollten sich die Aufständischenund die Taliban darauf einlassen? Entscheidend ist dafüraus meiner Sicht die Zusage der internationalen Gemein-schaft auf der Konferenz in Bonn, Afghanistan nach demJahr 2014 noch ein Jahrzehnt, bis zum Jahr 2024, Hilfezu gewähren und Mittel für zivile Aufgaben und Ent-wicklungsprioritäten bereitzustellen, wie sie der afghani-sche Staat dann für sich setzen wird.

Die Taliban wissen, dass sie in der Zeit ihrer Herr-schaft Fehler gemacht haben. Sie kennen die Umfragenund wissen, dass sie nur etwa 4 bis 7 Prozent der Afgha-nen zurück an der Macht sehen wollen. Sie wissen auch,dass die Erwartungen der Bevölkerung ohne Hilfe ausdem Ausland nicht erfüllt werden können. Sie wissenebenfalls, dass diese Hilfe von Bedingungen abhängt.

Damit Hilfe auch nach 2014 geleistet werden kann,brauchen wir allerdings weiterhin Unterstützung bei derSicherheitsvorsorge für die afghanischen Streitkräfte– diese werden finanziert werden müssen – und beimweiteren Aufbau der afghanischen Polizei. Deshalb warich etwas irritiert, als ich in dieser Woche im Spiegel ge-lesen habe:

Weil ohne Soldaten die Sicherheit nicht gewährleis-tet sei, werde Deutschland dann keine Anwärtermehr für den afghanischen Polizeidienst ausbilden.

Das stammt angeblich aus irgendwelchen Regierungs-kreisen.

(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind schon namentlich genannt!)

Ich denke, diese Irritationen sollten schleunigst ausge-räumt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Denn es ist völlig klar, dass bei einer solchen Aussagekeine Entwicklungshilfe geleistet werden könnte. Selbst-verständlich gehören zur Übergabe in Verantwortunghinreichende Sicherheit, eine weitere Verbesserung derSicherheitsvorsorge und damit auch weitere Hilfe beimPolizeiaufbau.

„Zusammen rein, zusammen raus“, das ist nicht nurein Prinzip für das Bündnis und das Militär. Es handeltsich auch um einen politischen Grundsatz. Der Afgha-nistan-Einsatz ist von der rot-grünen Bundesregierungbeschlossen worden. Die damaligen Oppositionsfraktio-

nen von Union und FDP haben ihn die ganze Zeit unter-stützt.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wir nicht! –Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Die CDU ja, die FDP nicht!)

– Stimmt, nicht immer. Aber ich rede jetzt nur für meineFraktion. – Wir haben das unterstützt. Es war ganz wich-tig, Herr Trittin, dass wir über die Jahre eine breite parla-mentarische Mehrheit hatten.

Jetzt liegt eine realistische Strategie für eine politi-sche Lösung vor. Es gibt das klare Signal: Wir lassen dieAfghanen nicht im Stich. – Das Ganze ist internationalabgestimmt. Bei dieser Sachlage wollen Sie sich, meineDamen und Herren von den Grünen, der Stimme enthal-ten? Sie machen – ich formuliere es freundlich – einenKunstgriff, legen einen eigenen Entschließungsantragvor und tun so, als könnten Sie nur dann zustimmen,wenn sich die Welt nach den Grünen richtet. Sie wollenso Ihre Enthaltung und das Stehlen aus der Verantwor-tung begründen. Wenn sich jeder so verhalten würde,würde man nicht nur dem Kant’schen Imperativ, wonachman sich so verhalten soll, als ob man … – Sie kennendas sicherlich –, nicht mehr entsprechen können. Ihr Ver-halten ist – knapp zusammengefasst – weder besondersmoralisch noch besonders vernünftig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte Sie vor diesem Hintergrund auffordern,diese Haltung noch einmal zu überprüfen, und zwar imInteresse unserer Soldaten und einer politischen Lösung,die umso besser zu erreichen ist, je klarer und breiter dieSignale sind, die aus diesem Parlament gesendet werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Paul Schäfer für die Frak-

tion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Beim

heute zu verabschiedenden Afghanistan-Mandat soll esum den Einstieg in den Ausstieg gehen; zumindest wirddieser Eindruck erweckt. Die Wirklichkeit ist: Es gehtum einen Teilabzug – möglichst gesichtswahrend – unddarum, dass die NATO nach 2014 mindestens eine wei-tere Dekade am Hindukusch militärisch präsent bleibenwill. Was uns hier und heute serviert wird, ist ein Abzugvon Personal in homöopathischer Dosis, während gleich-zeitig alles, was für harte Kriegführung benötigt wird, imLand bleibt. Mehr noch: Die Verlegung weiterer Kampf-hubschrauber ist geplant. Ein substanzieller Abzug siehtanders aus.

(Beifall bei der LINKEN)

Klar ist auch, dass die offensive Aufstandsbekämp-fung – mit entsprechenden Opfern unter den Zivilistenund den bewaffneten Akteuren – weitergehen soll. Ge-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18563

Paul Schäfer (Köln)

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nau das aber blockiert den Beginn eines Friedensprozes-ses, den die Afghanen herbeisehnen, den sie endlichbrauchen. Seien Sie doch einmal ehrlich:

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das kannst du von denen nicht erwarten!)

Die Vorstellung, dass es 2024 noch NATO-Soldaten amHindukusch geben könnte, ist schlicht irreal. Das wirdvon der afghanischen Bevölkerung nicht akzeptiert wer-den, die endlich Selbstbestimmung will, statt weiterhinSpielball geostrategischer Ambitionen anderer zu sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Selbst die Bundesregierung sagt: Der Afghanistan-Krieg ist militärisch nicht zu gewinnen. – Wenn das rich-tig ist, kann es nicht darum gehen, jetzt Zeit zu gewin-nen, sondern es muss darum gehen, die Zeit endlich zunutzen, um eine diplomatische Lösung des Konflikts zuerreichen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich erkläre Ihnen gerne noch einmal den Standpunktder Linken. Erstens. Nur ein vollständiger Truppenabzugschafft die Voraussetzung für eine politische Friedenslö-sung.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Um dahin zu kommen, muss der zügigeAbzug in diesem Jahr mit vertrauensbildenden Maßnah-men verbunden sein, das heißt mit einem Ende der An-griffshandlungen. Waffenstillstandsvereinbarungen unddie Schaffung von entmilitarisierten Zonen – das wäre indiesem Jahr angesagt.

(Beifall bei der LINKEN)

Drittens. Es muss eine umfassende afghanische Ver-handlungslösung mit Nachdruck gefördert werden. Da-bei darf die afghanische Zivilgesellschaft nicht zum An-hängsel der Kriegsparteien gemacht werden.

Viertens. Die politische Lösung muss von Bemühun-gen um regionale Stabilität begleitet werden. Dazu ge-hört auch, dass die Bundesregierung auf die US-Regie-rung einwirkt, die kriegerischen Akte in Pakistaneinzustellen und die Hände vom Iran zu lassen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist natürlich gut, wenn jetzt vor allem über denTruppenabzug gesprochen wird. Nur leider dreht sichvor Ort die Spirale der Gewalt immer weiter. Deshalbgilt: Nichts ändert sich in Afghanistan, zumindest nicht2012. Die nächtlichen Hausdurchsuchungen gehen wei-ter, die Jagd auf mutmaßliche Aufständische, die ohneGerichtsverfahren ausgeschaltet werden sollen, gehtweiter.

In einem Beitrag der Stiftung Wissenschaft und Poli-tik heißt es dazu kurz und bündig – ich zitiere –:

Das „gezielte Töten“ in großem Stil ist, so scheintes, zur letzten Hoffnung in Afghanistan geworden.

Das ist schlimm. Wenn jetzt im deutschen Verantwor-tungsbereich noch US-Drohnen stationiert werden, die

genau für diese Kriegsführung geeignet sind, dann musseinem angst und bange werden; denn an diesen gezieltenTötungen – sie sind oft nicht sehr gezielt; es kam zuschlimmen Verwechslungen, was die Vereinten Nationen,das Internationale Rote Kreuz und viele andere kritisierthaben – ist die Bundeswehr leider zumindest mittelbarbeteiligt. Genaues wissen wir nicht. Wer garantiert, dassaus der Namensliste, die mit deutscher Beteiligung zu-stande kommt, keine Todesliste wird? Niemand.

Deshalb wollen wir, dass sich Deutschland nicht län-ger an dieser völkerrechtswidrigen, unmoralischen Kriegs-praxis beteiligt, weder unmittelbar noch indirekt.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben in der namentlichen Abstimmung über unse-ren Entschließungsantrag heute Gelegenheit, das glas-klar auszudrücken. Wenigstens dazu sollten Sie von derFDP, von der CDU/CSU, von den Grünen und von derSPD bereit sein. Sie mögen ja die Fortsetzung von ISAFverantworten, aber lehnen Sie wenigstens die deutscheBeteiligung an diesen ungesetzlichen, ethisch nicht zuverantwortenden Tötungen ab. Darum bitte ich Sie ganzdringend.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-

lege Dr. Frithjof Schmidt das Wort.

Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan dauert nunschon über zehn Jahre. Diese zehn Jahre sind auch eineGeschichte westlicher Fehleinschätzungen und geschei-terter Hoffnungen. Deswegen war die Wende von Präsi-dent Obama hin zu einer neuen Strategie für eine politi-sche Lösung Anfang 2010 so wichtig, und es gilt, dieseStrategie international politisch zu verteidigen, wenn sienun im Rahmen des Wahlkampfes in den USA in dieKritik der republikanischen Opposition gerät.

Dazu gehört auch der Abzug der internationalenKampftruppen bis 2014. Wir unterstützen, dass die Bun-deswehr das im Geleitzug mit unseren Partnern macht.Dazu gehört auch die Verpflichtung zum zivilen Engage-ment bis 2024 und darüber hinaus.

Jetzt kommt die entscheidende Phase der Umsetzung.Der Beschluss zur Eröffnung eines Verbindungsbürosder Taliban in Katar war sicherlich ein zentraler Schrittfür den Start von Verhandlungen. Dieser Weg ist richtigund muss weiter fortgesetzt werden. Dafür werden wirGrüne werben, und dafür hat die Bundesregierung auchunsere Unterstützung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber mit dem Mandat, das Sie uns hier vorlegen, sindwir so nicht einverstanden. Die erste Abzugsetappe, dieSie für dieses Mandat angekündigt haben, ist im Wesent-

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18564 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Dr. Frithjof Schmidt

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lichen eine Luftbuchung. Fast 1 000 Soldaten würdenjetzt nach Hause kommen – das haben Ihre Pressespre-cher im November verbreitet. Wenn man sich die Zahlenansieht, stellt man fest: Real ziehen Sie rund 200 Solda-ten ab, mehr nicht. Sie lösen die flexible Reserve auf, diezum größten Teil nicht eingesetzt wurde, und Sie stellenin Aussicht, dass Sie vielleicht, wenn die Umstände eszulassen, weitere 500 Soldaten 2012 abziehen könnten.Planungen darüber hinaus: komplette Fehlanzeige. Esbleibt schleierhaft, wie Ihr Konzept für die NATO-Ab-zugskonferenz im Mai in Chicago aussieht. Ich sage:Klarheit sieht wirklich anders aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie beenden auch nicht die Verstrickung der Bundes-wehr in die offensive Aufstandsbekämpfung im Rahmendes sogenannten Partnerings. Insbesondere die Capture-or-kill-Operationen blockieren die Versuche einer politi-schen Lösung viel mehr, als dass sie sie ermöglichen. Esergibt keinen Sinn, die Verhandlungspartner von morgenheute einfach wegzubomben. Die zivilen Opfer sindenorm. Das ist kontraproduktiv und muss beendet wer-den.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Warumstimmen Sie dann unserem Antrag nicht zu?)

Dieses Mandat sollte den Abzug unserer Kampftrup-pen einleiten. Wenn wir im Jahr 2014 die Kampftruppenganz heraus haben wollen, dann müssen wir ihre Stärke2012 und 2013 substanziell reduzieren. Wenn Herr deMaizière im Dezember sagt, dass er meint, dass deutscheKampftruppen auch nach 2014 in Afghanistan sind,dann stellt er die zentrale Botschaft der internationalenGemeinschaft zum Abzug infrage. Das ist ein Wirrwarrund kein klares Konzept.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darum ist die Kritik an der konkreten Planungsver-weigerung der Bundesregierung für uns eine zentraleFrage. Deswegen wird die große Mehrheit meiner Frak-tion diesem Mandat heute nicht zustimmen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Traurig!)

Vizepräsidentin Petra Pau:Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Elke Hoff das

Wort.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Elke Hoff (FDP):Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Ich bin über die Positionierung meiner Vorred-ner etwas überrascht. Lieber Paul Schäfer, Sie stellenhier Behauptungen in den Raum und unterstellen unse-ren Soldatinnen und Soldaten Dinge, deren Beweis Sieam Ende schuldig bleiben.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Unsere Soldatinnen und Soldaten in der Öffentlichkeitund vor versammeltem Publikum in eine solche Gemen-gelage hineinzuziehen, finde ich ungehörig und absolutunanständig.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau:Kollegin Hoff, gestatten Sie eine Frage des Kollegen

Gehrcke?

Elke Hoff (FDP):Ja, bitte schön.

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):Herzlichen Dank, Frau Kollegin Hoff. – Sie wie wir,

Herr Schäfer und ich, sitzen hin und wieder im Verteidi-gungsministerium im sogenannten U-Boot. Ihnen wieuns werden Dias von Personen gezeigt, die angeblich inAnschläge verwickelt waren. Weder Sie noch wir wis-sen, ob das stimmt. Wir wissen: Wenn diese Personenauf der Liste benannt werden, sollen sie ausgeschaltetwerden. Das heißt, sie können verhaftet werden, dasheißt aber auch – Herr Schäfer hat das nicht der Bundes-wehr unterstellt –, sie können von Einsatzkräften andererNationen erschossen oder mit Drohnen liquidiert wer-den.

Ich finde, damit muss Schluss sein. Sie wissen, dassein solches Vorgehen der Ministergenehmigung bedarf.Das heißt, die Verteidigungsminister haben in dieser Artund Weise an einer völkerrechtswidrigen Aktion mitge-wirkt.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. AndreasSchockenhoff [CDU/CSU]: Das ist unglaub-lich!)

Elke Hoff (FDP):Verehrter Herr Kollege Gehrcke, dies ist wiederum

eine Behauptung Ihrerseits, für deren Beweis Sie hiernichts liefern.

(Zuruf von der LINKEN: Beweisen Sie das Gegenteil! Das ist doch geheim!)

Sie zitieren hier aus einem Gremium und ziehen diesjetzt in der Öffentlichkeit sozusagen zur Legitimation Ih-rer Position bei. Dazu kann ich Ihnen sagen: Dies ist einunfaires, um nicht zu sagen, ein unanständiges Mittelpolitischer Rhetorik. Wenn wir uns über diese Dinge inder Öffentlichkeit unterhalten, würde ich Sie bitten, derÖffentlichkeit auch einen Beweis dafür zu liefern. Dannkönnen wir an dieser Stelle über alles reden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der nächste Punkt: Verehrter Herr Kollege Schmidt,Sie haben dankenswerterweise die Linie der Bundesre-gierung durchaus unterstützt. Ich kann mich auch nochsehr gut daran erinnern, wie Kollege Trittin in anderem

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18565

Elke Hoff

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Zusammenhang mit großer Vehemenz die Bündnisfähig-keit und die Bündnisverpflichtungen hervorgehoben hat.Nur dann muss, bitte schön, auch eine gemeinsame Ab-zugsplanung auf den Weg gebracht werden.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Daran scheitern Sie ja, Frau Hoff!)

Sie wissen genauso gut wie wir, dass die Entscheidungvieler kleiner Partnernationen im Bereich des Regional-kommandos Nord auch davon abhängig sein wird, wiewir uns gemeinsam mit dem amerikanischen Bündnis-partner abstimmen. Es ist doch Humbug, hier zu behaup-ten, wir legten jetzt für die nächsten drei Jahre eine de-taillierte Abzugsplanung vor.

Die weitere Entwicklung wird von vielen Parameternabhängig sein. Sowohl der Verteidigungsminister alsauch der Außenminister haben sehr deutlich gemacht,dass ein wesentlicher Parameter dafür die Lage vor Ortist. Wir haben nämlich nach wie vor die Verantwortungfür die Frauen und Männer, die wir im zivilen und immilitärischen Bereich in diesen Einsatz hineinschickenwerden. Aufgrund der heutigen Situation halte ich es fürvernünftig, mit einem behutsamen Abzug zu beginnen,zu sehen, wie er sich im Einzelnen auswirkt, und vor al-len Dingen nach und nach die afghanischen Sicherheits-kräfte in die Lage zu versetzen, parallel zu diesem Ab-zug ihre Fähigkeiten einzubringen und letztendlich unterBeweis stellen zu können.

Vizepräsidentin Petra Pau:Kollegin Hoff, gestatten Sie eine weitere Frage oder

Bemerkung des Kollegen Hans-Christian Ströbele?

Elke Hoff (FDP):Eine Frage, aber keine Bemerkung.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das liegt nicht in unserem Ermessen, wenn er nach

unserer Geschäftsordnung einmal das Wort erteilt be-kommen hat.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Selbstverständlich stelle ich eine Frage. – Frau Kolle-gin, Sie haben gerade in der Diskussion mit dem Kolle-gen Gehrcke gesagt, Sie vermissten Beweise für das,wonach er Sie gefragt hat.

Elke Hoff (FDP):Ja.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Ich will Ihnen die Quelle für Beweise nennen: Siesitzt da; das ist nämlich die Bundesregierung. Ich habedie Bundesregierung gefragt, ob auch die BundeswehrNamen für die Listen „capture or kill“ liefert. Die Bun-desregierung hat diese Frage mit Ja beantwortet.

Dann habe ich eine weitere Frage gestellt: Kann dieBundesregierung ausschließen, dass die Listen von na-mentlich genannten Personen auch für reine Kill-Aktio-nen benutzt werden? Da hat mir die Bundesregierung ge-antwortet: Nein, sie könne das nicht ausschließen.Deshalb gehe ich davon aus, dass sowohl die USA alsauch andere diese Kill-Aktionen auch gegen Personen,die von der Bundeswehr namentlich gelistet wordensind, durchführen. Das heißt, es sterben Menschen durchsolche Aktionen

(Zuruf von der FDP: Können!)

auf der Grundlage der Listung durch die Bundeswehr.

Elke Hoff (FDP):Lieber Herr Kollege Ströbele, was ich viel lieber aus-

schließen würde, ist, dass Personen, die hier sozusagenals die Good Guys in Afghanistan dargestellt werden,weiterhin dafür verantwortlich sind, ohne Rücksicht aufVerluste den überwiegenden Teil der zivilen Opfer in Af-ghanistan zu verursachen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese Personen sind dafür verantwortlich, dass Angehö-rige der NATO-Truppen, die den politischen Auftrag er-füllen, mit dem wir sie dorthin schicken, umgebracht, indie Luft gesprengt, verwundet oder getötet werden. Estut mir leid: Hier gerät die Diskussion in eine Schieflage.

Lieber Herr Ströbele, ich würde mir wünschen, dassSie sich mit der gleichen Vehemenz, mit der Sie sich fürdieses politische Anliegen einsetzen, auch dafür einset-zen, dass die Öffentlichkeit erfährt, welche Opferzahlenin welcher Art und Weise die Herrschaften, die Sie ebenhier als auf der Liste befindlich angesprochen haben,ohne Rücksicht auf Verluste verursacht haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dann können wir über alles andere gerne weiter disku-tieren. Ich finde es wirklich unglaublich, dass ich von Ih-nen in der politischen Diskussion noch nie auch nur eineinziges Wort an dieser Stelle gehört habe.

Meine Damen und Herren, zurück zum Thema.

Vizepräsidentin Petra Pau:Kollegin Hoff, es gibt eine weitere Wortmeldung. Ge-

statten Sie eine Frage der Kollegin Hänsel?

Elke Hoff (FDP):Ja.

Vizepräsidentin Petra Pau:Kollegin Hänsel, bitte.

Heike Hänsel (DIE LINKE):Danke, Frau Präsidentin. – Liebe Frau Hoff, Ihre Ant-

wort hat mich zu einer weiteren Frage provoziert. Sie ha-ben davon gesprochen, dass bestimmte Personen in derÖffentlichkeit als Good Guys dargestellt werden. Damit

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18566 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Heike Hänsel

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unterstellen Sie doch, dass wir, wenn wir uns für die Ein-haltung von Völkerrecht und gegen das Verüben vonKriegsverbrechen einsetzen, automatisch Aufständische,Verbrecher oder wen auch immer als Good Guys anse-hen. Das muss ich hier einmal für alle aus meiner Frak-tion zurückweisen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nun meine Frage an Sie: Heißt das, dass für mutmaß-liche Täter und Verbrecher – „mutmaßliche“; es hat jakeinen Prozess und keine strafrechtliche Verfolgung ge-geben – Völkerrecht, Menschenrechte und die GenferKonvention nicht gelten?

Elke Hoff (FDP):Nein, das heißt es ganz gewiss nicht. Ich möchte an

dieser Stelle aber ausdrücklich betonen, dass ich das,was von dem Kollegen Schäfer eben vorgetragen wurde,sehr wohl als auf das Handeln der Bundeswehr und derBundesregierung bezogen angesehen habe; denn wir re-den heute über das Mandat, über das wir hier entschei-den.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist Mittäterschaft!)

Wenn Sie bei den Unterrichtungen sehr aufmerksamzugehört haben – diese sind kein Geheimnis, weil sie öf-fentlich waren –, werden Sie feststellen, dass deutscheSoldaten, die an Zugriffsoperationen beteiligt waren, diebetreffenden Personen den afghanischen Sicherheits-kräften übergeben haben. Aber in dem Moment, in deminfrage gestellt wurde, ob die afghanischen Gefängnisseoder Polizeistationen, die diese Personen aufnehmensollten, den völkerrechtlichen und humanitären Stan-dards entsprachen, wurden diese Aktionen unverzüglicheingestellt. Das heißt, dass wir uns mit dem, wofür wirpolitisch verantwortlich zeichnen, durchaus auf absoluteinwandfreiem legitimem Boden bewegen. Darauf binich auch im Namen unserer Soldatinnen und Soldatensehr stolz.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Aber jetzt wieder zurück zum Thema.

(Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])

– Wir mandatieren heute, sehr geehrter Herr Kollege.Deswegen ist das jetzt das Thema, und auf das möchteich gerne eingehen.

Zehn Jahre Afghanistan-Einsatz haben erhebliche Spu-ren in der politischen Diskussion in unserem Land, aberauch erhebliche Spuren bei der Umstellung und Anpas-sung unserer Streitkräfte hinterlassen. Ich glaube, dass inder Geschichte der Bundeswehr selten zuvor eine solcheAnpassungsleistung im Hinblick auf eine völlig neue He-rausforderung und eine völlig neue Form von Konfliktbe-wältigung, von Kriegsführung stattgefunden hat. Ichmöchte an dieser Stelle ausdrücklich unseren Streitkräftenund allen dafür Verantwortlichen ein Dankeschön aus-sprechen. Sie haben für Vertrauen in der Region gesorgt.

Eines ist aber wichtig – auch für unsere Soldatinnenund Soldaten –, nämlich dass über das weitere Vorgehenjetzt Klarheit herrscht und dass wir den Abzug unsererTruppen konstruktiv begleiten, um das Risiko für die Be-troffenen weitestgehend zu minimieren.

An dieser Stelle ein Appell an die Bundesregierung:Wir mandatieren heute auch die Fähigkeit der Bundes-wehr mit Blick auf Eigensicherung und Evakuierung. Esist kein Geheimnis, dass dies bisher nur mit Unterstüt-zung unserer amerikanischen Verbündeten geschehenkonnte. Wir haben dankenswerterweise – auch durch denEinsatz des Ministers und des Generalinspekteurs – eineweitere Zusage für den neuen Mandatszeitraum bekom-men. Dennoch bin ich der Meinung, dass wir uns bereitsheute Gedanken darüber machen müssen, wie diese Fä-higkeit, die wir heute mandatieren und auch weiterhinmandatieren wollen, für die schwierige Zeit des weiterenAbzugs sichergestellt werden kann.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:Der Kollege Dr. Rolf Mützenich hat nun für die SPD-

Fraktion das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Rolf Mützenich (SPD):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Am Anfang will ich Herrn Link – ich sehe ihn im Mo-ment nicht, aber er wird sicher gleich wieder anwesendsein – ganz herzlich zu seiner Ernennung zum Staatsmi-nister gratulieren und ihm die gute Zusammenarbeit un-serer Fraktion anbieten.

Die Entsendung von Soldaten ist niemals reine Rou-tine hier im Deutschen Bundestag gewesen. Aber derheutige Beschluss über das Mandat, das die Bundesre-gierung vorgelegt hat, ist schon ein bedeutender Ein-schnitt. Wir haben erstmals eine Reduzierung der Zahlvon Soldaten in dem Mandat für Afghanistan, und eineweitere Absenkung im Laufe des Jahres ist in dem Man-dat zumindest angedeutet. Außerdem erfolgt diese Man-datierung, was uns als Sozialdemokraten ganz besonderswichtig ist, im Rahmen internationaler Verabredungen.Wenn man für eine multilaterale Politik eintritt, für einePolitik, die sich an Regeln und Normen orientiert, dannmuss man sagen: Dieses Mandat ist richtig, insbesondereweil es zum Teil auch auf einer internationalen Konfe-renz entstanden ist.

Die Außergewöhnlichkeit dieses Mandates bestehtauch darin, dass der Deutsche Bundestag zumindest indieser Form wahrscheinlich noch zweimal wird ent-scheiden müssen. Auch dies ist ein fundamentaler Wan-del, der Aussagen über die Bedeutung des heutigen Be-schlusses zulässt. Gleichzeitig darf – diese Auffassungteile ich – die Aufmerksamkeit für Afghanistan und fürdie Region auch nach 2014 nicht nachlassen. Das liegtnicht nur im Sicherheitsinteresse Europas, sondern auchim Interesse der gesamten internationalen Politik. Ich

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18567

Dr. Rolf Mützenich

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glaube, dass das auch über die Fraktionen hinweg Kon-sens findet.

Wenn wir heute in dieser Form über die Entsendungentscheiden, ist das in der Tat ein fundamentaler Wandel.Aber wir sollten heute insbesondere über die außenpoli-tischen Implikationen dieses Mandates reden, weil sichdahinter ebenfalls ein fundamentaler Wandel verbirgt,der nur dann klar wird, wenn man sich noch einmal da-ran erinnert, was es in den letzten Jahren bedeutet hat,für die internationale Afghanistan-Politik einzutreten.

Manches wurde falsch angelegt, und manches wurdeunterschätzt. Das haben wir von Anfang an gesagt.Heute besteht in der internationalen Gemeinschaft Kon-sens darüber, dass es keine militärische Lösung für Af-ghanistan gibt, sondern nur eine politische Lösung. Wirals sozialdemokratische Bundestagsfraktion haben diesvon Anfang an gesagt, und mittlerweile ist dies auchKonsens. Das ist nicht selbstverständlich. Wenn wir unsnoch einmal die Jahre der Bush-Administration an-schauen, dann können wir sagen, dass militärische Lö-sungen im Vordergrund standen. Eine kleine militärischeIntervention in Afghanistan sollte das Problem des inter-nationalen Terrorismus lösen. Das war zu kurz gedacht.Das ist auch der fundamentale Wandel, der sich hinterdieser außenpolitischen Wende verbirgt.

Es gab zur Frage des Staatsaufbaus keinen Beitrag imZettelkasten der damaligen amerikanischen Regierung.Auch das hat sich in der Vergangenheit gewandelt. Eswar wichtig, dass dies auf der Londoner Konferenz auchso gesagt wurde. Heute ist daran erinnert worden, dassmit allen Bürgerkriegsparteien zu sprechen ist. Auchdies war unser Ansatz. Jetzt ist in Katar ein sogenanntesVerbindungsbüro der Taliban eröffnet worden. Was istdas für ein Kontrast zu den Jahren 2006 und 2007, alsdie britische Regierung erstmals mit den Taliban kon-krete Verabredungen in der Region Helmand getroffenhatte und dies militärisch von den US-Streitkräften hin-tergangen wurde.

Der fundamentale Wandel in der Außenpolitik bestehtunter anderem auch darin, dass diese Region jetzt dievolle Konzentration der internationalen Gemeinschaftbekommt. Afghanistan und Pakistan wurden in den Jah-ren 2002 und 2003 schlagartig nicht mehr beachtet, weilder Irak plötzlich in den Fokus genommen wurde. Dereine oder andere weiß noch, von wem die RegierungBush damals ermutigt wurde, den Irak in den Fokus zunehmen und sich vom Engagement in Afghanistan abzu-setzen. Ich glaube, darüber müssen wir auch im Bereichder Innenpolitik reden.

Es gibt also einen fundamentaler Wandel, der mit ei-nem Namen verbunden ist: mit dem Namen von Präsi-dent Obama. Er hat es ermöglicht, dass auf der LondonerKonferenz die verbindlichen Verabredungen getroffenworden sind. Es ist insbesondere in den letzten Tagendeutlich geworden, was es bedeuten könnte, wenn dieamerikanische Administration nach dem November die-ses Jahres nicht mehr gemeinsam mit uns darüber be-stimmen würde, was Aufgabe der internationale Afgha-

nistan-Politik ist. Deswegen, glaube ich, ist es heute sowichtig, dass dieser Beschluss außenpolitisch gewürdigtwird.

Ich sage allen: Der außenpolitisch fundamentale Wan-del macht sich in diesem Mandat nach meinem Dafür-halten heute sehr deutlich bemerkbar. Wenn wir diesemMandat als Sozialdemokraten mehrheitlich zustimmen,dann hat es etwas damit zu tun, dass wir uns weiterhindaran beteiligen wollen, wie dieses Mandat ausgestaltetwird. Wir gehen davon aus, dass es eine weitere Absen-kung der Truppenstärke geben wird. Wir haben diesesMandat sehr aufmerksam gelesen und dem zugehört,was in den beratenden Ausschüssen gesagt worden ist.

Wir wollen uns daran beteiligen, festzulegen, wie dieSicherheit und wie die Zukunft des Landes Afghanistan,insbesondere im Hinblick auf die Korruptionsbekämp-fung, aussieht. Wir wollen auch mit darüber bestimmen– ich glaube, dies ist auch für die Fraktion der Grünenganz wichtig –, wie in Zukunft mit den Taliban Verabre-dungen getroffen werden. Wir wollen doch nicht Afgha-nistan sozusagen in dem Zustand verlassen, der mögli-cherweise in den vergangenen Jahren vorgeherrscht hat.Man wird es nur schaffen können, zukünftige Bedingun-gen für dieses Mandat festzulegen, wenn man ihm heutezustimmt, auch was die Frage der Sicherheitskräfte undvieles andere bedeutet.

Ich nenne noch einen entsprechenden Punkt, der mirganz wichtig ist. Es ist die Frage, wie die Nachbarn mitdiesem regionalen Konflikt umgehen. Ich weiß, dass vonDeutschland keine unmittelbaren Einflüsse auf Indienund Pakistan ausgeübt werden können. Wir haben aberzum Beispiel Einfluss auf die USA, die wiederum Ein-fluss auf Indien nehmen können, um Verabredungen da-hin gehend zu treffen, dass Afghanistan nicht länger derOrt ist, wo sich die Gegensätze zwischen Indien und Pa-kistan so deutlich bemerkbar machen. Auch solcheÜberlegungen stecken nach meinem Dafürhalten ganzfundamental hinter diesem Mandat.

Die Fraktion Die Linke hat in ihrem Antrag auf diegezielten Tötungen hingewiesen. Wenn ich das einmalso sagen darf: Das ist nicht Ihr Alleinstellungsmerkmal.Es gab heute bereits eine diesbezügliche Wortmeldung.Viele andere Kolleginnen und Kollegen im DeutschenBundestag versuchen seit mehreren Jahren, durch Anfra-gen an die Bundesregierung mehr über dieses Thema zuerfahren und darüber zu reden. Ich stelle mich dieserDiskussion; das wissen Sie ganz genau. Dahinter verber-gen sich auch moralische und ethische Fragen sowie ins-besondere Fragen des Völkerrechts.

Vizepräsidentin Petra Pau:Kollege Mützenich, wollen Sie die Gelegenheit wahr-

nehmen, eine Frage zu beantworten?

Dr. Rolf Mützenich (SPD):Ja, aber vielleicht kann der Kollege Gehrcke dann fra-

gen, wenn ich meine Ausführungen dazu gemacht habe.

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18568 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

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Vizepräsidentin Petra Pau:Nein, das kann er nicht, weil dann Ihre Redezeit abge-

laufen ist.

Dr. Rolf Mützenich (SPD):Dann nutze ich diese Zwischenfrage, um meine Rede-

zeit zu verlängern, Frau Präsidentin.

Vizepräsidentin Petra Pau:Das dachte ich mir.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der SPD: Das war doch abgesprochen!)

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):Die Behauptung, dass das zwischen uns beiden abge-

sprochen wäre, weise ich natürlich entschieden zurück.Ich wusste ja gar nicht, was Sie sagen werden.

Nur einmal zur Klarstellung: Ich möchte wissen, obSie folgende deutliche Aussage meinerseits akzeptieren:Ich lege überhaupt keinen Wert darauf, dass dieser An-trag und diese Überlegung, sich nicht weiter an gezieltenTötungen zu beteiligen, ein Alleinstellungsmerkmal derLinken sind. Ich wäre über jede Kollegin bzw. über je-den Kollegen, die bzw. der ähnlich abstimmt und ähnlichin der Öffentlichkeit argumentiert, außerordentlich dank-bar. Können Sie diese Aussage akzeptieren?

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Rolf Mützenich (SPD):Lieber Kollege Gehrcke, das kann ich akzeptieren.

Ich wollte Ihnen nur deutlich machen, wo aus meinerSicht der Unterschied zu Ihrer Argumentation liegt.

Der Kollege Schäfer hat eine Studie der Stiftung Wis-senschaft und Politik erwähnt, die die Frage des Kriegs-völkerrechts sehr ausführlich behandelt hat. Ich wunderemich sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Frak-tion Die Linke, dass Sie diese Frage in Ihrem Antrag ankeiner einzigen Stelle erwähnt haben. Das InternationaleKomitee vom Roten Kreuz macht es sich nicht so ein-fach, wie Sie es sich in Ihrem Antrag gemacht haben,sondern es nimmt eine viel differenziertere Position ein.

Wenn ich die Gelegenheit nutzen darf, will ich Ihnenzugleich sagen: Ich glaube, dass Sie letztlich zu kurz ge-sprungen sind. Es handelt sich eben nicht nur um einProblem gegenüber Afghanistan. Was die US-Politik an-geht, ist es auch ein Problem gegenüber dem Jemen. Zu-gleich ist es ein Problem anderer Länder: Es ist ein Pro-blem Russlands, Israels, Kolumbiens und vieler andererLänder mehr.

Deswegen möchte ich Sie gerne einladen: Lassen Sieuns versuchen, im Auswärtigen Ausschuss ein noch vielstärkeres Momentum zu schaffen. Dies könnte mögli-cherweise mithilfe einer Diskussion geschehen, die dieBundesregierung anstoßen könnte. In der Tat unterstützeich Ihren Gedanken, Herr Kollege Gehrcke. Ich findeauch, dass eine mutige und prinzipienfeste Bundesregie-rung das Ganze gegenüber ihren Partnern thematisieren

müsste. Es reicht nicht, nur zu sagen: Wir machen dasnicht mit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube – darüber sind wir uns einig –, das gehört zudieser Politik dazu.

Für die Sozialdemokraten sage ich daher: Für uns wares nie einfach gewesen, ein Mandat für Afghanistan zubeschließen. Am Anfang stand bei uns eine Vertrauens-abstimmung; das wissen Sie. Viele Kolleginnen undKollegen haben in Form von persönlichen ErklärungenBedenken geäußert. Ich glaube aber, die Mehrheit mei-ner Fraktion wird heute dennoch diesem Mandat zustim-men. Das geschieht aber eben nicht, weil unser Abstim-mungsverhalten ein Vertrauensvotum für diese Bundes-regierung sein soll. Vielmehr ist es ein Votum für dieHoffnung, dass die Weichen für Afghanistan in die rich-tige Richtung gestellt werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau:Das Wort hat der Kollege Omid Nouripour für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-

ben heute wieder einige Worte gehört über das deutscheEngagement in Afghanistan nach 2014. Es ist richtig,dass wir uns weiterhin auch zivil in Afghanistan enga-gieren müssen. Dafür brauchen wir aber eine vertrauens-volle Grundlage auch mit den afghanischen Partnern.Diese Vertrauensgrundlage wird von dieser Bundesre-gierung kontinuierlich untergraben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein Beispiel: finanzielle Hilfe. Ja, wir werden unsauch nach 2014 finanziell in Afghanistan engagierenmüssen. Wir versuchen seit zwei Jahren, herauszufinden,welche verbindlichen Zusagen an die afghanischen Part-ner diese Bundesregierung zu geben bereit ist. Seit zweiJahren hören wir, die übernächste internationale Konfe-renz sei die Geberkonferenz, also nicht London, nichtIstanbul, nicht Bonn und auch nicht Tokio; es wird im-mer weiter nach hinten geschoben. Wie sollen denn dieAfghanen, die eminent auf uns angewiesen sind, jetzt ei-gentlich planen? Wie sollen sie tatsächlich Vertrauen inunser Commitment und unsere Zusammenarbeit in Af-ghanistan aufbauen, wenn sie nicht wissen, inwieweitwir bereit sind, uns dort zu engagieren?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein gravierenderes Beispiel: die Polizeiausbildung;sie ist gerade völlig zu Recht vom Kollegen Polenz an-gesprochen worden. Man kann Rot-Grün vielleicht somanchen Fehler in der Politik der letzten zehn Jahre vor-werfen; gerade zu Beginn haben wir einige Fehleinschät-zungen in Bezug auf Afghanistan gemacht. Rot-Grün hataber damals, am Anfang des Engagements, eines ge-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18569

Omid Nouripour

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wusst – es ist eine Weisheit, die heute Common Senseist, die alle nachsprechen –: Die Polizeiausbildung ist fürdie Schaffung dauerhafter Stabilität in Afghanistan emi-nent wichtig.

Es gibt jetzt die einmalige Gelegenheit einer Gemein-samkeit von Außen- und Verteidigungsminister. Beidesagen: Auch nach 2014 wird es in Afghanistan Polizei-ausbildung geben. – Schön, dass sie sich einmal einigsind; Herr Botschafter Steiner hat das auf unserer Afgha-nistan-Konferenz im November unterstrichen. – HerrKollege Polenz, so anonym, wie Sie tun, ist es nicht.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus

den Reihen der CDU/CSU-Fraktion?

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Sehr gerne. Bitte schön.

Jürgen Hardt (CDU/CSU):Herr Kollege Nouripour, wie stehen Sie zu dem Vor-

wurf, dass der eine oder andere auf die Idee kommenkönnte, dass sich die Grünen, deren Minister seinerzeitdiesen Einsatz begonnen hat, nun dadurch in die Büscheschlagen, dass sie der Verlängerung des Mandats nichtzustimmen? Oder umgekehrt: Sollen wir es so interpre-tieren, dass dieses Mandat deshalb nicht die Zustim-mung der Grünen findet, weil es erstmals eine Reduzie-rung der Zahl der Soldaten vorsieht und eine klareAbzugsperspektive enthält?

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Eine echte Fangfrage!)

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Kollege Hardt, ich bin ziemlich stolz darauf, dass sich

meine Fraktion jedes Mal eine sehr intensive Debatte umjedes einzelne Mandat leistet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube: Wenn Sie sich eine ähnlich intensive Debatteleisten würden, dann würden die Abstimmungsverhält-nisse bei Ihnen auch ein bisschen anders aussehen.

(Robert Hochbaum [CDU/CSU]: Das ist nicht zum Thema!)

Wir waren gerade beim Thema Polizeiausbildung. Esgibt drei Antworten auf die Vorwürfe, dass wir hier zuwenig gemacht hätten – sie kommen immer wieder –:Zum einen sind wir im Gegensatz zu anderen Fraktio-nen, die heute Verantwortung tragen, zur Selbstkritik fä-hig.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Oh!Das war schon einmal der Beweis des Gegen-teils!)

– Nein, nein, wir wissen, dass wir Dinge falsch gemachthaben. – Wir sagen: Die Polizeiausbildung muss weiter-gehen. Sie beenden sie – ich wollte das gerade ausfüh-ren –, und das ist absurd. Es tut mir leid. Wir werdenweiterhin sehr genau schauen, was passiert. Sie wissen

genau: Die Wahrheit ist immer konkret. Das, was dieBundesregierung hier liefert, ist überhaupt nicht konkret.Deshalb gibt es keinerlei Grundlage für Vertrauensbil-dung in Afghanistan. Das ist das Hauptproblem, das wirderzeit haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Noch einmal: Das Abstimmungsverhalten ist eine Ge-wissensentscheidung; vielleicht sollten auch Sie es frei-geben.

Jetzt zu Herrn Friedrich. Noch einmal: Es ist nicht soanonym, wie der Kollege Polenz tut. Herr KollegeFriedrich wird damit zitiert, dass die Polizeiausbildungin Afghanistan nach 2014 nicht mehr weitergehe, weildie Bundeswehr dann nicht mehr da sei. Das ist eine un-glaublich spannende Argumentation, die ganz bestimmtkein Vertrauen ausstrahlt: kein Vertrauen in die Arbeitder Polizistinnen und Polizisten sowie der Bundeswehr-angehörigen, die die afghanischen Sicherheitsleute aus-gebildet haben, vor allem kein Vertrauen in das eigeneVersprechen, dass man alles tun werde, damit die afgha-nischen Sicherheitskräfte im Jahr 2015 selbst die Sicher-heit gewährleisten können. Sie können doch nicht aufder einen Seite sagen, dass die afghanischen Sicherheits-kräfte selbst die Sicherheit gewährleisten können, undauf der anderen Seite sagen: Wir werden dann keinePolizisten mehr nach Afghanistan schicken, weil die Si-cherheit nicht mehr gewährleistet ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Insofern wäre es richtig, dass diese Bundesregierungkonkrete Versprechen abgibt, dass sie mit einer Stimmespricht und Verantwortung trägt, wenn es darum geht, inAfghanistan Vertrauen aufzubauen. Wir brauchen diesesVertrauen für die Zusammenarbeit. Was Sie tun, führt zueiner Verunsicherung genau der Kräfte in Afghanistan,die unsere Partner für eine friedliche Zukunft dieses ge-schundenen Landes sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Karl Lamers für die CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

entscheiden heute über die Verlängerung des ISAF-Man-dats. Mit diesem Mandat werden wir unserer Verantwor-tung für Afghanistan auch in Zukunft gerecht.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das glau-ben Sie doch selber nicht!)

Herr Gehrcke, die ständige, immer wieder erhobene For-derung der Fraktion Die Linke nach einem sofortigenRückzug aus Afghanistan, weise ich aufs Schärfste zu-rück;

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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18570 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)

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denn das hieße, den Erfolg der gesamten ISAF-Missionzu gefährden, alles bisher Erreichte aufs Spiel zu setzen,Afghanistan und die gesamte Regierung zu destabilisie-ren und unseren Ruf – auch das ist sehr wichtig – als ver-lässlicher Bündnispartner zu gefährden. Verantwor-tungsvolle Sicherheitspolitik sieht anders aus.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Der Abzug aus Afghanistan beginnt. Mit diesemMandat nimmt er konkrete Formen an. Erstmals nachzehn Jahren wird die Zahl unserer Soldaten verringert.Die Richtung stimmt also. Die Obergrenze wird fortan4 900 Soldaten betragen. Sofern es die Sicherheitslageerlaubt, streben wir zum Ende des Mandatszeitraums dieZahl 4 400 an. Diese Reduzierung ist das Ergebnis des-sen, was wir bisher erreicht haben. Im Sommer letztenJahres hat die afghanische Regierung begonnen, die Si-cherheitsverantwortung für ihr Land selbst zu überneh-men, und zwar in Regionen, in denen die Voraussetzun-gen dafür geschaffen wurden. Bis Ende 2014 soll dieserÜbergangsprozess abgeschlossen sein.

Die Sicherheitslage im Land ist besser geworden. Dasist unbestreitbar. Schritt für Schritt kommen wir demgroßen Ziel näher, Afghanistan so zu unterstützen, dasskünftig von dort kein Terror mehr exportiert wird, dassdie Menschen dort sicherer leben können und dass dieafghanischen Staatsorgane, die Vereinten Nationen unddie vielen zivilen Helfer der in- und ausländischen Orga-nisationen in einem sicheren Umfeld arbeiten können.

Die Taliban sind durch die Strategie und den uner-müdlichen Einsatz der ISAF-Kräfte, der ohne Frage mitvielen Opfern und schmerzlichen Verlusten verbundenist, offensichtlich nicht mehr zu großen, zusammenhän-genden Operationen fähig.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Vorsich-tig!)

Wir müssen aber mit Bestürzung zur Kenntnis nehmen,dass und wie sie ihre Taktik geändert haben. Ich denkean den perfiden Mordanschlag eines afghanischen Sol-daten auf französische Soldaten in der letzten Woche.Auch wir waren im vergangenen Jahr Zielscheibe einessolch hinterhältigen Anschlags. Aber solche Ereignissedürfen nicht dazu führen, dass sich Misstrauen undAngst wie ein lähmendes Netz über uns legen und unsvom eingeschlagenen Weg des Abzugs in Verantwortungabbringen.

Die afghanischen Sicherheitskräfte haben jetzt eineungefähre Stärke von 300 000 Mann. Gewiss, das reichtnoch nicht, aber wir nähern uns mit großen Schrittendem Aufstellungsziel von 352 000 Mann. Der massiveAusbildungseinsatz der ISAF macht sich bezahlt. Immermehr Regionen in Afghanistan können der Sicherheits-verantwortung der afghanischen nationalen Sicherheits-kräfte übergeben werden. In der Nordregion – HerrStinner hat darauf hingewiesen –, in der wir Deutschedie Verantwortung tragen, werden in diesem Jahr 50 Pro-zent der Bevölkerung in solchen Gebieten leben.

Es ist mir ein Herzensanliegen, unseren Soldatinnenund Soldaten der Bundeswehr, den deutschen Polizistenund den zivilen Aufbauhelfern für ihren großartigen Ein-satz zu danken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowiebei Abgeordneten der SPD und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie alle leisten einen unverzichtbaren Beitrag zum Wie-deraufbau Afghanistans, für Frieden und Stabilität indieser Region und zur Bekämpfung weltweiter terroristi-scher Bedrohung. Dafür müssen wir sie bestmöglichvorbereiten und ausrüsten. Das ist unsere Pflicht und un-sere Verantwortung. Das haben wir stets im Blick, undwir kommen dem nach.

Den Soldaten, die bei den Einsätzen gefallen sind, giltunsere bleibende Erinnerung, ihren Angehörigen unserMitgefühl und unsere andauernde Verpflichtung zurHilfe. Denjenigen, die verletzt oder als Folge des Einsat-zes an Leib und Seele krank geworden sind, gelten un-sere Unterstützung und Fürsorge.

Mit der Zustimmung zum heutigen Mandat machenwir eines deutlich: Unsere Unterstützung für Afghanis-tan wird auch nach der vollständigen Übergabe der Si-cherheitsverantwortung an die Afghanen nicht aufhören.

Die Bundesregierung hat mit ihrem Fortschrittsberichtim Dezember eine umfassende Bewertung des bisherigenEngagements in Afghanistan vorgelegt. Das sage ich ins-besondere mit Blick auf Bündnis 90/Die Grünen. UnsereBotschaft ist klar: Wir lassen Afghanistan nicht im Stich.Wir geben den Menschen eine Perspektive für die Zu-kunft, auch über 2014 hinaus.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit der Polizeiausbil-dung?)

Das betonen Sie, Frau Bundeskanzlerin, Herr Außen-minister und Herr Bundesverteidigungsminister, stetssehr klar. Dafür danke ich Ihnen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das musstemal gesagt werden!)

Was sich nach 2014 ändert, ist der Schwerpunkt unse-res Handelns: „Weniger Militär, mehr Entwicklung“ lau-tet die Maxime. Der Schwerpunkt liegt künftig auf nochmehr Unterstützung für bessere Bildung, für Gesundheit,für wirtschaftliche Entwicklung. Da liegen unsere Stär-ken. Diese müssen und werden wir nutzen. Das alles ge-schieht aber auch in Zukunft nur in einem sicheren Um-feld.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das alles ist ein Märchen!)

– Hören Sie zu, Herr Gehrcke!

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ich höre ja zu!)

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Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)

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Dann können Sie vielleicht noch einiges lernen. – DerSchwerpunkt wird daher auch und gerade auf der weite-ren Qualifizierung von Armee und Polizei liegen.

Wir haben mit unserem Konzept des Abzugs bis 2014doppelte Verantwortung übernommen: einerseits für dieMenschen in Afghanistan und für mehr Stabilität in derRegion, andererseits aber auch für die Soldatinnen undSoldaten. Jede personelle Reduzierung muss in jedemAugenblick von den verbleibenden Soldaten verkraftetwerden können. Der geplante Abzug bis 2014 ist eineriesige Herausforderung, die es zu meistern gilt, undzwar ohne Risiko und Gefahr für unsere Soldaten. Dasmöchte ich besonders hervorheben.

Verantwortliches Handeln ist das Gebot der Stunde.Deswegen gilt der alte Grundsatz: Quidquid agis, pru-denter agas et respice finem. – Was du auch tust, handleklug und achte auf das Ende. – Sie, Herr Minister, drü-cken es sehr klar aus, wenn Sie sagen: gesichert, geord-net und nachhaltig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Bei allem, was wir tun, meine Damen und Herren,nehmen wir auch Afghanistan in die Pflicht. Wir drän-gen darauf, dass die Reformbemühungen der afghani-schen Regierung auch tatsächlich umgesetzt werden.

Wir legen Wert auf eine regionale Einbindung Afgha-nistans. Für eine friedliche Lösung brauchen wir Pakis-tan. Pakistan muss in eine Friedenslösung eingebundenwerden. Für mehr Stabilität in der Region sind aber auchRussland, die zentralasiatischen Nachbarn sowie derIran, China und Indien von entscheidender Bedeutung.

Meine Damen und Herren, wir brauchen weiterhinden Einsatz unserer Bundeswehr im Rahmen der ISAF.Nur so können wir den Übergangsprozess gemeinsamerfolgreich gestalten. Die von der Bundesregierung be-antragte Mandatsverlängerung ist richtig; sie ist notwen-dig. Wir dürfen nie vergessen, warum wir eigentlich inAfghanistan sind: auch und gerade für unsere eigene Si-cherheit. Wir stehen zu unserer Verantwortung – denMenschen in Afghanistan und unseren Soldaten gegen-über. Sie können auf uns zählen; sie haben es verdient,dass dieses Mandat eine breite Mehrheit im DeutschenBundestag findet. Darum bitte ich Sie alle, meine Damenund Herren.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Bitte abge-lehnt!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Heike Hänsel für die Fraktion der

Linken.

(Beifall bei der LINKEN)

Heike Hänsel (DIE LINKE):Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der

in der Öffentlichkeit groß angekündigte Abzug findet

nicht statt. Es handelt sich höchstens um eine Minimal-reduzierung der Truppen. Es ändert sich Ihre Sprachre-gelung, aber nicht die Politik. Deswegen lehnen wirdiese Mandatsverlängerung ab.

(Beifall bei der LINKEN)

Fest steht zudem, dass die Bundeswehr über 2014 hi-naus in Afghanistan präsent sein wird. Schauen wir unsauch einmal an, was die anderen NATO-Staaten machen!Die USA zum Beispiel planen bis zu fünf permanenteMilitärstützpunkte mit bis zu 50 000 Soldaten, die auflange Sicht in Afghanistan stationiert bleiben sollen. Dasist nichts anderes als eine dauerhafte Besetzung Afgha-nistans. Das lehnen wir mit der afghanischen Bevölke-rung ab.

(Beifall bei der LINKEN)

Über die humanitäre und soziale Lage in Afghanistanwurde heute überhaupt noch nicht gesprochen. Die Zah-len dazu sind wirklich erschreckend; ich werde Ihnengleich einige vorlesen. Sie zeigen, dass der Militärein-satz nicht die Verbesserung der Lebenssituation der af-ghanischen Bevölkerung zum Ziel hat. Aktuelle Datenvom Auswärtigen Amt: Ein Drittel der Bevölkerung istauf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, 68 Prozent derMenschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwas-ser, 95 Prozent haben keinen Zugang zu verbesserten Sa-nitäreinrichtungen, und 42 Prozent der Menschen – dasist fast die Hälfte der Bevölkerung – lebt von weniger als1 Dollar pro Tag. Das ist absolute Armut nach zehn Jah-ren sogenanntem Aufbau in Afghanistan. Deswegen istdiese Politik eine Katastrophe.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein Satz zur innerafghanischen Versöhnung, von dergesprochen wurde: So lange die ISAF Warlords undKriegsverbrecher stützt, die in der Regierung und in denProvinzen herrschen, wird es keine innerafghanischeVersöhnung in diesem Land geben.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Mit dem Mandat, das jetzt verlängert wird, wird wei-terhin die zivil-militärische Zusammenarbeit unter-stützt. Die Kooperation von Entwicklungsorganisationenmit der Bundeswehr ist höchst umstritten. Auch das kri-tisieren wir seit langem. Herr Rebmann, das ist übrigensunter Rot-Grün eingeführt worden, und zwar sowohl imehemaligen Jugoslawien als auch in Afghanistan.

Aber jetzt kommt ein brisanter Fall hinzu: In den letz-ten Tagen haben wir die Meldung erhalten, dass dreiBND-Agenten in Pakistan, in der Grenzregion zu Afgha-nistan, festgesetzt wurden. Sie sollen Ausweise der staat-lichen Entwicklungsorganisation GIZ gehabt haben undmit einem Auto der GIZ ausgestattet gewesen sein. Die-ser Vorgang ist bisher nicht aufgeklärt. Ich hätte gernegewusst, welche Position Minister Niebel dazu hat.Wenn das der Fall ist, dann ist das wirklich ein Skandalmit weitreichenden Folgen für die internationale Ent-wicklungszusammenarbeit.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Stefan Rebmann [SPD])

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18572 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Heike Hänsel

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Viele Kolleginnen und Kollegen aus diesem Haus wa-ren ebenso wie ich in Afghanistan und haben sich dortmit GIZ-Mitarbeitern getroffen. Ich möchte wissen: Ha-ben wir uns mit BND-Agenten oder mit GIZ-Mitarbei-tern getroffen? Das ist ein unglaublicher Zustand. DieEntwicklungszusammenarbeit wird systematisch instru-mentalisiert für Sicherheitspolitik und militärische Inte-ressen. Dagegen müssen wir alle hier aufstehen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom-

men.

Heike Hänsel (DIE LINKE):Ich komme zum Ende.

Meine letzte Bemerkung in der heutigen Debatte: Wirvon der Linken lehnen Kriegspolitik und Angriffskriegeab. Damit stehen wir im Einklang mit der Verfassung.Wer Angriffskriege unterstützt, gefährdet unsere Verfas-sung.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Ich erteile nun das Wort Kollegen Hans-Christian

Ströbele, der von seinem verfassungsrechtlich gesicher-ten Recht Gebrauch macht, auch unabhängig und abwei-chend von seiner Fraktion zu sprechen.

(Elke Hoff [FDP]: Herr Ströbele stimmt zu!)

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Herr Präsident! Ich danke dem Bundestagspräsiden-ten Lammert und dem Präsidium für diese Redemöglich-keit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht um Krieg.Es geht darum, dass Sie heute beschließen sollen, dassSie mit der Parlamentsarmee, mit der Bundeswehr einweiteres Jahr Krieg führen, und zwar entgegen der Auf-fassung der großen Mehrheit der deutschen Bevölke-rung.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Es geht um ein Jahr mehr Krieg, und zwar Krieg wie bis-her: Krieg mit Offensiven, mit Partnering, mit SpecialCommands, mit Killerdrohnen, mit mehr Killerdrohnenals bisher. Sie führen diesen Krieg, weil Sie hoffen, weilSie die Erwartung haben, dass die Sicherheitssituation inzwei Jahren, Ende 2014, so ist, dass den Afghanen dieSicherheitsverantwortung übergeben werden kann. Die-se Hoffnung, diese Erwartung oder gar diese Sicherheitist durch nichts gerechtfertigt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Die Entwicklung der letzten fünf Jahre zeigt das Ge-genteil. Jedes Jahr ist die Sicherheitssituation schlechter

geworden. Die Zahlen über den Aufwuchs der afghani-schen Sicherheitskräfte täuschen, weil diese Sicherheits-kräfte – auch nach dem Bericht der Bundesregierung –zu einem großen Teil monatlich Schwund haben, dasheißt, Sicherheitskräfte desertieren, wechseln die Fron-ten oder gehen einfach weg. Einige machen, wie wirwissen, sogar Schlimmeres: Sie bekämpfen und erschie-ßen NATO-Soldaten.

Auf diese Hoffnung allein begründen Sie ein weiteresJahr Krieg mit der Option auf zwei zusätzliche Jahre bismindestens Ende 2014. Das ist unverantwortlich. Sienehmen damit Tausende zusätzliche Opfer in Kauf. Siehaben dann zu verantworten, dass Menschen getötetoder verwundet werden, dass weitere Schäden angerich-tet werden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN –Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt bekommenSie von der falschen Seite Beifall! – Gegenrufdes Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]:Oder von der richtigen!)

Es gibt eine andere Möglichkeit, aber diese konterka-rieren Sie. Sie machen sie zunichte, weil Sie durch die-sen Krieg Hass und Gewalt schüren. Die Folgen dieserArt von Kriegführung werden zusätzliche gezielte Tö-tungen vonseiten der Aufständischen, Attentate, blutigeAnschläge und grausamste kriegerische Maßnahmensein. Noch schlimmer ist: Sie verhindern damit Waffen-stillstand. Sie verhindern damit die jetzt möglicherweisein Gang kommenden Verhandlungen, weil Sie mit diesengezielten Tötungen diejenigen umbringen, mit denenverhandelt werden soll.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Danke, Herr Präsident. – Das heißt, Sie machen damitein baldiges Ende des Krieges, auch für Ende 2014, im-mer unwahrscheinlicher. Sie konterkarieren eine Politikdes Waffenstillstandes und der Verhandlungen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Florian Hahn (CDU/CSU):Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich finde es schon bemerkenswert, dass der KollegeStröbele zusätzliche Redezeit für sich und die Grünenbeansprucht hat mit der Begründung, er teile das Ab-stimmungsverhalten seiner Fraktion nicht. Ich bin ge-spannt, ob Herr Ströbele dem Mandat nun zustimmenwird.

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Florian Hahn

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(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder FDP – Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wer hat denn damit angefangen,welche Fraktion?)

Außerdem finde ich es bemerkenswert, dass die Linkehier in der Diskussion behauptet, sie spreche für das af-ghanische Volk. Mich würde interessieren, wie sie legiti-miert ist.

Vor ziemlich genau zehn Jahren hat die rot-grüneBundesregierung den Einsatz am Hindukusch begonnen.Wir alle haben bei den jährlichen Verlängerungen desMandats immer wieder die Frage gestellt, nach welchenMaßstäben der Einsatz durchzuführen ist, wo wir dasMandat anpassen müssen und wie die Perspektiven aus-sehen. Dabei gab es oft unterschiedliche Meinungen,aber es ist immer gelungen, einen breiten Konsens unterden Demokraten zu finden. Dass sich ausgerechnetheute, wenn wir den Abzug einleiten, Bündnis 90/DieGrünen ausklinken, finde ich, ehrlich gesagt, traurig. Zu-sammen rein, zusammen raus – ich dachte, das wäreauch hier die richtige Losung. Dies findet so nicht statt.Gestern im Ausschuss haben Sie kein Wort zu den Argu-menten, die heute vorgetragen wurden, gesagt. Sie woll-ten das Mandat offensichtlich nicht anders gestalten.

(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Über das Mandat haben wir die Wochevorher diskutiert! Es stand gestern nicht aufder Tagesordnung!)

Ich muss schon sagen: Da hätte ich mehr erwartet.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Unser Konsens lautete bisher – er bleibt richtig –:Dieser Einsatz ist notwendig. Er diente und dient demFrieden, und er ist gleichzeitig ein starkes Signal gegenUnterdrückung und Terror. Gemeinsam mit unserenBündnispartnern haben wir ein klares Ziel definiert undunser Handeln danach ausgerichtet. Wir wollen, dass auseinem geschundenen Land ein souveränes Mitglied derinternationalen Staatengemeinschaft wird. Wir wollenein Bekenntnis gegen den Terror, gegen die Missachtungvon Menschenrechten und zu Frieden und Gleichberech-tigung. Wir wollen mit unserem Einsatz zur Stabilisie-rung der gesamten Region beitragen.

Meine Damen, meine Herren, zur Erreichung diesesZiels waren die vergangenen zwölf Monate von beson-derer Bedeutung. Unsere Strategie hat Wirkung gezeigt,und unsere Maßnahmen greifen. So war die Anzahl derAnschläge im letzten Jahr erstmals seit 2006 rückläufig.Vor allem im Norden hat sich die Sicherheitslage verbes-sert. Mehr als 300 000 afghanische Sicherheitskräftewurden seit Beginn der Mission ausgebildet, die großeMehrheit davon erst in den letzten Jahren. Die Sollstärkevon 352 000 Sicherheitskräften soll noch in diesem Jahrerzielt werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass wirdas auch erreichen.

Gleichzeitig wurden im letzten Jahr die ersten Provin-zen an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben.Die Übergabe ist für die Afghanen ein wichtiger Schritt

in ihre Selbstständigkeit. In wenigen Wochen wird mehrals die Hälfte der Bevölkerung unter dem Schutz afgha-nischer Kräfte stehen. Die Übergabe in Verantwortungan die Afghanen ist ein Prozess, der immer weiter fort-schreitet. Die Ergebnisse geben unserem Kurs recht. Un-sere Truppen und Verbündeten können darauf stolz sein.An dieser Stelle möchte ich all denjenigen danken, diehierzu beigetragen haben: Soldaten, Polizisten, zivilenHelfern und Diplomaten. Ich wünsche Ihnen allen wei-terhin Gottes Segen bei Ihrem Tun.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Auf Basis des Erreichten nimmt der Abzug erstmalskonkrete Formen an. Im nächsten Schritt werden wir dasMandat von 5 350 auf 4 900 Soldaten reduzieren. Jenach Sicherheitslage werden wir versuchen, diese Zahlweiter zu verringern. Hierbei dürfen wir uns jedoch nichtvon einem starren Zeitplan treiben lassen. Wir müssenflexibel bleiben.

Entscheidend für einen Abzug muss immer die Lagevor Ort sein. Wir müssen beachten, dass der AbzugKräfte und Köpfe bindet, beispielsweise im Bereich Lo-gistik, aber auch zum Schutz des Abzugs selbst. Zudemmuss er in enger Absprache mit unseren Partnern undVerbündeten erfolgen. Ich bin sehr dankbar dafür, dassauch unser Verteidigungsminister de Maizière solcheGespräche aktiv und selbst führt, um so beispielsweisebeim Thema Air MedEvac im Norden die optimale Un-terstützung für unsere Soldaten zu sichern.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Für uns gilt: Das, was wir durch die internationale Ge-meinschaft für die Menschen in Afghanistan bisher er-reicht haben, muss verteidigt werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, nicht nur dieAnzahl der Soldaten hat sich über die Zeit geändert, son-dern auch der Charakter des Einsatzes hat sich gewan-delt. Der Schwerpunkt liegt zunehmend auf der Ausbil-dung der Afghanen und auf dem zivilen Wiederaufbau.Wir werden zwar die Anzahl der Soldaten in Afghanis-tan reduzieren; jedoch werden wir das Engagement fürdie Ausbildung der Afghanen weiter erhöhen.

Die zivile Seite des Wiederaufbaus wurde auch finan-ziell bereits deutlich gestärkt. Dies werden wir weiterhinaufrechterhalten. Denn so schön, wie sich „Abzug“ an-hört, so sehr hat er auch ökonomisch negative Folgen fürdas Land. Es entfällt nämlich ein ganzer Wirtschafts-zweig. Das dürfen wir an dieser Stelle nicht vergessen.

Auf der Bonner Konferenz wurde deutlich, dass einAbzug bis 2014 nicht das Ende des internationalenEngagements für Afghanistan bedeutet. Auch wenn derEinsatz in seiner jetzigen Form nach 2014 nicht mehrstattfinden wird, so lassen wir das Land Afghanistan undseine Menschen nicht im Stich. Auch AußenministerWesterwelle hat in der ersten Lesung betont: Wir bleibenfür Afghanistan ein verlässlicher Partner und werdenauch über das Jahr 2014 hinaus unserer internationalenVerantwortung gerecht.

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18574 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Florian Hahn

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In diesem Sinne danke ich Ihnen für die Aufmerk-samkeit und bitte Sie um Zustimmung zum vorliegendenMandat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-sache 17/8393 zu dem Antrag der Bundesregierung zurFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicher-heitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führungder NATO. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 17/8166anzunehmen.

Bevor wir über die Beschlussempfehlung namentlichabstimmen, möchte ich darauf hinweisen, dass wirgleich im Anschluss zwei weitere namentliche Abstim-mungen über zwei Entschließungsanträge durchführenwerden.

Zu dieser namentlichen Abstimmung liegen mirschriftlich zahlreiche persönliche Erklärungen vor, undzwei Kollegen äußerten den Wunsch nach mündlichenErklärungen zur Abstimmung; diese werden im An-schluss an die drei Abstimmungen vorgetragen.1)

Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Können wir mitder Abstimmung beginnen? – Es sieht so aus. Dann er-öffne ich die erste namentliche Abstimmung. – Dortrechts fehlt noch ein Schriftführer. Ich bitte einenSchriftführer der Opposition, zur Abstimmungsurne aufder rechten Seite zu kommen.

(Zuruf: Er kommt!)

Die obligate Frage: Haben alle anwesenden Mitglie-der ihre Stimme abgegeben? – Das ist offensichtlich derFall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-lung zu beginnen.2)

Wir setzen die Abstimmungen fort und kommen zumEntschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/8466. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat namentliche Abstimmung verlangt. Sinddie Plätze besetzt, sodass wir mit der Abstimmung be-ginnen können? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich diezweite – –

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Herr Präsident, Sie müssen klä-ren, über welchen Antrag abgestimmt wird!)

– Entschuldigung, ich habe einen Punkt übersehen.

Wir kommen jetzt zur zweiten namentlichen Abstim-mung. Es geht um den Entschließungsantrag der Frak-tion Die Linke auf Drucksache 17/8465, die ebenso na-

1) Anlagen 2 bis 72) Ergebnis Seite 18575 D

mentliche Abstimmung verlangt hat. Wir können jetztmit dieser zweiten namentlichen Abstimmung – überden Entschließungsantrag der Linken – beginnen.

(Zurufe)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist eine Verwir-rung eingetreten. Dort hinten hat man bereits zu früh mitder Abstimmung begonnen und über den falschen An-trag abgestimmt, sodass ich darum bitte, dass wir jetztnoch einmal den zweiten Abstimmungsgang eröffnen.Es gibt eine kleine Pause, um neue Karten zu holen. Da,wo irrtümlich mit der Abstimmung über den Antrag vonBündnis 90/Die Grünen begonnen worden ist, wird dieAbstimmung wiederholt. Hier vorne war es eindeutig.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Nein, hier haben auch einige falsch ab-gestimmt! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Komplett neu!)

– Da mir gesagt wird, dass es auch hier vorne Verwir-rung gegeben hat, wird der zweite Abstimmungsganginsgesamt wiederholt. Es gibt also eine kleine Pause, so-dass alle Kolleginnen und Kollegen noch einmal Ab-stimmungskarten holen und die Urnen ausgewechseltwerden können. Dann beginnen wir neu mit dem zwei-ten Abstimmungsgang zum Antrag der Linken.

Ich hoffe, dass wir jetzt mit dem zweiten Abstim-mungsgang beginnen können. Es geht um den Antragder Linken. Die zweite namentliche Abstimmung überden Antrag der Linken ist hiermit eröffnet. – Es fehlennoch Schriftführer an den Urnen. – Liebe Kolleginnenund Kollegen von den Oppositionsfraktionen, hier vornefehlt noch ein Schriftführer oder eine Schriftführerin derOpposition.

(Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, stimmt doch gar nicht!)

Ich wiederhole noch einmal: Es ist die zweite nament-liche Abstimmung zum Antrag der Fraktion Die Linke.

Ich frage: Haben alle anwesenden Mitglieder ihreStimme abgegeben? – Das ist offensichtlich der Fall.Dann schließe ich diese Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-lung zu beginnen.3)

Wir setzen die Abstimmungen fort und kommen zumEntschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/8466. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verlangt namentliche Abstimmung. Sind diePlätze an den Abstimmungsurnen besetzt? – Das ist derFall. Dann eröffne ich die dritte namentliche Abstim-mung. Das ist die Abstimmung über den Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ich frage: Haben alle anwesenden Mitglieder ihreStimme zur dritten Abstimmung abgegeben? – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann schließe ich die Abstimmungund bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mitder Auszählung zu beginnen. Die Ergebnisse der Ab-stimmungen werden Ihnen später bekannt gegeben.4)

3) Ergebnis Seite 18579 C4) Ergebnis Seite 18581 B/D

Page 111: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18575

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(C)

(D)(B)

Jetzt kommen wir zu den beiden mündlichen Erklä-rungen zur Abstimmung. Zunächst erteile ich das WortKollegin Heidrun Dittrich.

(Beifall bei der LINKEN)

Heidrun Dittrich (DIE LINKE):Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich

gebe eine persönliche Erklärung nach § 31 der Ge-schäftsordnung zur Abstimmung über die Verlängerungdes ISAF-Mandates durch das Parlament ab.

Ich habe gegen die Fortsetzung des Mandates ge-stimmt, weil die Bundesregierung weiterhin Krieg führtund als Rechtfertigung die Verbesserung der Lage der af-ghanischen Frauen anführt. Dabei wissen Sie ganz ge-nau, dass die Lage der Frauen weiterhin schlecht ist. Siewissen ganz genau, dass im Krieg ein demokratischerAufbau nicht möglich ist. In Kriegsgebieten nimmt dieGewalt zu. In Kriegsgebieten ist es für Kinder, insbeson-dere für Mädchen, schwierig, zur Schule zu gehen. ImKriegszustand kann eine Versorgung mit Wasser undmedizinischer Hilfe nicht aufgebaut werden. Geradeeine solche Versorgung benötigen Frauen, Verletzte undNeugeborene mehr denn je. Diese Zustände werden vonIhnen geschaffen. Ich fordere die tatsächliche Beteili-gung der Frauen am Friedensprozess ein, damit sie ihreInteressen am Aufbau eines demokratischen Afghanistanverwirklichen können.

Zum Abschluss möchte ich eine Politikerin ausAfghanistan würdigen. Malalai Joya hat die Bundesre-publik vor der Afghanistan-Konferenz besucht und hatam 24. November 2011 in Hannover gesagt: Es gibt de-mokratische Bewegungen in Afghanistan. Sie existieren.Aber leider müssen sie jetzt gegen drei Mächte kämpfen.Früher waren es nur die Taliban. Jetzt kommen noch dievom Westen unterstützten Warlords, die Drogenbaroneund die Besatzungsmächte hinzu. Die Bevölkerung istgegen die ausländischen Besatzungsmächte; denn sie un-terstützen das korrupte Regime.

Malalai Joya konnte nicht im afghanischen Parlamentbleiben. Sie wurde hinausgeworfen. Sie konnte auchnicht noch einmal kandidieren.

Ich sage: Sie stützen damit das korrupte RegimeKarzai. Es wäre besser, sich an Bertha von Suttner zu er-innern, an die österreichische Pazifistin, die durch ihrenKriegsroman Die Waffen nieder! bekannt wurde. 1905erhielt sie den Friedensnobelpreis dafür. Wir fordern ge-

nauso wie sie: Krieg darf kein Mittel der Politik mehrsein. Deshalb muss die Bundeswehr raus aus Afghanis-tan.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Nun hat Michael Schlecht das Wort zu einer persönli-

chen Erklärung zur Abstimmung.

Michael Schlecht (DIE LINKE):Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Präsident! Zu

meiner persönlichen Erklärung: Ein Grundprinzip derdeutschen wie der internationalen Arbeiterbewegungwar immer, sich gegen Krieg zu stellen. Gegen kriegfüh-rende Regierungen hat man opponiert; gegen sie ist manaufgetreten. Aus diesem guten Grund gibt es schon seitJahren die klare Positionierung von Einzelgewerkschaf-ten in Deutschland, aber auch vom Deutschen Gewerk-schaftsbund, dass dieser Krieg in Afghanistan endlichbeendet werden muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Mit dem heutigen Beschluss tritt man dieser Intentionentgegen. Für mich als Gewerkschafter ist schon aus die-sem Grunde vollkommen klar gewesen, heute mit Neinzu stimmen. Umso mehr bin ich – das sage ich sehr deut-lich – empört und ein Stück weit beschämt, dass haupt-amtliche Kollegen aus deutschen Gewerkschaften, dieMitglied dieses Parlaments sind, anders gestimmt haben,als es die klare Beschlusslage in den Gewerkschaftenvorsieht.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Wir kommen zu dem von den Schriftführerinnen und

Schriftführern ermittelten Ergebnis der ersten nament-lichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung desAuswärtigen Ausschusses zum Antrag der Bundesregie-rung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicher-heitsunterstützungstruppe in Afghanistan (ISAF)“ – dassind die Drucksachen 17/8166 und 17/8393 –: abgege-bene Stimmen 569. Mit Ja haben gestimmt 424, mit Neinhaben gestimmt 107, Enthaltungen 38. Die Beschluss-empfehlung ist damit angenommen.

Endgültiges Ergebnis

Abgegebene Stimmen: 569;

davon

ja: 424

nein: 107

enthalten: 38

Ja

CDU/CSU

Ilse AignerPeter AumerThomas BareißNorbert Barthle

Günter BaumannErnst-Reinhard Beck

(Reutlingen)Manfred Behrens (Börde)Dr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens Binninger

Peter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut Brandt

(A)

Page 112: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

18576 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(A) (C)

(D)(B)

Dr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer (Hamburg)Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich

(Hof)Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung (Konstanz)Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)

Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenHartmut KoschykMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer (Altötting)Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. Mathias MiddelbergDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller (Erlangen)Dr. Philipp MurmannBernd Neumann (Bremen)Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche (Potsdam)

Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht (Weiden)Anita Schäfer (Saalstadt)Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt (Fürth)Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön (St. Wendel)Dr. Kristina SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerArmin Schuster (Weil am

Rhein)Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl (Heilbronn)Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel (Kleinsaara)Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg (Hamburg)Peter Weiß (Emmendingen)Sabine Weiss (Wesel I)Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-

BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli Zylajew

SPD

Rainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDr. Hans-Peter BartelsSören BartolSabine Bätzing-LichtenthälerDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding (Heidelberg)Gerd BollmannKlaus BrandnerBernhard Brinkmann

(Hildesheim)Edelgard BulmahnUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneMartin DörmannElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf (Rosenheim)Kerstin GrieseMichael GroschekHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann

(Wackernheim)Hubertus Heil (Peine)Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogFrank Hofmann (Volkach)Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerFritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange (Backnang)Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio Lemme

Page 113: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18577

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(A) (C)

(D)(B)

Gabriele Lösekrug-MöllerCaren MarksKatja MastPetra Merkel (Berlin)Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannDr. Carola ReimannDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth (Heringen)Anton SchaafAxel Schäfer (Bochum)Bernd ScheelenMarianne Schieder

(Schwandorf)Ulla Schmidt (Aachen)Silvia Schmidt (Eisleben)Carsten Schneider (Erfurt)Ottmar SchreinerSwen Schulz (Spandau)Dr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeDr. Carsten SielingPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeUte VogtAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte Zypries

FDP

Jens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-

DugnusDaniel Bahr (Münster)Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner Deutschmann

Dr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth (Kyffhäuser)Sibylle LaurischkHarald LeibrechtLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner (Berlin)Michael Link (Heilbronn)Dr. Erwin LotterHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller (Aachen)Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann

(Lausitz)Dirk NiebelHans-Joachim Otto

(Frankfurt)Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-

DamerauJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel

(Lüdenscheid)

Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff (Rems-Murr)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Cornelia BehmEkin DeligözHans-Josef FellPriska Hinz (Herborn)Tom KoenigsNicole MaischOmid NouripourKrista SagerManuel SarrazinDaniela Wagner

Nein

CDU/CSU

Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

Dr. Peter GauweilerNorbert Schindler

SPD

Ingrid Arndt-BrauerKlaus BarthelBärbel BasMarco BülowDr. Peter DanckertMichael GroßWolfgang GunkelGabriele Hiller-OhmPetra Hinz (Essen)Hilde MattheisDr. Wilhelm PriesmeierGerold ReichenbachSönke RixWerner Schieder (Weiden)Sonja SteffenKerstin TackDr. Marlies VolkmerWaltraud Wolff

(Wolmirstedt)

FDP

Dr. h. c. Jürgen Koppelin

DIE LINKE

Jan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmHeidrun DittrichDr. Dagmar Enkelmann

Klaus ErnstWolfgang GehrckeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer (Köln)Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakJörn WunderlichSabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Agnes BruggerKatja DörnerBettina HerlitziusDr. Anton HofreiterUwe KekeritzMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczySylvia Kotting-UhlMonika LazarBeate Müller-GemmekeDr. Hermann E. Ott

Page 114: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

18578 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(A) (C)

(B)

Lisa PausUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-

KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald Terpe

Enthalten

CDU/CSU

Manfred Kolbe

SPD

Willi Brase

Daniela Kolbe (Leipzig)Burkhard LischkaRené RöspelEwald SchurerFrank Schwabe

FDP

Joachim Günther (Plauen)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kerstin AndreaeVolker Beck (Köln)Viola von Cramon-TaubadelHarald Ebner

Dr. Thomas GambkeKai GehringBritta HaßelmannBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeKatja KeulOliver KrischerFritz KuhnStephan KühnUndine Kurth (Quedlinburg)Dr. Tobias LindnerKerstin Müller (Köln)Dr. Konstantin von NotzFriedrich OstendorffBrigitte Pothmer

Tabea RößnerElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtMarkus TresselJürgen TrittinBeate Walter-RosenheimerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip Winkler

(D)

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten DanielaWagner, Ingrid Hönlinger, Bettina Herlitzius,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Wohnraum in Deutschland zukunftsfähig ma-chen – Für ein sozial gerechtes und klima-freundliches Mietrecht

– Drucksache 17/7983 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höredazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile KolleginDaniela Wagner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünendas Wort.

Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Die Bundesregierung kündigt seit über zwei Jahren eineMietrechtsnovelle an, ist aber bis jetzt noch nicht übereinen Referentenentwurf hinausgekommen. Deswegenlegen wir heute ein umfassendes Maßnahmenpaket fürdie Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen un-serer Wohnungsmärkte vor.

Die besondere Schwierigkeit beim Mietrecht liegt da-rin, dass es Sachverhalte regeln und unter Rahmenbedin-gungen angewendet werden muss, die unterschiedlicherkaum sein könnten. Im Wohngeld- und Mietenberichtdes Jahres 2010 ist eindeutig belegt, dass wir in wach-senden Regionen eine Verknappung von bezahlbaremWohnraum für einkommensschwache Haushalte haben.In schrumpfenden Gebieten dagegen nehmen der Leer-stand und der Wertverlust von Wohnimmobilien weiterzu. Es kommt bis zum Verlust von Heimat, weil sichganze Ortschaften entvölkern.

Klimawandel und Energiewende erfordern ihrerseitseine umfassende energetische Modernisierung unseresGebäudebestands in den kommenden 30 Jahren. Zusätz-lich haben wir durch den demografischen Wandel einenhohen Bedarf an altersgerechtem Wohnraum. Es fehlenbis zum Jahr 2030 ungefähr 3 Millionen Wohnungen.Unter dem Vorwand der notwendigen umfassenden Sa-nierung dürfen Menschen nicht aus ihrem Stadtteil ver-drängt, mithin heraussaniert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ingo Egloff [SPD])

Das Ziel muss sein, die soziale Mischung in unserenStädten und Gemeinden zu erhalten oder wiederherzu-stellen, also beginnende Segregationsprozesse umzukeh-ren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Wohnort eines Menschen hat Auswirkungen aufseine soziale Stellung in der Gesellschaft und auf seinenZugang zu Arbeitsplätzen und Bildung. Wir wollen Ver-drängung verhindern und gleichzeitig einen Beitrag zurLösung der drängenden Probleme der Wohnungsmärkteleisten. Aber auch Nichthandeln, speziell bei der energe-tischen Gebäudesanierung, würde das Problem der stetigwachsenden Wohnkosten nicht lösen. Die Energiekos-ten, insbesondere bei fossilen Energieträgern, steigenfortwährend an. Deswegen haben wir ein umfassendesMaßnahmenpaket vorgelegt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Damit – das ist wichtig – werden die Lasten gerechtauf den Staat, die Eigentümerinnen und Eigentümer so-wie auf die Mieterinnen und Mieter verteilt. Wir wollenverlässliche und planbare Effizienzstandards für die Ei-gentümerinnen und Eigentümer. Wir wollen eine ver-lässliche Förderkulisse in Höhe von rund 5 MilliardenEuro jährlich, und wir wollen vor allen Dingen Pla-nungssicherheit statt des alljährlichen Wirrwarrs bei denKfW-Förderprogrammen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das derzeitige Mietrecht enthält keine Antworten aufdie neuen Anforderungen. Deswegen ist eine Anpassung

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18579

Daniela Wagner

(A) (C)

(D)(B)

des Mietrechts notwendig. Wir wollen ein Mietminde-rungsrecht bei Nichteinhaltung rechtlich vorgegebenerRegelungen, zum Beispiel bei Nichteinhaltung derEnEV. Wir wollen die Aufnahme des Klimaschutzes indie Interessenabwägung bei den Duldungsbestimmun-gen nach § 554 BGB. Wir wollen die Einsparung vonPrimär- und Endenergie bei energetischen Sanierungen,damit wenigstens mittelfristig die erhöhten Kaltmietendurch eine Heizkosteneinsparung refinanziert werdenkönnen. Wir wollen die Modernisierungsumlage auf diezentralen und wichtigen Bereiche lenken, nämlich denaltersgerechten Umbau und die energetische Sanierung.Wir wollen sie um 2 Prozentpunkte auf 9 Prozent absen-ken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ingo Egloff [SPD])

Die Aufnahme der energetischen Gebäudebeschaffen-heit in die ortsübliche Vergleichsmiete, auch ökologi-scher Mietspiegel genannt, sollte Standard in allen Städ-ten werden. Wir wollen die Kappungsgrenze von 20 auf15 Prozent senken. Wir wollen vor allen Dingen die Alt-vertragsmieten der letzten sechs Jahre – nicht nur die derletzten vier Jahre – einbeziehen, weil das auf die Dyna-mik der Mietpreissteigerung dämpfend wirkt. Außerdemwollen wir den Kommunen durch Landesermächtigungdie Möglichkeit geben, Mietobergrenzen in Wohnungs-märkten oder Teilwohnungsmärkten mit nachgewiese-nem Wohnraummangel, orientiert am regionalen Miet-spiegel, festzulegen. Das bedeutet, dass man dieKostendämpfung einleiten kann, wenn einzelne Woh-nungsteilmärkte explodieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie sehen: Unsere Vorschläge für ein neues Mietrechtnehmen – das ist wirklich neu – sowohl die sozialen alsauch die ökologischen Belange in den Blick und versu-chen, über den sozialen Ausgleich zwischen Mieterinnenbzw. Mietern und Vermieterinnen bzw. Vermietern auchdas Problem des Klimawandels mit in den Blick zu neh-men und nicht aus den Augen zu verlieren, um bei43 Millionen Wohngebäuden mit Mietwohnungen dort,wo es möglich ist, den emittierten CO2-Anteil endlich zumindern und so auch in der Gebäudebewirtschaftung ei-nen Beitrag dazu zu leisten, dass das 2-Grad-Ziel nochgehalten und der Klimawandel aufgehalten werdenkann.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,

möchte ich die Ergebnisse der beiden weiteren namentli-chen Abstimmungen mitteilen.

Zunächst das von den Schriftführerinnen und Schrift-führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-mung über den Entschließungsantrag der Fraktion DieLinke zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung„Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte“ – ISAF –: abgegebene Stimmen 568. Mit Jahaben gestimmt 66, mit Nein haben gestimmt 485, Ent-haltungen 17. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.

Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 567;davon

ja: 66nein: 485enthalten: 16

Ja

DIE LINKE

Agnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmHeidrun DittrichDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang Gehrcke

Diana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatThomas NordPetra Pau

Jens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer (Köln)Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakJörn WunderlichSabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Hans-Christian Ströbele

Nein

CDU/CSU

Ilse AignerPeter AumerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck

(Reutlingen)Manfred Behrens (Börde)Dr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen

(Bönstrup)Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge Braun

Page 116: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

18580 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(A) (C)

(D)(B)

Heike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer (Hamburg)Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich

(Hof)Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung (Konstanz)Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard KasterSiegfried Kauder (Villingen-

Schwenningen)

Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeHartmut KoschykMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer (Altötting)Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. Mathias MiddelbergDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller (Erlangen)Dr. Philipp MurmannBernd Neumann (Bremen)Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche (Potsdam)Lothar Riebsamen

Josef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht (Weiden)Anita Schäfer (Saalstadt)Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt (Fürth)Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön (St. Wendel)Dr. Kristina SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerArmin Schuster (Weil am

Rhein)Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl (Heilbronn)Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel (Kleinsaara)Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg (Hamburg)Peter Weiß (Emmendingen)Sabine Weiss (Wesel I)Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-

BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli Zylajew

SPD

Ingrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding (Heidelberg)Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann

(Hildesheim)Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf (Rosenheim)Kerstin GrieseMichael GroschekMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann

(Wackernheim)Hubertus Heil (Peine)Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmFrank Hofmann (Volkach)Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel Kofler

Page 117: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18581

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(A) (C)

(D)(B)

Daniela Kolbe (Leipzig)Fritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange (Backnang)Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel (Berlin)Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth (Heringen)Anton SchaafAxel Schäfer (Bochum)Bernd ScheelenMarianne Schieder

(Schwandorf)Werner Schieder (Weiden)Ulla Schmidt (Aachen)Silvia Schmidt (Eisleben)Carsten Schneider (Erfurt)Ottmar SchreinerSwen Schulz (Spandau)Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierKerstin Tack

Dr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff

(Wolmirstedt)Dagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte Zypries

FDP

Jens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-

DugnusDaniel Bahr (Münster)Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther (Plauen)Heinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth (Kyffhäuser)

Sibylle LaurischkHarald LeibrechtLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner (Berlin)Michael Link (Heilbronn)Dr. Erwin LotterHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller (Aachen)Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann

(Lausitz)Dirk NiebelHans-Joachim Otto

(Frankfurt)Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-

DamerauJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel

(Lüdenscheid)Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff (Rems-Murr)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kerstin AndreaeVolker Beck (Köln)Cornelia BehmViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas Gambke

Kai GehringBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz (Herborn)Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerUte KoczyTom KoenigsOliver KrischerFritz KuhnStephan KühnUndine Kurth (Quedlinburg)Dr. Tobias LindnerNicole MaischKerstin Müller (Köln)Dr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffBrigitte PothmerTabea RößnerKrista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip Winkler

Enthalten

SPD

Petra Hinz (Essen)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Agnes BruggerKatja DörnerThilo HoppeUwe KekeritzMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkSylvia Kotting-UhlMonika LazarBeate Müller-GemmekeDr. Hermann OttLisa PausUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn

Nun das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-mung über den Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen zum gleichen Gegenstand: ab-

gegebene Stimmen 567. Mit Ja haben gestimmt 60, mitNein haben gestimmt 378, Enthaltungen 129. Der Ent-schließungsantrag ist damit abgelehnt.

Page 118: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

18582 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(A) (C)

(D)(B)

Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 567;davon

ja: 60nein: 377enthalten: 130

Ja

SPD

Willi BraseRené RöspelFrank Schwabe

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kerstin AndreaeVolker Beck (Köln)Cornelia BehmAgnes BruggerViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz (Herborn)Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerFritz KuhnStephan KühnUndine Kurth (Quedlinburg)Monika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischKerstin Müller (Köln)Beate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerKrista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn

Dr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip Winkler

Nein

CDU/CSU

Ilse AignerPeter AumerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck

(Reutlingen)Manfred Behrens (Börde)Dr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen

(Bönstrup)Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer (Hamburg)Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich

(Hof)Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard Grindel

Hermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung (Konstanz)Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard KasterSiegfried Kauder (Villingen-

Schwenningen)Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeHartmut KoschykMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco Luczak

Daniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer (Altötting)Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. Mathias MiddelbergDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller (Erlangen)Dr. Philipp MurmannBernd Neumann (Bremen)Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche (Potsdam)Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht (Weiden)Anita Schäfer (Saalstadt)Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt (Fürth)Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön (St. Wendel)Dr. Kristina SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerArmin Schuster (Weil am

Rhein)Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes Singhammer

Page 119: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18583

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(A) (C)

(D)(B)

Jens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierStephan StrackeMax StraubingerThomas Strobl (Heilbronn)Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel (Kleinsaara)Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg (Hamburg)Peter Weiß (Emmendingen)Sabine Weiss (Wesel I)Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-

BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli Zylajew

SPD

Marco BülowJohannes KahrsHans-Ulrich KloseSonja SteffenDr. Marlies Volkmer

FDP

Jens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-

DugnusDaniel Bahr (Münster)Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto Fricke

Dr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther (Plauen)Heinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth (Kyffhäuser)Sibylle LaurischkHarald LeibrechtLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner (Berlin)Michael Link (Heilbronn)Dr. Erwin LotterHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller (Aachen)Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann

(Lausitz)Dirk NiebelHans-Joachim Otto

(Frankfurt)Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-

DamerauJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel

(Lüdenscheid)Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff (Rems-Murr)

DIE LINKE

Jan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmHeidrun DittrichDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer (Köln)Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakJörn WunderlichSabine Zimmermann

Enthalten

SPD

Ingrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding (Heidelberg)Gerd BollmannKlaus BrandnerBernhard Brinkmann

(Hildesheim)Edelgard BulmahnUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf (Rosenheim)Kerstin GrieseMichael GroschekMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann

(Wackernheim)Hubertus Heil (Peine)Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz (Essen)Frank Hofmann (Volkach)Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe (Leipzig)

Page 120: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

18584 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

(A) (C)

(B)

Fritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange (Backnang)Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel (Berlin)Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz Müntefering

Dr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixDr. Ernst Dieter Rossmann

Michael Roth (Heringen)Anton SchaafAxel Schäfer (Bochum)Bernd ScheelenMarianne Schieder

(Schwandorf)Werner Schieder (Weiden)Ulla Schmidt (Aachen)Silvia Schmidt (Eisleben)Carsten Schneider (Erfurt)Ottmar SchreinerSwen Schulz (Spandau)Ewald SchurerDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeDr. Carsten SielingPeer Steinbrück

Dr. Frank-Walter SteinmeierKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeUte VogtAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff

(Wolmirstedt)Dagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte Zypries

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Hans-Christian Ströbele

(D)

Wir setzen nun die Debatte zum TagesordnungspunktWohnraum fort. Das Wort hat nun Volkmar Vogel für dieFraktion der CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir stehen in den nächsten Jahrzehnten tat-sächlich vor großen Herausforderungen. Das gilt geradefür die Wohnungswirtschaft. Die Aufbaujahre nach demKrieg und nach der Wiedervereinigung sind zu Ende.Die nächsten Jahre bedeuten im Wohnungsbau vor allenDingen, die Klimaziele und die Energieeinsparung zuverwirklichen und den demografischen Wandel zu meis-tern. Aber dazu brauchen wir Augenmaß, wirtschaftli-chen Sachverstand und die Mithilfe aller Beteiligten.

Der Antrag der Grünen ist aus unserer Sicht eigent-lich nichts anderes als ein ideologisches Wunschkonzert.Die Grünen wollen damit Gesetze und Vorschriften aufdem Rücken der Wohnungsunternehmen, der Haus-eigentümer und auch der Mieter durchsetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dorothea Steiner[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Siedoch mal den Antrag!)

Ich kann an dieser Stelle nur sagen: Leute draußen imLand, wacht auf! Schaut euch diesen Antrag genau an;denn er bedeutet nichts anderes als die Enteignung durchdie Hintertür.

(Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Oh!)

So ist von den Grünen beabsichtigt, nach einer Über-gangszeit von zehn Jahren alle Bestandsgebäude ver-bindlich mit neuen Energiestandards zu belegen. Dafrage ich mich: Was machen jene, die das trotz finanziel-ler Förderung nicht schultern können? Müssen sie ihr Ei-gentum aufgeben? Müssen sie verkaufen? Müssen siesich erst hoch verschulden, um dann ihr Eigentum loszu-werden? – Das ist nicht unsere Politik.

Der Antrag der Grünen fordert Mindestanteile für er-neuerbare Energien. Da frage ich: Was macht der Haus-besitzer, der diese Energien aus örtlichen oder techni-schen Gründen gar nicht anwenden oder, wennüberhaupt, nur sehr teuer nutzbar machen kann? Ichfrage mich bei diesen Überlegungen: Wo bleibt hier derAnsatz der Wirtschaftlichkeit, und was wird aus der Krea-tivität von Unternehmen und von Tüftlern, wenn dieGrünen bestimmen wollen, welche Energiequellen,welche erneuerbaren Energien zum Einsatz kommen sol-len?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grünen habenin ihrem Antrag eine Herausforderung vergessen: dasswir die Veränderungen sozialverträglich, dem Wirt-schaftlichkeitsgebot folgend und technologieoffen absi-chern müssen. Wir werden als christlich-liberale Koali-tion unser Energiekonzept vom Oktober 2010 mitVernunft und Schritt für Schritt umsetzen. Wir werdenmaßvoll fordern und zielgerichtet fördern. Die Zwangs-sanierung im Wohnungsbestand lehnen wir ab. 20 Pro-zent weniger Primärenergie bis 2020 und 80 Prozent we-niger bis 2050 sind aus unserer Sicht wahrlichanspruchsvolle Ziele.

Die Energieeinsparverordnung gibt uns den rechtli-chen Rahmen vor. Die wichtigste Komponente der Ener-gieeinsparverordnung ist aus unserer Sicht das Wirt-schaftlichkeitsgebot. Der Nachweis der Wirtschaftlich-keit in vertretbaren Zeiträumen hält die Belastungen fürWohnungsunternehmen, kleine Vermieter, Selbstnutzerund nicht zuletzt die vielen Mieter in Grenzen. Um dieehrgeizigen Ziele bis 2050 zu erreichen, muss die Um-setzung möglichst einfach und in der Breite machbarsein. Die neueste Technologie des Niedrigstenergiehau-ses ist genauso wichtig wie hocheffiziente Einzelmaß-nahmen, die in der Masse wirken. Damit die Energieeffi-zienz in der Breite wirkt, brauchen die Leute im Landvor allem Planungssicherheit und einfache Lösungen.Die EnEV 2009 ist schon sehr anspruchsvoll. Deswegensagen wir: Eine weitere Verschärfung wäre hier eherkontraproduktiv. Aber dazu gehören auch Anreize, mehrzu tun als gefordert. Das CO2-Gebäudesanierungspro-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18585

Volkmar Vogel (Kleinsaara)

(A) (C)

(D)(B)

gramm hat sich bewährt. Es ist 2011 nicht ausgelaufen.Wir werden es fortsetzen, mindestens bis 2014.

Wir müssen mehr als in den letzten Jahren privatesKapital heben. Deswegen wollen wir auch steuerlicheAbschreibungen und steuerliche Anreize für die energe-tische Sanierung. Die Grünen übrigens fordern das in ih-rem Antrag ebenfalls. Darum bitte ich die Kollegen derGrünen: Werben Sie bitte dort, wo Sie die Regierungführen oder an ihr beteiligt sind, also in den jeweiligenBundesländern, damit hier eine Einigung herbeigeführtwird. Eines ist nämlich klar: Wir könnten damit die vonIhnen geforderten 2 Milliarden Euro pro Jahr für dieenergetische Sanierung locker abbilden.

Finanzielle Ausstattung ist das eine, inhaltliche Aus-richtung das andere. Zielgruppenorientierung und Förde-rung von Einzelmaßnahmen, die in der Breite für mehrKlimaschutz sorgen, sind durch die KfW umgesetzt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, hier kommeich zu einem wesentlichen Punkt, nämlich zur Verknüp-fung der KfW-Programme mit der Städtebauförderung,zur Verzahnung von energetischer Sanierung, Stadtsa-nierung und altersgerechtem Umbau. Die christlich-libe-rale Koalition hat allen Unkenrufen zum Trotz für 2012die Städtebauförderung mit insgesamt 547 MillionenEuro ausgestattet; 93 Millionen Euro davon fließen indie energetische Städtesanierung.

(Florian Pronold [SPD]: Und die Städtebauför-derung um 30 Prozent gekürzt!)

Das Programm „Altersgerecht Umbauen“ wurde durchFinanzminister Steinbrück bis 2011 befristet – schade!Es ist ein sehr gutes Programm. Deshalb führt es dieKfW weiter.

Die Förderprogramme der KfW sind ein gutes, nach-ahmenswertes Beispiel, wenn es darum geht, die Kopp-lungsfunktion zwischen Demografiewandel, sprich: bar-rierearmes Leben, und Energieeffizienz, sprich: CO2-Gebäudesanierungsprogramm, intelligent herzustellen.Diese Sanierungsmaßnahmen, auch gekoppelt mit Stadt-umbauprojekten, sind sehr komplex. Barrierefreiheitverlangt hohe Standards. Deswegen ist sie teuer undnicht überall machbar. Wir müssen die Erfahrungenbeim altersgerechten Umbau mehr nutzen.

(Florian Pronold [SPD]: Warum kürzen Sie dann das KfW-Programm?)

Altersgerechtes Umbauen heißt aus unserer Sicht: geeig-net für Kinderwagen und Rollator.

Auch der Stadtumbau wird beim Demografiewandeleine große Rolle spielen.

(Florian Pronold [SPD]: Warum machen Sie dann das KfW-Programm kaputt?)

Wir erwarten den Zwischenbericht in diesem Jahr. Erwird uns helfen, den demografischen Wandel in derWohnungspolitik vernünftig abzubilden.

(Florian Pronold [SPD]: Keine Antwort istauch eine Antwort! Ein Schuldeingeständnisin diesem Fall!)

Ich appelliere hier nochmals an die Kollegen von denGrünen und von der SPD: Wenn Sie es mit den notwen-digen Baumaßnahmen für die Energiewende, für denDemografiewandel und für das altersgerechte Umbauenehrlich meinen,

(Florian Pronold [SPD]: Dass Sie von Ehrlich-keit sprechen, ist jetzt ein Hohn!)

dann helfen Sie uns mit, die Novelle des Mietrechts, diewir auf den Weg gebracht haben, umzusetzen. Wir brau-chen dazu auch Ihre Unterstützung und die Unterstüt-zung der Bundesländer.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Ingo Egloff für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ingo Egloff (SPD):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir diskutieren hier bereits das dritte Mal überdie Frage der energetischen Gebäudesanierung und dienotwendigen Mietrechtsänderungen, ohne dass wir unsbisher in einem Ausschuss mit diesem Thema befasst ha-ben. Ich finde, es wird jetzt langsam Zeit, dass wir mitden Ausschussberatungen anfangen, dass wir entspre-chende Anhörungen veranstalten. Der Antrag der Grü-nen zeigt ja, welches Potenzial, insbesondere welchesKonfliktpotenzial dahintersteht. Wenn wir die energeti-sche Gebäudesanierung und die Energiewende ernstnehmen, dann sollten wir damit anfangen, das umzuset-zen.

Lassen Sie es mich deutlich sagen: Der von Bünd-nis 90/Die Grünen vorgelegte Antrag ist meines Erach-tens ein guter Antrag, weil er die klimapolitische Dimen-sion des Themas aufzeigt, dabei aber die soziale Dimen-sion nicht vernachlässigt. Es wird unsere Aufgabe indiesem Prozess sein, eine Balance herzustellen. Auf dereinen Seite geht es um das, was unter klimapolitischenGesichtspunkten notwendig und erforderlich ist. Auf deranderen Seite müssen wir dafür sorgen, dass Wohnraumweiterhin bezahlbar ist, dürfen also die soziale Dimen-sion dieser Frage nicht aus den Augen verlieren.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb ist es gut, dass in dem Antrag der Grünen ge-fordert steht, dass die Modernisierungsumlage auf 9 Pro-zent der Modernisierungskosten gesenkt werden soll.Diese Forderung haben wir Sozialdemokraten in denletzten beiden Debatten zu diesem Thema hier auchschon eingebracht. Wir werden diesen Punkt im Rahmendes Gesetzgebungsverfahrens weiter diskutieren müs-sen.

Die Umlage der Kosten ist auf Dauer angelegt. Selbstwenn die Investition längst getilgt ist, wird die Mietenicht wieder reduziert. Vor diesem Hintergrund solltenwir uns im Rahmen der Beratungen damit beschäftigen,inwieweit eine temporäre Umlage angemessener wäre.

Page 122: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

18586 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Ingo Egloff

(A) (C)

(D)(B)

Das ist ein Punkt, über den man genauer nachdenkensollte. Man muss an dieser Stelle deutlich machen, wel-che soziale Verantwortung wir angesichts dessen haben,dass in Deutschland im Schnitt 30 Prozent des Einkom-mens für Miete ausgegeben werden.

(Beifall bei der SPD)

Über die Härtefallklausel werden wir uns noch einmalunterhalten müssen. Ob es so geht, wie Sie es in IhremAntrag dargestellt haben – dahinter würde ich zumindestein Fragezeichen setzen. Das ist ein Punkt, bei dem wirnicht ganz mit Ihrem Antrag einverstanden sind.

Wir halten es aber für richtig, dass Sie auch dasThema der Mietobergrenzen angesprochen haben, FrauWagner. Die Linken haben hier einen Antrag einge-bracht, den das Land Berlin schon im Bundesrat einge-bracht hatte; dort liegt er jetzt beim Rechtsausschuss.Schon damals haben wir darüber diskutiert, ob wir eineBegrenzung auf bestimmte Stadtgebiete vornehmen kön-nen. In Ballungszentren – dazu gehören Berlin, Ham-burg, Köln und München – werden in bestimmten Stadt-gebieten die angestammten Mieter verdrängt, weil dieMieten aufgrund der zunehmenden Attraktivität dieserStadtteile erhöht werden. Die jeweilige Stadt kann nichthandeln, weil die Mietobergrenzen auf das gesamteStadtgebiet bezogen sind. Deswegen ist es wichtig, dieMöglichkeit zu eröffnen, die auch das Land Berlin inseinem im Bundesrat eingebrachten Antrag fordert. Dasist ein weiterer Punkt, über den wir uns im Rahmen desGesetzgebungsverfahrens unterhalten müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dazu gehört auch, die Frage sozialer Erhaltensverord-nungen wieder aufzugreifen; denn es gibt die genanntenVerdrängungsprozesse in den Städten. Das Ergebnis ist,dass wir bestimmte Stadtteile haben, in denen sich dieProbleme ballen, und andere Stadtteile, die von diesenProblemen nichts mitbekommen. Eine soziale Spaltungunserer Städte können wir aber nicht hinnehmen. Sieschadet unserer Gesellschaft, und deswegen sind wirauch an dieser Stelle gefordert.

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zum Con-tracting sagen; das dürfen wir nicht vernachlässigen.Contracting heißt erst einmal nur, dass es einen anderenEnergieanbieter gibt. Wenn wir so etwas einführen, müs-sen wir auch darauf achten, dass es mit Energieeinspa-rungen verbunden ist. Wenn dies nur dazu führt, dassEnergie am Ende teurer wird, dann sollten wir es nichteinführen, dann lehnen wir als Sozialdemokraten es ab.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Stephan Thomae für die FDP-Frak-

tion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Stephan Thomae (FDP):Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Frau Wagner, Sie haben gesagt, Ihr Vorschlag sei inso-fern neu, als er soziale und Klimaaspekte gleichermaßenberücksichtige. Es gibt aber auch einen Entwurf vonsei-ten des Ministeriums, der ebenfalls beide Aspekte be-rücksichtigt. Wir werden auch diesen, sobald die Bera-tungen in den Ausschüssen beginnen, zu diskutierenhaben.

Im Energiekonzept der Bundesregierung von Septem-ber 2010 heißt es:

Die energetische Sanierung des Gebäudebestandsist die wichtigste Maßnahme, um den Verbrauch anfossilen Energieträgern nachhaltig zu mindern …

Um diese Sanierung zu fördern, um Anreize zu set-zen, brauchen wir flankierende Maßnahmen im Miet-recht des BGB. Seit November vergangenen Jahres liegtein Referentenentwurf zur Novellierung vor, der inKürze debattiert werden wird. Es gibt einige Überein-stimmungen zwischen Ihrem Antrag und dem Entwurfder Bundesregierung,

(Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Hat die Bundesregierung bei uns abge-schrieben?)

sodass ich glaube, dass wir bei den Beratungen in vielenPunkten zu Übereinstimmungen kommen werden.

(Florian Pronold [SPD]: Ich dachte, das istEnteignung! – Daniela Wagner [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Also doch keine Ent-eignung!)

Ein Punkt ist, dass energetische Sanierungsmaßnah-men grundsätzlich von den Mietern geduldet werden sol-len.

(Florian Pronold [SPD]: Die Koalition wider-spricht sich!)

Wir wollen das erreichen, damit der Klimaschutz bei derInteressenabwägung zwischen Vermieter und Mietereine Rolle spielen kann. Dadurch können gewünschteenergetische Sanierungsmaßnahmen, die der Energieein-sparung dienen, von Mietern nicht ohne Weiteres aufge-halten werden.

Der zweite Punkt ist, dass wir darauf hinwirken wol-len, dass Modernisierungsmaßnahmen zwar nicht mehrmit dem Einwand einer finanziellen Härte aufgehaltenwerden können, dass aber in einer zweiten Stufe bei derKostenumlage dieses Argument eventuell zum Tragenkommen kann. Eine Mieterhöhung im Zuge von Moder-nisierungsmaßnahmen ist nur dann ausgeschlossen,wenn sie für den Mieter oder seine Familie eine außerge-wöhnliche Härte bedeuten würde. Das heißt also, wirwollen, dass der Klimaschutz bei dieser Interessenabwä-gung eine stärkere Rolle spielt, als das bislang der Fallist. Ich glaube, dass wir hier durchaus zu einem Konsensfinden können.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18587

Stephan Thomae

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Einen Punkt, den Sie in Ihrem Antrag fordern, werdenSie in unserer Vorlage nicht finden, nämlich die Absen-kung der Modernisierungsumlage von 11 auf 9 Prozent.Wir sind der Meinung, dass sich die 11-Prozent-Rege-lung bewährt hat, dass sie nicht angetastet werden sollte.Wir glauben, dass diese Regelung einen ausgewogenenAusgleich zwischen Mieter- und Vermieterinteressendarstellt; denn auch der Mieter wird von solchen Sanie-rungsmaßnahmen dadurch profitieren, dass seine Heiz-kosten, also die Nebenkosten, sinken. Dies ist aus unse-rer Sicht ein gerechter Ausgleich. Wir denken vor allem,dass eine Absenkung auf 9 Prozent ein falsches Signalwäre, weil es den Anreiz zur Durchführung von Sanie-rungsmaßnahmen nicht erhöht, sondern senkt, weil sichdie Zeit der Refinanzierung der Investitionsmaßnahmeverlängern würde. Wir glauben, dass es im Sinne desKlimaschutzes sinnvoll ist, die 11-Prozent-Regel beizu-behalten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

In Ihrem Antrag steht, dass der Mieter auch dann einMinderungsrecht haben sollte, wenn Vermieter gesetz-lich vorgeschriebene Energieeffizienzstandards für denGebäudebereich nicht umsetzen. Als Zivilrechtler sollteman den Blick auf Sinn und Zweck der Mietminderungs-möglichkeit lenken. Mietminderungen sind laut BGBimmer dann möglich, wenn die Mietsache einen Mangelaufweist, der die Tauglichkeit zum vertragsgemäßen Ge-brauch der Mietsache aufhebt oder mindert. Das ist abernicht der Fall, wenn nur Energieeffizienzstandards nichteingehalten werden, die sich auch ändern können. EineMietminderung wäre nur dann möglich, wenn Vermieterund Mieter im Mietvertrag vereinbart haben, dass derVermieter die Mietsache an sich ändernde Energieeffizi-enzstandards anpassen muss. Nur, dann wird der Ver-mieter sagen: Dann will ich aber auch die Miethöhe an-passen. Das kann für den sozial schwachen Mieter eineHärte darstellen, die ihn treffen würde. Deswegen binich der Meinung: Sie sollten unter sozialen Gesichts-punkten noch einmal überdenken, ob dieser Vorschlagdie richtige Gewichtung zwischen Klimaschutz und so-zialer Ausgewogenheit darstellt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

So weit sich Ihr Antrag mit Themen des Städtebausbefasst, halten wir an unserer Strategie „Fordern, För-dern, Informieren – Marktkräfte stärken“ fest. Wir habenals Ziel formuliert, dass wir ab 2020 eine klimaneutraleBauweise erreichen wollen. Dabei setzen wir nicht aufZwang, sondern auf Anreize, während Sie in Ihrem An-trag die Energiewende durch Zwangsmaßnahmen errei-chen wollen. Das ist nicht unsere Herangehensweise. Siehaben in Ihrem Antrag zum Beispiel gefordert, diezwangsweise Einführung von Energieeinsparstandardsim Gebäudebereich oder verpflichtende bedarfsorien-tierte Energieausweise einzuführen. Wir glauben, dassdas nicht zum Ziel führt.

Interessant ist, dass Sie in Ihrem Antrag – damitkomme ich zum Schluss – sehr vorsichtig mit dem be-reits von der Bundesregierung beschlossenen Gesetz zursteuerlichen Förderung der energetischen Gebäudesanie-rung umgehen. Warum sind Sie hier so vorsichtig? Das

ist auffällig. Sie wissen, dass es dabei auch auf den Bun-desrat ankommt.

In diesem Zusammenhang ein mahnendes Wort: Dierot-grün geführten Länder sind hier die Blockierer. Wirsind sehr gespannt, wie sich die Bundesländer bei dernächsten Runde des Vermittlungsausschusses AnfangFebruar verhalten werden. Darauf kommt es an. Dannwird die Stunde der Wahrheit schlagen, ob Rot-Grün eswirklich ernst meint mit der Energiewende im Gebäude-sanierungsbereich.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Beck?

Stephan Thomae (FDP):Sehr gerne, Herr Kollege Beck.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Da ich im Gegensatz zu Ihnen das große Vergnügen

habe, diesem Ausschuss anzugehören, möchte ich gernewissen, was es für eine merkwürdige Strategie der Bun-desregierung ist, den Vermittlungsausschuss anzurufenund dann der Länderseite keinerlei Angebote zu unter-breiten.

Sie wissen genau, dass die Länder den Vermittlungs-ausschuss angerufen haben, weil sie sagen: In bestimm-ten Kommunen und in manchen Ländern werden wir,wenn wir die Schuldenbremse einhalten oder haushalte-risch noch in der kommunalen Selbstverwaltung bleibenwollen, einen Ausgleich für die Steuerausfälle benöti-gen. Bislang haben Sie aber noch keinen einzigen Centals Angebot auf den Tisch gelegt.

Wenn man ein Vermittlungsausschussverfahren ein-leitet, muss man der anderen Seite doch ein Angebot ma-chen, zumal das Gesetz bereits einmal im Bundesratdurchgefallen ist. Wir wollen ja ein Ergebnis, aber Siemüssen den Kommunen helfen, die in der Zwangsver-waltung sind, und den Ländern, die die Schuldenbremseanders nicht einhalten können.

Stephan Thomae (FDP):Herr Kollege Beck, ich denke, dass Sie gerade ver-

schiedene Punkte zusammenwerfen. Es ist doch so, dassbeide Seiten dem Vermittlungsausschuss Angebote un-terbreiten müssen. Warten Sie gespannt ab, was AnfangFebruar von unserer Seite vorgelegt werden wird. Aberauch Rot-Grün muss zeigen, dass es in dem hier ange-sprochenen Punkt bei den Ländern – auch bei denen, anderen Regierung Sie beteiligt sind – Bewegung gibt.Hier kann Rot-Grün zeigen, ob es bereit ist, sich zu be-wegen. Es kommt auf beide Seiten an.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wir haben Bewegung angeboten!)

Warten wir einfach ab, was sich Anfang Februar ergibt.Wir sind gespannt, was von Ihrer Seite kommt.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

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18588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, Ihre Redezeit ist schon abgelaufen,

aber der Kollege Mücke möchte auch noch eine kurzeErläuterung dazwischenschieben. Er kann eine Zwi-schenbemerkung machen.

(Florian Pronold [SPD]: Zur Erweiterung derRedezeit! Wie durchsichtig! Schämen Siesich! – Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sehr kreativ! – Gegenruf des Abg.Patrick Döring [FDP]: Es gibt parlamentari-sche Gepflogenheiten, und da muss man sichnicht schämen, wenn man die in Anspruchnimmt!)

Kollege Mücke, bitte.

Jan Mücke (FDP):Herr Kollege Thomae, stimmen Sie mir zu, dass der

Klimaschutz, der gerade für die Grünen-Fraktion sehrwichtig ist, eine gesamtstaatliche Aufgabe ist und dasses deshalb nicht nur die Aufgabe der Bundesregierungsein kann, für die steuerliche Förderung der energeti-schen Gebäudesanierung zu sorgen, sondern dass esvielmehr auch eine Aufgabe der Länder und der Kom-munen ist?

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege Thomae, Sie könnten doch jetzt mit ei-

nem kräftigen Ja zu dieser Zwischenfrage Ihre Rede be-enden; denn Ihre Redezeit ist ja abgelaufen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Stephan Thomae (FDP):Ich sehe schon das Minuszeichen bei mir am Pult. Ich

kann das nur unterstreichen, was Kollege Mücke gesagthat. Es handelt sich um eine gemeinsame Aufgabe vonuns allen, von Bund und Ländern.

(Abg. Jan Mücke [FDP] begibt sich wieder zurRegierungsbank – Zurufe von der SPD: He!Hallo! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So viel zu den parlamentari-schen Gepflogenheiten!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herr Kollege, Sie müssen schon noch dableiben.

Stephan Thomae (FDP):Alle Seiten haben daran mitzuwirken, Bund und Län-

der. Ich hoffe, dass Anfang Februar im Vermittlungsaus-schuss ein Ergebnis erzielt werden kann, an dem auchRot-Grün mitwirkt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Florian Pronold [SPD]: Ist euch das Manövernicht selber peinlich?)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Herzlichen Dank. – Nun hat Kollegin Heidrun Bluhm

für die Fraktion Die Linke das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Heidrun Bluhm (DIE LINKE):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Frau Wagner, herzlichen Dank, dass Sie diesenAntrag heute so zeitnah unserem Antrag hinterherschie-ben, über den wir am 16. Dezember letzten Jahres hierdebattiert haben. Ich kann Ihnen sagen: Unsere Unter-stützung für Ihren Antrag werden Sie bekommen; dennin wesentlichen Teilen haben wir in unseren Anträgendieselben Ansätze. Vor allem was die Verbindung derThemen Klimaschutz, Demografie und sozialer Mieter-schutz betrifft, sind wir sehr nah beieinander. Deshalbkönnen Sie mit unserer Unterstützung rechnen.

Herr Thomae, Sie haben vorhin zwar sehr eindrucks-voll deutlich gemacht, dass Sie im Laufe der Diskussiondes Referentenentwurfs vermutlich zu gemeinsamenPositionen mit den Grünen und dann gegebenenfallsauch mit uns kommen werden. Ich traue Ihnen jedochnicht über den Weg; das will ich hier ganz deutlich sa-gen. Die Rede, die Sie am 16. Dezember letzten Jahresgehalten haben, als ich unseren Antrag hier verteidigthabe, war eine völlig andere, obwohl der Inhalt der bei-den Anträge sehr nah beieinanderliegt. Deswegen traueich Ihnen nicht. Wir sind sehr gespannt, wie sich dasGanze nun in den Ausschüssen gestalten wird.

Es gibt allerdings – das will ich ebenfalls hier deutlichmachen – ein paar kleine Unterschiede zwischen unserenAnträgen: Unser Antrag ist nicht nur kürzer – das sagtnichts über die Qualität aus –, sondern unterscheidet sichauch im Hinblick auf bestimmte wesentliche Positionen.Ich will hier auf das Thema Modernisierungsumlage ein-gehen.

Wir fordern in unserem Antrag eine Absenkung derModernisierungsumlage auf maximal 5 Prozent derMiete und sind der Auffassung, dass die Möglichkeit ih-rer Erhebung jeweils an die Dauer der Abschreibung derbei der Klimaschutzmaßnahme oder beim altersgerech-ten Umbau verwendeten Bauteile gebunden werdensollte. Wir sind nämlich der Auffassung, dass eine Ver-bindung zur Abschreibung viel fairer und gerechter ist.Ich habe gerade im Beitrag von Herrn Egloff gehört,dass man darüber nachdenken sollte, die Zahlung derUmlage zeitlich zu begrenzen; das begrüßen wir aus-drücklich. Denn es ist in der Tat so: Nach der neunjähri-gen Abschreibung von jährlich 11 Prozent hat bisherkein Vermieter seine Miete angepasst.

(Beifall bei der LINKEN)

Wie wir der Presse entnehmen können, hat die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen, wie auch wir, ihren Antragmit dem Deutschen Mieterbund abgestimmt. Der Mie-terbund sagt zu dieser Frage, dass die Modernisierungs-umlage eigentlich systemfremd ist und überhaupt nichtzu diesem Thema passt; er möchte, dass sie ganz gestri-chen wird. An dieser Stelle sind wir ein bisschen näher

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18589

Heidrun Bluhm

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am Mieterbund; aber ich denke, da kann man sich annä-hern.

Wir gehen allerdings davon aus, dass eine gesetzlicheDeckelung der Modernisierungsumlage ohnehin nur dortpraktikabel ist, wo der Markt Mietsteigerungen in derentsprechenden Größenordnung zulässt. Aber geradedort ist es notwendig, Mieterinnen und Mieter vor Miet-wucher und vor allem vor einer Verdrängung aus nach-gefragten Wohnlagen zu schützen.

Wir wählen in unserem Antrag eine andere Rangfolgeals die Grünen, aber letztendlich sind unsere Grundaus-sagen mit denen der Grünen identisch: Weder der alters-gerechte Umbau noch die energetische Sanierung desWohnungsbestandes in Deutschland können ohne dasEngagement aller am Prozess beteiligten Akteure gelin-gen: der Staat, die Vermieter, die Mieter und Mieterin-nen. Ich nenne den Staat zuerst, weil die älter werdendeBevölkerung und der Klimawandel Herausforderungensind, vor denen die Gesellschaft als Ganzes steht, wes-halb zuerst politische Konzepte und politisches Handelngefordert sind. Weil in Deutschland weit mehr als50 Millionen Menschen in Mietwohnungen leben, alsomehr als die Hälfte unserer Bevölkerung davon betroffenist, müssen wir das als eine gesamtstaatliche Aufgabeannehmen,

(Beifall bei der LINKEN)

übrigens auch im Interesse Tausender Vermieter, die alsEigentümer auf verlässliche, langfristige ordnungspoliti-sche und haushalterische Rahmenbedingungen, aberauch auf sozialen Frieden und eine stabile Mieterschaftangewiesen sind, wenn wir von ihnen verlangen, in ihreWohnungsbestände kräftig zu investieren.

Wohnungen sind aber keine gewöhnliche Ware, dieman dem sogenannten freien Spiel der Kräfte des Mark-tes überlassen darf. Wohnen ist ein elementares Grund-bedürfnis aller Menschen; es gesetzlich zu schützen undzu sichern, ist also eine vordringliche Aufgabe der öf-fentlichen Daseinsvorsorge bzw. des Staates.

(Beifall bei der LINKEN)

Märkte, auch der Wohnungsmarkt in Deutschland,werden sich nicht ohne gesellschaftlichen Druck verän-dern und die Herausforderungen der Zukunft annehmen.Deshalb führt kein Weg daran vorbei: Der Staat muss dierechtlichen Rahmenbedingungen für einen beständigenInteressenausgleich zwischen Mietern und Vermieternschaffen.

Ein letztes Wort an die FDP. Der Referentenentwurfist immer noch ein Referentenentwurf. Wir warten seitvielen Monaten und sind sehr gespannt, wann darausendlich eine Gesetzesgrundlage wird. Aber vielleicht istdas auch gar nicht notwendig: Nachdem unsere Anträgevorliegen, reicht es vielleicht aus, sich daran abzuarbei-ten.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Karl Holmeier für die CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Karl Holmeier (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!„Wohnraum in Deutschland zukunftsfähig machen“: Ichglaube, das ist das Ziel von uns allen. Unsere Wege zurErreichung dieses Ziels unterscheiden sich jedoch ge-waltig. Der Weg der christlich-liberalen Koalition istrealistisch und wird daher auch zum Ziel führen. DerWeg, den die Grünen mit dem vorliegenden Antrag be-schreiten wollen, führt dagegen in die Irre.

Die zahlreichen von Ihnen vorgeschlagenen Maßnah-men sind vielleicht wünschenswert, aber in keiner Weiserealistisch. Zwar sind all Ihre Feststellungen zur demo-grafischen Entwicklung, zur dringenden Notwendigkeitder energetischen Sanierung des Wohnungsbestandesund zur Vermeidung sozialer Konflikte richtig; aber dieSchlussfolgerungen daraus sind nicht konsequent undblenden die Wirklichkeit aus. Sie werden soziale Kon-flikte nicht vermeiden, wenn Sie die Bürgerinnen undBürger bei den Sanierungsmaßnahmen nicht mitnehmen.Außerdem ist mir schleierhaft, wie Sie mit Ihren Vor-schlägen jemals einen ausgeglichenen Staatshaushalt er-reichen wollen.

Die Maßnahmen zur Steigerung der Gebäudeeffizienzmüssen sich an drei wesentlichen Kriterien orientieren:Sie müssen vom Bundeshaushalt finanzierbar sein, ohnedie nachfolgenden Generationen zu belasten. Sie dürfendie Menschen nicht überfordern, das heißt, die Standardsdürfen nicht zu hoch sein, und es darf keinen Sanie-rungszwang geben. Die Maßnahmen müssen so angelegtsein, dass die Häuslebauer, Hauseigentümer und Mieterin der Lage sind, sich die Modernisierung zu leisten.

Das Energiekonzept der Bundesregierung und die da-rauf aufbauenden Maßnahmen folgen diesem Dreiklang.Die christlich-liberale Koalition handelt mit Augenmaß,sie handelt bürgerfreundlich, und sie handelt vor allemverantwortungsbewusst mit Blick auf die nachfolgendenGenerationen. Dies ist aus meiner Sicht das beste Re-zept, um sozialen Konflikten im Mietwohnungsbereichvorzubeugen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-wie des Abg. Stephan Thomae [FDP])

Was machen wir konkret? Erstens. Wir haben be-schlossen, das erfolgreiche CO2-Gebäudesanierungspro-gramm von 2012 bis 2014 trotz schwieriger Haushalts-zeiten jeweils mit einem Volumen von circa 1,5 Mil-liarden Euro fortzuführen. Ich gehe davon aus, dass dasGeld im Klima- und Energiefonds zusammenkommt.

(Florian Pronold [SPD]: Ja?)

Mit diesem Geld werden wir zinsverbilligte Kredite so-wie Zuschüsse für die energetische Gebäudesanierungdurch die bundeseigene KfW bereitstellen. Die Höhe der

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18590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Karl Holmeier

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Investitionszuschüsse der KfW wurde mit Wirkung zum1. Januar 2012 auf bis zu 20 Prozent der Investitions-summe erhöht. Auch der Zuschuss für Einzelmaßnah-men steigt von 5 Prozent auf 7,5 Prozent.

Zweitens. Seit Januar gibt es das neue KfW-Pro-gramm „Energetische Stadtsanierung“, für das der Bundeinen Betrag von 92 Millionen Euro zur Verfügungstellt.

(Florian Pronold [SPD]: Ich dachte Städte-bauförderung? Sie sollten sich einmal ent-scheiden!)

Damit sollen integrierte Quartierskonzepte zur Steige-rung der Energieeffizienz des Gebäudebestands und derInfrastruktur im Bereich der Wärmeversorgung entwi-ckelt und umgesetzt werden.

Drittens. Das erfolgreiche Förderprogramm „Alters-gerecht Umbauen“ wird fortgesetzt. Die KfW setzt hier-für eigene Mittel ein und unterstützt damit die Initiativeder christlich-liberalen Koalition,

(Florian Pronold [SPD]: Die die Mittel ausdem Haushalt gestrichen hat! Das ist der Ham-mer!)

Modernisierungsmaßnahmen zum Abbau von Barrierenin Häusern und Wohnungen voranzutreiben. Damit wirdman der demografischen Entwicklung gerecht und si-chert außerdem wichtige Arbeitsplätze in der mittelstän-dischen Bauwirtschaft und im Handwerk. Insgesamtschafft es die KfW mit dem Geld, das ihr der Bund zurVerfügung stellt, die Förderung für Sanierungen vonWohngebäuden auszuweiten und das Engagement beider Bewältigung des Klimawandels und der demografi-schen Herausforderungen zu intensivieren.

Viertens. Wir setzen uns massiv dafür ein, dass essteuerliche Anreize für energetische Sanierungs- bzw.Einzelsanierungsmaßnahmen gibt. Hier sind wir jedochauf die Kooperation der SPD-geführten Bundesländerangewiesen. Die Verhandlungen laufen derzeit noch. Siemüssen sobald wie möglich zum Abschluss kommen.

Fünftens. Auch im Bereich des Mietrechts tut sich et-was. Die christlich-liberale Koalition hat in ihrem Koali-tionsvertrag vereinbart, die energetische Sanierung beibestehenden Wohnraummietverträgen zu erleichtern.Mit dem Mietrechtsänderungsgesetz, das sich derzeitnoch in der Ressortabstimmung befindet, setzen wirdiese Vorgabe des Koalitionsvertrages um. So werdenbeispielsweise Mieter künftig für eine Zeit von drei Mo-naten energetische Sanierungs- und Modernisierungs-maßnahmen dulden müssen, ohne die Miete mindern zukönnen. Sie werden die Sanierung auch nicht mehr mitdem Einwand der wirtschaftlichen Härte verzögern kön-nen. Außerdem werden wir mit dem Gesetz Contracting-Modelle im Mietwohnungsbereich ermöglichen. Insge-samt sind wir mit unseren Maßnahmen auf einem gutenWeg zur Schaffung eines klimaneutralen Gebäudebe-stands, und zwar ohne Zwang, ohne starre und unrealisti-sche Zielsetzungen und mit Augenmaß im Hinblick aufdie Finanzierbarkeit.

Der Antrag der Grünen erfüllt diese Kriterien leidernicht. Er ist ein Sammelsurium von Wunschmaßnahmenohne Bezug zur Realität. Damit werden Sie es sichernicht schaffen, den Wohnraum in Deutschland zukunfts-fähig zu machen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist schade! Herr Kollege, jetzt binich total enttäuscht!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich Kollegen Michael Groß für die SPD-Fraktiondas Wort.

(Beifall bei der SPD)

Michael Groß (SPD):Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habebei Herrn Holmeier dreimal das Wort „Zukunftsfähig-keit“ gehört. Ich glaube, darüber haben wir heute alle ge-sprochen. Aber Ihr Weg ist ein völlig anderer. Sie zeich-nen sich beim CO2-Gebäudesanierungsprogramm wieauch bei dem Programm „Soziale Stadt“ durch Unzuver-lässigkeit und Unkalkulierbarkeit aus. Sie fahren dieProgramme finanziell zurück, stocken sie dann wiederauf. Gerade das ist Gift für diejenigen vor Ort, die inves-tieren und etwas für ihre Wohnung tun wollen.

Wir haben einen völlig anderen Weg gewählt als den,den Sie beschritten haben und beschreiten. Es ist klar:Wir müssen die Umwelt schützen. Wir müssen denWohnraum bezahlbar halten. Wir müssen ihn vor allenDingen barrierefrei bzw. -arm gestalten. Wir müssen denGebäudebestand sanieren, um die Klimaschutzziele zuerreichen.

Wir wissen heute: Wer saniert, saniert nicht nur ener-getisch. Die Lebensdauer von Heizungsanlagen, Fassa-den, Dächern und Fenstern sowie die Verbesserung derWohnqualität spielen ebenso eine Rolle. Wir begrüßen,dass von vielen Eigentümern auch altersgerecht und bar-rierearm umgebaut wird. Wir haben vorhin gehört, dassdie Kreditanstalt für Wiederaufbau das Programm „Al-tersgerecht Umbauen“ weiterführt. Sie hätten die Haus-haltsmittel aufstocken müssen, um hier den Anforderun-gen gerecht zu werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die simple Rechnung, dass Mieter und Eigentümervon einer energetischen Sanierung profitieren, geht nichtimmer auf. Ebenso erhält der Vermieter nicht in jederRegion durch die Sanierung einen entsprechenden Mehr-wert für seine Immobilie.

Wir beobachten in Wachstumsregionen, dass dieMieten nach vorgenommenen Sanierungen explodierenkönnen. Die heute kalkulierten Einsparungen für denMieter bei den Heizkosten sind so geringfügig, dass siebei 70-prozentigen Mietsteigerungen kaum mehr ins Ge-wicht fallen. Es handelt sich nicht mehr nur um Einzel-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18591

Michael Groß

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(D)(B)

fälle. Auch wenn man massive Steigerungen der Ener-giepreise berücksichtigt, können diese Mehrbelastungenlangfristig nicht kompensiert werden. In anderen Regio-nen sind noch nicht einmal Mieterhöhungen von wenigerals 1 Euro am Markt durchsetzbar.

(Beifall bei der SPD)

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf die Ein-kommenssituation in Deutschland zu achten. 1,4 Millio-nen Menschen müssen ihre Einkommen aufstocken. DieOECD hat gerade festgestellt, dass besonders die unte-ren Einkommen in Deutschland gesunken sind. Deshalbfordern wir die Wiedereinführung der Heizkostenpau-schale beim Wohngeld, die die Koalition abgeschaffthat.

Aber wer Energie spart, muss dafür auch belohnt wer-den. Wenn sich Mieter ihre energetisch sanierten Woh-nungen nicht mehr leisten können, wenn Mieter durchihre geringeren Einkommen in energetisch schlechtereWohnungen gedrängt werden, so ist das ein Zustand, denwir nicht akzeptieren können und wollen.

(Beifall bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!)

Die sozialen Auswirkungen der Energiepolitik müs-sen mehr in den Mittelpunkt gerückt werden. Wir wollenkeine Stadtteile, in denen ausschließlich Menschen le-ben, die sich bezahlbare gute Wohnungen nicht mehrleisten können. Wir brauchen realisierbare Zielsetzun-gen, und eine komplexe Aufgabe muss in Gesamtzusam-menhängen betrachtet und gelöst werden.

Für eine schnelle und wirksame energetische Verbes-serung des Gebäudebestandes ist es wichtig, erstens we-sentlich stärkere Anreize für kleinteilige Maßnahmenmit geringem finanziellen Aufwand zu setzen, zweitensKontinuität und Planbarkeit bei den Zielsetzungen her-zustellen und mindestens 2 Milliarden Euro für die KfW-Förderung im Haushalt mittelfristig bereitzustellen. Wirfordern drittens, den Quartiersbezug in den Städten zubeschleunigen, um abgestimmt die notwendigen Sanie-rungen und eine zukunftsfähige Energieversorgung imZusammenhang umzusetzen.

Die Vergangenheit hat gezeigt, das Mietrecht hat einesoziale Funktion. Ob das Mietrecht aber auch eine ener-getische Funktion haben kann, muss geprüft werden. DerAntrag der Grünen enthält 40 Forderungen, elf zumMietrecht. Die Summe der Forderungen ist hinsichtlichder Folgen erst abzuschätzen. Wir haben Sympathie da-für. Aber wir werden es prüfen.

Wir wollen Mieter schützen, Eigentümer motivierenund die Klimaschutzziele erreichen. Das Mietrecht ist si-cher nur ein Baustein auf dem großen Baufeld und nichtdie tragende Mauer.

Vielen Dank und Glück auf!

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wir die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/7983 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien(22. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten AnsgarHeveling, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), PeterAltmaier, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reiner Deutschmann,Burkhardt Müller-Sönksen, Jimmy Schulz, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Digitalisierungsoffensive für unser kulturel-les Erbe beginnen

– zu dem Antrag der Abgeordneten SiegmundEhrmann, Martin Dörmann, Petra Ernstberger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD

„Kulturelles Erbe 2.0“ – Digitalisierung vonKulturgütern beschleunigen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. LukreziaJochimsen, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Die Digitalisierung des kulturellen Erbes alsgesamtstaatliche Aufgabe umsetzen

– zu dem Antrag der Abgeordneten AgnesKrumwiede, Ekin Deligöz, Katja Dörner, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Rechtssicherheit für verwaiste Werke her-stellen und den Ausbau der Deutschen Digi-talen Bibliothek auf ein solides Fundamentstellen

– Drucksachen 17/6315, 17/6296, 17/6096, 17/8164,17/8486 –

Berichterstattung:Abgeordnete Ansgar HevelingSiegmund EhrmannReiner DeutschmannDr. Lukrezia JochimsenAgnes Krumwiede

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile AnsgarHeveling für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Page 128: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

18592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

(A) (C)

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Ansgar Heveling (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

Thema, über das wir heute diskutieren, hat in der Tages-ordnung den eindrucksvollen Titel „Digitalisierungsof-fensive für unser kulturelles Erbe beginnen“. Wir bera-ten über eine Reihe von Anträgen aller Fraktionen, waszeigt, dass das Thema zwar im Detail unterschiedlich ge-sehen und bewertet wird, dass wir im Grunde aber aufeinen gemeinsamen Nenner kommen: Wir alle sind unsdarüber einig – lassen Sie mich meine Rede darum mitdiesem betont positiven und diplomatischen Einstieg be-ginnen –, dass die Digitalisierung unseres kulturellen Er-bes – dabei handelt es sich unter anderem um Filme,Buchbestände, Kunstwerke und weitere kostbare Expo-nate – in den kommenden Jahren weiter ausgebaut undvorangetrieben werden muss.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es besteht kein Zweifel daran – ich denke, dass ich hierfür alle sprechen kann –, dass es in unser aller Sinne ist,dass die Menschen in unserer Gesellschaft, dass dieWirtschaft, die Wissenschaft, die Forschung und die Bil-dungseinrichtungen online auf unser Kulturgut zugreifenkönnen.

Den Weg der Digitalisierung haben wir erfolgreicheingeschlagen, und zwar mit dem nationalen Digitalisie-rungsprojekt „Deutsche Digitale Bibliothek“, kurz DDB,das noch in diesem Jahr online gehen soll. Mit diesemfaszinierenden Großprojekt wollen wir unser über dieJahrhunderte angesammeltes kulturelles Erbe mit unse-rer digitalen Zukunft verbinden. Was die DDB bisher ge-leistet hat, haben uns die daran beteiligten Experten ges-tern in einem öffentlichen Fachgespräch im Kulturaus-schuss ausführlich dargelegt. Sie haben uns aber auchauf Desiderate hingewiesen, mit denen wir uns zeitnahauseinandersetzen wollen und müssen.

Bei dem Fachgespräch gestern hat sich auch gezeigt,dass das Thema Digitalisierung nicht allein unter demtechnischen Gesichtspunkt betrachtet werden darf. Wirbrauchen auch eine inhaltliche Strategie für den Umgangmit den zu digitalisierenden Werken. Dabei ist klar: Mitder DDB, die durch das zuständige Kompetenznetzwerk,bestehend aus Bund, Ländern und Kommunen, koordi-niert wird, liegt schon ein umfassendes und klar definier-tes Digitalisierungskonzept vor, das nun weiter ausge-baut und mit weiterem digitalen Content bestücktwerden muss, damit diese Objekte auch in die „Euro-peana“ einfließen können.

Schon heute sind 6 Millionen Objekte in die DDBeingepflegt. Der Beitrag, den Deutschland bisher für diedigitale Bibliothek erbracht hat, ist beachtlich. So wur-den bereits 22 000 Buchtitel aus dem 16. Jahrhundert,30 000 aus dem 17. Jahrhundert und 40 000 aus dem18. Jahrhundert erfolgreich digitalisiert. Das vermeldeteder Deutsche Bibliotheksverband in einer 2011 heraus-gegebenen Fachzeitschrift.

Eine große Aufgabe, die in den nächsten Jahren an-steht, ist die Digitalisierung von Beständen aus dem19. und dem 20. Jahrhundert, darunter kostbare Zeit-schriften und Zeitungen. Diese und andere Exponate

müssen möglichst zeitnah bearbeitet werden, da sie sichteilweise schon in einem schlechten Zustand befindenoder sogar vom Zerfall bedroht sind. Hinsichtlich dernoch zu realisierenden Projekte kommen wir nicht um-hin – ich habe eingangs schon darauf hingewiesen, dasswir nicht nur die technische, sondern auch die inhaltlicheSeite betrachten müssen –, eine sach- und fachgerechteAuswahl vorzunehmen. Exponate, die sich in einem be-sonders schlechten Zustand befinden oder von hohemInteresse für Wissenschaft und Forschung sind, müssenprioritär behandelt werden. Gleichzeitig stehen wir aberauch vor der Frage, welche Speichermedien genutzt wer-den müssen, um eine Langzeitarchivierung sicherzustel-len.

(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Richtig!)

Um das umfassende Digitalisierungsprojekt auf natio-naler Ebene zu gewährleisten, muss aber nicht nur eineverlässliche finanzielle Basis geschaffen werden, die dasgesamtstaatliche Vorhaben auf einen festen Sockel stellt,sondern es muss auch darum gehen, das Urheberrecht imZuge der Massendigitalisierung zu wahren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Seit 1997 wurden bereits über 100 Millionen Euro indie Digitalisierung von Kulturgut investiert. Vor allemdie Deutsche Forschungsgemeinschaft stellte einen gro-ßen Anteil finanzieller Mittel zur Verfügung. Um die Di-gitalisierung weiter auszubauen, brauchen die an derDDB beteiligten Institutionen Planungssicherheit; dennnur dann können sie die weiteren Projekte schnellstmög-lich angehen und umsetzen.

Angesichts der noch anstehenden Aufgaben stehenwir als CDU/CSU und FDP einer Kooperation mit pri-vatwirtschaftlichen Einrichtungen grundsätzlich positivgegenüber. Die öffentliche Hand allein wird ohne dieUnterstützung von außen im Sinne einer Public-Private-Partnership dieser kulturpolitischen Herausforderung si-cherlich gar nicht gerecht werden können. Die Koopera-tion zwischen Google und der Bayerischen Staatsbiblio-thek sei an dieser Stelle als Beispiel erwähnt.

(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Hier müssen natürlich staatliche gegen kommerzielle In-teressen abgewogen werden. Aber, ich denke, diesesProjekt in Bayern ist ein sehr gelungenes Beispiel.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Bei einem Teil der zu digitalisierenden Werke handeltes sich um urheberrechtlich geschützte Exponate, derenRechteinhaber nicht mehr auffindbar sind oder die alsvergriffen gelten, die sogenannten verwaisten oder ver-griffenen Werke. Es ist richtig – das haben wir in allenDiskussionen hierzu festgestellt –, dass es sich hierbeium ein Thema handelt, das wir nicht leicht in den Griffbekommen werden. Das ist kein leichtes Unterfangen.Die erforderliche Rechteklärung ist faktisch schwierigoder gar unmöglich. Dennoch sehen wir als CDU/CSU-Fraktion die Notwendigkeit, einen gerechten Ausgleichzwischen Rechteinhabern und Nutzern zu finden, zum

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Ansgar Heveling

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Beispiel anlehnend an das bewährte System der Verwer-tungsgesellschaften.

Ich hoffe, dass das Onlineportal der Deutschen Digi-talen Bibliothek eine große Bereicherung für uns allesein wird und viele Menschen in Zukunft auf dieses An-gebot zugreifen können und werden, nicht zuletzt des-wegen, um anschließend den Weg in eine Kultureinrich-tung zu finden.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das gehört dazu!)

Denn trotz unseres digitalen Fortschritts vermag derBildschirm nicht alles. Er vermag vor allem nicht die un-mittelbare ästhetische Wirkung unserer vielfältigen Kunst-und Kulturschätze zu ersetzen.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Ulrich Kelber [SPD])

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Siegmund Ehrmann für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Siegmund Ehrmann (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Heveling, dievorliegenden Anträge belegen in der Tat, dass sich alleFraktionen sehr intensiv mit dem Thema auseinanderge-setzt haben. Ich gebe Ihnen recht, dass zumindest die be-schreibenden Teile der Anträge starke Übereinstimmun-gen aufweisen. Bei den vorgeschlagenen Konsequenzengibt es gleichwohl Differenzen. Darauf möchte ich gerneeingehen; denn zu viel Harmonie würde die sachlich not-wendige Reibung behindern.

(Beifall der Abg. Ulrich Kelber [SPD],Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE] undDr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN])

Für mich persönlich gab es trotz der intensiven Be-schäftigung mit diesem Thema in der letzten Wochenoch zwei Erfahrungen, die mich besonders beeindruckthaben; diese haben wir gemeinsam erlebt. Das war zumeinen der Besuch im Digitalisierungszentrum der Staats-bibliothek zu Berlin. Dort konnten wir hochkomfortabletechnische Arbeitsplätze mit Innovationscharakter erle-ben. Das war beeindruckend. Die Menschen, die dort ar-beiten, sind engagiert und gehen einer sehr verantwor-tungsvollen Tätigkeit nach. Wir bekamen ein Gespürdafür, was nicht nur technologisch, sondern auch anklassischem Handling notwendig ist.

Das andere, das mich bzw. uns beeindruckt hat, wargestern die Präsentation der Vertreter der Fraunhofer-Gesellschaft, die das Portal der Deutschen Digitalen Bi-bliothek vorgestellt haben. Das Portal hat ein ausgespro-chen ansprechendes Design und ist überdies von derFunktionalität her überzeugend. Das ist sehr beeindru-ckend. Die Expertenanhörung gestern hat unsere Ein-

schätzung hinsichtlich der Entscheidung über die An-träge abgerundet.

Die Anstrengungen im Bereich der Digitalisierungsind nichts Neues. Erwähnt wurde, dass von der Deut-schen Forschungsgemeinschaft seit vielen Jahren An-strengungen unternommen worden sind, um insbeson-dere Bestände zu erhalten. Eine neue Qualität istentstanden, als „Europeana“ gegründet wurde und auchwir in unserem Land im Eckpunktepapier zur Vereinba-rung zwischen dem Bund und den Ländern Verabredun-gen getroffen haben, die Digitalisierung der kulturellenGüter vorzunehmen, sie in das Web einzustellen und soden Zugang zu ermöglichen.

Die Digitalisierung der kulturellen Güter ist klassi-scherweise eigentlich Aufgabe der Kulturpolitik. Es gehtdarum, sich mit dem kulturellen Erbe auseinanderzuset-zen, die Dinge zu archivieren, zu sichern, zu bewahren,bereitzustellen und zu vermitteln. Das ist Ausdruck deröffentlichen Verantwortung gegenüber öffentlichen Gü-tern und der Öffentlichkeit. Wir stellen die öffentlicheInfrastruktur zur Verfügung. Das ist Aufgabe des Staatesauf allen Ebenen, nicht nur in der analogen, sondernauch in der digitalen Welt. Hierfür sind jetzt die Voraus-setzungen geschaffen.

(Beifall bei der SPD)

Wo stehen wir? Ich möchte auf drei Punkte eingehen:erstens auf das Portal, zweitens auf die Strategie unddrittens auf die Frage, die Herr Heveling angesprochenhat: Wie gehen wir eigentlich mit den verwaisten Wer-ken um?

Zunächst zur Deutschen Digitalen Bibliothek. Ichschildere Ihnen, was wir gestern bei unserem Treffen mitden hochkompetenten Leuten von der Fraunhofer-Ge-sellschaft erlebt haben. 30 Ingenieure haben über andert-halb Jahre etwas unglaublich Komplexes, was gleich-wohl benutzerfreundlich ist, zusammengebracht. Das isteine Einladung an 30 000 kulturelle Institutionen in un-serem Land, sich in dieses Portal zu begeben und dortVerknüpfungen unter sehr vielen fachlichen Gesichts-punkten herzustellen. Das ist spannend und innovativ.

Meine Überzeugung ist: Dahinter steckt letztendlichetwas, das die Kulturpolitik plastisch erlebbar macht.Dahinter stecken nämlich technologische Innovationenund ökonomische Wertschöpfung. Das ist hochkomplex.Die Forscher und die Entwickler haben uns deutlich ge-macht: Das Ding ist anwendungsreif. Mit dem, was dortentwickelt wurde, haben wir weltweit einen technologi-schen Vorsprung von etwa anderthalb Jahren. Mein drin-gender Appell lautet: Lasst es jetzt tatsächlich in die Flä-che! Ich werde nachher kritisch nachfragen, wie es damitweitergeht. Wir können hier nämlich tatsächlich etwasrealisieren.

Wir haben gesehen, welche Scanner in der Staatsbi-bliothek eingesetzt werden. Wenn Sie sich mit der Frage,wer die Hersteller sind, auseinandersetzen, kommen Siezu dem Ergebnis: Das sind große und mittelständischeUnternehmen aus Österreich und Deutschland, die– wenn Sie sich genauer damit beschäftigen, werden Siedas feststellen – Kooperationspartner aus ganz Europa

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18594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Siegmund Ehrmann

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haben. Das ist ein klassisches Projekt europäischer wirt-schaftlicher Kooperation. Ich glaube, es ist wichtig, Ent-wicklungen, die wir in unserem Land in Kooperation mitanderen zustande bekommen, tatsächlich zum Einsatz zubringen. Dieses Portal ist, wie gesagt, anwendungsreif,und die Menge der integrierten Digitalisate über der kri-tischen Grenze von 6 Millionen ließe dies zu. Wir könn-ten damit in die Anwendung gehen, wenn wir es wollten.Ich frage mich: Wann wird es freigegeben?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifftdie Strategie bzw. die Partizipation. Es ist vorgesehen,dass sich in der ersten Phase 30 große kulturelle undWissenschaftsinstitutionen in dieses Portal begeben. Dasist ein breit angelegtes Angebot. Das kann man nichttop-down, also von oben herab organisieren, sondern damuss motiviert, begleitet und unterstützt werden. Dasschreit danach, dass man Schwerpunkte bildet und Ko-operationspartner einlädt. Das schreit auch nach der ord-nenden Hand, erst recht dann, wenn wir uns die wahn-sinnigen finanziellen Investitionen, die dahinterstecken,vor Augen führen. Hier muss man also Schwerpunktebilden und gewichten.

Das kann der Staat bzw. das können Bund und Ländernicht alleine. Das muss man gemeinsam mit den zustän-digen Akteuren in den Institutionen organisieren. Dafürbrauchen wir Kommunikationsplattformen. Das Netz-werk wurde ja schon gebildet. Aber es ist schwach aus-gestattet. Wir brauchen dort mehr Drive und Unterstüt-zung. Herr Heveling, all Ihre Einlassungen würde ichunterstreichen. Aber wer die Lippen spitzt, muss pfeifen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Genau! – Dr. Konstantin von Notz[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)

Hier sind Sie von der Regierung gefordert.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Beim dritten Punkt wird es besonders spannend. Ichfinde es wirklich abenteuerlich, was Sie in Ihrem Antragschreiben, Herr Heveling; er ist ja vom Juni letzten Jah-res, und das ist schon ein paar Tage her. Die Kernbot-schaft lautet: Die rechtlichen Voraussetzungen werdennun geschaffen. – Toll!

(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Das haben Sie schön herausgearbeitet!)

Das war allerdings im letzten Jahr. Ihre Justizministe-rin hat aber schon ein Jahr zuvor eine Rede gehalten, inder sie einen Gesetzentwurf zum Dritten Korb für denHerbst 2010 angekündigt hat.

Der Staatsminister hat im Herbst 2010 ein Zwölf-Punkte-Programm zu den Kernfragen im Urheberrechtvorgelegt. Unsere Fraktion hat im Oktober 2010 einenGesetzentwurf genau dazu eingebracht. Der DeutscheKulturrat hat heute den dringenden Appell veröffentlicht– auch mit Blick auf die Anhörung von gestern –:

Mensch Leute, das Problem ist drängend. Es kann dochnicht so sein, dass dort nur die Produkte und Kunstwerkedes Mittelalters und des Spätmittelalters präsentiert wer-den. Das wird erst interessant, wenn auch aktuellereDinge – hier reden wir über die gemeinfreien Werke undüber problematische, nicht geklärte Rechtsverhältnisse –eingestellt werden. – Ich frage Sie: Wie gehen Sie mitdiesem Thema um? Sie warten ab!

Sie sagen, dass es hier Konflikte in der Sache gibt.Dazu sage ich nur: Das parlamentarische Handwerks-zeug, mit dem Konflikte gelöst werden, ist ein Gesetz-entwurf, an dem man sich reiben kann.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Konflikte müssen gelöst werden!)

Auf den warten wir. Wo ist er? Das kann ich bei allerNeigung, zu kooperieren und gut zusammenzuarbeiten– dies ist im kulturellen Bereich ausgeprägt –, an dieserStelle nicht verstehen. Ich finde, das ist eine absoluteSchlechtleistung der Regierung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. LukreziaJochimsen [DIE LINKE])

Ich fasse zusammen: Bei diesem Projekt erleben wirein starkes Engagement vieler, die mit unglaublicherKraft, mit Fleiß und mit Ideenreichtum an die Sache he-rangehen. Es gibt dort auch ökonomische Potenziale. Indiesem Zusammenhang verweise ich auf Österreich. DerMarktführer für Scanner in Österreich ist ein Spin-off,eine Ausgründung aus der Technischen UniversitätWien. Es gibt also durchaus eine Plattform dafür, das inunserem Land ökonomisch noch weiter zu stärken. Wirhaben also alle Voraussetzungen dafür, hier sehr erfolg-reich zu agieren.

In der Anhörung ist eines eindeutig geworden: Manerwartet von uns politische Unterstützung. Es geht hiernicht nur um eine verbale Bekundung, sondern ein biss-chen mehr Leidenschaft in der Sache ist notwendig. ImAnalyseteil des Koalitionsantrages sprechen Sie auchnoch davon. Danach schreiben Sie: „Der Deutsche Bun-destag begrüßt“, und Ihr Forderungskatalog enthält fünfschlappe Punkte. Selbst die Dinge, die jetzt weiterentwi-ckelt werden müssen und die Sie hier eingeräumt haben,hätten zum Zeitpunkt, als Sie den Antrag redigiert ha-ben, schon angegangen werden können.

Kurzum: Packen Sie die Dinge an, die ich angespro-chen habe! Dann haben wir wirklich ein gutes gemeinsa-mes Thema.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Reiner Deutschmann für die FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18595

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Reiner Deutschmann (FDP):Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Kolleginnen und Kollegen! Unser kulturelles Erbe istdurchaus fragil. Wird ein Kunstwerk oder ein Schrift-stück durch Wassereinbruch oder Feuer zerstört, ist esfür die Nachwelt unwiederbringlich verloren.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja, speziell in Dresden!)

Auch der Zahn der Zeit nagt an unseren Kulturgütern,verhindert die Nutzung der oftmals jahrhunderte-, wennnicht gar jahrtausendealten Kulturgüter und macht dieArbeit am Original nur unter größtem Aufwand möglich.

Deshalb liegt in der Digitalisierung eine zweifacheChance. Die Politik ist fest entschlossen, das kulturelleErbe Deutschlands zu sichern und gleichzeitig für alle indigitaler Form zugänglich zu machen – natürlich unterWahrung des Urheberrechts. Meine beiden Vorrednerhaben es ja bereits gesagt: Darin sind sich erst einmalalle Fraktionen einig.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dann wird es schwer!)

– Ich glaube nicht.

Erst gestern präsentierte das Fraunhofer-Institut– auch das wurde schon gesagt – die Ausgestaltung derzukünftigen Deutschen Digitalen Bibliothek. Die circa6 Millionen digitalisierten Werke, die bereits vorhandensind, garantieren natürlich, dass es in der zweiten Jahres-hälfte einen guten Start geben kann. Das im Prinzip fer-tiggestellte Portal überzeugte durch eine sehr hohe Funk-tionalität. Es war wirklich beeindruckend, was uns dortvorgeführt wurde.

Wir haben damit international tatsächlich einen Vor-sprung von ein bis zwei Jahren. Diesen Vorsprung soll-ten wir natürlich halten, wenn nicht gar ausbauen. Dasheißt, wir müssen weiter in entsprechender Größenord-nung digitalisieren und natürlich insbesondere auch imLand dafür werben, dass sich weitere Institutionen daranbeteiligen. Diese Institutionen können dabei nur gewin-nen; denn wer heutzutage im Netz nicht gefunden wird,der wird im nächsten oder übernächsten Jahr unter Um-ständen gänzlich von der wissenschaftlichen Landkarteverschwunden sein.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Dann sollten wir die FDP schnell digi-talisieren! Vorsorglich! – Heiterkeit bei derSPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Mein lieber Herr Wieland!

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Antragder SPD-Fraktion konzentriert sich auf die Festlegungeiner nationalen Digitalisierungsstrategie. Eine solcheStrategie ist aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion nichtnotwendig. Dies haben gestern die Experten auch bestä-tigt. Anlässlich des öffentlichen Fachgespräches zur Di-gitalisierung von Kulturgut, das gestern im Ausschussfür Kultur und Medien stattfand, wurde diese Auffas-sung bestätigt. Claudia Dillmann vom DeutschenFilminstitut hält eine nationale Digitalisierungsstrategie

für nicht zielführend. Stattdessen muss die Innovations-kraft aus den Sparten des Kompetenznetzwerkes, demeigentlichen Träger der Deutschen Digitalen Bibliothek,kommen. Meine Fraktion und ich jedenfalls haben gro-ßes Vertrauen in die 13 im Netzwerk zusammenge-schlossenen namhaften Kultur- und Wissenschaftsein-richtungen. Von oben sollte daher keine Strategieoktroyiert werden.

Daher rührt auch unsere Forderung nach einer Digita-lisierungsoffensive für unser kulturelles Erbe. Die fürdie Umsetzung erforderlichen Organisationsstrukturensind bereits vorhanden. Neben dem eben erwähntenKompetenznetzwerk bildet hier das gemeinsame Eck-punktepapier von Bund, Ländern und Gemeinden zurDeutschen Digitalen Bibliothek ein wichtiges Gerüst.

Die im SPD-Antrag enthaltenen Forderungen nachkonkreten Mindestbedingungen für private Kooperatio-nen sowie nach urheberrechtlichen Lösungen für dasKopieren von Langzeitarchivierungen lehnen wir ab.Das Urheberrecht ermöglicht bereits heute die Langzeit-digitalisierung, zum Beispiel durch Archive und Mu-seen. Hier müssen wir nicht gegen irgendwelche Defi-zite ankämpfen. Gerade die Aktivitäten im Bereich derprivaten Kooperation haben sich bislang als großer Er-folg herausgestellt, sodass wir auch dort keinen gesetz-geberischen Regelungsbedarf sehen. Die genanntenMindestbedingungen für private Kooperationen sind inIhrem Antrag jedenfalls zu detailliert. Wir wollen nichtin die Einrichtungen hineinregieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Voraussetzung istaber, dass die jeweiligen Kultur- und Wissenschaftsein-richtungen ein Digitalisat zur freien und unentgeltlichenVerfügung erhalten. Schließlich müssen die digitalisier-ten Werke im Laufe der Zeit immer wieder in neue Sys-temumgebungen und auf neue Speichermedien kopiertwerden, um für die Nachwelt tatsächlich erhalten zuwerden.

In Ihrem Antrag ist ein starker Ruf danach enthalten,dass Weiterbildungen für die Mitarbeiter in den Kultur-und Wissenschaftseinrichtungen des Bundes organisiertwerden müssen, damit sie fit sind. Wir denken, dass dieEinrichtungen das schon in Eigenregie tun werden unddie Eigenverantwortung kennen, die sie gerade gegen-über den Mitarbeitern haben. Ich habe schon darauf ver-wiesen: Man sollte nicht zu sehr in Kultur- und Wissen-schaftseinrichtungen hineinregieren, sondern sie tatsäch-lich autark arbeiten lassen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auch aus diesem Grund lehnen wir das umfangreicheBerichtswesen, das in Ihrem Antrag gefordert wird, ab.Wir finden, dies ist nicht notwendig. Es bleibt auch beiunserer Ablehnung zum Vorschlag der Linken, dasGanze in ein Gesetz zu gießen. Außerdem ist von denExperten klar zum Ausdruck gebracht worden, dass dieöffentliche Hand diese Mammutaufgabe nicht alleinstemmen kann, sondern private Partner braucht. Da hilftes nicht, Haushaltsmittel von 30 Millionen Euro pro Jahrzu fordern. Vielmehr brauchen wir neben der Förderung

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18596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Reiner Deutschmann

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durch Bund, Länder und Kommunen gerade die öffent-lich-privaten Partnerschaften, die diese Aufgabe mit lan-gem Atem und ordentlichem Know-how angehen kön-nen. Wir als öffentliche Hand müssen das Radschließlich nicht immer wieder neu erfinden.

Aus ähnlichen Gründen wie bei dem SPD-Antragkönnen wir auch dem Antrag von Bündnis 90/Die Grü-nen nicht folgen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Oh! – Dr. Konstantin von Notz[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)

Eine Regelung im Urheberrechtsgesetz zum Umgangmit vergriffenen Werken halten wir für nicht notwendig,da bei vergriffenen Werken die Rechteinhaber bekanntsind und um eine entsprechende Lizenz zur Onlinenut-zung gebeten werden können. Anders hingegen liegt derFall bei verwaisten Werken; auch das wurde heute schonangesprochen. Hier sind die Rechteinhaber nicht auf-findbar. Hier besteht tatsächlich Handlungsbedarf. Daherverstehe ich die gewisse Ungeduld von SiegfriedEhrmann. Es ist ein kompliziertes Gebilde; das hat sichgestern in der Diskussion mit den Experten gezeigt.

(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Man braucht Mut und Initiativen!)

Manchmal bringt es nichts, vorschnell nach vorn zuschießen, sondern man soll die Dinge ordentlich regeln.Ich gehe einmal davon aus – da lehne ich mich nicht zuweit aus dem Fenster –, dass in diesem Frühjahr ein ent-sprechender Gesetzentwurf auf dem Tisch liegen wird.In unserem Antrag steht, dass im Dritten Korb zur Re-form des Urheberrechts eine Regelung zum Umgang mitverwaisten Werken vorzusehen ist.

Ich danke Ihnen ganz herzlich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:Das Wort hat nun Kollegin Luc Jochimsen für die

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ideen müssen sich frei ausbreiten vom einen zumanderen über die Welt, zur gegenseitigen Belehrungder Menschen. Frei wie die Luft, in der wir atmen,uns bewegen, ja unsere ganze physische Existenzhaben, ganz und gar ungeeignet für ein Eingesperrt-sein oder exklusive Aneignung.

Diese Sätze sind fast 200 Jahre alt. Sie stammen vonThomas Jefferson, der weder Computer noch das Inter-net kannte, aber davon überzeugt war, dass Wissen mög-lichst allen Menschen zugänglich sein muss, um größt-mögliche Wirkung zu entfalten,

(Beifall bei der LINKEN)

sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesamtheit.

Bibliotheken, Museen und Archive sind die Schatz-kammern einer Wissens- und Kulturgesellschaft. Siesammeln über Jahrhunderte Gedanken und Ideen inHandschriften und Büchern, auf Fotos und Gemälden,auf Filmen und Tonaufnahmen. Heute, im 21. Jahrhun-dert, das die Digitalisierung entwickelt hat, lassen sichunsere Wissens- und Kulturschätze viel besser nutzenund die Türen dieser Schatzkammern weiter öffnen als jezuvor.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: So ist es!)

Als „Traum von der Demokratisierung des Wissens“umschreibt der Präsident der Stiftung Preußischer Kul-turbesitz, Hermann Parzinger, die Chancen, die sichdurch die Digitalisierung unseres kulturellen Erbes bie-ten. Unser Kulturerbe als Gemeingut, das auch längstVersunkenes für die Internetgeneration sichtbar und er-lebbar macht: Diese Vision teilen viele hier im Hause.

Doch trotz der Kooperation großer Bibliotheken mitGoogle und trotz des Engagements vieler Enthusiastengeht der Prozess der Digitalisierung bei uns zu langsamvoran, und das vor allem im politischen Raum. Der Kol-lege Ehrmann hat schon einige Phasen und Stufen diesesProzesses im politischen Raum beschrieben.

Mit der Deutschen Digitalen Bibliothek ist demnächstein Portal geschaffen. Es fehlt aber der Raum dahinter,und vor allem fehlen die Inhalte. Der Grund dafür istGeldmangel. Eine solch große Zukunftsaufgabe wie dieDigitalisierung des Kulturerbes ist aus den ohnehin vielzu knappen Bibliothekshaushalten nicht ohne zusätzli-che Bundesmittel zu schaffen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Selbst wenn man wie die Münchner Staatsbibliothekmit Google kooperiert, wird Geld für eigene öffentlicheDigitalisierungsinitiativen und für die Datenpflege benö-tigt. Auf 30 Millionen Euro schätzte das Fraunhofer-Institut den Finanzbedarf. Leider haben Sie unserenHaushaltsanträgen seit 2010, die eine solche Förderungstets gefordert haben, ebenso wie alle anderen Fraktio-nen nie zugestimmt. Dabei könnten Sie etwa mit einemBruchteil der Kosten für das Berliner Stadtschloss einwahrhaft modernes, lebendiges und demokratisches Kul-turdenkmal errichten.

(Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Wieland[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagtdenn Herr Parzinger zu dem Vorschlag?)

Der zweite Grund für die Verzögerung liegt im Urhe-berrecht. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu60 Prozent der Werke in unseren Archiven und Biblio-theken als verwaist gelten können. Die Rechtesituationbei diesen Werken ist unklar. Rechteinhaber sind nichtaufzufinden und können auch vor einer digitalen Zu-gänglichmachung nicht um Erlaubnis gefragt werden.Ohne eine praktikable und effektive Lösung dieses Pro-blems wird es keine Massendigitalisierung der Werkeaus dem 19. und 20. Jahrhundert geben.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18597

Dr. Lukrezia Jochimsen

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Die Fraktion Die Linke hat deshalb eine Beschrän-kung des Urheberrechts in diesem einen Punkt vorge-schlagen. Natürlich soll die Nutzung vergütet werden,aber erst dann, wenn es glaubhafte Adressaten für dieseVergütung gibt, die ihre Ansprüche bei einer Verwer-tungsgesellschaft geltend gemacht haben. Der Wechseldes Weltwissens in die digitale Sphäre wird kommen.Was unsere vielen Schatzkammern bergen, sollte unbe-dingt dabei sein.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Siegmund Ehrmann [SPD])

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in un-

serer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünenunser Kollege Dr. Konstantin von Notz. Bitte schön,Herr Kollege.

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eswurde schon mehrfach gesagt: Die Digitalisierung vonKulturgütern ist eine enorme Herausforderung für uns.Diese neue Form der Zugänglichmachung und Archivie-rung von Kulturgütern ist aber auch eine wichtige staatli-che Aufgabe, und es ist gut, dass wir uns wie gestern imAusschuss heute im Plenum erneut mit diesem bedeuten-den Thema auseinandersetzen.

Aber Ihr Antrag, liebe Fraktionen von CDU/CSU undFDP, bringt trotz der wohlgesetzten Worte schon sprach-lich im Antragstext selbst – der Kollege Ehrmann hat esgesagt – Ihre große Distanz zu dem Projekt Deutsche Di-gitale Bibliothek zum Ausdruck.

(Zuruf von der CDU/CSU: Oh je!)

Ihr Antrag ist eben keine Offensive, wie Sie ihn betiteln.Vielmehr stehen Sie mit dem Antrag auf der Bremse,meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Siegmund Ehrmann [SPD])

Warum aber handelt es sich bei dem Projekt um eineso wichtige und vorrangige Aufgabe, dass es tatsächlicheine zupackende Offensive bräuchte? Hier zeigt sich, obeine Regierung visionär zu denken vermag und sich zurrechten Zeit mit Kraft und Entschiedenheit an die Spitzeeines historischen Umbruches setzt oder aber nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Das sind aberwohlgesetzte Worte!)

Sie entscheiden sich letztlich leider für die zweite Alter-native.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Kontext, in dem wir über die DDB verhandeln,ist durch die Frage des Umgangs unseres Gemeinwesensmit Informationen und Wissen gekennzeichnet. Genau

diese Frage ist eine Schlüsselfrage unserer modernen,fast schon postindustriellen Gesellschaft. Die DDB stehtdabei in einem Kontext mit den Diskussionen über OpenData, Open Access und Public Sector Information. Fürmeine Fraktion und mich ist entscheidend: Mit der Digi-talisierung wird die Idee einer digitalen Wissensall-mende endlich realisierbar. Deren Kern ist die Teilhabealler durch digitale Zugänglichmachung von Inhaltenund Wissen. Das aber ist kein Selbstzweck, sondern vorallem – Luc Jochimsen hat es ähnlich gesagt – ein Bei-trag zur demokratischen Kultur und zur Demokratisie-rung von Kultur in unserem Land sowie ein Versprechenan die Bürgerinnen und Bürger, egal ob sie auf der Mu-seumsinsel oder auf dem flachen Land wohnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb muss der Bund in Sachen DDB viel aktiver undviel offensiver werden, viel aktiver als bisher und vieloffensiver als in Ihrem Antrag. Aufgrund der gesamt-staatlichen Bedeutung des Projekts ist es Aufgabe derBundesregierung, jetzt eine umfassende Digitalisie-rungsstrategie zu entwickeln, die über die bislang be-schlossenen Eckpunkte – auch über diejenigen, die heutevorliegen – deutlich hinausgeht. Hierzu fordern wir siein unserem Antrag ausdrücklich auf.

Natürlich muss für ein solches Jahrhundertprojektauch eine langfristige Finanzierungsstrategie entwickeltwerden. Die Bundesregierung aber versäumt es, über-haupt eine Bedarfsanalyse vorzulegen. Dabei gibt es An-haltspunkte; das ist in der Debatte schon angeklungen.Der Rat der Weisen zum Beispiel rechnet mit 100 Mil-lionen Euro für vier Jahre für die EU. In der gestrigenAnhörung war von 35 Millionen Euro die Rede. Werhier aber mit kleiner Münze dabei sein will, dem sei ge-sagt: Die finanziellen Risiken des Verschlafens der Digi-talisierung sind deutlich höher. Ein solches Projekt zahltsich auf jeden Fall im wahrsten Sinne des Wortes aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Selbstverständlich müssen für ein solch ambitioniertesVorhaben Kooperationen gesucht werden, auch mit Pri-vaten. Doch die Bedingungen dafür müssen gesetzlichklar formuliert werden. Dabei ist sicherzustellen, dassdie Inhalte gemeinfrei und die Persönlichkeitsrechte derNutzenden gewahrt bleiben.

Last, but not least das Urheberrecht und die verwais-ten Werke. Ohne Rechtssicherheit wird sich die erforder-liche Dynamik beim Ausbau der DDB nicht entwickeln.Auch hier liefern Sie leider nichts. Der Glaube daran,dass der dritte Korb noch kommt, der vielleicht irgendet-was enthält, das helfen könnte, bröckelt selbst bei Ihrentapfersten Anhängern. Für die Beseitigung der Rechts-unsicherheit der öffentlichen Einrichtungen im Umgangmit verwaisten Werken braucht es wohlabgewogene Re-gelungen, die die Rechte der Urheberinnen und Urheberim Blick haben, aber auch das besondere öffentliche In-teresse an der Zugänglichmachung berücksichtigen.

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18598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Dr. Konstantin von Notz

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Lassen Sie mich damit abschließen: Bei der Digitali-sierung läuft uns die Zeit davon. Wichtige Kulturgüterverschimmeln in den Kellern von Bibliotheken. Wir for-dern Sie deshalb auf: Setzen Sie unsere Vorschläge zumweiteren Verfahren um, damit die DDB endlich richtigan den Start gehen kann!

Ganz herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Dr. von Notz. – Letzter Redner

in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU un-ser Kollege Dr. Reinhard Brandl. Bitte schön, KollegeDr. Brandl.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Kollege von Notz, es war doch wohl dieseBundesregierung, die im Dezember 2009 mit der Deut-schen Digitalen Bibliothek ein Jahrhundertprojekt ange-stoßen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Zu halbherzig!)

– Ich spreche von dieser Bundesregierung. Ich weißnicht, wovon Sie sprechen.

Bücher, Noten, Skulpturen in 3-D, Bilder, Filme undvieles mehr, alles, was heute in über 30 000 deutschenKultureinrichtungen und Museen irgendwo im Keller, inRegalen und Ausstellungen schlummert, soll digital er-fasst werden und im Internet über ein einziges Portalkostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Damit sind un-glaubliche Chancen für die Wissenschaft, die Bildungund die Kultur verbunden,

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)

aber auch für jeden einzelnen privaten Nutzer, der sichdarüber Zugänge zu Wissen erschließen kann, die vor ei-ner Generation noch undenkbar gewesen wären. Die Di-gitalisierung ist ein wichtiger Baustein für den Erhalt un-seres reichhaltigen deutschen kulturellen Erbes.

So schön das alles klingt – der Aufwand dafür istenorm. Ich hoffe nicht, dass der Prozess ein Jahrhundertdauert, aber es werden sicher aus heutiger Sicht einigeJahrzehnte werden. Aber was dann nicht im Internet zufinden ist, wird es für die breite Masse der kommendenGenerationen nicht mehr geben. Wir müssen deswegenHürden für eine verstärkte Digitalisierung, wie zum Bei-spiel beim Urheberrecht für verwaiste Werke, aus demWeg räumen und zusätzliche Finanzierungsquellen er-schließen.

Durch öffentlich-private Partnerschaften zum Bei-spiel haben wir schon viel erreicht. 87 Prozent der deut-schen Beiträge zur Europäischen Digitalen Bibliothek

„Europeana“ stammen von der Bayerischen Staatsbiblio-thek.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Das ist nur möglich, weil die Bayerische Staatsbiblio-thek bereits 2007 mit großer Unterstützung des dortigenWissenschaftsministeriums einen Vertrag mit Googlegeschlossen hat, der die Digitalisierung des gesamten ur-heberrechtsfreien Bestands der Bibliothek vom 17. biszum 19. Jahrhundert zum Gegenstand hat. Dabei handeltes sich um über 1 Million Werke. Von diesen über 1 Mil-lion Werken wurden bisher schon 680 000 Werke digita-lisiert und frei ins Netz gestellt. Google bekommt alsGegenleistung für diese Digitalisierung eine Kopie desBuches für sein Angebot. Es verbleibt aber auch einephysische Kopie bei der Bayerischen Staatsbibliothekzur uneingeschränkten Nutzung. Die Nutzung erstrecktsich auch auf Portale wie zum Beispiel die Deutsche Di-gitale Bibliothek oder die „Europeana“ und auf dieLangzeitarchivierung. Der Wert dieser Dienstleistungvon Google wird auf ungefähr 50 Millionen Euro ge-schätzt. Die Bayerische Staatsbibliothek kann dadurchihre eigenen Mittel für die Digitalisierung, die zum gro-ßen Teil von der DFG kommen, auf besonders wertvolleund ältere Werke konzentrieren, zum Beispiel auf Dru-cke aus dem 16. Jahrhundert oder auf Handschriften.Auch davon wurden bereits 85 000 Werke ins Netz ge-stellt.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Imponierend!)

So ein Modell hat natürlich auch seine Grenzen, aberes zeigt, wie durch geschickte Kooperation zwischenprivaten und öffentlichen Auftraggebern ein echterMehrwert für den Erhalt unseres kulturellen Erbes ge-schaffen werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Man darf aber bei den Kosten nicht nur die Kosten fürdie einmalige digitale Erfassung betrachten. Zur Lang-zeitarchivierung gehört auch das sichere Speichern, dieständige Überprüfung der Daten und die Aktualisierungder Dateiformate. Um Ihnen eine Vorstellung zu geben:Alleine das, was Google momentan in München scannt,wird geschätzte Kosten von mindestens einer halbenMillion Euro jährlich für die Langzeitarchivierung ver-ursachen. Das heißt, wir brauchen für diese Projekteauch eine Langzeitfinanzierung. Aber das Ergebnis – wiralle haben eben über die Chancen gesprochen – ist in je-dem Fall das Geld wert. Wir müssen auf allen Ebenenversuchen, die Vorhaben der Digitalisierung auf allenEbenen unseres Landes voranzutreiben.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Dr. Reinhard Brandl.

Ich schließe die Aussprache.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18599

Vizepräsident Eduard Oswald

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Bevor wir zur Abstimmung kommen, darf ich herz-lich Staatsminister Michael Link begrüßen, der auf derRegierungsbank Platz genommen hat. Bisher saß er inunseren Reihen. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrerneuen Aufgabe!

(Beifall)

Sie werden sehen: Man geht nicht immer so freundlichmit Ihnen um. Genießen Sie also den Augenblick.

(Heiterkeit)

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien aufDrucksache 17/8486. Der Ausschuss empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahmedes Antrags der Fraktionen von CDU/CSU und FDP aufDrucksache 17/6315 mit dem Titel „Digitalisierungsof-fensive für unser kulturelles Erbe beginnen“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koali-tionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Opposi-tionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine. Die Beschluss-empfehlung ist angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-che 17/6296 mit dem Titel „Kulturelles Erbe 2.0 – Digi-talisierung von Kulturgütern beschleunigen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind dieKoalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Frak-tion der Sozialdemokraten und Teile der Fraktion DieLinke. Enthaltungen? – Die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen und Teile der Fraktion Die Linke. Die Be-schlussempfehlung ist angenommen.

Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6096 mit demTitel „Die Digitalisierung des kulturellen Erbes als ge-samtstaatliche Aufgabe umsetzen“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen. Gegenprobe! – Das ist die Fraktion Die Linke. Ent-haltungen? – Sozialdemokraten und Bündnis 90/DieGrünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-stabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 17/8164 mit dem Titel „Rechtssicherheit für ver-waiste Werke herstellen und den Ausbau der DeutschenDigitalen Bibliothek auf ein solides Fundament stellen“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sinddie Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das ist dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Dassind die Fraktion der Sozialdemokraten und die Links-fraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 a bis f auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeinzPaula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Ökologische Land- und Lebensmittelwirt-schaft stärken

– Drucksache 17/7186 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuss

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. WilhelmPriesmeier, Petra Crone, Petra Ernstberger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD

Gemeinsame europäische Agrarpolitik nach2013 weiterentwickeln

– zu dem Antrag der Abgeordneten FriedrichOstendorff, Cornelia Behm, Ulrike Höfken,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gemeinsame europäische Agrarpolitik nach2013 – Förderung auf nachhaltige, bäuerli-che Landwirtschaft ausrichten

– Drucksachen 17/2479, 17/4542, 17/5299 –

Berichterstattung:Abgeordnete Franz-Josef HolzenkampDr. Wilhelm PriesmeierDr. Christel Happach-KasanDr. Kirsten TackmannFriedrich Ostendorff

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten Dr. WilhelmPriesmeier, Heinz-Joachim Barchmann, DorisBarnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD

Gemeinsame Europäische Agrarpolitik nach2013 – Konzept zum „Greening“ der Direkt-zahlungen vorlegen

– Drucksachen 17/6299, 17/7413 –

Berichterstattung:Abgeordnete Franz-Josef HolzenkampDr. Wilhelm PriesmeierDr. Christel Happach-KasanDr. Kirsten TackmannFriedrich Ostendorff

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula, Dr.Wilhelm Priesmeier, Sören Bartol, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der SPD

Klare Regelungen für Intensivtierhaltung

– Drucksachen 17/6089, 17/7198 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dieter StierHeinz Paula

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18600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Vizepräsident Eduard Oswald

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Hans-Michael GoldmannAlexander SüßmairFriedrich Ostendorff

e) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE

Gemeinsame Europäische Agrarpolitik ab2014 sozial und ökologisch ausrichten

– Drucksache 17/8378 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f)Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten Dr. KirstenTackmann, Cornelia Möhring, Dr. DietmarBartsch, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKE

Agrarförderung in Deutschland und Europageschlechtergerecht gestalten

– Drucksachen 17/5477, 17/6385 –

Berichterstattung:Abgeordnete Christoph PolandDr. Wilhelm PriesmeierDr. Christel Happach-KasanDr. Kirsten Tackmann

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Erster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktionder Sozialdemokraten unser Kollege Dr. WilhelmPriesmeier. – Bitte sehr, Herr Kollege Dr. Priesmeier.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ichnach rechts blicke, bin ich ein wenig traurig; denn dieRegierung ist, aus welchen Gründen auch immer, heuteAbend nicht mehr vertreten.

(Zuruf von der FDP: Die Regierung ist doch vorhanden!)

An sich wollte ich die Gelegenheit nutzen, die Ministe-rin für den von ihr initiierten Charta-Prozess zu loben.Damit hat sie wahrlich einen wichtigen Anstoß in derDebatte geliefert. Nur, wenn ich mir das Ergebnis an-schaue, kann ich nur sagen: mangelhaft, unzureichend,nicht zu Ende gedacht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das, was angekündigt worden ist, bedarf zweifellos nochder Umsetzung. Ich hoffe, dass das, was verkündet wor-

den ist – Änderung der Düngeverordnung, Verbesserun-gen im Tierschutz –, endlich real wird. Angesichts derDebatte innerhalb der CDU/CSU-Fraktion habe ich al-lerdings erhebliche Zweifel. Die Landesgruppe Nieder-sachsen hat ja gerade beschlossen, sich einem Verbot desSchenkelbrands nachhaltig zu widersetzen, und HerrKollege Stier verweigert als tierschutzpolitischer Spre-cher der Unionsfraktion der Ministerin seine Unterstüt-zung. Die Frage ist: Hat die Ministerin für diese Politiküberhaupt noch eine klare und deutliche Mehrheit? Ichglaube nicht.

In anderen Bereichen mangelt es ebenfalls. Wir So-zialdemokraten haben schon vor einigen Jahren gefor-dert, den Tierschutz-TÜV umzusetzen. Das wird auchvon Niedersachsen befürwortet, dem Land, in dem es re-gional verdichtete, intensive Tierhaltung gibt. Zum ge-genwärtigen Zeitpunkt nimmt die Regierung diese Um-setzung nicht in Angriff. Ich habe Defizite genannt, dieaufgearbeitet werden müssen. Ich glaube, angesichts desjetzigen Zustands dieser Koalition wird das wohl kaumgelingen, zumindest nicht im Bereich der Agrarpolitik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen endlich beginnen, die Agrarpolitik imHinblick auf das, was wir nach 2013 neu zu gestalten ha-ben, auszurichten. Wir brauchen eine moderne Agrarpo-litik und nichts, was im Sinne dessen ist, was uns hiervon der Koalition bislang geboten worden ist. Dabei be-ziehe ich mich auch auf das, was in den Brüsseler Ge-sprächen bislang verhandelt worden ist. Wir sollten die-sen Wandel als Einstieg in den Ausstieg aus denZahlungssystemen begreifen. Insofern, glauben wir So-zialdemokraten, ist das bisherige System der erstenSäule nur noch ein Übergangssystem. Wir hoffen, dassdieses System, das an sich als Übergangssystem geplantwar, 2020, wenn es fast 30 Jahre alt ist, endlich ausläuft;denn wir brauchen die Ressourcen in diesem Bereichauch für eine zielgerichtetere Politik, die mit weniger fi-nanziellen Ressourcen – sie sind ja allenthalben knapp –versucht, ein Maximum an Wirkung, ein Maximum anVeränderung und ein Maximum an Stabilität im ländli-chen Raum zu erreichen.

(Beifall bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]:Die Regierung hat den Weg in unserem Raumauch schon gefunden!)

Schauen Sie sich doch einmal interessehalber denVorschlag zur Durchführung der Zahlungen an. Ich kannnur anregen, über Art. 14 dieser Verordnung nachzuden-ken und ihn nicht einfach pauschal abzulehnen. DieserArtikel eröffnet die Möglichkeit, aufgrund des Plafonds,den wir in Deutschland haben, aus der ersten Säule510 Millionen Euro in die zweite Säule zu verlagern. Ichkann nur dazu ermuntern, sich Art. 34 dieser Verordnungzu Gemüte zu führen. Dieser Artikel eröffnet die Mög-lichkeit, in der ersten Säule unmittelbar das zu tun, wasman sonst in der zweiten Säule tut, nämlich benachtei-ligte Gebiete zu fördern. Das macht Ressourcen in derzweiten Säule frei, die von den Ländern eh kaum nochkozufinanzieren ist. Diese Ressourcen können wir nut-zen, um die zusätzlichen 510 Millionen Euro zu kofinan-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18601

Dr. Wilhelm Priesmeier

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zieren und um anzufangen, damit eine wirklich effektivePolitik für den ländlichen Raum zu gestalten.

Die Ministerin hat eingeräumt, dass es Defizite gibt,vor allen Dingen im Hinblick auf die Bewältigung desdemografischen Wandels. Das ist richtig. Wir dürfenüber dieses Problem aber nicht nur reden, sondern wirmüssen es endlich anpacken und müssen handeln.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In diesem Sinne kann ich nur an alle appellieren: FangenSie endlich an, eine vernünftige, zukunftsfähige Agrar-politik zu machen! Zögern Sie nicht! Setzen Sie um, wasan sich richtig ist! Wir Sozialdemokraten können Ihnenda Nachhilfe geben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Dr. Priesmeier. – Nächster Red-

ner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSUunser Kollege Hans-Georg von der Marwitz. Bitteschön, Kollege von der Marwitz.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Die Bundesregierung hat im Agrarpolitischen Be-richt 2011 ein klares Leitbild für die deutsche Landwirt-schaft formuliert. Sie soll leistungsfähig sein und nachdem Grundprinzip der Nachhaltigkeit wirtschaften. Ichmeine, dieser Vorstellung wird am ehesten der bäuerli-che Familienbetrieb gerecht, der in seiner Heimatregionverwurzelt ist und dörfliches Leben intensiv mitgestaltet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

„Bäuerlicher Familienbetrieb“, manch einem scheintdieser Begriff überholt zu sein. Nennen Sie es von miraus: inhabergeführtes Agrarunternehmen. Entscheidendist die den bäuerlichen Berufsstand prägende Kombina-tion aus Eigentum und Arbeit,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

aus unternehmerischer Initiative und Verantwortung fürdie nächste Generation.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Zahl landwirtschaftlicher Betriebe nimmt ständigab. Das muss uns zu denken geben. Natürlich gibt es im-mer einen Strukturwandel, der unter anderem mit demGenerationswechsel, auch mit der Technisierung zusam-menhängt. Aber eines steht fest: Je weniger Betriebe,desto weniger Selbstständige, desto weniger Vielfalt,desto weniger Engagement im ländlichen Raum.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber[SPD]: Sie reden wie die Opposition!)

In Brandenburg erlebe ich Betriebskonzentrationen inbisher nicht vorstellbaren Ausmaßen. Außerlandwirt-schaftliche Investoren kaufen einen Landwirtschaftsbe-trieb nach dem anderen, meist die wirtschaftlich schwa-chen Nachfolger ehemaliger LPG. Die Firmensitzedieser Investoren befinden sich oft weit entfernt von denBetrieben. Die Gewinne werden zumeist nicht in der Re-gion investiert, sondern fließen ab an Eigentümer, Ge-sellschafter oder Aktionäre, die persönlich oft keinenBezug zur Landwirtschaft und zu den Dörfern haben.

Die systematische Konzentration der Landwirtschaftin den Händen weniger Holdings bzw. Konzerne kannnicht Ziel unserer Agrarpolitik sein.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDPund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu-rufe von der SPD)

– Jetzt warten Sie mal ab, meine Herren. Ich freue michja, dass die Opposition so viel Spaß an mir hat.

Wir stehen für eine vielfältige Landwirtschaft, für ak-tive, heimatverbundene Landwirte und deren Familien.Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Reform der Ge-meinsamen Agrarpolitik mitgestalten und die Förderme-chanismen grundlegend überarbeiten. Die Agrarsubven-tionen sind der zentrale Hebel, um Entwicklungen zubeeinflussen.

Die wichtigste Frage zur GAP-Reform lautet: Wohinsoll sich die Landwirtschaft in Deutschland und der EUbis 2020 entwickeln?

(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie ja gerade schon gesagt!)

Was wollen Verbraucher und Erholungssuchende? – Na-turschutz, Erholungsraum, lebendige Dörfer, vielfältigeLandschaften und nicht zuletzt günstige Nahrungsmittel,die zugleich gesund sind und umweltgerecht erzeugtwerden. Das klingt ein bisschen wie die Quadratur desKreises.

(Ulrich Kelber [SPD]: Nein!)

Wollen wir uns diesen Zielen zumindest annähern,brauchen wir Strukturen, die Privatinitiative und verant-wortliches Handeln miteinander verbinden. Die meistenVorschläge der Europäischen Kommission vom 12. Ok-tober 2011 gehen in die richtige Richtung. Ob allerdingsdas Vorhaben, 7 Prozent der landwirtschaftlichen Nutz-fläche eines Betriebes als sogenannte ökologische Vor-rangflächen bereitzustellen, zielführend ist, muss gutüberlegt werden. Es gehört zur Gemeinsamen Agrarpoli-tik, für mehr Umweltschutz innerhalb der Landwirt-schaft einzutreten. Der Weg, dies über ökologische Vor-rangflächen zu erreichen, erschließt sich aber jedenfallsmir nur unzureichend.

Wie halten wir es außerdem mit der von der EU vor-geschlagenen Kappung oder Degression der Direktzah-

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18602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Hans-Georg von der Marwitz

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lungen? Sie wissen, dass ich ein Befürworter dieses Vor-schlags bin.

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich auch!)

Ich weiß, dass ich damit verhältnismäßig einsam in mei-ner Fraktion bin.

(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Bei uns nicht! – Friedrich Ostendorff[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei uns wärstdu nicht einsam!)

Dennoch: Zurzeit laufen wir Gefahr, mit EU-Mitteln ei-nen negativen, durch Konzentration gekennzeichnetenStrukturwandel zu fördern.

Ich glaube, dass die rund 11 Milliarden Euro, dieDeutschland jährlich zum EU-Agrarhaushalt beisteuertund für die jeder deutsche Steuerzahler jährlich imDurchschnitt 140 Euro zahlt, besser für leistungsstarkeFamilienbetriebe, für eine breite Streuung des Eigen-tums, für eine gesunde Diversifizierung der Landwirt-schaft sowie für lebendige ländliche Räume eingesetztwerden sollten.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kein Steuerzahler möchte mit seinem Geld Agrarstruk-turen unterstützen, die diesen Zielen zuwiderlaufen.

Auch die ökologische Landwirtschaft hat in Deutsch-land einen hohen Stellenwert. Deshalb verankerte dieBundesregierung auf Empfehlung des Rates für Nach-haltige Entwicklung in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie dasZiel, die ökologische Anbaufläche auf 20 Prozent derdeutschen Agrarfläche auszuweiten. Zugegeben, einezeitliche Vorgabe für die Umsetzung dieser Maßnahmegibt es noch nicht. Aber der Kurs ist klar.

Ich bin froh über den Bedeutungszuwachs der ökolo-gischen Landwirtschaft. Leider wächst vor dem Hinter-grund von Lebensmittelskandalen und Etikettenschwin-del das Misstrauen auch gegenüber dem ökologischenLandbau. Der Verbraucher in Deutschland ist gut bera-ten, wenn er sich an den Siegeln der Ökoverbände, zumBeispiel Demeter, Bioland oder Naturland, orientiert.Ihre Kontrollen sind wesentlich weitreichender undstrenger als die unter dem deutschen Bio-Siegel.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der FDP)

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen vonder Opposition, natürlich unterstützen wir auch die öko-logische Landwirtschaft. Jeder verantwortlich denkendeLandwirt – egal ob er biologisch oder konventionell ar-beitet – fühlt sich dem Grund und Boden verpflichtetund hat ein ureigenes Interesse daran, natürliche Res-sourcen und Tiere pfleglich zu behandeln. Er wird stetsalles daransetzen, dem Boden das zurückzugeben, wasihm genommen wurde, um ihn für künftige Generatio-nen zu erhalten.

Darum geht es – nicht, wie Sie es zum Teil verengtdarstellen, um Arbeitsmarktpolitik, Weltanschauungoder etwa Geschlechterfragen. All dies greift zu kurz.Die positiven Aspekte, die wir fördern wollen, sind vielweitreichender. Dazu gehören vor allem die Schaffungeines Bewusstseins für den Umgang mit Lebensmitteln,Tieren und natürlichen Ressourcen, die Stärkung regio-naler Lebens-, Arbeits- und Vermarktungskreisläufe so-wie der Erhalt der Natur- und Kulturlandschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Der Ökolandbau ist Bestandteil einer zukunftsweisen-den, multifunktionalen Agrarwirtschaft, für die auch ichmich einsetze.

Zum Schluss möchte ich sagen: Nutzen wir die nächs-ten Monate, um unsere Überzeugungen in die Reformder GAP einfließen zu lassen. Bemühen wir uns, strate-gisch in die Zukunft zu planen, zum Wohle von und imEinklang mit möglichst vielen Akteuren, Landwirtenund Verbrauchern, Kulturfreunden und Naturliebhabern,und nicht zuletzt für uns alle, die wir von einer lebendi-gen, vielfältig verwurzelten Landwirtschaft profitieren.Immerhin gestalten wir Agrarpolitik für die nächsten sie-ben Jahre.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege von der Marwitz. – Jetzt für die

Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Dr. KirstenTackmann. Bitte schön, Frau Dr. Tackmann.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Politik sollte eigentlich immer vom Ende ge-dacht werden. Deswegen hat die Linke bei der Agrar-politik ein klares Ziel: Wir wollen Agrarbetriebe, die vorOrt verankert sind, die fair bezahlte Arbeitsplätze in denDörfern schaffen oder erhalten und die mit Natur undUmwelt verantwortungsvoll umgehen. Was wir nichtwollen, ist auch klar: den Griff von Industriellen, Ban-ken oder Energiekonzernen nach unseren Äckern. Ihreebenso kurzfristigen wie hohen Renditeerwartungen ge-hen nämlich auf Kosten der Beschäftigten, der Umweltund auch der Dörfer.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie treiben die Pacht- und Bodenpreise in eine Höhe, diedurch landwirtschaftliche Arbeit nicht refinanziert wer-den kann. Das ist eine bedrohliche und aus unserer Sichtvöllig inakzeptable Entwicklung. Wenn wir das abernicht wollen, dann müssen wir die landwirtschaftlichenBetriebe stärken. Dazu gehört eine kluge und gesell-schaftlich akzeptierte Förderpolitik. Deshalb brauchenwir ein klares Prinzip: öffentliches Geld für öffentlicheLeistungen. Die Fördergelder müssen bei den aktiven

Page 139: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18603

Dr. Kirsten Tackmann

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Landwirten ankommen und nicht als Extrabonus fürSpekulanten dienen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Erwartungen an die Landwirtschaft sind sehrhoch. Sie soll die Versorgung mit bezahlbaren Lebens-mitteln und Energie sichern, sie soll Arbeitsplätze in denDörfern bieten und gut bezahlen, sie soll den Klimawan-del verlangsamen und ihm trotzen, und sie soll die biolo-gische Vielfalt erhalten oder wieder verbessern. Zumin-dest die letzten drei Punkte verursachen höhere Kosten.Die deshalb erforderlichen höheren Preise können dieAgrarbetriebe auf den Märkten nicht durchsetzen, sie be-kommen keine höheren Erzeugerpreise. Die Lebensmit-tel sollen ja auch bezahlbar bleiben. Deswegen müssendie Fördermittel bei den Betrieben ankommen, die diesezusätzlichen öffentlichen Leistungen im Interesse derGesellschaft erbringen.

Damit das klappt, hat die Linke in ihrem heute vorlie-genden Antrag der Bundesregierung für die Verhandlun-gen in Brüssel ein paar Hausaufgaben aufgeschrieben.Davon möchte ich einige vortragen.

Dort steht zum Beispiel, dass die Förderung unabhän-gig von der Größe des Betriebes erfolgen soll. Ich nennezwei Beispiele: Die Ökohöfe Brodowin in Brandenburgbewirtschaften 1 250 Hektar nach Demeter-Richtlinien.Ist das ein böser, großer Fachbetrieb? Die Agrargenos-senschaft Neuzelle bewirtschaftet 5 700 Hektar Acker-und Grünland, sie hält Schweine und Rinder und gibt da-mit 120 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Arbeit, davonzehn Auszubildenden. Warum sollen sie weniger Förde-rung pro Hektar bekommen? Lassen wir also das Aus-spielen Groß gegen Klein, und reden wir über die öffent-liche Leistung pro Hektar.

(Beifall bei der LINKEN)

Dazu gehören unserer Meinung nach auch Arbeits-plätze. Deshalb ist es aus unserer Sicht wichtig, auch dieLohnkosten bei der Förderpolitik zu berücksichtigen.Auch der Vorschlag zu ökologischen Vorrangflächengeht für uns in die richtige Richtung. Sie als Flächenstill-legung zu diffamieren, ist aus meiner Sicht unredlich.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Was spricht denn gegen Ackerrandstreifen, Blühstreifen,Feldgehölze, Überflutungsflächen, Wasserrand- oderWaldrandstreifen, Lerchenfenster oder gegebenenfallsauch Eiweißfutterpflanzenanbau? Eigentlich sind all dasZukunftsinvestitionen, nämlich in gute Böden, mehr bio-logische Vielfalt und Klimaschutz. Deshalb sollten dievorhandenen Hecken und Sölle auch auf die 7 Prozentangerechnet werden. Das fordern wir ganz klar.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir teilen auch die Forderung des EU-Kommissarsnach mehr Ackerpflanzenvielfalt. Aber eine Frucht aufbis zu 70 Prozent der Ackerfläche ist nun wirklich einWitz. Deswegen muss das auf maximal 33 Prozent ver-nünftig begrenzt werden; denn dann bekommen wir einewirkliche Fruchtfolge und nicht nur einen gelegentlichenFruchtwechsel.

Auch der Erhalt des Dauergrünlandes wird von unsganz klar unterstützt; denn wir brauchen es für die biolo-gische Vielfalt und für den Klimaschutz, da CO2 im Bo-den gebunden wird.

Zwischen 2003 und 2008 haben wir in Deutschland3 Prozent des Dauergrünlandes verloren. Die Festset-zung eines Referenzjahres 2014 ist doch geradezu eineAufforderung, bis zu diesem Zeitpunkt Dauergrünlandumzubrechen. Deswegen muss es unbedingt ein früheresReferenzdatum geben. Das ist ganz klar unsere Forde-rung.

(Beifall bei der LINKEN)

Zum Schluss. Die Agrarförderung muss auch ge-schlechtergerecht sein. Nur 8 Prozent der landwirtschaft-lichen Betriebe in Deutschland werden von Frauen gelei-tet, und das zumeist in Teilzeit. Der Lohnunterschied zuMännern ist in den ländlichen Räumen mit über 30 Pro-zent sogar noch höher als in den Städten. Die Land-frauen nehmen das nicht mehr hin. Ich finde, wir müssensie da unterstützen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In unserem Antrag „Agrarförderung in Deutschlandund Europa geschlechtergerecht gestalten“ steht, wasman alles tun muss, um Frauen in den ländlichen Räu-men zu stärken. Deswegen bitte ich um unbedingte Zu-stimmung zu diesem Antrag. Im Übrigen freue ich michauf die Diskussion unseres Antrags zur GemeinsamenAgrarpolitik im Ausschuss.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Tackmann. – Nächste

Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDPunsere Kollegin Frau Dr. Christel Happach-Kasan. Bitteschön, Frau Kollegin.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

heutige Agrardebatte findet am Rande der Grünen Wo-che statt. Wir alle haben uns in der vergangenen Wochezu einem Rundgang getroffen. Dabei war deutlich zuspüren, dass es zwar in einigen Bereichen Gegensätzegibt, dass es aber auch eine Gemeinsamkeit der Mitglie-der des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz gibt, nämlich dass wir ländlicheRäume stärken wollen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Methoden sind teilweise unterschiedlich, aber wiralle sind uns einig, dass wir die ländlichen Räume inDeutschland stärken wollen. Über 50 Prozent der Men-schen leben in den ländlichen Räumen. Sie sind Heimatfür sehr viele Menschen. Diese Räume sind kulturellsehr unterschiedlich; sie sind Erholungsraum, sie sind

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Dr. Christel Happach-Kasan

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Erlebnisraum. Wir wollen diese Räume stärken. Deswe-gen müssen bei der Gemeinsamen Agrarpolitik daraufachten, dass das europäische Agrarmodell, das uns diesestarken ländlichen Räume beschert hat, tatsächlich erhal-ten bleibt. Das ist die große Aufgabe.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Grüne Woche ist wohl die einzige Ausstellung,die zeigt, wie ein Produkt entsteht – in diesem Jahr ist esdie Zuckerrübe –, wie es also verarbeitet und hinterherzu einem Lebensmittel wird, das fertig zum Verkauf ist.Ich glaube, die Grüne Woche ist – entgegen allen frühe-ren Überlegungen – enorm erfolgreich und hat sich be-hauptet, obwohl wir 1990 dachten, dass es mit der Grü-nen Woche irgendwann einmal vorbei sein würde. DieGrüne Woche vollbringt eine gute Leistung.

In der Diskussion um die Gemeinsame Agrarpolitiksind wir uns der Tatsache bewusst, dass wir im Augen-blick noch nicht wissen, wie viel Finanzmittel uns zurVerfügung stehen werden. Das heißt: Alle unsere Über-legungen kranken daran, dass wir gar nicht genau wis-sen, wie viel Geld da sein wird.

Wir sind uns darüber einig, dass wir die Belastungender Landwirte durch Bürokratie mindern wollen; dennsie haben enorm hohe Lasten. In anderen Fragen sindwir uns nicht ganz einig. Beispielsweise wird das Gree-ning unterschiedlich bewertet. Gleichzeitig ist uns aberallen klar, dass es uns gelingen muss, die Belastung derNatur durch Landbewirtschaftung zu mindern. In diesemZusammenhang spreche ich ehrlicherweise als Erstesdas Problem Stickstoff an;

(Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Sehr richtig, Frau Kollegin, sehr richtig!)

denn dieses Problem wurde bereits vom Nachhaltigkeits-beirat thematisiert und im Übrigen auch im Nachhaltig-keitsbericht der Bundesregierung angesprochen. Damüssen wir ran.

(Beifall bei der FDP)

Ich teile die Einschätzung meines Kollegen von derMarwitz, dass die Kappung eine gute Maßnahme wäre,nicht. Ich lebe relativ nah an der Grenze zu Mecklen-burg-Vorpommern. Dort gibt es gewachsene Betriebs-strukturen, die ihre Chance haben müssen. Diese Be-triebe sollten sich nicht an Rechtsanwälte wendenmüssen, damit sie diese Betriebsstrukturen aufteilen, so-dass sie weiter Förderung erhalten können. Das halte ichnicht für gut.

(Beifall bei der FDP – Harald Ebner [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Trickserei ist eh nichtgut!)

In dem Zusammenhang will ich daran erinnern, dasswir nach Göttingen eingeladen wurden und uns dort mitStudenten unterhalten haben. Die Studenten haben unsebenfalls aufgefordert, ein solches Vorgehen auf jedenFall abzuwenden; sie berichteten, dass es auch dortLandwirte gibt, die sich zu GmbHs zusammenschließen,um gemeinsam eine größere Fläche zu bewirtschaften.

Wir sollten solchen Dingen nicht entgegenstehen. Wirsollten uns vielmehr bewusst sein, dass gerade in denländlichen Räumen der Tourismus blüht. Bayern, einLand mit starken ländlichen Räumen, ist gleichzeitig Fe-rienland Nummer eins. Ferienland Nummer zwei istMecklenburg-Vorpommern; hier gibt es ebenfalls großeBetriebe. Ferienland Nummer drei ist Schleswig-Hol-stein, wo es auch große Betriebe gibt. Insofern stimmeich dem SPD-Antrag natürlich in diesem Punkt zu:

Dabei spielt die absolute Betriebsgröße keine Rolle.Wesentlich ist vielmehr die Art und Weise, wie dieBetriebe bewirtschaftet werden – nämlich durchverantwortungsbewusstes Handeln der Landwirte.

Das ist vollkommen richtig; da sind wir völlig einerMeinung.

Wir wissen, dass die Herausforderungen, die an dieLandwirtschaft gestellt werden, immens sind. Wir wis-sen: 7 Milliarden Menschen leben auf der Erde; es wer-den noch mehr werden. Wir wissen, dass wir deswegeneine nachhaltige Intensivierung der Landwirtschaft be-nötigen, um zu einer Effizienzsteigerung zu gelangen.Anders wird es nicht gelingen, dass wir alle Menschensatt bekommen.

Wir wissen auch, dass die Produktion von Biomassefür die energetische Verwertung eine weitere Herausfor-derung darstellt. Wir wollen unsere Wirtschaft auf Nach-haltigkeit umstellen. Das heißt, nachwachsende Roh-stoffe gewinnen an Bedeutung. Vor diesem Hintergrundbin ich der Meinung, dass wir eine Effizienzsteigerungbrauchen. Deswegen finde ich es gut, dass die SPD in ih-rem Antrag zum Ökolandbau darauf hinweist, dass wirerstens Forschung benötigen – da sind wir völlig einerMeinung – und zweitens auch im Ökolandbau eine Effi-zienzsteigerung brauchen. Wir können nicht damit zu-frieden sein, dass die Erträge im Vergleich zur konven-tionellen Landwirtschaft teilweise nur bei 50 Prozentliegen.

Wenn wir uns schon in diesem Punkt einig sind, dannsollten wir uns auch gemeinsam fragen: Wollen wir ei-gentlich solche tiefen Gräben zwischen moderner Land-wirtschaft und Ökolandwirtschaft? Wäre es nicht an derZeit, sie ein bisschen zuzuschütten?

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wäre es nicht an der Zeit, dass wir gegenseitig vonei-nander lernen, dass die konventionellen, die modernenLandwirte von den Ökos lernen und, umgekehrt, dieÖkos von den konventionellen Landwirten? Ich glaube,es ist an der Zeit, dass wir in diese Richtung denken.

Insofern stimme ich dir, Kollege Priesmeier, nicht zu:Der Charta-Prozess war sehr wohl wichtig, um eine Dis-kussion zwischen Landwirtschaft und Zivilgesellschaftzu eröffnen, um sich mit der Landwirtschaft auseinan-derzusetzen und um voneinander zu lernen; ich haltedies für ausgesprochen richtig.

Ich bedauere, dass in den Anträgen noch einige La-denhüter enthalten sind. Der sogenannte Weltagrarbe-richt ist nun vier Jahre alt; er ist absolut überholt. Ichglaube, wir sollten nicht mehr darüber reden.

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Dr. Christel Happach-Kasan

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(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die Inhalte stimmen immer noch! –Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Dermuss fortgeschrieben werden!)

Es gibt andere Berichte, die ein deutlich realistischeresBild von der Zukunft zeigen, beispielsweise der Berichtder britischen Regierung The Future of Food and Far-ming, den ich für deutlich sinnvoller halte.

Liebe Grüne, wenn ihr von der Landwirtschaft als„Träger biologischer Vielfalt“ schreibt, dann möchte ichdoch einmal darauf hinweisen, dass auf einem Weizen-acker immer Weizen steht, egal ob ihn ein Ökobaueroder ein moderner Landwirt bewirtschaftet. Nix da mitbiologischer Vielfalt!

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Völliger Quatsch! Da könnte manein bisschen in die Biologie einsteigen! Dannkönnte man etwas lernen! Das wäre vielleichthilfreich! Was für ein dummes Zeug!)

– Wir sollten schlicht und ergreifend einmal zur Kennt-nis nehmen, dass das so ist. – Ich bin der Auffassung, dieFDP ist der Auffassung, dass die Herausforderungen derZukunft – –

(Unruhe bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Vielleicht sollten Sie erst einmal zuhören, bevor Siehier dazwischenrufen. Es bleibt dabei: Auf einem Weizen-acker steht Weizen, sonst möglichst nichts. Deshalb gibtes dort keine biologische Vielfalt; wir wollen sie dortnämlich gerade nicht haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auf dem Erdbeerfeld stehen Erdbeeren, auf dem Spar-gelfeld steht Spargel. Deswegen haben wir dort keinebiologische Vielfalt.

Vizepräsident Eduard Oswald:Wenn Sie bitte Ihren Schlusssatz machen.

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):Ich möchte gern meinen Schlusssatz sagen: Wir, die

FDP, sind der Auffassung, dass nur eine unternehmeri-sche Landwirtschaft, die Gestaltungsspielräume hat, vonBürokratie befreit ist und der von einer Wissenschaft zu-gearbeitet wird, die sie für die Zukunft fit macht, die He-rausforderungen meistern kann.

Ich danke für eure Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Happach-Kasan. –

Jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kol-lege Friedrich Ostendorff. Bitte schön, Kollege FriedrichOstendorff.

Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident! Liebe Damen und Herren! Meine lie-ben Kollegen und Kolleginnen! Ich will versuchen, andie sehr perspektivische Rede des Kollegen Hans-Georgvon der Marwitz anzuschließen; aber das fällt nach derdoch wieder sehr schwierigen Rede der KolleginHappach-Kasan nicht leicht.

(Widerspruch bei der FDP)

Sie versucht, den Graben tiefer zu machen, nach demMotto: Die konventionelle Landwirtschaft ist modern,alles andere ist irgendetwas Altertümliches.

(Patrick Meinhardt [FDP]: Haben Sie über-haupt zugehört? Waren Sie in der falschen De-batte?)

Ich glaube, Sie müssen schleunigst darüber nachdenken,ob Sie daran festhalten wollen.

Das Greening ist der Kern der Reform der EU-Agrar-politik. Es kann dazu führen, dass wir die Probleme vonKlimawandel und Artenschutz endlich flächendeckendangehen können. Greening kann dazu führen, dass esinsbesondere dort, wo heute eine monotone Agrarwüsteist, bunter wird und Bienen und Vögel wieder Lebens-räume finden. Greening kann dazu führen, beim Ziel ei-ner multifunktionalen Landwirtschaft in Europa endlichvoranzukommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zusätzlich – darauf sei hingewiesen – bieten uns alleindie Art. 14, 23, 34 und 38 des Kommissionsentwurfes,wie Kollege Priesmeier schon sagte, durch ihre Umset-zung die Möglichkeit, 23 Prozent der nationalen Ober-grenze von 5,1 Milliarden Euro für sinnvolle Förderung,für ländliche Entwicklung und für ökologische Leistungumzuwidmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Frage ist nur: Was macht Ministerin Aigner daraus?Die Antwort kennen wir. Sie lautet wie immer: Nichtsmachen wir daraus!

(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Beschämend!)

Wie EU-Agrarkommissar Ciolos diese Woche in Berlinwieder betont hat, bewegt sich der Elefant namens Ge-meinsame Agrarpolitik vorwärts. Aber anstatt diesenElefanten zu reiten, springt die Ministerin aus Angst undVerzweiflung vor Veränderungen in die Büsche.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die Bundesregierung hat in der Reformdebatte ge-zeigt: Sie hat keine Strategie, sie hat keine Haltung, siehat keine Idee! Das einzige Ziel von Frau Aigner ist: DasGreening muss verhindert werden. Anstatt für Greeningzu werben, verbreiten Frau Ministerin und ihr Staatsse-kretär Peter Bleser die Mär des Deutschen Bauernver-bandes von der 7-prozentigen Flächenstilllegung. Dabeiist selbst in Frau Aigners schriftlicher Antwort auf un-sere Kleine Anfrage keine Rede von Stilllegung mehr,

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18606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Friedrich Ostendorff

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sondern es werden bereits sehr detaillierte konkrete Vor-schläge zur umweltgerechten Ausgestaltung gemacht.Das verstehe, wer will. Ich nenne es doppelzüngig.

Anstatt das Greening wasserfest zu machen, arbeitetdie Ministerin an windelweichen Ausnahmeregeln. Sosollen alle als irgendwie nachhaltig bezeichneten Be-triebe vom Greening ausgenommen werden.

(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!)

Was das in der Diktion der Ministerin heißt, ist uns be-kannt; das haben Sie bei der faktischen Abschaffung desBundesprogramms Ökologischer Landbau bewiesen.

(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Dasstimmt auch nicht! – Patrick Meinhardt [FDP]:In welchem Ausschuss sitzen Sie denn?)

– Frau Happach-Kasan, lesen Sie es nach. – Nachhaltigist man in der Diktion der Ministerin schon, wenn manMitglied im Deutschen Bauernverband ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Dasstimmt auch nicht! Hören Sie auf mit den Ver-leumdungen! – Patrick Meinhardt [FDP]:Populistische Propaganda!)

Nicht einmal beim scharfen Grünlandumbruchverbotsteht die Ministerin zu ihrem Wort, sondern sie redet inder „Charta für Landwirtschaft und Verbraucher“ plötz-lich von einem vollkommen unscharfen Grünlanderhal-tungsgebot. Meine Damen und Herren von der Koali-tion, Sie wollen das Greening verhindern. Wir Grünewollen aus dem Vorschlag der Kommission aber eine zu-kunftsfähige Reform machen. Das ist der Unterschiedzwischen Ihnen und uns.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Patrick Meinhardt [FDP]: Da fallen mir einigeUnterschiede ein!)

Sie laufen auf der Grünen Woche herum und erzählensich gegenseitig, dass Sie die Größten, die Besten undüberhaupt das Wichtigste sind.

(Patrick Meinhardt [FDP]: Sie halten sich für das Wichtigste!)

Nur leider versteht Sie draußen im Land keiner mehr. Sieigeln sich ein in Ihrer Wagenburg und beschimpfen23 000 Menschen, die für eine andere Agrarpolitik aufdie Straße gehen.

(Patrick Meinhardt [FDP]: Jetzt wird es unver-schämt! Arrogant und unverschämt!)

Sie betrachten die Agrarpolitik weiter als Ihre Beute undwollen Sie im Hinterzimmer unter sich aufteilen.

(Patrick Meinhardt [FDP]: Ach du lieber Gott! Gehen Sie ins Märchenland!)

Wir hingegen sagen: Wir müssen vorangehen und dürfennicht auf der Bremse stehen. Wir müssen die Fensteraufreißen und frische Luft in die verstaubten Stuben derAgrarpolitik lassen.

(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sehr richtig!)

Wir brauchen eine offene, demokratische und transpa-rente Agrarpolitik, gemeinsam mit unserer Gesellschaftund nicht gegen sie. Deshalb: Heraus aus dem gesell-schaftlichen Abseits! Auf der DLG-Tagung wurde diesals These formuliert, von daher habe ich es zitiert.

Die nächste Bundestagswahl spätestens 2013 wirdauch eine Abstimmung über Ihre falsche Politik inEuropa werden. Wir freuen uns darauf; denn wir Grünehaben es schon lange satt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Patrick Meinhardt [FDP]: Unterirdische Redevom Niveau her!)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Friedrich Ostendorff. – Jetzt für

die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin CarolaStauche. Bitte schön, Frau Kollegin Carola Stauche.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Patrick Meinhardt [FDP]: Aber jetzt! Und los!Zeigen Sie es denen!)

Carola Stauche (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Wir beraten heute eine ganze ReiheOppositionsanträge,

(Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Ihr habt jakeine! Ihr schreibt ja auch keine! – Dr. KirstenTackmann [DIE LINKE]: Sie haben ja keinendazu hingelegt!)

die wir von der christlich-liberalen Koalition natürlichalle ablehnen. Das brauche ich Ihnen sicher nicht zu sa-gen. Ich bin der Meinung, dass in den Anträgen einigeökologisch-romantische Ideologien vorkommen,

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

die nicht immer mit einer effizienten Land- und Lebens-mittelwirtschaft zu tun haben.

Ich habe etwas mit dem Kopf geschüttelt, als ich zurVorbereitung dieser Sitzung die Anträge gelesen habe,mit denen Sie an das Hohe Haus herantreten. Lassen Siemich einige Themen Ihrer Anträge erörtern. Im Antrag17/7186 der SPD-Fraktion heißt es unter anderem:

Die Rahmenbedingungen sind auf internationaler,europäischer und nationaler Ebene so zu verbes-sern, dass die Potenziale des Ökolandbaus und derökologischen Lebensmittelwirtschaft weiter ausge-baut und die gesellschaftlichen Leistungen der Bio-landwirte verlässlich honoriert werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Heinz Paula [SPD]: Das ist richtig! Alles richtig!)

Dazu möchte ich Ihnen als jemand, der aus der Land-wirtschaft kommt, sagen, dass wir generell die Leistungaller Landwirte und deren Produkte besser honorierenmüssen. Wir sind für alle da.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18607

Carola Stauche

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(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ihre einseitige ideologische Betrachtung wird unsererkonventionellen Landwirtschaft und ihren Leistungensowohl für die Lebensmittelversorgung als auch für denLandschaftsschutz in keinster Weise gerecht. Das ist ein-seitig.

Im gleichen Antrag fordern Sie zur einseitigen Förde-rung der Forschung in Richtung ökologische Anbausys-teme auf. Wir brauchen die Förderung dort. Aber Einsei-tigkeit widerstrebt mir; denn wir brauchen das guteNebeneinander von konventioneller Landwirtschaft undÖkolandbau.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Aufgrund des 300-jährigen Geburtstags von Fritzdem Großen, der in den letzten Tagen gefeiert wurde,

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Friedrich heißt der! Das war deralte Fritz! Der heißt aber Friedrich der Große!)

möchte ich eines seiner bekanntesten Zitate auf dieLandwirtschaft umdeuten: Jeder Landwirt muss nachseiner Fasson selig werden, egal ob als konventionellerLandwirt oder als Ökobauer.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist der entscheidende Unterschied zwischen derOpposition und der Regierungskoalition.

(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Er hat aber auch gesagt: Kommt zur Vernunft!)

– Der sagte noch mehr.

Wir stellen es den Landwirten frei, wie sie produzie-ren wollen. Eine einseitige Förderung, wie von der Op-position gefordert, steht diesem Ansinnen entgegen.

Aber lassen Sie mich zu den weiteren Anträgen kom-men. In dem Antrag auf Drucksache 17/2479, ebenfallsvon der SPD, heißt es:

Die Zahlungen an die europäische Landwirtschaftkönnen dauerhaft nur dann gesellschaftlich legiti-miert werden, wenn sie auch qualifiziert werden.Zukünftig werden daher alle Zahlungen nur nochfür konkret benannte und gesellschaftlich ge-wünschte Leistungen gewährt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die SPD weiß natürlich ganz genau, was die Gesell-schaft wünscht.

(Heinz Paula [SPD]: Genau! Im Gegensatz zu Ihnen!)

Ihr Forderungskatalog scheint mir aber nicht so ganzdurchdacht zu sein.

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das haben Sie leider nicht ganzverstanden!)

„Integrierte Entwicklung der ländlichen Räume“klingt spannend. Aber dabei fehlen mir etwas die Be-dürfnisse der Landwirte. Ich zitiere weiter:

Agrarinvestitionsprogramme werden nicht mehrangeboten.

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch richtig!)

Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Was macht ein Land-wirt, der sich für die Biolandwirtschaft entscheidet undumbauen will? Ich kann mir schwer vorstellen, dass dasohne Investitionsprogramme so einfach zu bewerkstelli-gen ist. Das gilt auch für die tiergerechte Haltung.

Auch die weiteren Anträge enthalten Aussagen oderForderungen, die ich nicht nachvollziehen kann. So heißtes in einem SPD-Antrag zur Intensivtierhaltung, dass dieintensive landwirtschaftliche Produktion von der breitenMehrheit in der deutschen Gesellschaft abgelehnt wird.Erste Frage: Was ist intensive Tierhaltung? Ist das einÖkobauer mit 200 Fleischrindern, der nur auf Weidenproduziert und auch einen großen Stall hat? Ist auch dasintensive Landwirtschaft?

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: 24 Hühner auf dem Quadratmetersind intensive Landwirtschaft!)

Die zweite Frage, die sich mir stellt, ist: Warum werdendie ökologischen Produkte trotzdem nicht von der Mehr-heit gekauft? Ist es der zwei- bis dreimal so hohe Preis,oder ist es die nicht wirklich bessere Qualität?

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Fünfmal so hoch! – Ulrich Kelber[SPD]: Zehnmal so hoch!)

Interessanter ist für mich: Was machen wir mit unse-rer heimischen Landwirtschaft, wenn wir den Anträgender Opposition folgen? Denn wenn wir komplett aufökologische Fleischherstellung umstellen, wird das kon-ventionell produzierte Fleisch eben aus dem Ausland im-portiert, und die heimische Landwirtschaft hat das Nach-sehen. Das wollen wir nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will aber nicht weiter auf die Unzulänglichkeitender Anträge eingehen, sondern Ihnen noch einmal dieklaren Forderungen darstellen, die wir in der christlich-liberalen Koalition haben. Wir haben eigene Antwortenund eigene Forderungen, und die sind: Erhaltung derZwei-Säulen-Struktur in der GAP; eine starke ersteSäule, finanziell gut ausgestattet; klare Trennung derMaßnahmen von erster und zweiter Säule. Agrarumwelt-maßnahmen sollen wie bisher aus der zweiten Säule derGAP finanziert werden. Die Landwirte müssen Anreizehaben, eine größere Wertschöpfung am Markt und in derUmwelt zu erzielen. Die Entkoppelung der Direktzah-lungen von der Produktionsart, die wir in Deutschlandschon haben, müsste in allen europäischen Mitgliedstaa-ten umgesetzt werden. Ferner soll sich die Bundesregie-rung dafür starkmachen, dass die Einführung einerdegressiven Ausgestaltung und eine Deckelung derDirektzahlungen verhindert werden. Das ist für unsVermischung von Agrar- und Sozialpolitik und wider-spricht dem Gedanken, der den Zahlungen im Rahmender Agrarpolitik zugrunde liegt. Es sollte keine nachGrößen und Betriebsarten unterscheidende Regelung

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18608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Carola Stauche

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geben; denn alle haben ihre Berechtigung, die großenBetriebe – das wurde vorhin schon gesagt – ebenso wiedie kleinen und die ökologischen Betriebe.

Meine Damen und Herren – –

Vizepräsident Eduard Oswald:Das macht nichts. Es ist ohnehin Schluss.

(Heiterkeit)

Carola Stauche (CDU/CSU):Ja, jetzt ist Schluss.

Wir als christlich-liberale Koalition sind bereit, ab-seits von Ideologie und einseitiger Neuausrichtung dieheimische Landwirtschaft zu unterstützen. Deshalb zi-tiere ich zum Abschluss Friedrich den Großen:

Unseren Dünkel müssen wir verlieren; wir sollenhandeln, nicht philosophieren.

(Heinz Paula [SPD]: Das müssen Sie sich mer-ken! Das ist gut!)

In diesem Sinne: Danke!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Frau Kollegin Carola Stauche. – Letzter

Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozial-demokraten unser Kollege Heinz Paula. Bitte schön,Kollege Heinz Paula.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Heinz Paula (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Dioxin, Ehec, Antibiotikamissbrauch – ein Skandal folgtdem nächsten. Eine ganze Branche gerät in Misskredit.Die Verbraucher sind verunsichert.

(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Durch Ihre Reden, ja!)

Wir sind uns hoffentlich darüber einig, dass wir eineernsthafte Grundsatzdebatte führen können. Herr vonder Marwitz, ich bedanke mich ausdrücklich bei Ihnen,weil ich während Ihrer Rede den Eindruck hatte, dassdas möglich ist; anders als bei meiner Vorrednerin. Ineiner solchen Debatte müssen wir uns diese Fragen stel-len: Wie wollen wir die Nahrungsmittelproduktion ge-stalten? Welche Qualität verlangen wir? Wie gehen wirmit unseren Nahrungsmitteln um? Man stelle sich vor:20 Millionen Tonnen werden pro Jahr in den Abfall ge-worfen. Wir müssen uns auch fragen, welche Art derTierhaltung wir zukünftig wollen und welche wir verant-worten können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die bisherige Form der Intensivtierhaltung ist mit einerenormen Belastung für die Umwelt und einem hohenAntibiotikaeinsatz verbunden. Man stelle sich vor: ZweiDrittel der verordneten Antibiotika gehen in die Tier-

mast. Diese Haltung landwirtschaftlicher Nutztiere führtzunehmend zu Akzeptanzproblemen in der Bevölke-rung.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN – Friedrich Ostendorff[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Recht hat er!)

Alarmierende Ergebnisse wurden gestern im ZDF-Beitrag „Tödliche Keime aus der Massentierhaltung“vorgestellt. Es geht nicht an, dass wir irgendwo verharm-losen. Wir Sozialdemokraten nehmen diese Fragen ernst.Wir fordern in unserem Antrag klare Regelungen für dieIntensivtierhaltung. Wir fordern zum Beispiel eineÄnderung des Baugesetzbuches. Sie hatten ja einen Vor-schlag vorgelegt. Leider wurde er am nächsten Tag wie-der zurückgezogen. Damit hätten wir einen konkretenAnsatzpunkt gehabt, über den wir uns hätten unterhaltenkönnen.

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

Aber Frau Aigner ist halt wieder einmal vor der Agrar-lobby eingeknickt. Sehr bedauerlich!

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir brauchen weitere Änderungen, zum Beispiel imBereich der Umweltgesetzgebung. Frau Happach-Kasan,bei der Stickstofffrage bin ich absolut an Ihrer Seite.Lassen Sie uns hier konsequent nach Lösungen suchen.Beim Tierschutz brauchen wir Verbesserungen. Sämt-liche Verstümmelungen von Tieren sind umgehend ein-zustellen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung muss drin-gend überarbeitet werden.

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Bei Puten haben wir gar keine!)

Wir müssen endlich Tiere wie Puten oder Kanincheneinbeziehen und vor allen Dingen die Haltungsbedin-gungen verbessern.

Frau Aigner redet in letzter Zeit sehr viel über dasTierwohl. Ich habe häufig den Eindruck, dass mit ihrenVorschlägen eher eine Verlängerung des Tierelends ver-bunden ist. Nehmen wir allein ihre Überlegungen zumTierschutzgesetz: Die betäubungslose Ferkelkastrationsoll erst ab 2017 verboten sein. Was soll das bitte? Wirhaben bewährte Alternativen. Lasst uns diese endlicheinführen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch bei den Äußerungen zur Charta habe ich denEindruck, dass etwas auf den Sankt-Nimmerleins-Tagverschoben wird. Aus dem sehr guten Diskussionspro-zess müssen endlich konkrete Ergebnisse hervorgehen.Wir brauchen Ergebnisse und nicht nur Diskussionen.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18609

Heinz Paula

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(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Liebe Regierungskoalitionäre, die Umfrage, die IhrMinisterium, Herr Staatssekretär, im Dezember 2011vorgestellt hat, hat ergeben, dass über 90 Prozent der Be-völkerung Tierschutz als wichtiges Kriterium ansehen.Deshalb kann ich Ihnen nur raten: Folgen Sie diesenWählern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Folgen Sie Ihrem Parteifreund Minister Lindemann, derklipp und klar sagt: Wir müssen die Haltungsbedingun-gen den Tieren anpassen und nicht umgekehrt.

Ganz kurz zum ökologischen Landbau. Man kannfeststellen: Qualität setzt sich durch. Wir sind mit5,9 Prozent meilenweit von den ursprünglich angedach-ten 20 Prozent entfernt; das wissen Sie. Geben Sie die-sem Landbau eine faire Chance, indem Sie die Mittel fürden ökologischen Landbau nicht auch der konventionel-len Landwirtschaft zur Verfügung stellen.

Insgesamt möchte ich sagen: Lassen Sie uns die Si-gnale, die heute aus Ihrer Richtung gekommen sind, auf-greifen und gemeinsam versuchen, eine positive Ent-wicklung zum Vorteil der Verbraucher, der Tiere undauch der Produzenten zu erreichen. Ich schlage Ihnenvor, das Motto, das dieses Bundesministerium auf derGrüne Woche ausgegeben hat, ernst zu nehmen: „Ver-braucher und Landwirtschaft – Gemeinsame Verantwor-tung für Mensch, Tier und Umwelt“. Gut so.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Handeln Sie entsprechend, und stimmen Sie unseren An-trägen zu. Dann sind wir auf einem guten Weg.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Heinz Paula. – Ich schließe die

Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/7186 und 17/8378 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz auf Drucksache 17/5299.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion der Sozialdemokraten auf Drucksache 17/2479 mitdem Titel „Gemeinsame europäische Agrarpolitik nach2013 weiterentwickeln“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen. Gegenprobe! – Das ist die Fraktion der Sozialdemo-kraten. Enthaltungen? – Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Die Beschlussemp-fehlung ist angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/4542 mit dem Titel „Gemein-same Europäische Agrarpolitik nach 2013 – Förderungauf nachhaltige, bäuerliche Landwirtschaft ausrichten“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sinddie Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Sozialdemokratenund Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist ange-nommen.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit demTitel „Gemeinsame Europäische Agrarpolitik nach 2013 –Konzept zum ‚Greening‘ der Direktzahlungen vorle-gen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/7413, den Antrag der Frak-tion der SPD auf Drucksache 17/6299 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind dieKoalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Sozialdemokratenund Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Linksfrak-tion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 10 d. Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antragder Fraktion der SPD mit dem Titel „Klare Regelungenfür Intensivtierhaltung“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7198, denAntrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6089abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! –Das sind alle drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? –Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 10 f. Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antragder Fraktion Die Linke mit dem Titel „Agrarförderung inDeutschland und Europa geschlechtergerecht gestalten“.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 17/6385, den Antrag der Fraktion DieLinke auf Drucksache 17/5477 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koali-tionsfraktionen und Teile der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen. Gegenprobe! – Fraktion Die Linke. Enthaltun-gen? – Fraktion der Sozialdemokraten. Die Beschluss-empfehlung ist angenommen.

Jetzt sind wir schon am Ende dieses Tagesordnungs-punktes. Aber alle sind herzlich eingeladen, die weiterenBeratungen des heutigen Abends hier zu verfolgen undden Rednern zu lauschen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer (Köln),weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

Abschiebestopp und Bleiberecht für Flücht-linge aus Syrien

– Drucksache 17/8456 –

Page 146: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

18610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Vizepräsident Eduard Oswald

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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für dieFraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Ulla Jelpke.Bitte schön, Frau Kollegin Jelpke.

(Beifall bei der LINKEN)

Ulla Jelpke (DIE LINKE):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke

hat schon im Jahr 2009 einen Abschiebestopp bzw. einBleiberecht für Flüchtlinge aus Syrien in Deutschlandgefordert, übrigens im Unterschied zur Bundesregie-rung, die die Behörden bis 2011 damit beschäftigt hatund in 180 Fällen die Abschiebung von Syrern und vorallen Dingen Staatenlosen aus Syrien vorbereiten wollte.Wir halten es für einen Skandal, dass wir schon im Jahr2009 die Menschenrechtsverletzungen in Syrien kriti-siert haben und uns im Nachhinein unterstellt wird, wirseien solidarisch mit Assad. Das ist zu keiner Zeit derFall gewesen. Ganz im Gegenteil: Die Linke hat, wie ge-sagt, einen Abschiebestopp gefordert. Die Linke hat be-tont, dass in ein Land, in dem Misshandlungen und Fol-ter stattfinden, auf gar keinen Fall abgeschoben werdendarf. Aber hier im Haus wurden unsere Anträge mehr-heitlich abgelehnt. Auch das halten wir für einen Skan-dal.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich kann Ihnen einige Beispiele nennen. Am 1. Sep-tember 2009 wurde Khaled Kanjo nach Syrien abge-schoben. Er wurde dort drei Monate in Dunkelhaft ge-halten und gefoltert. Er konnte fliehen, weil er aufKaution freigestellt war. In der Türkei hat er über denUNHCR erneut den Flüchtlingsstatus bekommen. Nuraufgrund der Proteste, die es in Deutschland gab, undwegen der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hat sichDeutschland verpflichtet gesehen, ihn wieder aufzuneh-men.

Zehn solcher Fälle, die bis zum vergangenen Jahr, biszum Jahr 2011, zu verzeichnen waren, könnte ich auf-zählen. Es wurden sogar ganze Familien nach Syrien ab-geschoben, und das zu einem Zeitpunkt, als es unter dendortigen Oppositionellen schon Hunderte von Toten gabund klar war, dass man niemanden in dieses Land zu-rückführen darf. Das ist wirklich ein Skandal. Leiderkann ich nicht alle Fälle vortragen; Sie können sie aberjederzeit einsehen. Besonders interessant und wichtig ist,dass wir bis heute nicht wissen, wo all diese Menschenverblieben sind, und das, obwohl Flüchtlingsorganisatio-nen versucht haben, dies herauszubekommen.

Die Situation in Syrien eskaliert immer weiter. VonTausenden Toten ist die Rede. Es gibt Meldungen, dasssich unter den Aufständischen bewaffnete Gruppen be-finden. Immer mehr Soldaten desertieren. Die Reaktiondes Assad-Regimes wird immer brutaler – das ist über-haupt keine Frage –, und es ist schlicht nicht absehbar,wann die Menschen wieder sicher in Syrien leben kön-nen.

Natürlich wissen wir, dass zurzeit nicht nach Syrienabgeschoben wird. Dennoch will ich ganz deutlich sa-gen: In Deutschland leben 7 000 Flüchtlinge aus Syrien,die nur einen Duldungsstatus haben. Das heißt, sie dür-fen hier nicht arbeiten, sie haben Residenzpflicht, undsie haben vor allen Dingen Angst, abgeschoben zu wer-den. Diese Menschen brauchen endlich eine Perspektive.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen haben wir schon 2009 gefordert, dass es fürdiese Menschen ein Bleiberecht gibt und man sie nichtnach Syrien abschiebt.

Außerdem hat die Bundesregierung, die plötzlich sotut, als habe sie nie etwas mit dem syrischen Regime zutun gehabt, im Jahre 2009 ein sogenanntes Rücküber-nahmeabkommen mit Syrien abgeschlossen; man kanndazu auch „Abschiebeabkommen“ sagen. Dieses Ab-kommen ist bis heute nicht gekündigt worden. Ich for-dere Sie auf: Kündigen Sie dieses Abkommen mit dersyrischen Regierung! Ein Abkommen mit einem solchenStaat darf für Deutschland nicht weiter eine Verpflich-tung sein.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. JosipJuratovic [SPD])

In den vergangenen Wochen haben vier Syrer beimPetitionsausschuss des Bundestages darum gebeten, inDeutschland Asyl zu bekommen. Sie sind aus Ungarnnach Deutschland eingereist, und die deutschen Behör-den wollen sie wieder nach Ungarn abschieben, obwohlbekannt ist, dass Ungarn wiederum an Syrien abschiebt.Darunter befinden sich zwei Deserteure. Ich will mirhier nicht ausmalen, was es möglicherweise bedeutenwürde, wenn diese Menschen abgeschoben würden. Ichbitte Sie hier noch einmal: Stimmen Sie der Petition zu,dass es keine Abschiebung nach Ungarn gibt, weil wirwissen, dass Ungarn kein Asylsystem hat und die Men-schen dort nicht wirklich schützen wird.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zum Schluss: Ein verbindlicher Abschiebestopp, einBleiberecht für Menschen aus Syrien und die Kündigungdes Rückübernahmeabkommens sind das Mindeste, wo-für die Bundesregierung nun sorgen muss. Das wäre üb-rigens echte Solidarität mit den Opfern, die Sie hier inder letzten Woche eingefordert haben, und hilfreicher alsdas Säbelrasseln der NATO und eine Embargopolitik ge-gen die syrische Bevölkerung.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Frau Kollegin Jelpke. – Jetzt spricht für

die Bundesregierung der Parlamentarische StaatssekretärDr. Christoph Bergner. Bitte schön, Herr Staatssekretär.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Page 147: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18611

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Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beimBundesminister des Innern:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol-legin Jelpke, es herrscht ja Übereinstimmung, dass dieMenschenrechtslage in Syrien „desaströs“ ist, wie es inIhrem Antrag heißt, und es besteht kein Zweifel, dass siesich im Verlaufe des letzten Jahres erheblich zugespitzthat.

Die Bundesregierung hat die schweren Menschen-rechtsverletzungen in Syrien, insbesondere die anhal-tende Gewalt syrischer Sicherheitskräfte gegen Demon-stranten und andere Zivilpersonen, mehrfach scharfkritisiert. Zudem hat sich Deutschland nachdrücklich fürdie Verschärfung von EU-Sanktionen gegen Syrien undfür die Verurteilung des Regimes von Präsident Bascharal-Assad durch den Sicherheitsrat der Vereinten Natio-nen eingesetzt.

Es ist klar, dass eine solche Menschenrechtslage auchKonsequenzen für den Umgang mit schutzsuchendenFlüchtlingen und Asylbewerbern dieser Herkunft hat.Das Bundesministerium des Innern hat den Innenminis-terien und Innensenatoren der Länder vor dem Hinter-grund der zunehmenden staatlichen Repressionen gegenDemonstranten in Syrien bereits am 28. April 2011 emp-fohlen, vorläufig keine Abschiebungen nach Syrien vor-zunehmen.

(Niema Movassat [DIE LINKE]: Empfohlen!)

– Sie kennen doch die Zuständigkeiten. – Nach Angabender Bundesländer haben Rückführungen nach Syrien seitEnde April 2011 nicht mehr stattgefunden. Das Bundes-amt für Migration und Flüchtlinge sieht vor dem Hinter-grund der aktuellen Lage bis auf Weiteres davon ab, ab-lehnende Asylentscheidungen zum Herkunftsland Syrienzu treffen. – So weit zu der Forderung, entsprechendeKonsequenzen für die Abschiebepraxis zu ziehen.

Nun zu der Forderung, das Rückübernahmeabkom-men aufzukündigen. Ich glaube, bei dieser Forderunggehen Sie von einer unzutreffenden Beurteilung derFunktion und Tragweite dieses Abkommens aus. DieEinleitung und Durchführung der Rückübernahmever-fahren liegt in der Zuständigkeit der Ausländerbehördender Länder. Das Abkommen zwischen der Regierung derBundesrepublik Deutschland und der Regierung derArabischen Republik Syrien über die Rückführung vonillegal aufhältigen Personen aus dem Jahre 2008 be-schränkt sich auf prozedurale Regelungen.

(Niema Movassat [DIE LINKE]: Bürokra-tisch! Wie können Sie mit einer Diktatur so et-was abschließen? – Josef Philip Winkler[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das istjetzt ein Problem? Das darf doch nicht wahrsein!)

Es bedeutet für die zuständigen Bundesländer keineVerpflichtung zur Durchführung von Abschiebungenund auch keinen Hinderungsgrund, Abschiebungen inGefährdungssituationen auszusetzen. So werden zumBeispiel die Möglichkeiten zur Aussetzung einer Ab-schiebung bei humanitären und menschenrechtlichenAspekten im Ausländer- bzw. Asylrecht berücksichtigt;

sie werden durch das Abkommen nicht berührt. EineKündigung des Abkommens hätte nur zur Folge, dassdie Vereinbarungen zu Nachweis- und Glaubhaftma-chungsmitteln, Fristen und Rückübernahmeverfahrennicht mehr gelten würden, was für die Lösung des vonIhnen angesprochenen Problems in der Sache eigentlichirrelevant ist.

Eine weitere Forderung ist, die Überstellungen imRahmen der Dublin-II-Verordnung auszusetzen. Deutsch-land überstellt Asylbewerber, für die gemäß Dublin-Ver-ordnung ein anderer Mitgliedstaat der EuropäischenUnion bzw. ein anderer am Dublin-Verfahren teilneh-mender europäischer Staat zuständig ist, wenn dort keinekonkrete Gefahr der Verletzung der Genfer Flüchtlings-konvention und der Europäischen Menschenrechtskon-vention droht und nicht im Einzelfall außergewöhnlichehumanitäre Umstände einer Überstellung entgegenste-hen. Dieser Grundsatz gilt auch hier. Die Bundesregie-rung sieht derzeit keine Veranlassung, generell von derÜberstellung syrischer Staatsangehöriger in andere EU-Mitgliedstaaten abzusehen

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Auch nach Ungarn?)

und das Asylverfahren – ich komme gleich zu Ungarn –in Deutschland durchzuführen.

Sie hatten Ungarn angesprochen. Im Hinblick auf Un-garn haben das dortige Innenministerium sowie das un-garische Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaftgegenüber den Vertretern deutscher Behörden in Buda-pest erklärt, dass Ungarn derzeit keine Personen mehrnach Syrien zurückschicke. Syrien werde von ungari-scher Seite nicht mehr als sicherer Herkunftsstaat bewer-tet. Ich finde, innerhalb der Mitgliedstaaten der EU sollteman solche Worte ernst nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Bundesregierung geht jedenfalls davon aus, dassauch Ungarn die Gewährleistungen des europäischenund internationalen Flüchtlingsrechts sowie die einschlä-gigen Menschenrechtskodifikationen einhält. Verletzun-gen dieser Standards in einzelnen Fällen, die naturgemäßvielleicht nicht völlig ausgeschlossen werden können,und Erkenntnisse zu systemischen Rechtsverletzungendes ungarischen Asylsystems liegen nicht vor.

Ich fasse also dahin gehend zusammen: Die Bundes-regierung nimmt die Menschenrechtslage in Syrien sehrernst.

(Niema Movassat [DIE LINKE]: Sicher!)

Sie stellt sich den Verpflichtungen, die sich flüchtlings-politisch aus dieser Menschenrechtslage ergeben. Wasdie Regelungen im Umgang mit der Dublin-Verordnungund die angesprochene Situation in Ungarn betrifft, sohaben wir dies nach Rückfrage mit den zuständigen Stel-len in Ungarn geklärt. Wir haben innerhalb der EU kei-nen Anlass, an den Aussagen Ungarns zu zweifeln.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Page 148: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

18612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

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Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär

Dr. Bergner. – Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokra-ten unser Kollege Josip Juratovic. Bitte schön, Herr Kol-lege.

(Beifall bei der SPD)

Josip Juratovic (SPD):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir haben in der vergangenen Woche in gro-ßer Einigkeit über die unhaltbaren und menschenverach-tenden Zustände in Syrien gesprochen. Es ist ein wichti-ges Zeichen, dass wir die unsagbare Gewalt durch dasAssad-Regime einmütig verurteilen.

Es wurde auch über die internationale Schutzverant-wortung gesprochen, ob wir nicht verpflichtet sind, dieZivilbevölkerung vor der Massakrierung durch das syri-sche Regime zu schützen. Hier möchte ich die Bundesre-gierung loben, dass sie sich an der Finanzierung derFlüchtlingsaufnahme durch das internationale RoteKreuz und den Roten Halbmond in der Türkei beteiligt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Das zeigt: Die Problematik in Syrien und auch dieFlüchtlingsproblematik sind bei allen hier im Haus undin der Regierung angekommen.

Diese außenpolitische Einigkeit muss jedoch auchKonsequenzen in unserer eigenen Flüchtlingspolitik ha-ben. Davon sehe ich bisher leider viel zu wenig. Bereitsseit längerem fordern wir Sozialdemokraten, dass dasRückübernahmeabkommen mit Syrien gekündigt oderzumindest ausgesetzt wird. Das haben wir auch schonvor dem aktuellen Gewaltausbruch der syrischen Regie-rung gesagt. Ich weiß, dass dieses Abkommen währendder Großen Koalition geschlossen wurde. Natürlich waruns klar, dass Syrien auch damals kein gefestigterRechtsstaat war. Dennoch war dies eine ausländerrecht-liche Entscheidung. Die Situation hat sich aber drama-tisch verschlechtert; das ist uns allen bekannt.

Herr Wolff von der FDP sagte Anfang 2010, dass dieNotwendigkeit eines Abschiebestopps genau geprüftwerden muss, wenn die im Rückübernahmeabkommenenthaltenen Vereinbarungen zu den Menschenrechtennicht eingehalten werden.

(Zuruf von der FDP: Das machen wir ja!)

Ich frage mich, welche Beweise wir noch aus Syrienbrauchen, damit uns eindeutig klar wird, dass das Men-schenrechtskapitel in diesem Abkommen in Syrien mitFüßen getreten und mit Gewehrkolben geschlagen wirdund dass wir endlich konsequent handeln müssen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dazu reicht der Schritt nicht aus, dass das Innenmi-nisterium den Ländern empfiehlt, weitere Abschiebun-gen nach Syrien auszusetzen. Wir dürfen uns nicht ein-zig und allein auf die Lage im Ausländerrecht

zurückziehen und behaupten, rechtlich sei doch allesklar. Gerade bei einem außenpolitischen Brennpunkt wieSyrien müssen wir politische und nicht rein rechtlicheEntscheidungen treffen. Gerade hier müssen wir mehrdenn je unser humanitäres Gewissen einschalten.

Wir alle wissen, dass es bei Flüchtlingspolitik immerum Einzelschicksale geht. Dem müssen wir gerecht wer-den, und zwar nicht nur mit Paragrafen, sondern auchmit eindeutigen Aussagen, dass wir uns um die Men-schen kümmern, die in unserem Land sind, die meistenübrigens seit mehreren Jahren.

Herr Grindel hat im Januar 2010 betont, dass unterdenen, die wir bisher nach Syrien abgeschoben haben,auch sehr viele Kriminelle gewesen seien. Verzeihen Siemir, aber ich finde diese Verknüpfung absolut unerträg-lich, abgesehen davon, dass Sie dies überhaupt nicht be-weisen können.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie der Meinung sind, dass vermeintlich krimi-nelle syrische Flüchtlinge in unserem Land ohne Gewis-sensbisse den Gewehrkolben von Assads Schergen aus-gesetzt werden dürfen,

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Damals war die Situation eine andere!)

dann frage ich Sie: Was ist Ihr Verständnis vom Rechts-staat? Denn auch Flüchtlinge und vermeintlich Krimi-nelle besitzen Menschenrechte.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Es ist keine Frage, dass kriminelle Taten strafrechtlichverfolgt werden müssen, aber immer im Rahmen einesRechtsstaates und nicht mit den Mitteln der Abschie-bung.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

In Zeiten von rechtsradikalem Terror in unseremLand, dem zahlreiche Mitbürger mit Migrationshinter-grund zum Opfer gefallen sind, die auch zuerst als krimi-nelle Ausländer angesehen wurden, sollten wir mit sol-chen Vorurteilen deutlich vorsichtiger sein. Wir müssenuns zudem bewusst sein, dass viele Flüchtlinge, die zuuns kommen, traumatisiert sind. Viele Menschen könnenihre schrecklichen Erlebnisse nicht einfach wegsteckenund sind nicht so sicher im Umgang mit unserer Gesell-schaft. Wir müssen Respekt haben vor den traumati-schen Erlebnissen dieser Flüchtlinge.

Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass ausDeutschland direkt derzeit niemand mehr nach Syrienabgeschoben wird. Gott sei Dank, könnte man sagen.Aber wir wissen, dass es indirekte Abschiebungen gibt,und zwar über Ungarn. In diesen Tagen haben wir so-wieso schon Probleme mit Ungarn und dem Verhältnisder nationalkonservativen rechten Regierung von ViktorOrban zum Rechtsstaat. Gerade in einer solchen Situa-tion müssen wir sagen: Es kann nicht sein, dass Men-schen, die in Deutschland Schutz suchen, über Ungarn,

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18613

Josip Juratovic

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das Syrien unverständlicherweise nach wie vor als siche-ren Drittstaat bezeichnet, nach Syrien abgeschoben wer-den. Wir haben nach der Dublin-II-Verordnung dasRecht, das Asylverfahren an uns zu ziehen und nicht inUngarn zu belassen. Das sollte dringend geschehen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowiebei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Erlauben Sie mir zum Schluss, Ihnen meine persönli-chen Erfahrungen in der Flüchtlingspolitik mit auf denWeg zu geben: Während der Kriege im ehemaligenJugoslawien in den 90er-Jahren war ich in der Friedens-politik aktiv. Ich war im Kreis Heilbronn eine Anlauf-stelle für Flüchtlinge aus den Kriegsländern des ehemali-gen Jugoslawien. In meinem Haus lebten teilweise bis zu18 Flüchtlinge, übrigens aus verschiedenen Ethnien ausdem ganzen ehemaligen Jugoslawien. Ich kann nur sa-gen: Gott sei Dank gab es damals eine andere Flücht-lingspolitik und noch keine Dublin-II-Verordnung. ZumGlück konnten diese Menschen hier in Sicherheit leben.

Im Übrigen ist keine dieser Familien noch in unseremLand. Das mag die Union freuen, die oft Angst hat, dassFlüchtlinge unser Land überrennen und dann hier weiter-hin vermeintlich auf Kosten des Staates leben wollen.Mich stimmt es aber auch traurig; denn offensichtlichhaben diese Menschen in den USA, in Australien oderanderswo bessere Chancen gesehen. Wir sollten drin-gend überlegen, wie wir Flüchtlingen und Geduldeten,die oft von uns ausgebildete Fachkräfte sind, eineChance auf unserem Arbeitsmarkt und in unserer Gesell-schaft geben können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Juratovic. – Nächster Redner

für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Serkan Tören.Bitte schön, Herr Kollege.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Serkan Tören (FDP):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich finde es schon empörend und ein bisschen zynisch,Frau Jelpke, dass auf der einen Seite die Linke den vor-liegenden Antrag stellt

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Was erlau-ben Sie sich denn?)

und auf der anderen Seite sich Mitglieder Ihrer Fraktionmit der Regierung in Syrien und dem MachthaberBaschar al-Assad solidarisieren. Das passt nicht. Das istnichts anderes als Scheinheiligkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Situation in Syrien ist schlicht unerträglich; das istvon den Vorrednern schon mehrmals gesagt worden. Esfinden Militäreinsätze gegen das eigene Volk statt. Die

Protestbewegung wird mit exzessiver Gewalt niederge-schmettert. Das alles ist in keiner Weise zu akzeptieren.

Mit der Beurteilung politischer Verhältnisse in Staa-ten wie Syrien geht die Bundesregierung sehr verantwor-tungsvoll um, insbesondere was mögliche Folgerungenhinsichtlich der asylrechtlichen Relevanz aktueller Ent-wicklungen angeht.

(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Deswegen habt ihr auch noch bis September abgeschoben!)

Neben den regelmäßig vom Auswärtigen Amt verfasstenLageberichten werden anlassbezogene aktuelle Berichteangefertigt. Diese dienen dann den inländischen Behör-den als Grundlage für die Entscheidung über die Aner-kennung als Flüchtlinge. Darüber hinaus gibt es eine un-mittelbare Kooperation der Innenminister der Länder mitdem Bundesinnenministerium, um bei aktuellen Krisen-situationen sofort reagieren zu können. So hat der Bun-desinnenminister auf die im Frühjahr in Syrien erfolgtenmilitärischen Einsätze gegen die Protestbewegung rea-giert und mit den Bundesländern vereinbart: Die Ab-schiebung von ausreisepflichtigen syrischen Staatsange-hörigen wird bis auf Weiteres ausgesetzt. – Seitdemfinden bundesweit keine Rückführungen mehr statt.

(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Ich habe ein paarDaten hier! Die kann ich Ihnen gleich mal ge-ben!)

Das ist eine Selbstverständlichkeit. Da allerdings nichtabsehbar ist, wie sich die politische Situation in Syrienentwickelt – wir sehen, dass sich Staaten in Nordafrikabereits stabilisieren –, können wir eine dauerhafte Ent-scheidung nicht treffen. Die sofortige Aussetzung derAbschiebung war geboten. Die Vorläufigkeit dieser An-ordnung ist allerdings auch richtig.

Die FDP-Bundestagsfraktion sieht keinen Grund, dasdeutsch-syrische Rückübernahmeabkommen zu kündi-gen.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Klar! –Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das ist bürgerrechtlich sicherlichbemerkenswert!)

Jeder Staat ist zur Rückübernahme seiner Staatsangehö-rigen verpflichtet, wenn diese aus anderen Staaten aus-reisen müssen. Hierbei handelt es sich um eine allge-meine völkerrechtliche Verpflichtung.

(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Was ist denn mit der Genfer Flüchtlingskonvention?)

Das haben Sie bis heute nicht verstanden. Sie tun so, alsob die Rückübernahmeabkommen geradezu die rechtli-che Grundlage dafür wären. Das stimmt nicht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Rückübernahmeabkommen begründen nicht die Ver-pflichtung, sondern regeln das administrative Verfahren,insbesondere bei der Identitätsfeststellung. Da die Durch-führung von Abschiebungen nach Syrien bis auf Weiteresausgesetzt ist, besteht kein Anlass für eine Kündigung desRückübernahmeabkommens.

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18614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Serkan Tören

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(Niema Movassat [DIE LINKE]: Die FDP war mal eine bürgerrechtliche Partei!)

Im Rahmen der sogenannten Dublin-II-Verordnungist die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, Asylan-tragsteller an andere Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion zu überstellen, wenn diese für die Durchführungdes Asylverfahrens zuständig sind. In der Regel ist diesdann der Fall, wenn die Ersteinreise in das Gebiet derEuropäischen Union in einem anderen Staat erfolgte.Ausnahmen von der Überstellung gelten dann, wenn indem anderen Mitgliedstaat beispielsweise die konkreteGefahr der Verletzung der Genfer Flüchtlingskonventionbesteht.

(Zuruf von der LINKEN: Die besteht aber!)

Wir gehen davon aus: Ungarn hält in vollem Umfangdie Gewährleistungen des europäischen und internatio-nalen Flüchtlingsrechts sowie der einschlägigen Men-schenrechtskodifikationen ein.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch blauäugig!)

Dies gilt insbesondere für das Refoulement-Verbot. Dieungarische Regierung hat zudem erklärt – das hat derStaatssekretär schon aufgezeigt –, dass sie seit Mai 2011keine Personen mehr nach Syrien zurückschickt, da esderzeit auch aus ungarischer Sicht kein sicheres Her-kunftsland ist.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit wann bitte?)

Sie müssen Beispielfälle nennen. Sie tun das aber nicht,sondern stellen Mutmaßungen an. Aber mit Mutmaßun-gen kommen wir einfach nicht weiter.

(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Kommen Sie zu mir! Dann kriegen Sie die Unterlagen!)

Abschließend sei festgestellt: Ein Drittstaatsangehöri-ger erhält immer gerichtlichen Rechtsschutz in dem je-weiligen Mitgliedstaat, aber auch vor den europäischenGerichten, falls er sich durch eine Überstellung in seinHerkunftsland in seinen Rechten verletzt sieht.

Aus diesen Gründen lehnen wir den Antrag der Lin-ken ab.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in un-

serer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünenunser Kollege Josef Winkler. Bitte schön, Kollege JosefWinkler.

(Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] begibt sich zum Platz desAbg. Serkan Tören [FDP])

– Tauschen Sie noch das Manuskript aus?

(Heiterkeit – Josef Philip Winkler [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe etwas nichtverstanden und habe nachgefragt!)

Bitte schön, Kollege Josef Winkler.

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Bezieh dichdoch auf die Rede von Serkan! Dann ist allesin Ordnung!)

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Ich hatte Herrn Törennur etwas gefragt, weil ich etwas akustisch nicht verstan-den hatte. Intellektuell war mir aber das Argument zu-gänglich.

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich finde, es ist ein Trauerspiel, dass wir hierfast wöchentlich über die Situation in Syrien im Rahmender Außenpolitik debattieren, sich aber innenpolitisch imUmgang mit den syrischen Flüchtlingen nur wenig ver-ändert. Ich denke – das muss ich nach der Rede vonHerrn Staatssekretär Dr. Bergner sagen –, es schlägt demFass den Boden aus,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

dass Sie sich jetzt hinter der formalen Zuständigkeit derBundesländer, der Kommunen und der Ausländerbehör-den verstecken und sich auf reine Verwaltungsargumentezurückziehen.

(Michael Frieser [CDU/CSU]: Das Ziel ist doch erreicht!)

Sie haben eben hier gesagt, das Rücknahmeabkommenbeschränke sich auf rein prozessuale Regelungen. Wennes wirklich nur um Formalia geht, dann besteht erst rechtkein Grund, an dem Abkommen, das man mit demAssad-Regime geschlossen hat, festzuhalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der LINKEN sowie bei Abgeordnetender SPD – Michael Frieser [CDU/CSU]:Falsch! Verkehrt!)

Herr Tören, es ist wirklich kein Argument, zu sagen, wirseien zu doof, um zu verstehen, wofür Rücknahmeab-kommen gedacht seien. Es gibt Regime in der Welt, mitdenen man schlicht und ergreifend keine Verträgeschließt, auch wenn man es darf und wenn man es kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der LINKEN sowie bei Abgeordnetender SPD)

Wir sagen: Die Bundesregierung hat es in der Hand.Sie können unverzüglich einen Abschiebestopp für syri-sche Flüchtlinge aus der Bundesrepublik Deutschlandverhängen. Sie können auch endlich gegenüber den Bun-desländern sicherstellen, dass kein Syrer mehr bei dersyrischen Botschaft in Berlin vorgeführt wird. Eine Vor-führung ist nicht nur für die syrischen Staatsangehörigengefährlich, sondern auch für ihre Familienangehörigen,die noch in Syrien sind und dort mit Repressionen zu

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18615

Josef Philip Winkler

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rechnen haben, wenn die Personalien festgestellt wer-den.

Das ist keine rein theoretische Debatte; denn die Aus-länderbehörde in Magdeburg hat am 23. November 2011mehrere syrische Staatsangehörige zur Vorsprache in derBotschaft in Berlin aufgefordert. Daraufhin ist der Kla-geweg beschritten worden, und das VerwaltungsgerichtMagdeburg hat dann festgestellt, dass so etwas in diesenZeiten rechtlich nicht zulässig ist. Ich darf hinzufügen:Diese Praxis ist auch unmenschlich und sollte nicht fort-gesetzt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der LINKEN sowie bei Abgeordnetender SPD)

Deswegen unterstreiche ich für meine Fraktion aus-drücklich die Worte, die Frau Jelpke hier gefunden hat.Die einzigen Maßnahmen, mit denen wir uns ehrlich ge-gen die syrische Regierung und an die Seite der syri-schen Opposition stellen können, wären die Kündigungdieses Abkommens, der Erlass eines Abschiebestoppsund die Beendigung der Botschaftsvorführungen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Es geht auch nicht, die Flüchtlinge nach Ungarn abzu-schieben. So blauäugig wie Herr Tören bin ich nicht.Nur weil die ungarische Regierung eine Rechtsauskunfterteilt, muss diese nicht unbedingt stimmen. Ich nehmees aber dem Herrn Staatssekretär ab, dass Ungarn neuer-dings – das war für mich neu – nicht mehr als sichererDrittstaat gilt. Bis vor kurzem wurden nach meinerKenntnis Flüchtlinge, die aus Deutschland nach Ungarnim Dublin-II-Verfahren abgeschoben wurden, von Un-garn nach Damaskus weiter abgeschoben und warendann perdu. Man weiß nicht, was aus ihnen gewordenist. In einen Traumurlaub wird sie das Regime allerdingsnicht geschickt haben.

Menschenrechtspolitik, die glaubwürdig ist, fängt imeigenen Land an. Sie kann nicht nur gegenüber diktatori-schen Regimen im Ausland praktiziert werden.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der LINKEN sowie bei Abgeordnetender SPD)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Josef Winkler.

Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist Kol-lege Michael Frieser. Bitte schön, Kollege MichaelFrieser.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Michael Frieser (CDU/CSU):Vielen Dank, Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Auch das ständige Wiederholen von Anträgenkann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bundes-republik Deutschland einiges auf diesem Gebiet tut.Vielleicht handelt es sich bei Ihnen um das pädagogischePrinzip der permanenten Wiederholung in der Hoffnung,

dass irgendwann die entscheidenden Argumente verfan-gen.

Ich will noch einmal darauf hinweisen: Was uns indieser Debatte eint, ist die Verurteilung der derzeitigenZustände, die durch das Regime verursacht werden, undder derzeitigen Verfolgung derer, die nichts anderes tunals das, was auch wir tun, nämlich die Einhaltung vonMenschenrechten in Syrien zu fordern, und die deshalbgegen das Assad-Regime auf die Straße gehen. Ichhoffe, dass wir zumindest insoweit in dieselbe Richtunggehen.

Wir brauchen in dieser Frage keine Nachhilfe, schongar nicht von der linken Seite des Hauses. Kollege Törenhat es mit dem notwendigen Ernst vorgetragen. Ich willnoch einmal daran erinnern: Im Jahr 2008 hat es unterdem damaligen Innenminister Schäuble tatsächlich eineInitiative Deutschlands gegeben, bis zu 10 000 syrischeFlüchtlinge in die EU zu bringen und das KontingentDeutschlands mit 2 500 voll auszuschöpfen. Also auchin dieser Frage brauchen die Regierung und wir mitSicherheit keinerlei Nachhilfe.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das war dann aber auch der ein-zige Punkt!)

Ich glaube, dass das der entscheidende Punkt ist. Des-halb sollte man nicht versuchen, in der Diskussion diebeiden Argumente – auf der einen Seite Abschiebungund auf der anderen Seite Rückführung –, die gar nichtsmiteinander zu tun haben, zu verbinden. Wir sind nachwie vor der Auffassung, dass wir in der derzeitigenSituation, die wir erkennen und die dazu führt, dass ausdiesem Land niemand nach Syrien abgeschoben wird,die menschenrechtliche Dimension sehen und dass wirin dieser Frage mit Sicherheit keine Nachhilfe brauchen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Es gibt doch einen Runderlass! Esheißt nur, es sei nicht ratsam, abzuschieben!)

Aber worum geht es? Es geht darum, dass wir ge-meinsam dafür kämpfen – dazu lade ich durchaus auchein –, dass den derzeitigen Zuständen gerade auch aufEU-Ebene rasche Erweiterungen der Sanktionen gegen-übergestellt werden. Wir müssen über die Frage von EU-Einreisesperren reden, wir müssen über Finanzsanktio-nen reden, und wir müssen schauen, dass man auch beimThema Ölimportembargo auf Ebene der EU ein Verbotder Investitionen in den Öl- und Gassektor in Syrien er-reicht.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Was ist denn mit den Botschafts-vorführungen? Sagen Sie dazu nichts?)

Das ist etwas, was wirklich funktioniert. Was nicht funk-tioniert, ist, den Menschen Sand in die Augen zu streuen.Das tun wir leider Gottes hier auch wieder.

Ich wiederhole es: Die Kündigung des Rückführungs-abkommens hat mit der Aufhebung der Abschiebung,also damit, dass in dieses Land wegen der Zustände dortnicht abgeschoben wird, überhaupt nichts zu tun. Im Ge-

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18616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Michael Frieser

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genteil: Im Grunde verpflichten wir das Assad-Regimenach wie vor, an einem völkerrechtlichen Vertrag festzu-halten. Denn wenn wir Staaten, die sich in dieser Art undWeise verhalten, auch noch aus ihren völkerrechtlichenVerpflichtungen entlassen, dann entbinden wir sie ja jeg-licher Verpflichtung. Damit erreichen wir genau das Ge-genteil von dem, was wir eigentlich wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Daher geht es meines Erachtens darum, dass wir auchdie Tatsache zur Kenntnis nehmen müssen, dass dieBundesregierung das Notwendige getan hat. Staatssekre-tär Bergner hat die – ich will es einmal so sagen – Wei-sung erwähnt. Wir kennen doch alle die Schreiben ausdem Jahr 2011, in denen es darum geht, dass die zustän-digen Länder aufgefordert werden, tatsächlich nicht ab-zuschieben. Insofern muss man deutlich sagen: Auch dasBAMF trägt durch ständig aktualisierte Situations-berichte dazu bei, dass niemand so tun kann, als könneer die Situation nicht beurteilen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sie reden ständig am Thema vor-bei!)

Wir müssen deutlich sagen: In diesem Land muss unddarf keiner Angst davor haben, dass er in ein Land abge-schoben wird, in dem es konkrete Gefahren für Leib undLeben gibt oder in dem ihm die Folter droht. Genau dastun wir nicht.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Haben Sie aber! Wenn die Betrof-fenen in die Botschaft einbestellt werden!)

Versuchen Sie also bitte nicht, den Eindruck zu erwe-cken, als handele es sich hier um einen herzlosen, gewis-senlosen und imperialistischen Folterstaat. Das ist defi-nitiv nicht der Fall.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das ist doch am Thema vorbei!)

Ich hoffe nicht, dass Sie auf der Ebene der Diskussionüber die derzeitigen Zustände in Syrien versuchen, etwasanderes zu transportieren. Es ist eine Art von Migra-tionspolitik für jene, die am Ende des Tages hier bleibensollen und Ihrer Auffassung nach auch hier bleibenmüssten. Ihre Kritik kommt zum falschen Zeitpunkt.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist völliger Quatsch!)

Insofern kann ich nur sagen: Ich glaube, dass es wich-tig ist, dass wir im Interesse derjenigen, die in diesemLand berechtigterweise leben, die Position vertretenmüssen, dass wir die Ausreise jener, die zur Ausreiseverpflichtet sind, auch durchsetzen können.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Was hat das denn mit dem Themazu tun?)

Diesen Zusammenhang dürfen wir nicht mit der Kündi-gung eines Rückführungsabkommens, das nicht notwen-dig ist, verwechseln.

(Zuruf von der LINKEN: Ich hätte gerne eine klare Auskunft!)

Ich bitte dringend, diese beiden Punkte auseinanderzu-halten.

Es bleibt dabei: Die bürgerkriegsähnlichen Zuständein Syrien setzen eine Abschiebung tatsächlich aus. Ge-nauso verhält sich dieses Land. Wir gehen davon aus,dass das unsere Partner in der EU auch tun. Deshalbkönnen wir nur eines machen: diesen Antrag erneutablehnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Michael Frieser. – Ich schließe

die Aussprache.

Ich komme nun zur Abstimmung über den Antrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/8456 mit demTitel „Abschiebestopp und Bleiberecht für Flüchtlingeaus Syrien“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Das sinddie Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalitions-fraktionen. Enthaltungen? – Das ist die Fraktion der So-zialdemokraten. Der Antrag ist abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales(11. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten AntonSchaaf, Gabriele Hiller-Ohm, Josip Juratovic,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPD

DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vorRentenminderungen schützen – GesetzlicheRegelung im SGB VI verankern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. WolfgangStrengmann-Kuhn, Wolfgang Wieland, FritzKuhn, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vorRentenminderungen schützen – GesetzlicheRegelung im SGB VI verankern

– Drucksachen 17/5516, 17/6108, 17/6390 –

Berichterstattung:Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Sie sind da-mit einverstanden. Dann ist dies so beschlossen.

Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Frak-tion der CDU/CSU unser Kollege Peter Weiß. Bitteschön, Kollege Peter Weiß.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich will ganz ehrlich sagen: Es ist nicht leicht, die beson-dere Situation der Menschen, die vor der Verwirklichungder deutschen Einheit aus der DDR geflohen und in diedamalige Bundesrepublik gekommen sind, wirklich ge-recht zu bewerten. Es ist in der Tat auch nicht leicht, einegerechte Lösung für das Problem ihrer Rentenansprüchezu finden.

Wir alle wissen, dass sich mit denjenigen, die es ge-wagt haben, aus der DDR zu fliehen, in der Regelschwere Schicksale verbinden. Wir alle wissen, dass zueinem solchen Entschluss viel Mut und Durchhaltekraftgehörten, und wir wissen, dass diese Flüchtlinge viel ge-wagt und auch viel aufgegeben haben. Deswegen habenwir uns in den vergangenen Monaten noch einmal inten-siv mit den Argumenten und den Anliegen der Betroffe-nen hinsichtlich ihrer Rentenansprüche und namentlichmit der Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flücht-linge auseinandergesetzt und zahlreiche Fachleute kon-sultiert.

Die SPD hat im letzten Jahr einen Antrag vorgelegt– die Grünen haben sich ihm angeschlossen –, in demgefordert wird, dass für die Frage, ob nach dem soge-nannten Fremdrentengesetz oder nach dem gesamtdeut-schen Renten-Überleitungsgesetz die Rentenberech-nung erfolgen soll, ein neuer Stichtag eingeführt wird.Dieser Stichtag soll der Tag des Mauerfalls, der 9. No-vember 1989, sein.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn man sichdiese Forderung genauer anschaut, stellt man fest: Dasist kaum ein rechtlich gangbarer Weg, also kein Weg, derauch verfassungsrechtlichen Prüfungen standhält. Es isterstaunlich: Elf Jahre lang – in der Zeit nach der deut-schen Einheit – hat eine Sozialdemokratin oder ein So-zialdemokrat das für Rentenfragen zuständige Bundes-ministerium geführt. Alle Versuche, die Berechnung derRente ehemaliger DDR-Übersiedler und -Flüchtlingeneu zu gestalten, wurden abgewiesen, und man hat da-rauf bestanden, dass das Renten-Überleitungsgesetz zurAnwendung kommt.

(Anton Schaaf [SPD]: Unter Blüm ist das so gelau-fen, Peter Weiß! Das weißt du genau!)

– Ich komme darauf noch zu sprechen. – Kaum sind dieSozialdemokraten und die Grünen in der Opposition, istoffensichtlich all das, was man in der Zeit, in der manselber regiert hat, wusste, anders zu sehen, und man for-dert einen neuen Stichtag. Es ist zumindest verwunder-lich, was hier vorgeschlagen wird, und es bedarf schoneiner genauen Prüfung: Woher kommt eigentlich dieseIdee? Würde ihre Umsetzung irgendeines unserer Pro-bleme lösen?

(Anton Schaaf [SPD]: Die Probleme der Be-troffenen!)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn es so seinsoll, dass für nach 1937 geborene, aber vor dem 9. No-vember 1989 in die Bundesrepublik gekommene ehe-malige DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger die Mög-lichkeit besteht, die Rente entweder nach dem

Fremdrentenrecht oder, falls man sich damit günstiger-stellt, nach dem Renten-Überleitungsgesetz berechnenzu lassen, dann stellt sich doch die Frage: Warum solldas eigentlich für vor 1937 Geborene nicht auch gelten?Die Frage ist unbeantwortet.

(Anton Schaaf [SPD]: Wir haben es doch in unserem Gesetz drin!)

– Entschuldigung, uns liegt eine Petition an den Bundes-tag vor, in der ein vor 1937 Geborener fordert, nach demRenten-Überleitungsgesetz und nicht nach dem Fremd-rentengesetz behandelt zu werden.

Was ist eigentlich mit den Menschen, die zwischendem 9. November 1989 und dem 18. Mai 1990, dem Tagdes Staatsvertrages über die Schaffung der Währungs-,Wirtschafts- und Sozialunion, in die Bundesrepublik ge-kommen sind? Konnte jemand, der am 10. November1989 in den Westen kam, wirklich damit rechnen, dassdie deutsche Einheit wiederhergestellt werden würde?Auch diese Frage bleibt unbeantwortet.

(Anton Schaaf [SPD]: Natürlich! Die Mauer war gefallen!)

Was ist mit den Menschen, die nach dem Mauerfall undvor der Schaffung der Wirtschafts-, Währungs- und So-zialunion nach Deutschland West gekommen sind?

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn Ihre Al-ternative?)

Eine weitere Frage ist: Welche Fassung des Fremd-rentengesetzes sollen wir eigentlich anwenden? Nach1990 ist das Fremdrentengesetz ja mehrmals geändertworden. Das betrifft vor allen Dingen die Spätaussiedle-rinnen und Spätaussiedler, die nach dem heutigenFremdrentengesetz nur noch 60 Prozent der Leistungenbekommen. Nun frage ich Sie: Ist es wirklich im Sinneder Gerechtigkeit, dass in Deutschland Deutsche Tür anTür leben, von denen nach dem Willen der SPD und derGrünen die einen nur 60 Prozent der Leistungen und dieanderen 100 Prozent der Leistungen nach Fremdrenten-recht ausgezahlt bekommen sollen? Das hat mit Gerech-tigkeit nichts zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich wette, dass, wenn wir eine solche Regelung be-schließen würden, diejenigen, die zurzeit nur 60 Prozentder Leistungen bekommen, Klage – wahrscheinlich auchvor dem Bundesverfassungsgericht – erheben und sichgegen diese Ungleichbehandlung wehren würden.

Vizepräsident Eduard Oswald:Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Schaaf, der sich auch vorher schon bemerkbargemacht hat?

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):Bitte schön.

Vizepräsident Eduard Oswald:Bitte schön, Herr Kollege Schaaf.

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18618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

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Anton Schaaf (SPD):Entschuldigen Sie bitte, dass ich da ein wenig impul-

siv bin, Herr Präsident. Aber an dieser Stelle wird zu-mindest nicht ganz Korrektes verbreitet.

Wenn wir über DDR-Übersiedler und über DDR-Flüchtlinge reden, dann gibt es im Prinzip nur einen ein-zigen Status: Diese Menschen sind nämlich Deutsche.Wenn wir über Spätaussiedler reden, meinen wir eineviel größere Gruppe, zum Beispiel auch Russlanddeut-sche und andere. Das Rentenrecht für diese Menschenhat sich natürlich verändert; das stimmt.

Eine Günstigkeitsprüfung für Deutsche, die aus derDDR geflohen sind, ausgebürgert worden sind oder auswelchen Gründen auch immer in die Bundesrepublik ge-kommen sind, hat mit der Kürzung von Leistungen nachdem Fremdrentengesetz aber überhaupt nichts zu tun.Deswegen haben wir Sozialdemokraten ja vorgeschla-gen, den Deutschen, die aus der DDR geflohen sind, aus-gebürgert worden sind oder Ähnliches, die Möglichkeiteiner Günstigkeitsrechnung zu geben. Das miteinanderzu vermischen, Peter Weiß, ist unredlich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Anton Schaaf. – Jetzt, bitte

schön, Peter Weiß.

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):Herr Kollege Schaaf, wenn ich Ihrer Fragestellung

entnehmen darf, dass Sie der Auffassung sind, dass dasFremdrentengesetz in der aktuellen Fassung, also mitden auf 60 Prozent abgesenkten Leistungen, angewandtwerden soll, dann halte ich Ihnen entgegen, dass dieDDR-Übersiedler und DDR-Flüchtlinge sagen werden:Genau das wollen wir nicht; wir wollen 100 Prozentnach dem Fremdrentenrecht bekommen. – Denn wennsie nur 60 Prozent bekämen, würden sich die Betroffe-nen, bis auf vielleicht ganz wenige Ausnahmen, allesamtnach dem Renten-Überleitungsgesetz besser stehen, unddann gäbe es überhaupt keinen Anlass für die SPD-Frak-tion, einen solchen Antrag zu stellen. Er wäre nämlichschlichtweg unnötig.

(Beifall bei der CDU/CSU – Britta Haßelmann[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was schlagenSie denn vor? Nicht nur Fragen stellen!)

Es wird immer wieder behauptet, dass das, was mitdem Renten-Überleitungsgesetz gemacht wurde, nichtrechtens sei. Angesichts dessen ist es bemerkenswert,dass der 5. Senat des Bundessozialgerichts am 14. De-zember 2011 ein Urteil gefällt hat, in dem er klarstellt,dass der Gesetzgeber das Recht und auch Anlass hatte,DDR-Flüchtlinge und DDR-Übersiedler in das Renten-Überleitungsgesetz aufzunehmen, zumal über dasFremdrentenrecht keine Rentenansprüche erworben wer-den, denen eigene Einzahlungen zugrunde liegen.

Das oberste Sozialgericht in Deutschland hat alsofestgestellt, dass das, was der gesamtdeutsche Gesetzge-

ber mit dem Renten-Überleitungsgesetz getan hat, vollund ganz rechtens ist. Deswegen, verehrte Kolleginnenund Kollegen, sage ich Folgendes: Bei allem Verständnisfür die DDR-Übersiedler und DDR-Flüchtlinge und ih-rem Wunsch, eine bessere Lösung zu finden, die viel-leicht auch außerhalb des Rentenrechts liegen könnte,können wir nicht einfach ein Gesetz beschließen, das dasProblem nicht löst und das auch nur zu neuen Ungerech-tigkeiten und zu neuen Problemen führen würde, die unsalle auf die Füße fallen werden. Daher kann man einesolche Regelung, wie sie vorgeschlagen wird, schlicht-weg nicht beschließen. Es ist den ehemaligen DDR-Flüchtlingen damit nicht geholfen.

Vizepräsident Eduard Oswald:Sie wollten zum Schluss kommen.

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):Ja. – Es ist damit dem gesamtdeutschen Rentenrecht

nicht geholfen. Außerdem ist es verfassungsrechtlichproblematisch, ein Gesetz zu machen, von dem man vonvornherein weiß, dass man garantiert zig Prozesse, auchvor dem Bundesverfassungsgericht, führen muss. Dassollte man tunlichst unterlassen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Eduard Oswald:Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. – Nächster Redner

in unserer Aussprache ist für die Fraktion der SPD unserKollege Ottmar Schreiner. Bitte schön, Kollege OttmarSchreiner.

(Beifall bei der SPD)

Ottmar Schreiner (SPD):Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Zunächst einmal

möchte ich an die letzte Bemerkung des Kollegen Weißanknüpfen. Herr Kollege Weiß, Sie sagen, Sie wollenbessere Lösungen. Für bessere Lösungen haben Sie in-zwischen Jahr um Jahr Zeit gehabt. Geschehen ist nichts.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Interessenverbände der ehemaligen DDR-Flücht-linge – hier sitzen Kolleginnen und Kollegen der Interes-sengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge – habensich seit Jahren bei allen Parteien, die im DeutschenBundestag vertreten sind, um Korrekturen bemüht. Sieempfinden das, was geschehen ist, als tiefes Unrecht undals Gegensatz zu rechtsstaatlichem Vorgehen.

Ich will Ihnen den Sachverhalt aus einer etwas ande-ren Sicht vortragen, Herr Kollege Weiß und liebe Kolle-ginnen und Kollegen der Union und auch der FDP: Wo-rum geht es? Es geht um ehemalige DDR-Bürger, diedamals entweder über den Weg als politische Flüchtlingebzw. als freigekaufte politische Häftlinge oder über einoft zermürbendes Ausbürgerungsverfahren in den Wes-ten, in die Bundesrepublik, gekommen sind. Um dieseMenschen geht es.

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Ottmar Schreiner

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Nun hat es bis 1989 einen sogenannten Wegweiserder Bundesregierung für ebendiesen Personenkreis gege-ben. Das sind die Übersiedler aus der ehemaligen DDR,Flüchtlinge, freigekaufte Häftlinge usw. In diesem„Wegweiser für Flüchtlinge und Übersiedler aus derDDR“ von 1989, 10. Auflage, steht ein schönes Vorwortdes Bundesinnenministeriums. Herausgeber war derdamalige Bundesinnenminister, nämlich HerrDr. Schäuble. In diesem Dokument der Bundesregierungheißt es unter Punkt 17:

… Übersiedler aus der DDR … werden in der ge-setzlichen Rentenversicherung grundsätzlich so be-handelt, als ob sie ihr gesamtes Arbeitsleben in derBundesrepublik Deutschland zurückgelegt hätten.

Das ist das zentrale Versprechen der BundesrepublikDeutschland an die DDR-Flüchtlinge gewesen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Von diesem zentralen Versprechen sind Sie abgerückt.Zu diesem zentralen Versprechen wollen Sie nicht wie-der zurückkehren. Das ist der entscheidende Vorwurf.Herr Kollege Weiß, Sie haben recht, wenn Sie daraufhinweisen, dass die Führung des Bundesarbeitsministeri-ums, wer auch immer diese Führung innehatte, in dieserFrage keine wirklich offensive Rolle gespielt hat. Daswill ich überhaupt nicht bestreiten. Aber lieber spät alsgar nicht.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Betroffenen – es sind immer noch Hunderttau-sende – empfinden diesen Vorgang, dieses gebrocheneVersprechen der bundesdeutschen Politik, als zutiefst de-primierend und zutiefst erniedrigend. Es ist aber immernoch Zeit, dies zu ändern.

Es ist dann geändert worden, aber nicht über das Ren-ten-Überleitungsgesetz von 1991, mit dem versuchtwurde, die beiden Rentensysteme überwiegend auf derGrundlage des westdeutschen Systems zu vereinheitli-chen. Die Rechtsgrundlage, Herr Kollege Weiß, ist imJahre 1993 geändert worden, und zwar in Form einersehr stark verklausulierten, kleinen Formulierung in ei-nem angeschlossenen Gesetz. Die Interessenverbändehaben Frau Babel angeschrieben – damals die sozialpoli-tische Sprecherin der FDP –, sie haben den KollegenCronenberg von der FDP – damals Vizepräsident desDeutschen Bundestages – angeschrieben. Aber niemandwar sich der Tragweite der damaligen Regelungen, die inverklausulierter, versteckter Form irgendwo unterge-bracht worden sind, in Wirklichkeit bewusst.

Wenn man nach den Gründen fragt, lieber KollegeWeiß, wird es wirklich spannend. Sie haben als Bericht-erstatter des Ausschusses in der Bundestagsdrucksache17/6390 – das ist das aktuelle Dokument – Folgendesformuliert:

Die Fraktion der CDU/CSU verwies darauf,

– in den Beratungen –

dass mit der deutschen Einheit

– jetzt kommt es –

alle Bürger der ehemaligen DDR Bundesbürger ge-worden seien. Daher sei es systematisch richtig,dass sie alle nach dem Renten-Überleitungsgesetzbehandelt würden.

Hier wird mit einem ganz faulen sprachlichen Trickein Pseudoargument aufgebaut. Es handelt sich bei denehemaligen DDR-Flüchtlingen nicht um Bürger der ehe-maligen DDR, es handelt sich bei diesen Flüchtlingenum Menschen, die jahre- und teilweise jahrzehntelangBürger der Bundesrepublik Deutschland waren und dieunter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes stan-den.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:Kollege Ottmar Schreiner, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage unseres Kollegen Karl Schiewerling?

Karl Schiewerling (CDU/CSU):Herr Kollege Schreiner, Sie sind ja Jurist. Sie haben

seinerzeit im Deutschen Bundestag der Änderung zuge-stimmt.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Darauf kommt es doch gar nicht an!)

Können Sie bestätigen, dass es in der Rentenge-schichte der Bundesrepublik Deutschland immer wiederwichtige Eckpunkte gegeben hat und dass Feststellungs-bescheide nicht identisch mit den zukünftigen Rentenbe-scheiden sind, weil in ihnen zunächst nur Feststellungengetroffen werden?

Können Sie zudem zustimmen, dass es zum Beispielim Jahre 2005 Rentenänderungen gegeben hat, obwohlFeststellungsbescheide und Feststellungen vorher andersgelautet haben? Das galt zum Beispiel für den Bereichder Anerkennung von Schul- und Hochschulzeiten. Esgab somit Änderungen im Rentenrecht auch für die Bür-gerinnen und Bürger, die nicht aus der DDR geflohensind und die schon immer hier gelebt haben. Obwohl derFeststellungsbescheid vorher etwas anderes ausgesagthat, wurden hinterher noch einzelne Punkte geändert.Stimmen Sie mir zu, dass das im deutschen Rentenrechtnichts Ungewöhnliches ist und dass auch Menschen, diehier wohnen, von solchen Änderungen betroffen sind?

Ottmar Schreiner (SPD):Lieber Kollege Schiewerling, Sie versuchen jetzt, das

Problem mit juristischen Spitzfindigkeiten kleinzureden.

(Anton Schaaf [SPD]: So ist es!)

Es handelt sich aber um ein eminent politisches Problemund nicht um ein Problem, das man mit juristischenSpitzfindigkeiten lösen kann. Es geht um die Frage, obdie Bundesrepublik Deutschland in Gestalt ihrer verant-wortlichen Politiker Hunderttausende von Menschen be-trogen hat. Es geht darum, ob sie ihr Wort gegenüberdenjenigen gebrochen hat, die, wie der Kollege Weiß zuRecht ausgeführt hat, ein zum großen Teil schweresSchicksal zu ertragen hatten, die viel gewagt und viel auf

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18620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Ottmar Schreiner

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sich genommen haben und die teilweise unter Gefahr fürLeib und Leben ihr Land verlassen haben. Es geht da-rum, ob es angemessen ist, dieser Gruppe von Menschengegenüber das Versprechen, das man gegeben hat, zubrechen. Es geht nicht um juristische Spitzfindigkeitenüber irgendwelche kleinen Details, sondern es geht umdiese Kernfrage.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Ich will es noch zuspitzen, Herr KollegeSchiewerling, weil aus meiner Sicht die Situation ausdem Blickwinkel der Betroffenen noch viel dramatischerist. Bei dem Renten-Überleitungsgesetz haben wir sei-tens der SPD – das können Sie in den Dokumenten desBundestages nachlesen – immer wieder Bestrebungender Union zurückgewiesen, strafrechtliche Elemente indie Sozialgesetzgebung einzuführen. Dieser Versuch istseitens der Union mehrfach unternommen worden – ge-legentlich erfolgreich. Beispielsweise sind für die soge-nannten systemnahen Berufsgruppen – ein typischesBeispiel ist die Mitarbeit bei der Staatssicherheit – dieRenten gedeckelt worden mit dem überhaupt nicht nach-vollziehbaren Argument, dass Menschen aus diesen so-genannten staatsnahen Systemen rentenmäßig besserge-stellt werden als die meisten anderen.

Aus diesen Gründen ist gedeckelt worden. Wir habenSie davor gewarnt. Wir haben gesagt, dass die deutscheSozialgeschichte frei ist von solchen strafenden Elemen-ten. Man muss strikt trennen zwischen der Sozialgesetz-gebung auf der einen Seite und der Strafgesetzgebungauf der anderen Seite. In dieser langen Tradition hat eslediglich eine einzige Ausnahme gegeben, und zwarnach 1933.

Die Renten der sogenannten staatsnahen Berufsgrup-pen sind fast alle auf dem Wege gerichtlicher Korrektu-ren geändert worden. Im Ergebnis hat das zu der Situa-tion geführt, dass Renten, die aus Stasitätigkeitenbezogen werden, aufgrund der damaligen Gesetzgebungund der gerichtlichen Korrekturen zu erheblichen Teilenhöher sind als die nach unten abgestuften Renten vonDDR-Flüchtlingen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das heißt, die Renten der Täter sind höher als die Rentender Opfer. Das muss doch von den Opfern, die damalsaus welchen Gründen auch immer herüberkamen – eswar die Zeit des Kalten Krieges – und als die großenFreiheitshelden gefeiert worden sind, als eine tiefe De-mütigung empfunden werden. Sie müssen das tiefe Ge-fühl haben, dass der deutsche Rechtsstaat sie vergessenhat, dass er sie im Stich lässt und seine Versprechennicht einlöst. Darum geht es. Deshalb glaube ich, dasswir gut beraten wären, das zu ändern.

Herr Dr. Kolb, weil Sie hier anschließend sprechen,möchte ich darauf hinweisen: Es gibt eine Reihe von Do-kumenten zur Position der FDP; ich kann hier FrauDr. Babel, Herrn Cronenberg, die amtierende Justiz-ministerin und viele andere mehr zitieren.

(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Herr Kollege!)

Herr Kollege Schiewerling, ich glaube, es ist nicht zuspät; wir können das immer noch korrigieren. Es mussnicht Punkt für Punkt und Komma für Komma der Wegeingeschlagen werden, den wir Ihnen vorgeschlagen ha-ben. Bei all der Kritik, die ich vom Kollegen Weiß ge-hört habe, ging es eigentlich – Herr Kollege Weiß, neh-men Sie es mir nicht übel! – um Kinkerlitzchen. Es istwirklich keine bewegende Frage, ob man einen Stichtagim November 1989 oder im Mai 1990 wählt. Man kanndarüber seriös reden, wenn man die Korrekturen imGrunde will.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie wirklich die Korrekturen wollen, dann kriegenwir das korrigiert. Sie müssen das nur wollen. Mein Ein-druck ist eher, dass Sie Vorwände suchen, um das Themamöglichst aus dem Feuer zu holen.

Es war schwierig genug – ich kann das hier einmal sa-gen –, überhaupt eine Plenardebatte zu dem Thema hin-zubekommen. Sie hatten ein fundamentales Interesse da-ran, dass das Thema irgendwann in die Abendstundenverschoben wird, dass möglichst alles zu Protokoll gege-ben wird und eben keine Debatte bei Tageslicht stattfin-det. Das entspricht nicht der Bedeutung dieses Themasund den Erwartungen der Betroffenen.

Herr Kollege Weiß, ich will noch eine Anmerkungmachen. Sie haben in Ihrem Bericht einen zweitenGrund angegeben: Wenn wir hier eine Regelung träfen,könne dies ein Präzedenzfall sein; andere Gruppen könn-ten dann ihre Rentenansprüche korrigiert wissen wollen. –Von einem Präzedenzfall kann überhaupt keine Redesein, weil es sich um eine völlig andere Rechtsstrukturhandelt. Es geht hier um Deutsche im Sinne des Grund-gesetzes, denen ein Versprechen gemacht wurde. Bei al-len anderen Gruppen ist das nicht so.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Deshalb ist der Hinweis, dass da eventuell millionen-oder milliardenschwere Zusatzkosten entstehen, regel-recht an den Haaren herbeigezogen, lieber Kollege Weiß.Auch darüber kann man in Ruhe reden.

Insofern meine ich: Wenn auf Ihrer Seite der politi-sche Wille vorhanden wäre, hier wirklich zu einer ver-nünftigen Korrektur zu kommen, zugunsten von Men-schen, die es wirklich verdient hätten, dann könntenÄnderungen erfolgen; ich brauche nicht zu wiederholen,was ich gesagt habe. Aber es ist nichts anderes als Heu-chelei, wenn Ihren Worten keine Taten folgen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb fordern wir Sie auf: Bekennen Sie sich dazu!Sagen Sie zu, dass wir das in absehbarer Zeit korrigie-ren!

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Ottmar Schreiner

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Im Übrigen liegen dem Petitionsausschuss des Deut-schen Bundestages entsprechende Petitionen vor.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr – –

Ottmar Schreiner (SPD):Wir können das Thema also, wenn die Debatte heute

Abend beendet ist, im Rahmen der Behandlung der Peti-tionsbegehren weiter verfolgen und es, wenn Sie dennwollen, möglichst zeitnah zu einem vernünftigen Ab-schluss bringen. – Herr Präsident, es haben sich mehrereKollegen zu einer Zwischenfrage gemeldet; sie sind jetztganz munter geworden.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ja. Ich wollte zwischen Ihre Sätze kommen.

Ottmar Schreiner (SPD):Ach so! Ich versuche, das in der knappen Zeit mög-

lichst angemessen auszuführen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das war aber schwierig, weil Sie beim Reden aufs

Atemholen verzichtet haben. – Jetzt möchte Ihnen derKollege Weiß eine Frage stellen.

Ottmar Schreiner (SPD):Herr Kollege Weiß, bitte.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte.

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):Herr Kollege Schreiner, da Sie dem Parlament we-

sentlich länger angehören als ich, kennen Sie die Usan-cen des Parlaments. Die Behauptung, wir hätten dieseDebatte in den Abend verschoben, fällt doch auf Sie sel-ber zurück. Denn die Oppositionsfraktionen könnenselbstverständlich auch für die Kernzeiten, etwa für denDonnerstagmorgen, die von ihnen gewünschten Punkteanmelden. Die Frage ist: Warum hat die sozialdemokra-tische Fraktion dieses Thema nicht für einen früherenTagesordnungspunkt angemeldet? Dann wäre das Themaohne Widerspruch von uns zu einer früheren Uhrzeit dis-kutiert worden.

Zweitens. Sie haben im Gegensatz zu mir, der ich erst1998 ins Parlament gewählt wurde, an der entsprechen-den Gesetzgebung mitgewirkt und sagen jetzt, dass hierein Versprechen gebrochen worden sei. Dann frage ichSie, Herr Kollege Schreiner: Warum haben Sie, um esmit Ihren Worten zu sagen, ein Versprechen gebrochen?

Ottmar Schreiner (SPD):Das habe ich erklärt.

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):Sie haben an dieser Gesetzgebung mitgewirkt. Kön-

nen Sie uns erklären, warum in den Zeiten, in denen So-

zialdemokraten das zuständige Bundesministerium fürArbeit und Soziales geführt haben, keine Gesetzesinitia-tive seitens der Regierung mit dem Ziel einer Korrekturergriffen wurde?

(Anton Schaaf [SPD]: Dazu hat er doch auch etwas gesagt! Was soll der Quatsch?)

Das würde uns wirklich interessieren.

Ottmar Schreiner (SPD):Ich glaube, ich habe eben sehr ausdrücklich gesagt,

dass bei diesen Fragen unabhängig von der jeweiligenpolitischen Führung des Ministeriums geblockt wordenist.

(Beifall bei der SPD)

Gleichzeitig habe ich aber gesagt: Es ist nicht zu spät.Die Betroffenen und ihre Verbände sind nach wie vorsehr rührig. Ich weiß, dass sie auch bei Ihnen häufig prä-sent sind, dass sie bei Ihrem Fraktionsvorsitzenden undIhrem Arbeitsgruppensprecher präsent sind. Sie sindnach wie vor richtig dabei. Ich kann nachvollziehen,dass die Empörung aufgrund des dargestellten Sachver-halts riesengroß ist. Es geht ihnen in erster Linie wohlgar nicht um das Geld. Es geht ihnen um die Wiederher-stellung von Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat.Das ist ihr Kernmotiv. Das können wir wieder heilen,das können wir reparieren, wenn wir denn wollen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ich war damals übrigens bei der Verhandlungsgruppezum Renten-Überleitungsgesetz dabei. Ich habe damalsalle Höhen und Tiefen mit dem Kollegen Dreßler undder Kollegin Regine Hildebrandt miterlebt. Als Minder-heit hatten wir häufig versucht, manches zu korrigieren.Das ist nur in sehr geringen Teilen gelungen; denn eshieß: Mehrheit ist Mehrheit. Zu der hier in Rede stehen-den Frage gab es keine Plenardebatte; es gibt überhauptkeine Hinweise, in welcher Form diese Veränderung1993 durch das Parlament gebracht worden ist.

Ich habe eben darauf hingewiesen, dass die Interes-senverbände unter anderem meine damalige Kollegin,Frau Dr. Gisela Babel – ich war Anfang der 90er-Jahresozialpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion –,angeschrieben haben. Man konnte von ihr halten, wasman wollte, aber sie war eine sehr standfeste, prinzipien-treue Frau,

(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das stimmt!)

allerdings leider Gottes bei der falschen Firma, nämlichbei der FDP. Aber es war eine Frau, auf die man sichverlassen konnte.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten derSPD und der LINKEN – Pascal Kober [FDP]:Da war sie auch richtig!)

Sie hat den Interessenverbänden in einem Schreibenan einen Bürger vom 18. April 2004 dargelegt:

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Ottmar Schreiner

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Es kommt also viel zusammen und ich kann gutverstehen, dass Sie auf Grund all dieser Vorkomm-nisse Zweifel an der Demokratie und am Rechts-staat hegen.

So Frau Dr. Babel. – Ich würde von den Kollegen derFDP heute solch ein Bekenntnis zur soliden Rechtsstaat-lichkeit auch gerne hören.

Sie schreibt auch:

Das Renten-Überleitungsgesetz sollte Rechtseinheit… bringen. … Das Fremdrentengesetz beruhte aufdem politisch gewollten Grundsatz, dass den überden Eisernen Vorhang Geflohenen eine Alterssiche-rung gewährt werden sollte. Diese beiden Tatbe-stände hätten weiter nebeneinander bestehen blei-ben können und müssen.

Es hat nicht den geringsten Zwang gegeben, das zuvereinheitlichen. Was Sie in Ihrem Bericht geschriebenhaben – ich habe es eben formuliert –, entspricht nichtim Geringsten dem Sachverhalt. Es geht nicht um Bür-ger der ehemaligen DDR, sondern es geht um Bürger,die jahrzehntelang in der Bundesrepublik Deutschlandleben. Da kann man doch nicht einfach Äpfel mit Birnenvergleichen. Genau das machen Sie.

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Kernzeit!)

– Was?

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Die Kern-zeit war gefragt!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Schreiner, der Kollege Vaatz würde Ih-

nen gern auch noch eine Zwischenfrage stellen. LassenSie sie zu? Das ist die letzte, die ich jetzt zulasse, weilSie am Ende Ihrer Redezeit sind.

(Iris Gleicke [SPD]: Ich wollte gerade sagen!Sind Sie sich sicher, dass die Herren das heutenoch verstehen? Macht nicht den Eindruck,und zwar egal, ob das Kernzeit ist oder Abend-debatte!)

Ottmar Schreiner (SPD):Ich hoffe, Sie machen jetzt keinen Volkshochschul-

kurs.

Arnold Vaatz (CDU/CSU):Herr Kollege Schreiner, ich habe eine Frage zum

staatsrechtlichen Status, den Sie herausgearbeitet haben.Sie haben gesagt, dass die Flüchtlinge aus der DDR alsBürger der Bundesrepublik Deutschland einen anderenstaatsrechtlichen Status gehabt hätten als die in der DDRverbliebenen Menschen, die 1990 im Zusammenhangmit der Wiedervereinigung in die Bundesrepublik ge-kommen sind.

(Anton Schaaf [SPD]: Rentenrechtlich ja! Rentenrechtlich war das so!)

Sie sagen, die im Westen hätten unter der Fürsorge desGrundgesetzes gestanden.

Ich frage Sie: Ist es nicht der Tatsache zu verdanken,dass der Begriff „alle Deutsche“ sich in etwa fünf odersechs Artikeln der ersten 20 Artikel des Grundgesetzesfindet, dass die damaligen DDR-Bürger genauso in dieFürsorgepflicht des Grundgesetzes gestellt worden sind,allerdings mit dem Unterschied, dass das Grundgesetzgehindert war, für diese DDR-Bürger zu wirken, solangesie in der DDR davon abgeschottet waren?

(Iris Gleicke [SPD]: Warum haben wir ein Ren-ten-Überleitungsgesetz 1992 gemacht? Das istdoch bescheuert hier! Meine Güte! Also echt!Wem der Herr ein Amt gegeben, dem gebe erauch Hirn! – Weiterer Zuruf von der SPD: Ichbeiße gleich in die Tischkante! Das ist unsäg-lich!)

Ottmar Schreiner (SPD):Herr Kollege Vaatz, ich will hier nicht den Eindruck

entstehen lassen, als ob mit dieser Argumentation ehe-malige DDR-Bürger diskriminiert werden würden. Dasist mitnichten der Fall. Der Unterschied ist ein ganz ein-facher: In dem Augenblick, in dem die politischenFlüchtlinge den bundesdeutschen Boden betreten hatten,wurden sie eingegliedert; sie galten also ab sofort alsStaatsbürger der Bundesrepublik Deutschland. Mit die-ser neu erworbenen Staatsbürgerschaft

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie wurde nicht erworben! Das ist Quatsch!)

wurde das eben zitierte Versprechen der deutschen Poli-tik verbunden, Anwartschaften nach dem Fremdrenten-gesetz für Berechnungen zugrunde zu legen, das heißt,ihre Arbeitsbiografie in der DDR wird so gewertet, alsob sie in der Bundesrepublik Deutschland abgeleistetworden wäre. Über die Gründe für diese Regelung magman sich streiten. Es ist jedenfalls die Regelung, auf diesich Hunderttausende von Betroffenen verlassen konn-ten und verlassen mussten.

Das war bei der Einheit eine rechtlich völlig andereSituation. Der ehemaligen DDR-Bevölkerung ist über-haupt nichts versprochen worden, was Rentenanwart-schaften anbelangt,

(Iris Gleicke [SPD]: So ist es!)

sondern es ging darum, ein Rentensystem aus dem Bo-den zu stampfen, das auch den Bürgerinnen und Bürgernder DDR gerecht werden konnte. Ich glaube, dass dasnach monatelangen Gesprächen und Verhandlungen zwi-schen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der so-zialdemokratischen Fraktion im Großen und Ganzenauch gelungen ist. Es ist eine Lösung gefunden worden,die in der Anfangsphase der deutschen Einheit befrie-dend wirken konnte.

Aber die Rechtsgrundlagen waren völlig andere. Des-halb vergleicht der Kollege Weiß, der am Anfang seinerjuristischen Bemühungen ist, hier leider Äpfel mit Bir-nen und kommt dann zu diesen Fehlorientierungen.Wenn Sie, Herr Kollege Vaatz, bereit wären, in dernächsten Zukunft den Gedanken des Kollegen Weiß undhoffentlich mehrerer anderer Ihrer Fraktion, hier alsbald

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zu einer vernünftigen Lösung zu kommen, mitzutragen,wäre viel gewonnen. Deshalb im Vorhinein: HerzlichenDank und viel Glück bei der Mitarbeit bei diesem außer-ordentlich schwierigen und sensiblen Thema!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von

der FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Schreiner, auch wenn meine Redezeit begrenzt ist,kann ich das, was Sie heute hier an Schauspiel gebotenhaben, nicht unkommentiert lassen.

(Anton Schaaf [SPD]: Ach, Herr Kolb! – Wei-tere Zurufe von der SPD)

Herr Kollege Schaaf, wir sind nicht nur beim ThemaRente, sondern auch bei anderen sozialpolitischen The-men einiges von Ihnen gewohnt, was die Flexibilität undWendigkeit anbelangt.

(Ottmar Schreiner [SPD]: So ein Stuss!)

Aber ich finde, jemand, der neun Sterne im Handbuchdes Deutschen Bundestages hat, also diesem Haus neunLegislaturperioden angehört,

(Iris Gleicke [SPD]: Als wir das Renten-Über-leitungsgesetz gemacht haben, waren wir alleMitglieder! Nebelkerzen!)

und auch an entscheidender Stelle gewirkt hat in Phasen,in denen die Möglichkeit bestanden hätte, etwas zu tun,kann sich heute nicht hier hinstellen und so eine Redehalten, wie Sie es getan haben, Herr Kollege Schreiner.Das geht nicht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das ist aus meiner Sicht ein neues, für mich jetzt das er-schütterndste Beispiel von Geschichtsvergessenheit, wasSie hier abgeliefert haben. Das kann ich nicht anderssagen.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Zur Sache! Die Re-dezeit aufs Thema verwenden, Herr Kolb! Siewären selbst für eine Volksschauspielbühnenicht geeignet! Sie versuchen gerade, dasThema nicht zu berühren!)

Alle Fakten, liebe Kolleginnen und Kollegen von derSPD, die Sie hier vorgetragen haben, lagen in der Zeitvon 1998 bis 2009 schon genauso vor. Sie müssen sichpersönlich fragen – das müssen sich natürlich auch dieje-nigen, die in der Zeit Verantwortung hatten, fragen las-sen –, warum Sie nicht gehandelt haben.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Sagen Sie mal etwaszum Thema! – Dagmar Ziegler [SPD]: Sie sol-len zum Thema reden! – Dr. Martina Bunge

[DIE LINKE]: Treten Sie mal in die Fußstap-fen von Frau Babel!)

– Dazu komme ich ja noch. – Das müssen Sie sich vor-halten lassen.

(Zuruf von der SPD: Thema verfehlt!)

– Wie Sie sich hier aufregen, zeigt ja nur, dass das genauder Stich ins Wespennest ist, Herr Schreiner.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie wollen hier jetzt opportunistisch vorgehen. Aberin Zeiten, in denen Sie hätten handeln können, haben Siees nicht getan. Das werfe ich Ihnen vor.

Es ist auch so, dass das nicht nur unter einem Ministerso war. Manchmal kann es ja sein, dass da jemand in derVerantwortung ist, der sagt, er mache das nicht mit. Esist in den elf Jahren Ihrer Regierungszeit nicht nur einMinister am Wirken gewesen ist, sondern es hat fünfmaldie Möglichkeit gegeben, einen Anlauf in dem Sinne zuunternehmen, wie es heute von Ihnen hier vorliegt,

(Ottmar Schreiner [SPD]: Es ist nicht zu spät!Sie haben jetzt die Möglichkeit zur Korrek-tur!)

und zwar bei Clement, bei Müntefering, bei Riester, beiScholz.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Gelaber, Gelaber, Gelaber! Unglaublich!)

– Nein! – Bei allen hätte das geschehen können. Für dieGrünen gilt das genauso. Die sind da ja nicht besser; Sievielleicht schon.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Sie haben mit 3 Pro-zent noch 3 zu viel! – Beifall bei der SPD)

– Nein, nein. – Also, die Grünen hätten in ihrer immer-hin siebenjährigen gemeinsamen Regierungszeit – dakönnen Sie sich nicht mit dem Koalitionspartner heraus-reden – auch Gelegenheit gehabt, hier etwas zu tun.

Das wollte ich vorab einmal deutlich feststellen.

Dann will ich Folgendes sagen: Das Thema, das wirheute diskutieren, ist sicherlich eines der schwierigstenund auch unbefriedigendsten. Das räume ich ein. Ich be-schäftige mich seit etwa zehn Jahren mit dem Themaund muss sagen: Es gibt aus meiner Sicht keine Lösung,jedenfalls keine Lösung im Sinne dessen, was heute hiervorgeschlagen worden ist, um das Problem zu lösen;denn – das hat der Kollege Weiß, denke ich, zu Rechtund auch klar herausgearbeitet – eine Stichtagsregelungführt am Ende zu neuen Ungerechtigkeiten.

(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ohne Stichtage kommt das Sozialrecht nie aus!)

Sie können möglicherweise denen helfen, die uns inden letzten Jahren sehr intensiv auf dieses Thema hinge-wiesen haben. Aber es ist unvermeidlich, dass Sie neueFragen aufwerfen.

(Anton Schaaf [SPD]: Welche denn genau?)

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Dr. Heinrich L. Kolb

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Das würde dazu führen, dass der nach höchstrichterli-chen Entscheidungen jetzt eingekehrte Rechtsfrieden, je-denfalls vor den Gerichten, wieder aufgebrochen würdeund dass wir eine neue Klagewelle in diesem Bereich er-leben würden. Das halte ich nicht für zielführend.

(Anton Schaaf [SPD]: Was denn genau? –Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Von wem denn? Wa-rum denn?)

Deswegen haben wir einen anderen Lösungsansatzverfolgt – Sie kennen ihn; wir haben ihn mit Anträgenhier im Deutschen Bundestag eingebracht –, nämlichden Lösungsansatz eines Nachversicherungsangebots,der unverändert im Raum steht und der die Nachteile Ih-rer Lösung vermeidet.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Er ist unso-lide!)

– Nein, er ist nicht unsolide. Es ist ein Angebot an alleVersicherten. Es ist eine individuelle Entscheidung, obman dieses Angebot annehmen will. Ich habe immerdeutlich gemacht, dass sich dieses Angebot nicht nur aneine Gruppe der Betroffenen richtet, sondern auch an an-dere Gruppen, deren Situation natürlich nicht vergleich-bar ist mit der Situation der DDR-Flüchtlinge und derFrühübersiedler. Dieses Angebot wollten wir allen unter-breiten. Wir haben in diesem Haus aber keine Mehrheitdafür gefunden.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Möglichst bei HerrnMaschmeyer in Hannover! – Anton Schaaf[SPD]: Mit Sicherheit nicht!)

Wenn Sie sagen, dass es nicht zu spät ist, dann gebeich Ihnen recht. Sie sind aufgefordert, auf den von unsvorgeschlagenen Weg einzuschwenken. Dieser Weg istder einzige, der in rechtlicher Hinsicht befriedigend ist,weil er keine neue Prozesslawine in diesem schwierigen,verminten Gelände hervorrufen würde.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Vielleicht solltenSie mal einen leichten Minenräumer einset-zen!)

– Bitte?

(Ottmar Schreiner [SPD]: Statt nach Hannoverzu Herrn Maschmeyer zu gehen, sollten Sie ei-nen Minenräumer einsetzen!)

– Herr Kollege Schreiner, diese Art von Zwischenrufenzeigt nur, wie ernst Sie dieses Thema nehmen. Ich findedas, was Sie dazwischengerufen haben, peinlich.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und derCDU/CSU – Iris Gleicke [SPD]: Jedenfallsdeutlich intelligenter als die Zwischenfragen,die Sie gestellt haben!)

Das wird der Sache wirklich nicht gerecht.

Der Herr Kollege Schaaf möchte, glaube ich, eineZwischenfrage stellen. Will er, oder will er nicht?

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Der Herr Kollege Schaaf würde gerne eine Zwischen-

frage stellen, Herr Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):Ja.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Bitte schön.

Anton Schaaf (SPD):Ich danke Ihnen, Herr Kolb, und ich danke Ihnen,

Herr Präsident, dass Sie diese Zwischenfrage noch zu-lassen. – Herr Kolb, ich würde Sie gerne fragen: Wannsagen Sie endlich etwas zum Thema? Langsam finde ichdas, was Sie da gerade betreiben, wirklich nur noch pein-lich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Sie umschiffen das Thema. Wir haben hier eine Fall-gruppe, die mit anderen sicherlich nicht vergleichbar ist.Diese Gruppe ist in sich aufgespalten, und zwar auf-grund eines nachträglich in das Rentenrecht eingefügtenStichtages. Den Betroffenen ist noch nicht einmal be-kannt gegeben worden, dass aufgespalten wurde.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Genau so! Richtig!)

So läuft das Spiel. Diese Gruppe ist nicht vergleichbarmit irgendeiner anderen Gruppe. Nun sagen Sie, dass dieFDP den klugen Vorschlag gemacht hat, dass sich dieBetroffenen nachversichern können. Was Sie da machen,ist Folgendes: Ein kollektives Versprechen der Bundes-republik Deutschland an die Betroffenen wollen Sie in-dividualisieren und privatisieren. Genau das wollen Siemachen.

Wir Sozialdemokraten haben eine Idee entwickelt.Diesen Vorschlag – Einführung eines neuen Stichtages –muss man ja nicht unterstützen. Es hat auch ein weniggedauert, bis wir diese Idee hatten.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):Das kann man wohl sagen.

Anton Schaaf (SPD):Das können Sie Ottmar Schreiner, mir und der Sozial-

demokratie in Gänze vorwerfen. Sie aber haben außerder Individualisierung überhaupt keine Idee zur Lösungdieses Problem.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):Herr Kollege Schaaf, ich habe unsere Position hier

sehr wohl deutlich gemacht. Der Vorteil unserer Positionist: Es ist die gleiche, die wir hier schon seit Jahren vor-tragen. Wir sagen: Bei einem solchen Problem, bei demman durch rückwirkende Rechtsänderung keine befriedi-

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gende Lösung herbeiführen kann – das gilt insbesondereangesichts verschiedener Rechtsstände im Bereich desRentenrechtes –, ist es die beste Lösung, den Menschendadurch gerecht zu werden, dass man ihnen Leistungenzukommen lässt. Wir schlagen vor, dass dies auf demWege der Nachversicherung geschieht. Ich habe schon invergangenen Debatten die Nachversicherung als Lösungvorgeschlagen. Es ist ja nicht so, dass ich heute im Deut-schen Bundestag zum ersten Mal die Nachversicherungvorschlage. Deshalb wundert es mich etwas, wenn Siesagen, wir hätten damit hinterm Berg gehalten. Nein, wirhaben immer gesagt: Wir wollen dieses Nachversiche-rungsangebot zu günstigen Bedingungen. Dabei mussauch ermittelt werden, zu welchen Bedingungen die Ver-sicherung in der DDR damals möglich gewesen wäre.Das wäre – wir haben das berechnet – ein durchaus inte-ressantes Angebot für die Versicherten gewesen.

Man kann es nicht so machen, wie Sie es vorschlagen.Sehen Sie uns diese Feststellung nach. Man kann nichtrückwirkend teilweise Fremdrentenrecht zur Anwen-dung bringen. Das ist keine wirklich zielführende Lö-sung.

Wir haben das immer gesagt, und wir sagen das auchweiterhin. Das ist der Unterschied zwischen SPD undFDP. Sie haben in diesem Hohen Haus in der Vergangen-heit mit keinem Wort das vorgeschlagen, was Sie heuteals das Nonplusultra präsentieren. Deswegen sind Sieunglaubwürdig. Das, was Sie hier tun, ist opportunis-tisch. Sie können nicht davon ausgehen, dass wir zu die-sem opportunistischen Handeln die Hand reichen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat für die Fraktion Die Linke die Kollegin

Martina Bunge.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Martina Bunge (DIE LINKE):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Wir müssen uns heute mit der Rente für die Menschen,die aus der DDR geflüchtet oder ausgereist waren odervon den Behörden abgeschoben worden waren, beschäf-tigen, weil sie zu einem komplizierten Problem gewor-den ist.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nach Ihrer Auffas-sung hätten die in der DDR bleiben sollen!)

Eigentlich war die Situation ziemlich übersichtlich.All diejenigen, die vor 1989 nach persönlichem Bruchmit dem System, nach Diskriminierungen, Schikanenund teilweise Gefängnisaufenthalten aus der DDR in dieBundesrepublik kamen, wurden mit offenen Armenempfangen. Weil diese Vorgänge hier anscheinend nichtin allen Reihen bekannt sind, möchte ich sie im Detailerläutern.

Da die Verantwortlichen der Bundesrepublik nie dieDDR-Staatsbürgerschaft anerkannt hatten, war die sofor-tige Ausstellung eines bundesdeutschen Personalauswei-

ses kein Problem. Auch das gelebte Leben wurde für dieRente so bewertet, als wäre die berufliche Tätigkeit inder Bundesrepublik absolviert worden. Die Anwart-schaften wurden also nach dem sogenannten Fremdren-tenrecht gespeichert. Diejenigen, die bis Mitte der 90er-Jahre in Rente gingen, erhielten ihre Rente auf dieserBasis.

Von vielen Betroffenen und auch Abgeordneten unbe-merkt – ich kann dies bestätigen; ich war damals Mitar-beiterin der PDS im Deutschen Bundestag – kam es1993 zu einer klitzekleinen Gesetzesänderung – einHalbsatz –, die dazu führte, dass das Renten-Überlei-tungsgesetz von 1991, das bekanntlich die DDR-An-sprüche der Alterssicherung überleitet, auch auf diejeni-gen übertragen wurde, die lange vor 1989 aus der DDRin die Bundesrepublik übergesiedelt waren. De factoheißt das, dass die Geflüchteten, Ausgereisten und Ab-geschobenen wieder zu DDR-Bürgern gemacht wurden,

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Nein!)

zumindest rentenrechtlich.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Auch nicht!)

– Natürlich! – Das ist ein fragwürdiges Konstrukt.

(Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em-mendingen] [CDU/CSU]: Das ist ja schreck-lich, was Sie hier erzählen!)

Unsere Auffassung ist: Rechtssituationen kann mannicht nach Zweck und nicht nach Anlass wechseln. Dasist Willkür.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN – Peter Weiß [Emmendingen][CDU/CSU]: Peinlich!)

Diese Personen waren zum Zeitpunkt ihres Übertrittseindeutig Bundesbürgerinnen und Bundesbürger mit al-len Konsequenzen; dies kann nicht nachträglich umge-wandelt werden.

Kollege Schiewerling, damals, nachdem diese Geset-zesänderung gemacht worden war, hat keiner der Betrof-fenen eine Information mit einem anderen Feststellungs-bescheid erhalten. Das erleben sie heute peu à peu, wennsie in Rente gehen. Aus Gesprächen weiß ich, dass siesich wiederum verletzt fühlen. Sie fühlen sich ein weite-res Mal enttäuscht, und zwar von einem Staat, von demsie das nicht erwartet hätten, dem sie vertraut hatten.

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Von derDDR haben sie nichts Besseres erwartet! – Ge-genruf des Abg. Alexander Süßmair [DIELINKE]: Das hat doch mit der Sache nichts zutun! Immer das Gleiche! Das ist peinlich!)

Deshalb unterstützen wir die Anträge der SPD und derBündnisgrünen.

Damit lösen wir auch ein Versprechen ein, das wir derInteressengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlingee. V. bei einem Kontakt gegeben haben. Wir haben ver-

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Dr. Martina Bunge

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sprochen, nicht allein vorzupreschen. Das ist der Grund,weshalb die Linke in der Sache nichts gemacht hat.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben ein gemeinsames Agieren bevorzugt. Leiderhaben Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von SPDund Bündnis 90/Die Grünen, uns bei der Antragstellungnicht gefragt, obwohl wir Ihnen dieses Begehr übermit-telt hatten. Wir werden diesen Anträgen aber zustimmen.Es geht uns hier um die Betroffenen.

Deshalb appelliere ich auch an die Damen und Herrender Regierungsfraktionen: Überdenken Sie Ihre ableh-nende Haltung. Stehen Sie zu dem, was Sie immer wie-der bekunden: Solidarität mit den Flüchtlingen aus derDDR. Das tun Sie bisher nur mit Worten und nicht mitTaten.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Sie das jetzt nicht tun, laufen Sie Gefahr, zumHeuchler zu werden. Ich denke, das sollte sich das Parla-ment nicht antun.

Ich danke.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD – Ottmar Schreiner [SPD]:Heuchler sind die leider schon!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang

Strengmann-Kuhn von Bündnis 90/Die Grünen.

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Normaler-weise guter Mann!)

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichwollte eigentlich eine sehr sachliche Rede halten, die an-gemessen ist. Aber ich muss sagen: Das, was die Unionhier abliefert, ist ein absolutes Trauerspiel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Ich fasse es kaum. Es geht nach dem Motto: Wer will,findet Wege. Wer nicht will, findet Gründe. – Sie zau-bern permanent irgendwelche Gründe aus dem Hut, wa-rum alle vorgeschlagenen Lösungen nicht gehen. Ma-chen Sie endlich einmal etwas!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Wenn Sie unsere Vorschläge kritisieren: Legen Sie dochselbst etwas vor! Die Menschen warten auf Lösungenund nicht auf irgendwelche Hirngespinste und wahnsin-nigen Gründe.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD und der LINKEN – Peter Weiß[Emmendingen] [CDU/CSU]: Sieben Jahrehätte Rot-Grün Lösungen vorlegen können!Sie haben es aber nicht gemacht!)

– Ich kann das wiederholen: SPD und Grüne haben inder damaligen Situation parallel gedacht. Das ist auchdieses Mal so.

Eigentlich wollte auch ich meine Rede mit einemHinweis auf den schönen Wegweiser, von dem schon dieRede war, beginnen. Auch ich lese Ihnen vor, was daringeschrieben steht – der Kollege Schreiner hat das schongetan –:

Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR oder Ber-lin (Ost) werden in der gesetzlichen Rentenversi-cherung grundsätzlich so behandelt, als ob sie ihrgesamtes Arbeitsleben in der BundesrepublikDeutschland zurückgelegt hätten.

Das war ein politisches Versprechen, das wir denMenschen, die in den Westen gekommen sind, damalsgegeben haben. Dieses Versprechen ist später gebrochenworden, und es wird immer noch gebrochen. Es ist ander Zeit, das endlich zu ändern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Es ist eine Ungeheuerlichkeit, dass ausgerechnet dieMenschen, die vor der DDR geflohen und in den Westengekommen sind, durch die Wiedervereinigung benach-teiligt werden. Das ist eine solche Ungeheuerlichkeit,dass mich wirklich erschreckt, dass die Union hier nichtsunternehmen will.

Weil die ganze Geschichte so unsäglich ist, haben wirein ungewöhnliches Verfahren gewählt. Wir wollten ur-sprünglich zusammen mit der SPD einen Antrag einbrin-gen. Die SPD war dann schneller. Wir standen vor derEntscheidung: Unterstützen wir diesen Antrag einfachnur, oder stellen wir einen wortgleichen Antrag, um zuunterstreichen, welche Bedeutung dieses Thema für dieBetroffenen hat?

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hoffentlich ha-ben Sie auch eine Quelle angegeben!)

Diesen Weg sind wir gegangen.

Ich fand die Idee des Kollegen Schaaf, die Stichtags-regelung anzuwenden, sofort sehr gut und sehr nachvoll-ziehbar. Wir haben das dann mit unseren Juristen abge-klärt; das hat ein bisschen gedauert. Auch sie habengesagt: Das ist juristisch haltbar. – Wenn Sie andererMeinung sind: Machen Sie es besser! Aber machen Sieirgendetwas!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Der Musterbrief von Herrn Schiewerling und PeterWeiß strotzt nur so vor juristischen Feinheiten, die fürdie Betroffenen völlig irrrelevant sind.

(Otto Fricke [FDP]: Was? Der Rechtsstaat ist irrelevant? Interessant!)

Darin stehen sehr schöne Sätze. Es heißt, dass man denBetroffenen irgendwie helfen will und dass man Ver-ständnis für sie hat. Aber heute hat man gemerkt: Siewollen den Menschen überhaupt nicht helfen. Sie habennicht einmal ansatzweise dargestellt, was getan werden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18627

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn

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könnte. Ich muss sagen: Ich bin wirklich fassungslos undweiß kaum, was ich sagen soll.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ichbin fassungslos über das Verhalten von SPDund Grünen!)

Schließen möchte ich, indem ich aus dem Schluss desVorworts des erwähnten Wegweisers zitiere. Da heißt es:

Verlieren Sie bitte nicht die Geduld, wenn hier undda einmal etwas nicht so reibungslos läuft, wie Sieerhofft hatten.

(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LIN-KEN)

Manches Warten und manche Schwierigkeiten wer-den sich nicht vermeiden lassen. Aber machen Siedennoch von Ihren Rechten Gebrauch.

Das haben die Menschen getan.

Sie können dabei stets auf die verständnisvolle undsachverständige Unterstützung der für Ihre Belangezuständigen Stellen rechnen.

Für viele DDR-Flüchtlinge klingt das mittlerweilewie ein Hohn, genau wie das, was Sie auch heute wiedervon sich gegeben haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Die Betroffenen warten schon viel zu lange.

Der Vorschlag von SPD und Grünen liegt auf demTisch. Wenn Sie ihn nicht gut bzw. problematisch fin-den: Machen Sie es besser! Finden Sie nicht wieder ir-gendwelche Gründe, die gegen unseren Vorschlag spre-chen! Ich bin davon überzeugt, dass auch der KollegeLange gleich nur sagen wird, was an unserem Vorschlagnicht geht. Sagen Sie, was geht! Geben Sie den Leutenwenigstens ein Stück weit Hoffnung.

Wir sind gerne bereit, konstruktive Verhandlungen zuführen. Wir haben unsere Anträge vor fast einem Jahr,im Frühjahr/Frühsommer 2011, eingebracht und Ihnenviel Zeit gegeben, in einen konstruktiven Dialog mit unszu treten. Es ist nichts, aber auch gar nichts passiert.Auch in Ihrem Musterbrief wird nur argumentiert, wa-rum unser Vorschlag nicht geht. Legen Sie endlich ei-gene Vorschläge vor! Tun Sie etwas! Sie sind an der Re-gierung. Wir machen im Sinne der Betroffenen gernemit. Die haben es nämlich wirklich nötig.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange von der CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ulrich Lange (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Schreiner, zum Thema Sachlichkeit brauche ich beiIhrem Vortrag heute nichts mehr zu sagen. Opportunisti-scher und heuchlerischer geht es nicht. Dazu kann manwirklich nichts mehr sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist heuchlerischvon Ihnen!)

Ich habe in Kürschners Volkshandbuch erst einenStern für die Dauer meiner Zugehörigkeit zum Deut-schen Bundestag, Sie haben, wie wir gehört haben, neunSterne, aber Sie haben die lange Zeit, für die Sie dieseneun Sterne bekommen haben, nicht positiv nutzen kön-nen, um das umzusetzen, von dem Sie jetzt plötzlichglauben, dass es richtig ist.

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie setzen überhauptnichts um! Sie machen überhaupt nichts! Sielassen die Leute im Regen stehen!)

Wenn es nach Ihnen, dem treuen Vasallen vonLafontaine, gegangen wäre, dann hätten wir das Problemnatürlich nicht; denn dann hätten wir nicht einmal dieWiedervereinigung. Hier müssen Sie die Kirche dochbitte einmal im Dorf lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Völlig irrelevant!)

Herr Schreiner, fangen Sie selber mit der Sachlichkeitan, bevor Sie darüber reden.

(Iris Gleicke [SPD]: Sie waren mit Ihren Zwi-schenrufen und sind mit Ihrer Rede ein Fall fürFremdschämen! – Weiterer Zuruf von derSPD: Peinlich, was Sie sagen!)

Liebe Frau Kollegin Bunge, Sie haben in der DDRMarxismus-Leninismus studiert.

(Anton Schaaf [SPD]: Zur Sache, Herr Lange!)

Vor diesem Staat sind die Menschen in die faire Bundes-republik Deutschland geflohen, und sie haben dort vonder Gesellschaft, die sie aufgenommen hat, auch ein fai-res Rentenangebot bekommen. Nach Ihrem Willen wärees so natürlich nicht gekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich!)

Herr Strengmann-Kuhn, wo waren denn Ihre Gesetz-entwürfe in den sieben Jahren Rot-Grün? Herr Schreiner,bei Ihnen waren es elf Jahre.

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie regieren jetzt doch!)

Es ist völlig egal, zu welcher Tageszeit sie geführt wird:Diese Debatte ist opportunistisch.

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18628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Ulrich Lange

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(Ottmar Schreiner [SPD]: Wo geht es dennjetzt lang? – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll dennder Unsinn? Sagen Sie doch mal, was Sie jetztwollen!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Übersiedler undFlüchtlinge aus der DDR wurden in der Bundesrepublikbis zur Maueröffnung nach dem Fremdrentengesetz be-wertet und originären Bundesbürgern gleichgestellt.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das wissen wir schon, Herr Lange!)

Im Rahmen des Renten-Überleitungsgesetzes kam esdann zu Neubewertungen.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Hallo! Zur Sache,Schätzchen! – Anton Schaaf [SPD]: Nein, daswar erst 92, nicht 91! Da ist doch nur Ah-nungslosigkeit unterwegs!)

Diese Rentenminderungen werden ja zum Teil auchnicht bestritten. Ihr Argument des Vertrauensschutzes,den Wegweiser von 1989, den Sie vorlegen, gab es zumAntritt Ihrer Regierung im Jahre 1998 aber auch schon.

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein politischesVersprechen!)

Warum haben Sie das damals nicht gelesen und entspre-chend gehandelt? Der Einstieg, den Sie hier gewählt ha-ben, ist nicht überzeugend, sondern er ist unglaubwürdigund unfair.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch peinlich,was Sie hier machen! – Gegenruf des Abg.Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Dasist unehrlich, was Sie hier machen! Das ist sowas von unehrlich!)

Wir alle wissen: Die Schaffung eines Vertrauens-schutzes im Rentenrecht ist ein äußerst schwieriges Pro-blem. Jeder weiß, dass auf jedem Rentenbescheid, denman während der Beschäftigungsphase bekommt – so istdas auch bei meinem –, „Unter Vorbehalt“ steht. KeineRentenauskunft ist endgültig und bestandskräftig.

(Zuruf von der SPD: Langweilig!)

– Ja, natürlich, „langweilig“. – Wir alle haben das bei derUmstellung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahreerlebt.

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Blabla! Nur Luftbla-sen! Das ist doch völlig irrelevant! Was wollenSie denn machen?)

Auch dadurch gab es natürlich Änderungen hinsichtlichdes Vertrauensschutzes.

Die wesentlichen Punkte hat Ihnen der Kollege Weißschon genannt.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Dann setzen wir uns jetzt mal!)

Weder Herr Schreiner noch Herr Strengmann-Kuhnmuss hier jetzt den Empörten spielen. Wo waren IhreVorschläge?

(Ottmar Schreiner [SPD]: Alles ist schon ge-sagt, nur nicht von Herrn Lange!)

Ja, wir hätten gerne eine optimale Regelung gefun-den. Der Kollege Weiß hat das auch schon deutlich ange-sprochen. Wir haben mit vielen Interessenverbänden undFachbehörden gesprochen. Die beste Lösung, eine echte,individuelle Rentengerechtigkeit, die wir alle gerne hät-ten, wird es – das werden wir uns eingestehen müssen –am Ende des Tages nirgends geben.

Ich fasse zusammen: Insgesamt haben wir eine guteund faire Lösung gefunden.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Ich dachte, ihr seid am Suchen!)

– Lieber Kollege Schreiner, das sage ich Ihnen hier nocheinmal ganz deutlich: Die Bundesrepublik Deutschlandhat eine faire und ausgewogene Sozialgeschichte.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Ottmar Schreiner [SPD]: Der Ball war sehrflach gespielt! Das war ein richtiger Flach-mann! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich, ab-solut peinlich!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales aufDrucksache 17/6390.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion der SPD auf Drucksache 17/5516 mit dem Titel„DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vor Rentenmin-derungen schützen – Gesetzliche Regelung im SGB VIverankern“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmender Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-tionsfraktionen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf der Drucksache 17/6108 mit dem Titel „DDR-Altübersiedler und – Flüchtlinge vor Rentenminderun-gen schützen – Gesetzliche Regelung im SGB VI veran-kern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenom-men.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten UweSchummer, Albert Rupprecht (Weiden), MichaelKretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18629

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

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Heiner Kamp, Dr. Martin Neumann (Lausitz),Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDP

Gleichwertigkeit von Berufsbildung und Abi-tur gewährleisten

– Drucksache 17/8450 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Willi Brase,Klaus Barthel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Gleichwertigkeit von Berufsbildung undAbitur sichern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN

Deutschen Qualifikationsrahmen zum Er-folg führen – Gleichwertigkeit von Abiturund Berufsabschlüssen sicherstellen

– Drucksachen 17/7957, 17/8352, 17/8490 –

Berichterstattung:Abgeorndete Uwe SchummerUlla BurchardtWilli BraseHeiner KampAgnes AlpersKai Gehring

Die Reden sollen zu Protokoll genommen werden. Eshandelt sich um die Beiträge von Dr. Thomas Feist,CDU/CSU, Willi Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann,SPD, Heiner Kamp, FDP, Agnes Alpers, Die Linke, KaiGehring, Bündnis 90/Die Grünen, und dem Parlamenta-rischen Staatssekretär Dr. Helge Braun für die Bundesre-gierung.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Frak-tionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8450 mitdem Titel „Gleichwertigkeit von Berufsbildung und Abi-tur gewährleisten“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Da-gegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der Fraktionen der SPD und der Grünen beiEnthaltung der Linken.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung auf Drucksache 17/8490. Der Ausschuss emp-fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung dieAblehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-sache 17/7957 mit dem Titel „Gleichwertigkeit von Be-rufsbildung und Abitur sichern“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen

1) Anlage 10

die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken und derGrünen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/8352 mit dem Titel „DeutschenQualifikationsrahmen zum Erfolg führen – Gleichwer-tigkeit von Abitur und Berufsabschlüssen sicherstellen“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stim-men der Linken und der Grünen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung (15. Ausschuss)

zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-ropäischen Parlaments und des Rates überLeitlinien der Union für den Aufbau des trans-europäischen VerkehrsnetzesKOM(2011) 650 endg.; Ratsdok. 15629/11

– Drucksachen 17/7918 Nr. A.18, 17/8484 –

Berichterstattung:Abgeordneter Arnold Vaatz

Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sol-len zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich umdie Reden der Kollegen Vaatz, CDU/CSU, Lange, eben-falls CDU/CSU, Burkert, SPD, Simmling, FDP,Behrens, Linke, und Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen.2)

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung aufDrucksache 17/8484 zu dem Vorschlag für eine Verord-nung des Europäischen Parlaments und des Rates überLeitlinien der Union für den Ausbau des transeuropäi-schen Verkehrsnetzes. Der Ausschuss empfiehlt, inKenntnis der Unterrichtung eine Entschließung gemäßArt. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes anzunehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschluss-empfehlung angenommen mit den Stimmen aller Frak-tionen gegen die Stimmen der Grünen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antragder Fraktionen der CDU/CSU und FDP

Neue Impulse für die Sportbootschifffahrt

– Drucksachen 17/7937, 17/8482 –

Berichterstattung:Abgeordneter Hans-Joachim Hacker

Dieser Punkt soll debattiert werden. Nach einer inter-fraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine

2) Anlage 9

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18630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

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halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? – Dasist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Hans-Werner Kammer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Hans-Werner Kammer (CDU/CSU):Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Förderung desWassertourismus in Deutschland ist eine Herzensangele-genheit der Union, die wir schon in der letzten Legisla-turperiode in einem Antrag aufgegriffen haben. Mit demvorliegenden Antrag werden wir neue Impulse für dieSportbootschifffahrt setzen und so dieses Vorhaben kon-sequent weiterentwickeln. Die Union hält hier denKurs – mit Zustimmung vieler Menschen in Deutsch-land.

In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierungdazu auf, zur Erreichung dieses Ziels einen ganzenStrauß von Maßnahmen umzusetzen. Aus der Fülle derMaßnahmen möchte ich nur die wichtigsten Punkte an-sprechen.

Zunächst möchten wir die Führerscheinprüfung nichtetwa vereinfachen, sondern systematisieren, entschla-cken und entbürokratisieren. Ich weiß, dass die Opposi-tion mit diesen Begriffen wenig anfangen kann. Deshalbwerde ich sie genau erläutern.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist schonInhalt der Anträge, die vorliegen aus der letz-ten Legislaturperiode! Nichts Neues!)

– Vielleicht höre ich dann von Ihnen etwas Neues, HerrHacker. Darauf bin ich gespannt. Bisher haben wir vonIhnen in der Vergangenheit sehr wenig an konstruktiverZusammenarbeit erlebt.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das habe ich anders wahrgenommen, Herr Kollege!)

– Ja gut, darin sind wir unterschiedlicher Auffassung.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wir waren uns doch einig!)

Wir wollen die unterschiedlichen Verordnungen zumFührerscheinwesen so weit wie möglich zusammenfas-sen. Die Wassersportführerscheine werden in Zukunftmodular aufgebaut. Dies soll auch für die Sonderprüfunggelten. Wir wollen, dass die Wassersportler nur lernenmüssen, was sie tatsächlich brauchen.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das wollen wirauch! – Willi Brase [SPD]: 10 PS oder bis zu15 PS soll man ohne Führerschein fahren kön-nen? Das kann doch nicht wahr sein! – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sicherheitsrisiko!)

Wir wollen aber auch, dass die Wassersportler das, wassie brauchen, tatsächlich lernen.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Längst be-schlossen, lieber Herr Kammer! Alles be-schlossen!)

– Sparen Sie sich doch die Kraft für Ihre Rede! – Des-halb muss in der Ausbildung stärker als bisher auch aufrelevante praktische Grundfähigkeiten abgestellt wer-den. Die beste Theorie nützt nichts, wenn es in der Pra-xis nicht klappt.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Richtig!)

Das ist ein Musterbeispiel für Ihre sozialdemokratischeWirtschaftspolitik, die nie geklappt hat, die nur theore-tisch war.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Hans-Joachim Hacker [SPD]: Es geht um Frei-zeitpolitik! Es geht nicht um Wirtschaftspoli-tik!)

Die Sicherheit auf dem Wasser ist ein zentrales Anlie-gen dieser Koalition. Diesem großen Ziel muss die Qua-lität der Ausbildung in der Wirklichkeit gerecht werden.Deshalb wollen wir die Verbände und Vereine dabei un-terstützen,

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Die lehnen das ab!)

bis Ende 2016 ein einheitliches Qualitätssiegel zu schaf-fen, das Mindeststandards in der Ausbildung garantiert.Sollten die Verbände und Vereine dieses Ziel wider Er-warten nicht erreichen, wird die Bundesregierung dieInitiative ergreifen und allgemeine Mindeststandards fürdie Ausbildung sicherstellen.

(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Ohne Führer-schein! – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Siekönnen für die Bundesregierung hier gar nichtsprechen!)

Ich habe diese beiden Punkte ausführlich dargestellt,damit auch den größten Bedenkenträgern und den hart-näckigsten Liberalisierungsfeinden klar wird, dass dieseKoalition weder sich noch andere gefährden wird.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wir sind gegen wilden Liberalismus!)

Wir gewährleisten nicht nur die innere und äußere Si-cherheit, sondern auch die auf dem Wasser.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: In welcher Welt leben Sie? – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Was sagt die Wasser-schutzpolizei Brandenburg?)

– Ihre Zwischenrufe werden länger als Ihre Rede nach-her.

Wir wollen die Attraktivität der Sportbootschifffahrterhöhen und den hart arbeitenden Menschen in diesemLand den Zugang zu dieser besonders schönen Art, seineFreizeit zu genießen, erleichtern. Deshalb fordern wirdie Bundesregierung dazu auf, die Führerscheinpflichterst ab 15 PS beginnen zu lassen. Wir wollen Hausbootemit Charterscheinen auf mehr, aber nur auf dazu geeig-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18631

Hans-Werner Kammer

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neten Gewässern erlauben. Wir gängeln nicht; wir be-freien und geben der Tourismuspolitik eine Chance.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Wir haben die Entscheidung zum Führerschein mitgroßer Sorgfalt getroffen.

(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: „Sorgfalt“?)

In der Vorbereitungsphase haben wir geprüft, ob nichteine Kombination von maximaler Bootslänge und maxi-maler Geschwindigkeit zweckmäßiger wäre. Diese Lö-sung hätte man aber nur mit einem sehr komplexen unddamit sehr bürokratischen Verfahren umsetzen können.So, wie es jetzt geregelt ist, ist es einfach und klar. Dasist Koalitionspolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Es ist doch gar nicht Rosenmontag!)

In der Diskussion über den Antrag wurde von interes-sierten Kreisen ein Weltuntergangsszenario entwickelt.Das zeigt nur: Die Koalition hat in dem Dschungel derBevormundung und der Regulierung wieder einmal eineBresche für die Freiheit geschlagen,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Martin Burkert [SPD]: Ach du lieber Gott!)

eine Freiheit, die für viele Menschen in der Europäi-schen Union schon längst eine Selbstverständlichkeit ist.Genauso wie in den anderen europäischen Ländern wirdder Verkehr auf Deutschlands Gewässern weiterhin ingeordneten Bahnen verlaufen. Ich vergleiche das einmalmit dem Straßenverkehr: Wer als Fußgänger oder Fahr-radfahrer – das heißt ohne Führerscheinprüfung – amStraßenverkehr teilnehmen will, muss selbstverständlichdie Verkehrsregeln kennen.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Unpassender Vergleich!)

Fahrradfahrer und Fußgänger machen sich daher selbst-verständlich mit ihnen vertraut. Dies wird auch bei denSportbootfahrern der Fall sein. Die Menschen, meineDamen und Herren von der Opposition, haben mehr Ver-antwortungsgefühl, als Sie ihnen zutrauen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es besteht auch kein Anlass, wegen einer möglichenGefährdung der Umwelt Krokodilstränen zu vergießen.Bei den Fragen für die bisherige Führerscheinprüfunggibt es in der Tat auch solche, die den Umweltschutz unddie Befahrensregelungen für Naturschutzgebiete undNationalparks betreffen. Wer allerdings nun annimmt,dass diese Kapitäne dann auch Umweltexperten sind, istgewaltig auf dem Holzweg. Es handelt sich dabei uminsgesamt acht Fragen von beeindruckender Schlicht-heit. Wer weiß, dass man Altöl nicht in Gewässer kippt,beherrscht bereits ein Achtel des Stoffes. Das ist keinegewaltige Leistung. Gesunder Menschenverstand hilfthier weiter.

Aus der Anhörung habe ich mitgenommen, dass inZukunft durchaus erwogen werden könnte, die techni-sche Sicherheit von motorgetriebenen Wasserfahrzeugendurch Sachverständige regelmäßig bescheinigen zu las-sen. Wir werden über diesen Punkt im Rahmen dernächsten Weiterentwicklungsoffensive zugunsten desWassersports ausführlich diskutieren. Dies wird im Rah-men der in drei Jahren anstehenden Evaluierung der vonder Bundesregierung getroffenen Regelungen gesche-hen. Damit Sie von der Opposition beruhigt sind: Daswird dann von dieser Koalition evaluiert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Hellseherei!)

Sie sehen, diese Koalition ist nicht nur auf dem richti-gen Dampfer, sondern auch schnell wie ein Sportboot.Deshalb bitte ich um Annahme unseres Antrags.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Hacker

von der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Hans-Joachim Hacker (SPD):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kammer, ich hatte eben den Eindruck, dass wir hierbeim Karneval in Köln am Rosenmontag sind.

(Beifall der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN] – Zuruf von der FDP:Dass Sie nicht aus Köln kommen, merkt man!)

Worum geht es hier eigentlich? Das von Ihnen aufge-zeigte Szenario sieht in Wirklichkeit völlig anders aus.Das, was in Ihrem Antrag steht, ist zum Teil Gegenstandzweier Anträge aus der letzten Legislaturperiode. Dasind wir in den Punkten völlig einig.

(Patrick Döring [FDP]: Dann stimmen Sie doch zu!)

Das, was in Ihrem aktuellen Antrag steht, ist zum Teilüberholt, weil die Neuregelung der Führerscheinprüfungim Mai dieses Jahres in Kraft tritt.

(Sören Bartol [SPD]: Ganz genau!)

Dann wird auch Ihre Forderung nach mehr Praxis – dieich unterstütze – umgesetzt.

(Patrick Döring [FDP]: Umso besser, dass wir das hier verstärken!)

Es geht nicht um die Frage, ob wir den Wassertouris-mus befördern sollen. Wir alle wissen, dass Wassertou-rismus ein ganz tolles Potenzial hat.

(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Stimmen Siezu! – Patrick Döring [FDP]: Die Sozialdemo-kraten verweigern sich nicht dem Fortschritt!Sehr gut!)

Page 168: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

18632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Hans-Joachim Hacker

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Ich komme aus Mecklenburg-Vorpommern, einem Bun-desland, das ebenso wie Brandenburg – zumindest tou-ristisch gesehen – zu den großen Gewinnern der letztenEiszeit zählt: Es gibt dort tolle Seen und Kanäle. Das giltmittlerweile auch für die Lausitz.

Wir haben in den letzten Monaten im Verkehrsaus-schuss und insbesondere im Tourismusausschuss verein-bart, die Punkte, die auf der Tagesordnung stehen,gemeinsam abzuarbeiten. Wir haben gesagt: Die Bun-desregierung muss endlich Vorlagen liefern. Dann wer-den wir das auf der Grundlage der beiden Anträge ausder letzten Legislaturperiode bewerten. Dann kommenSie kurz vor Weihnachten und bringen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Vorschläge ein, die wir in der letztenLegislaturperiode nicht aufgegriffen haben.

(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Sie waren schon immer dagegen!)

Damit bin ich beim Punkt. Es geht um die Führerschein-freiheit und die Erhöhung der Grenze von 5 auf 15 PS.

(Patrick Döring [FDP]: Dass Sie die Partei der Langsamkeit sind, wissen wir schon lange!)

Sie erwecken den Eindruck, als ob eine solche Erhöhungeinen Schub für den Wassersport und den Wassertouris-mus bringen würde. Das ist eine Annahme, die über-haupt nicht belegt ist.

Ich verweise auf die Anhörung, die wir am 18. Januarim Deutschen Bundestag durchgeführt haben. Diese An-hörung hat eindeutig belegt, dass die Mehrheit der Sach-verständigen der Ansicht war, dass die Punkte, die wirvon Anfang an benannt haben – die Führerscheinpflichterst für Boote mit einer Mindeststärke von 15 PS vorzu-sehen und die Ausdehnung der Charterscheinregelung,die nach unserer Meinung zu weit geht –, kritisch zu se-hen sind. Im Übrigen hat die Bundesregierung selber be-stimmte Vorschläge aus Ihrem Antrag gar nicht unter-stützt. Ich denke in diesem Zusammenhang an diePlastikkarte, die als Führerschein dienen sollte. Das istvon der Bundesregierung verworfen worden.

(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Das ist eine untergeordnete Frage!)

– Ja, das ist eine untergeordnete Frage. – Die Anhörungwar für 10 Uhr am 18. Januar angesetzt. Wir haben mitetwas Verzug begonnen. Bereits um 10.07 Uhr habenSie, Herr Staffeldt, das Ergebnis der Anhörung auf IhrerHomepage verkündet.

(Torsten Staffeldt [FDP]: Das ist ein Zeichen von Fortschritt in der Politik!)

Sie haben der staunenden Öffentlichkeit mitgeteilt, dassdie Mehrheit der Sachverständigen Ihren Vorschlägenzugestimmt hat.

(Patrick Döring [FDP]: Er hat vorher alle schriftlichen Stellungnahmen gelesen!)

Das ist eine Frechheit und eine Negierung unseres parla-mentarischen Verfahrens.

(Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Lächerlich!)

Ich frage mich: Wozu führen wir hier im DeutschenBundestag Anhörungen durch,

(Patrick Döring [FDP]: Das frage ich mich auch manchmal!)

wenn die FDP zu Beginn der Anhörung bereits das Er-gebnis vorwegnimmt?

(Patrick Döring [FDP]: Er hat die schriftlichen Stellungnahmen gehabt!)

– Gerade die schriftlichen Stellungnahmen belegen, dassIhre Vorschläge zu diesen beiden Punkten nicht unter-stützt werden.

(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Das stimmtdoch gar nicht! – Patrick Döring [FDP]: Dasist eine gewagte Interpretation!)

Herr Staffeldt, Sie sagen, die Mehrheit der Sachver-ständigen habe Sie unterstützt. Dazu sage ich: Sie vonder FDP glauben an Hellseherei.

(Patrick Döring [FDP]: Das ist blanker Lobby-ismus, den Sie betreiben!)

Das sind die beiden Gründe, warum wir diesen Antragnicht mittragen können.

Wir haben in der vorigen Woche hier in diesem Hauseine Diskussion über Verkehrssicherheit geführt. Fürmich erstreckt sich Verkehrssicherheit auch auf dassichere Befahren von Gewässern; sie umfasst den Rheinund die Mosel, die Müritz und andere Gewässer. Siegeben freie Fahrt auch für den Rhein und für die Mosel,ohne eine Altersbegrenzung einzuführen, ohne eineHaftpflichtversicherung vorzuschreiben, und Sie wollendie Führerscheinpflicht erst ab 15 PS.

(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Da un-terscheiden wir uns von Ihnen! Wir trauen denMenschen!)

Ich rate Ihnen: Lesen Sie noch einmal die Stellung-nahme der Wasserschutzpolizei Brandenburg durch. DieWasserschutzpolizei Brandenburg hat sich mit anderenWasserschutzpolizeien abgestimmt. Die Kritik trifftdoch ins Mark, Herr Staffeldt.

(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Die ist für die Erhöhung! Waren Sie nicht dabei?)

– Aber doch nicht auf 15 PS! Das hat die Wasserschutz-polizei nicht unterstützt. Die Wasserschutzpolizei hatgesagt: Wenn erhöht wird, dann nur unter verändertenRahmenbedingungen.

(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Wir sind doch keine Teppichhändler!)

Das bedeutet: Versicherungspflicht und Altersbegren-zung. Alles das machen Sie nicht.

(Patrick Döring [FDP]: Diese Debatten sindvor 200 Jahren bei der Einführung des Auto-mobils auch geführt worden!)

Ich sage Ihnen: Sie sind, was die Verkehrs- und Touris-muspolitik betrifft, ein Risikofaktor für die Gesellschaft.

Vielen Dank.

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18633

Hans-Joachim Hacker

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(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Torsten Staffeldt von der

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Torsten Staffeldt (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war

wieder einmal ganz großes Kino vom Kollege Hacker.

(Zuruf von der FDP: Das war ein Drama! –Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Auf zur Ver-drängungsphase!)

Man kann sich fragen, ob er unter Bewusstseinstrübungleidet oder nicht. Wir alle waren in dieser Anhörung.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sie wussten um 10.07 Uhr schon das Ergebnis!)

Wenn Sie wie auch der Kollege Behrens behaupten, dassdie Mehrheit der Experten dafür gewesen sei, dass allesso bleibt, wie es ist, dann unterliegen Sie einem riesen-großen Irrtum. Derjenige, den Sie, Herr Hacker, immerwieder als Kronzeugen benennen, Herr Werner von derWasserschutzpolizei in Brandenburg, hat ganz klipp undklar gesagt, dass auch die Wasserschutzpolizei dafür sei,dass die PS-Grenze für die Führerscheinpflicht hoch-gesetzt werde.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Hans-Joachim Hacker [SPD]: Unter Rahmen-bedingungen! Sie lesen die Vorlagen nicht!)

So ist das. War ich in derselben Veranstaltung wie Sie?Ich habe mir die Stellungnahmen durchgelesen.

Wir können das Thema noch einmal behandeln: Vonden sechs anwesenden Experten waren drei ganz klarverortet: der Experte vom BUND – von dem war nichtsanderes zu erwarten; Entschuldigung, Frau Dr. Wilms,aber es war nicht unbedingt zu erwarten, dass der BUNDfür Motorbootschifffahrt ist –, Herr Roeder vom Deut-schen Olympischen Sportbund und Herr Süß vom Deut-schen Segler-Verband.

(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die waren auch eindeutig gegen IhrVorhaben!)

Die letzten beiden sind anerkannte Verbandsfunktionäre,die ein sehr großes Interesse daran haben, dass ihre bis-herige Beleihung in der Form erhalten bleibt.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist ein bil-liger Vorwurf! Es geht um die Frage derSicherheit!)

Alle anderen waren dafür, dass wir die Änderungen inder Form durchführen, wie wir das jetzt auch tun wer-den.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das können Siedoch gar nicht! Das macht doch die Regie-rung!)

Aus diesem Grund, Herr Hacker, ist es völlig klar, dassdie diesbezüglichen Pressemitteilungen zeitnah zur An-hörung herausgingen. Insofern habe ich überhaupt keinProblem damit.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Zu Beginn der An-hörung haben Sie es vorweggenommen!)

Aber dies nur als kleine Replik auf das, was wir imLaufe des Abends schon hören durften.

Generell kann man feststellen, dass in diesem Fall dievereinigte Opposition alle Mittel und Wege versucht, umuns anzugreifen. Darüber kann ich mich, wie gesagt, nurwundern. Das habe ich schon mehrfach geäußert.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Es geht um Sicherheit!)

Im Grunde genommen wissen Sie ganz genau, dass das,was wir machen und was eben schon der KollegeKammer, der große Freiheitskämpfer von der CDU, dar-gestellt hat, der richtige Weg ist, dass wir die Ziele ver-folgen wollen, die Sie in den früheren Legislaturperio-den, in denen Sie den Verkehrsminister gestellt haben,nie erreicht haben. Was nützen uns die wunderschönenAnträge, die Sie damals gestellt haben? Nichts davonhaben Sie erreicht.

(Patrick Döring [FDP]: So ist es! Nichts habtihr auf die Reihe gebracht! Ihr rudert noch inder Pfütze rum!)

Wir werden das jetzt umsetzen, Herr Hacker, wozuSie nur Lippenbekenntnisse abgegeben haben. In einemersten Schritt werden wir dafür sorgen, dass mehr Men-schen aufs Wasser kommen, und zwar ohne Regulierun-gen, die überflüssig oder übertrieben sind.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das ist genau der Punkt: Überflüssige Regulierungen,die ausschließlich dazu dienen, beliehenen VerbändenPrüfungsgebühren zukommen zu lassen, sind nicht un-sere Art von Politik, sondern das ist offensichtlich eineForm von Klientelpolitik, die Sie hier gerne betreibenwollen.

(Patrick Döring [FDP], an die SPD gewandt:Sie betreiben Lobbyismus! – Gegenruf desAbg. Hans-Joachim Hacker [SPD]: Es geht umSicherheit, Herr Döring!)

Sie betreiben den Lobbyismus und die Klientelpolitik,die Sie uns an der einen oder anderen Stelle immer wie-der gern vorwerfen.

Es ist ja ganz nett, sich am späten Abend ein wenig zubeharken.

(Patrick Döring [FDP]: Am frühen Abend! – Zuruf von der SPD: So spät ist es noch nicht!)

– Oder am frühen Abend; je nachdem. – Aber ichmöchte jetzt zum Fachlichen kommen.

Wir haben die Anhörung durchgeführt, bei der auchHerr Werner von der Wasserschutzpolizei Brandenburganwesend war. Dieser hat gesagt, es sei keine signifi-kante Zunahme der Zahl der Unfälle zu verzeichnen.

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18634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Torsten Staffeldt

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Das heißt, auch im Charterscheingebiet, in dem Leutemit einer kurzen Einweisung große Boote fahren dürfen,hat es keine signifikante Zunahme der Zahl der Unfällegegeben. Das heißt, alle Schreckens- und Horrorszena-rien, die Sie hier an die Wand malen, sind wirklich fürdie Katz.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Noch einmal – ich habe es letzten Mittwoch schon ge-sagt –: Die Unfälle, die geschehen, werden nicht nur vonMenschen verursacht, die keinen Führerschein haben,sondern auch von Menschen, die einen Führerscheinhaben. Insofern wird eine Erhöhung von 5 auf 15 PS,wie wir sie vorhaben, die Zahl der Unfälle auch nicht er-höhen.

(Beifall bei der FDP: So ist es!)

Wir wollen mehr Verkehr auf dem Wasser, wir wollen,dass die demografische Entwicklung, die gerade in die-sem Sport- und Tourismussegment erkennbar ist – dasDurchschnittsalter der Wassersporttreibenden liegt imMoment bei 56 Jahren –, dadurch zumindest teilweiseaufgehalten wird, dass die Menschen ohne große Regu-lierung aufs Wasser gehen können. Sie sollten nicht ersteinen Kurs machen müssen, Geld bezahlen müssen undwährend des Kurses so wichtige Dinge lernen müssenwie die Beantwortung der Frage, wer für die Ausstellungvon Funkzeugnissen in Deutschland zuständig ist. – Dassind nämlich die Regulierungsbehörden.

(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die können das Ruderboot nehmen! –Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist doch al-les erledigt! Alte Hüte! Alte Kamellen!)

Letztes Jahr habe ich den Sportbootführerschein „bin-nen“ gemacht; das nur nebenbei.

Wir begrüßen es, dass das Bundesverkehrsministe-rium das Prüfungsverfahren im Mai dieses Jahres aufMultiple Choice umstellen wird, dass dieses Prüfungs-verfahren entschlackt wird. Das ist sehr gut. Aber wirhaben eben darüber hinausgehende Vorstellungen, wasdie Führerscheine angeht, was beispielsweise auch dieAnerkennung anderer bereits erworbener Qualifikatio-nen angeht – wie gesagt, alles mit der Zielsetzung, dassmehr Menschen aufs Wasser kommen. Denn es ist ein-fach toll auf dem Wasser. Herr Hacker, ich weiß nicht,ob Sie schon einmal dort waren. Außer auf der Toilettewaren Sie vielleicht noch nicht auf dem Wasser.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ich war immerauf dem Klarwasser und nicht auf dem Brack-wasser!)

Wir sind fest davon überzeugt, dass das der richtigeWeg ist. Weil wir aber auch die Bedenken der Verbändeernst nehmen, ist in unserem Antrag eine Prüfklauselenthalten. Wir werden also nach drei Jahren schauen,wie sich das Ganze entwickelt hat. Ich gehe fest davonaus, dass es sich positiv entwickeln wird. Aus diesemGrunde denke ich, dies ist nur der Einstieg in eine Ver-einfachung. Herr Kollege Kammer hat das eben schonsehr schön – vielleicht ein wenig polemischer, als ich eskann – auf den Punkt gebracht. Aber zum Schluss – meine

Redezeit ist gleich abgelaufen – auch ein Spruch vonmir: Wer glaubt, dass er mehr Menschen für den Was-sersport begeistern kann, indem er viele Prüfungen vor-sieht und Hürden aufbaut,

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Es geht ja gar nicht um die Prüfung!)

der glaubt auch, dass das Verhalten der Opposition, daswir hier im Laufe der letzten Wochen und Monate erle-ben konnten, ernst gemeint ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Für die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Herbert

Behrens.

(Beifall bei der LINKEN)

Herbert Behrens (DIE LINKE):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch wenn es zu dieser Zeit schwer ist: Stellen Sie sichbitte vor, dass auf Sie im Sommer beim Schwimmen ineinem See ein Motorboot zugefahren kommt. Man mussdoch annehmen können, dass derjenige, der mit einemsolchen Boot unterwegs ist, in der Lage ist, zu begreifen,wie er sich verhalten muss. Der Normalfall ist, dass je-mand, der einen Führerschein besitzt, zumindest in derFührerscheinprüfung mit einer entsprechenden Fragekonfrontiert worden ist, dass er also weiß, wie er sich ineiner kritischen Situation verhalten muss. Das kann manerwarten. Einen Führerschein braucht man allein schondeswegen, weil man sich zumindest einmal mit Fragendieser Art auseinandergesetzt haben muss.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –Patrick Döring [FDP]: Die Menschen schützensich doch selbst! Die Menschen wollen dochgar nicht, dass sie einen Unfall haben!)

CDU/CSU und FDP wollen nun erlauben, dass Men-schen ab 16 Jahre Motorboote mit bis zu 15 PS ohneFührerschein fahren dürfen. Bisher liegt die Grenze bei5 PS. Kommt der Vorschlag der Regierungskoalitiondurch, könnte sich der überwiegende Teil der Wasser-sportfreunde ins Boot setzen und einfach losfahren. Siehaben möglicherweise nie etwas von Vorfahrtsregelnoder von Verkehrszeichen gehört und brausen dann mög-licherweise mit bis zu 40 Stundenkilometern über einenSee oder einen Fluss. Auf dem Wasser ist das gefährlichschnell; das wissen Sie selber. Die Wasserschutzpolizei,die in der zitierten Anhörung ebenfalls anwesend war, istaus personellen Gründen nicht in der Lage – auch daswurde erwähnt –, zu kontrollieren, ob Geschwindigkeits-begrenzungen eingehalten werden. Wir wissen: Blitzerauf dem Wasser gibt es nicht. So können die Motorboot-fahrer zu einer Gefahr werden, und zwar nicht nur fürandere, sondern auch für sich, zum Beispiel wenn sie mitRuderern und Kanuten zusammentreffen

(Patrick Döring [FDP]: Die haben doch auch keine Ausbildung!)

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Herbert Behrens

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oder wenn sie darauf achten müssen, wie sie mit imUferbereich schwimmenden Kindern umgehen. Das istnicht zu verantworten. Darum geht das, was Sie hier vor-haben, überhaupt nicht.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Wenn wir den Naturschutz ernst nehmen, Flora undFauna schützen wollen – viele Wassersportler möchtendas –, dann müssen wir verlangen, dass jede Fahrerinund jeder Fahrer eines Sportboots den Umgang mit demFahrzeug gelernt hat und ihn beherrscht. Genau das ha-ben wir uns letzte Woche in der Anhörung, die hierschon erwähnt worden ist, von vielen Experten erklärenlassen.

(Patrick Döring [FDP]: Nicht in der Anhörung, in der wir waren!)

– Wir waren in der gleichen Anhörung. Wenn Sie dieAusführungen dort genau verfolgt haben, dann habenSie festgestellt, dass insbesondere die geplante Führer-scheinfreiheit bei Booten bis 15 PS kritisiert worden ist.

(Torsten Staffeldt [FDP]: Das nennt man se-lektive Wahrnehmung! – Patrick Döring[FDP]: Was hat denn der Führerschein mitökologischer Sensibilität zu tun?)

Es wurde gesagt: Es wird brandgefährlich, wenn sichkünftig so viele Menschen mehr, ohne dass sie vorhergeprüft worden sind, ins Boot setzen können und mit biszu 40 Stundenkilometern über die Gewässer bretternkönnen.

Wir haben sogar vom Motoryachtverband gehört: Dasschadet dem Ansehen des motorisierten Wassersports.

(Patrick Döring [FDP]: Da sind Sie auch Lob-byist!)

Das ist heute noch auf der Homepage dieses Verbandeszu lesen. Wir nehmen diesen Rat ernst.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Sie, meine Damen und Herren von der Koalition,wollen Ihren Vorschlag damit rechtfertigen, dass die Re-gelungen in Deutschland im Vergleich zu denen in ande-ren europäischen Staaten besonders restriktiv sind; aberdas stimmt nicht. Etwa in Holland

(Patrick Döring [FDP]: Niederlande!)

besteht Führerscheinpflicht, wenn man ein Boot steuert,das schneller als 20 Stundenkilometer fahren kann. ImVergleich dazu liegen wir im Mittelfeld. In Spanien müs-sen alle, die ein Motorboot fahren wollen, den Führer-schein besitzen.

(Patrick Döring [FDP]: Sie haben auf Mallorca auch noch nie ein Boot gemietet, oder?)

Ich bin überzeugt davon: Es ist ein Trugschluss, wennSie glauben, dass Regionen für Touristen attraktiverwerden, wenn Bootsverleiher an jede und jeden ihre

Jachten verleihen können, ohne dass sie eine entspre-chende Ausbildung vorweisen können.

Über einige Ihrer Vorschläge im Antrag können wirreden; das haben wir schon angedeutet. Es ist sinnvoll,die Zahl der Fragen im Prüfungsbogen zu reduzieren undBerufsabschlüsse aus der gewerblichen Binnen- undSeeschifffahrt anzuerkennen. Aber an dem Kern, näm-lich Motorbootfahrer nur mit einer guten Ausbildungaufs Wasser zu lassen, müssen wir festhalten. Bevor Siemit dieser Regelung Schiffbruch erleiden, sollten Sie,wenn schon nicht auf uns, auf die Expertenmeinungenhören und diesen abenteuerlichen und waghalsigen Vor-schlag versenken.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN – Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Gott sei Dank, dass wir nicht auf Siehören mussten!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Valerie Wilms für

Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn ich Revue passieren lasse, was wir in der Anhö-rung erlebt haben, und das damit vergleiche, wie wir indiese Debatte eingestiegen sind und was wir hier behan-deln, dann finde ich das erstaunlich. Ich bekomme dasnicht zusammen. Das gilt auch für Ihren Antrag.

Ich vermute, dass Sie heute nur einen Testballon star-ten. Der Koalition sind dabei die Testergebnisse garnicht so wichtig – Hauptsache, Sie bekommen ihn ersteinmal in die Luft.

(Otto Fricke [FDP]: Auf das Wasser!)

Sonst bekommen Sie von der FDP nicht mehr viel in dieLuft. Ich bin gespannt, was daraus wird. Vor allem warteich mit Spannung darauf, was Ihr Verkehrsministeriumdaraus machen wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD und der LINKEN – PatrickDöring [FDP]: Das ist das Verkehrsministe-rium des deutschen Volkes!)

Wir haben schon lange Beschlüsse des DeutschenBundestages, die den Wassertourismus für alle – nichtnur für Motorbootfahrer – attraktiver machen sollen. Diestammen noch aus der letzten Wahlperiode. Herr Hacker,Sie haben das persönlich miterlebt. Herr Liebing, Siewissen auch, dass es entsprechende Beschlüsse aus der16. Wahlperiode gibt, die dann schön weggelegt wurden.Ich bin immer wieder erstaunt, was alles noch nicht um-gesetzt worden ist.

Es hat Ewigkeiten gedauert, bis es jetzt endlich zu ei-ner Reform des Führerscheinrechts gekommen ist. Jetzt,da es die neuen Regeln gibt, kommen Sie auf einmal wieKai aus der Kiste mit neuen Ideen, die sich im Wesentli-

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18636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Dr. Valerie Wilms

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chen auf eine Befreiung von der Führerscheinpflicht be-schränken. Dazu kann ich nur sagen: Tolle Zusammenar-beit mit Ihrem Ministerium! Erstaunlich!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Noch erstaunter war ich über Ihr Vorgehen in der Sa-che selbst. Kurz vor Weihnachten brachten Sie ohne jeg-liche Debatte einen solchen Antrag hier im Plenum ein.

(Patrick Döring [FDP]: Advent, Advent, ein Lichtlein brennt!)

– Aber bei Ihnen brennen nicht mehr viele Lichter, HerrDöring. Das ist das Problem.

Sie wollten das Ganze dann im Eilverfahren durch dieAusschüsse jagen. Da haben wir aber nicht mitgemacht.

(Patrick Döring [FDP]: Überhaupt kein Eilver-fahren! Wir haben eine Anhörung gemacht!)

– Sie hatten ja etwas ganz anderes vor. Sie wollten das jaschon in der letzten Woche vor Weihnachten hier im Ple-num durchziehen. Die Anhörung, die wir dann im Januargemacht haben,

(Patrick Döring [FDP]: Nur für Sie! – TorstenStaffeldt [FDP]: Wir haben im Sommer desletzten Jahres die erste Anhörung gehabt!)

weil wir uns massiv dafür eingesetzt haben, hat deutlichgemacht – auch wenn gerade Sie, Herr Staffeldt, bera-tungsresistent sind –, dass Sie die Bedenken einfach bei-seiteschieben wollen.

(Torsten Staffeldt [FDP]: Von Ihnen lasse ich mich auch nicht beraten!)

– Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist spät am Abend,und vielleicht waren einige vorher bei dem Empfang. Dahabe ich zumindest einige von uns gesehen.

(Heiterkeit)

– Ich weiß nicht, was da alles abgelaufen ist, weil ichrechtzeitig wieder weg war.

Lassen Sie es mich klar und deutlich sagen: Die Be-freiung von der Führerscheinpflicht freut vor allem dieBootsverleiher und die Freunde des Motorbootsports.Aber das ist bei der FDP mit ihren Speedbootfans geradeaus dem Norden kein Wunder. Alle anderen müssen se-hen, wo sie bleiben. Die Ruderer, die Kanufahrer usw.,alle bleiben außen vor bei Ihnen.

Vor allem scheinen Ihnen die Folgen für die Naturund die Sicherheit nicht so wichtig zu sein.

(Torsten Staffeldt [FDP]: Sie wissen doch ganzgenau, dass es überall Geschwindigkeitsbe-grenzungen gibt!)

Der Naturschutz wird völlig ausgeblendet. Das findenwir vollkommen unangemessen. Ich verstehe Ihre Igno-ranz nicht, Herr Staffeldt. Jetzt müssen wir sehen, wiewir aus dieser Falle wieder herauskommen.

Auch Fragen der Sicherheit scheinen Sie wenig zu in-teressieren. Klar ist: Die Sicherheit und Leichtigkeit des

Schiffsverkehrs werden durch die Änderung der Führer-scheingrenze nicht verbessert. Eher geschieht das glatteGegenteil.

Der bereits angesprochene Herr Werner von der Was-serschutzpolizei hat in der Anhörung deutlich daraufhingewiesen, dass die Wasserschutzpolizei ihre wach-senden Aufgaben bereits heute bei immer weniger Per-sonal nicht erfüllen kann. Die Polizei und sogar derADAC verlangen zumindest eine fundierte Einweisung.Herr Werner von der Wasserschutzpolizei verlangt da-rüber hinaus für die Freigabe eine Altersgrenze von18 Jahren, eine Probezeit und eine Haftpflichtversiche-rung. Hierauf sind Sie überhaupt nicht eingegangen. Dashaben Sie einfach ausgeblendet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD und der LINKEN – PatrickDöring [FDP]: Die Versicherungspflicht bleibtdoch!)

Auch Sie, liebe Koalitionäre, wissen, dass auf demWasser alles anders ist: Die Schilder sind mit denen imStraßenverkehr nicht vergleichbar, die Vorfahrtsregelnsind etwas komplizierter, und eine Bremse hat ein Bootauch nicht.

Ein paar Grundregeln muss jeder kennen – für die ei-gene Sicherheit und für die Sicherheit der anderen, diesich auf dem Wasser aufhalten, auch die der nichtmotori-sierten Wassersportler. Dazu enthält Ihr Antrag aberkeine Vorschläge, sondern ignoriert die Bedenken. DieVorteile Einzelner aus der Verleiherbranche stehen beiIhnen höher im Kurs. Das ist Politik im Mövenpick-Stil.

(Torsten Staffeldt [FDP]: Das müssen Sie ge-rade sagen!)

Sie machen da weiter, wo Sie schon vorher ein paar-mal gescheitert sind. Anderthalb Jahre müssen wir dasnoch ertragen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Das Wort hat der Kollege Matthias Lietz von der

CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Patrick Döring [FDP]: Jetzt kommt Sachver-stand ins Spiel! Wie gut!)

Matthias Lietz (CDU/CSU):Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Meine Damen und Herren! Wie bekannt komme ichaus dem wunderschönen Mecklenburg-Vorpommern, ei-nem Land, das vor allem aus touristischer Sicht ein herr-liches Fleckchen Erde ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben nicht nur das Meer vor der Tür, malerischeLandschaften, so weit das Auge reicht, sondern natürlichauch eine große Anzahl Binnengewässer, Flüsse und

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Matthias Lietz

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Seen. Daher dürfte es auch nicht allzu sehr verwunder-lich sein, dass eine große Anzahl von Menschen in unse-rem Land vom Tourismus lebt, Herr Kollege Hacker.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das soll auch so bleiben!)

Für sie ist es in jedem Jahr entscheidend, wie viele Tou-risten unser Land besuchen.

Tourismus stellt in vielen Bundesländern einen signi-fikanten Wirtschaftsfaktor dar. Ebendiesen wollen wirzukünftig attraktiver und interessanter gestalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir wollen den Bereich des Wassersports entbürokrati-sieren und zu neuen und positiven Entwicklungen in derSportbootschifffahrt verhelfen.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Nichts dage-gen!)

Für diese Vorhaben bedarf es logischerweise einiger Än-derungen hinsichtlich der aktuellen Gegebenheiten. Da-rauf zielt unser Antrag ab; die bisherige Diskussion hatdies eindeutig gezeigt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vor allem die Führerscheinpflicht spielt eine zentraleRolle. Wir wollen die Grenze, bis zu der Führerschein-freiheit besteht, von bisher maximal 5 PS auf eine Moto-risierung von 15 PS anheben. Dieser wesentliche Punktliegt darin begründet, dass die Begrenzung der Führer-scheinfreiheit Einsteiger in den betreffenden Wasser-sportarten erheblich abschreckt. Vor allem bei Anfän-gern in der Sportbootschifffahrt spielt die Sensibili-sierung für den neuen Bereich eine bedeutende Rolle.Bereits seit dem Jahr 2000 wird die Einführung einerTouristencharterbescheinigung gerade auch in unseremLand erprobt. Demnach dürfen Touristen nach Einwei-sung vorübergehend auf ausgewählten Binnengewässernein Boot führen. Diese Bescheinigung hat sich in den be-troffenen Regionen als voller Erfolg für die Sportboot-schifffahrt herausgestellt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich bin der festen Überzeugung, dass dies weiter ausge-baut und vor allen Dingen vernetzt werden muss. DieseRegelung führte zu einem nachweislich höheren Inte-resse am Bootssport und außerdem zu keiner Einschrän-kung in der Verkehrssicherheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir müssen vieles tun, um gerade diesen Bereich desWassersports attraktiver zu gestalten.

Ich will noch einige Worte zur PS-Regelung sagen:Wir teilen die diesbezüglich bestehenden Befürchtungenebenso wenig wie zahlreiche Verbände und Akteure, imÜbrigen – es ist heute schon gesagt worden – auch nichtdie Wasserschutzpolizei. Ich möchte noch einmal deut-lich machen: Schwächere Motoren bedeuten nicht mehrSicherheit. Dies ist auf Bundesstraßen ebenso ein Gesetzwie auf dem Wasser.

Aus meiner Erfahrung als ehemaliger ehrenamtlicherBürgermeister eines Seebads sage ich Ihnen: Ich erwartevon einem mündigen Bürger, der sich dem Verkehr inunserer Region stellt, dass er dabei die gleiche Verant-wortung an den Tag legt wie bei Sachentscheidungen aufanderen Gebieten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es sind die gleichen Bürger unseres Landes.

Ich möchte noch einmal kurz zusammenfassen: Wirfordern in unserem Antrag eine Entbürokratisierung derSportbootschifffahrt, die Erleichterung des Einstiegs inden Wassersport bei – das mache ich noch einmal deut-lich – Erhalt der Wassersicherheit, die Stärkung des Pra-xisanteils in den harmonisierten Prüfungen, die Unter-stützung der Verbände bei der Einführung eines ein-heitlichen Qualitätssiegels für Ausbilder, das Einführeneiner Unfallstatistik, Mindestausrüstungsstandards fürCharterjachten

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Alles schon vor drei Jahren gefordert! Alles alte Hüte!)

sowie eine einheitliche Rechtsanwendung bei der Ertei-lung von Bootszeugnissen durch die Wasser- und Schiff-fahrtsämter und die Anerkennung der Funkzeugnisse ausanderen Ländern der Europäischen Union. Damit trägtunser Antrag dazu bei, neue Impulse für die Sportboot-schifffahrt zu setzen, und verdient die Unterstützung vonuns allen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

nun das Wort der Kollege Martin Gerster von der SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Martin Gerster (SPD):Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

„Neue Impulse für die Sportbootschifffahrt“ – ehrlichgesagt, es ist in der Debatte deutlich geworden, dass eszum Teil ganz schön kalter Kaffee ist, was uns hier prä-sentiert wird.

(Zuruf von der SPD: Natürlich!)

Außerdem lautet die entscheidende Frage: Ist es ver-nünftig, ist es verantwortbar, was Sie beantragen? Hiermuss ich als Vertreter des Sportausschusses ganz klar sa-gen: Es ist eben nicht verantwortbar.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das haben auch alle, die im Sport unterwegs sind, in ih-ren Stellungnahmen deutlich gemacht.

(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)

Dies hat ganz klar der Deutsche Olympische Sport-bund gesagt, ebenso der Deutsche Segler-Verband und

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18638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Martin Gerster

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der Deutsche Motoryachtverband. Auch der DeutscheKanu-Verband hat Ihrem Antrag in dem Statement, dasdem Ausschuss vorliegt, eine klare Absage erteilt.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: So ist es!)

Das, was Sie hier treiben, ist unverantwortlich, weiles die Attraktivität mancher Sportart in Deutschland aufsSpiel setzt, ebenso wie die Unversehrtheit und die Ge-sundheit der Sportlerinnen und Sportler auf dem Wasser.Deswegen muss man ganz klar sagen: Das, was Sie hierauf den Tisch gelegt haben, muss abgelehnt werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Blan-ker Lobbyismus!)

Denn schon heute ist die Situation an neuralgischen Stel-len gefährlich für all diejenigen, die muskelkraftbetrie-bene Boote fahren.

(Zuruf von der FDP: Das möchte ich auch mal machen!)

Durch Ihre Initiative wird das Ganze letztendlich nochgefährlicher.

Hinzu kommt: Lange Wartezeiten an den Schleusensind heute schon Usus.

(Patrick Döring [FDP]: Für die Kanuten!)

In der Reihenfolge, in der Priorisierung des Durchlassessind die Kanuten die Letzten, die passieren können.

(Patrick Döring [FDP]: Alles klar!)

Durch Ihre Initiative wird es für die Kanuten noch unat-traktiver, ihren Sport auszuüben.

(Patrick Döring [FDP]: Das Kanu kann man auch auf die Schulter nehmen!)

Deswegen ist ganz klar: Sie sollten diesen Antrag zu-rückziehen. Sie sollten vielleicht auch einmal diejenigenfragen, die im Sport unterwegs sind. Leider sind IhreMitglieder aus dem Sportausschuss heute nicht anwe-send. Bei unserer Debatte im Sportausschuss am Mitt-woch war von der FDP noch nicht einmal eine Wortmel-dung zu verzeichnen.

(Heiterkeit der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Man muss einfach feststellen: Hier scheint jemand ge-pennt zu haben. Ihr Kollege Günther, medienscheu wieer ist, hätte sich wenigstens einmal im Sportausschuss zudieser Frage, die wesentliche Bereiche des Sports be-rührt, zu Wort melden können.

(Patrick Döring [FDP]: Keinerlei Dissens!)

Darüber sollten Sie mit Ihrem Kollegen einmal reden.

(Patrick Döring [FDP]: Frei von Sachkunde!)

Sie sollten auch einmal mit dem Staatssekretär, HerrnDr. Bergner, reden. Wir zumindest dachten immer, dasBundesministerium des Innern sei auch Anwalt des deut-schen Sports.

(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das erwarten wir auch!)

So zumindest stellen sich der Minister und auch derStaatssekretär bei Versammlungen und Veranstaltungenimmer dar.

(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Haben Sie auch ein Argument?)

Hier jedoch, auf unsere Nachfrage im Sportausschuss:Fehlanzeige. Es gab überhaupt kein Parteiergreifen fürdie Interessen des Sports.

(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Wozu reden Sie eigentlich?)

Die Antwort lautete: Die Bundesregierung ist zuständigfür Spitzensportförderung, aber eben nicht für die Anlie-gen der Wassersportverbände. Hierfür fehlt uns das Ver-ständnis. Ihr Antrag ist völlig fehl am Platze.

(Patrick Döring [FDP]: Sie sind Lobbyist! Blanker Lobbyist!)

Deshalb werden wir ihn ablehnen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Herr Kollege Gerster, wollen Sie noch eine Zwi-

schenfrage oder eine Endfrage des Abgeordneten Frickebeantworten?

Martin Gerster (SPD):Ich würde sagen, wir belassen es dabei. Die Argu-

mente sind meines Wissens ausgetauscht.

(Patrick Döring [FDP]: Sie haben keines dazubeigetragen! – Weiterer Zuruf von der FDP:Man trifft sich immer zweimal!)

Der Kollege Fricke kann gerne mit seinen Kollegen ausdem Sportausschuss sprechen.

Ich fordere Sie auf, den Antrag zurückzuziehen. Wirjedenfalls werden nicht zustimmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Dahat aber einer ganz schön gerudert! Manno-mannomann!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Es liegt eine größereAnzahl von Erklärungen nach § 31 der Geschäftsord-nung vor. Diese nehmen wir zu Protokoll.1)

Jetzt stimmen wir ab über die Beschlussempfehlungdes Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungzu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDPmit dem Titel „Neue Impulse für die Sportbootschiff-fahrt“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/8482, den Antrag der Fraktio-nen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/7937anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-

1) Anlage 8

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18639

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

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lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-tionen angenommen.

Jetzt haben wir noch eine Reihe von Tagesordnungs-punkten, zu denen nicht gesprochen wird. Wir müssenaber die Formalitäten noch erfüllen. Ich bitte um IhreAnwesenheit.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten JosefPhilip Winkler, Viola von Cramon-Taubadel,Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für wirksamen Rechtsschutz im Asylverfah-ren – Konsequenzen aus den Entscheidungendes Gerichtshofs der Europäischen Union unddes Europäischen Gerichtshofs für Menschen-rechte ziehen

– Drucksache 17/8460 – Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f) RechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Wir nehmen die Reden folgender Kolleginnen undKollegen zu Protokoll: Helmut Brandt und ReinhardGrindel, CDU/CSU, Rüdiger Veit, SPD, Hartfrid Wolff,FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Josef Philip Winkler,Bündnis 90/Die Grünen.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/8460 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Vierzehn-ten Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrs-gesetzes

– Drucksache 17/8098 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung(15. Ausschuss)

– Drucksache 17/8467 –

Berichterstattung:Abgeordnete Kirsten Lühmann

Die Reden, die wir zu Protokoll nehmen, stammenvon Peter Wichtel und Daniela Ludwig, CDU/CSU,Kirsten Lühmann, SPD, Herbert Behrens, Die Linke,Stephan Kühn, Bündnis 90/Die Grünen, und vom Parla-mentarischen Staatssekretär Jan Mücke.2)

1) Anlage 112) Anlage 12

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürVerkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/8467, den Ge-setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8098in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-gen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istin zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen derLinken und Enthaltung der Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)

zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-päischen Parlaments und des Rates zur Ände-rung der Richtlinie 1999/32/EG hinsichtlichdes Schwefelgehalts von SchiffskraftstoffenKOM(2011) 439 endg.; Ratsdok. 12806/11

– Drucksachen 17/6985 Nr. A.63, 17/8211 –

Berichterstattung:Abgeordnete Christian HirteUte VogtTorsten StaffeldtRalph LenkertDr. Valerie Wilms

Die zu Protokoll genommenen Reden stammen vonChristian Hirte, CDU/CSU, Ute Vogt, SPD, TorstenStaffeldt, FDP, Ralph Lenkert, Die Linke, undDr. Valerie Wilms, Bündnis 90/Die Grünen.

Christian Hirte (CDU/CSU): Antoine de Saint-Exupéry sagte einmal: „Wenn Du

ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusam-men, um Holz zu beschaffen und Aufgaben zu verteilen,sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem end-losen weiten Meer.“ – Ich finde, die Menschheit hat sichdie Worte des Dichters wirklich zu Herzen genommen.Die von Saint-Exupéry so pathetisch formulierte Sehn-sucht nach dem Meer und vor allem nach den in seinenTiefen schlummernden Ressourcen erweist sich nichtnur heute schon, sondern vor allem für die Zukunft alsimmer größerer Spagat zwischen Meeresschutz und ma-ritimer Nutzung.

Bis vor kurzem schienen die Meere zu groß zu sein,um verschmutzt oder leer gefischt zu werden, und es gabwenig Verständnis für ihre nachhaltige Nutzung. Aberjetzt gibt es immer mehr Sorgen wegen der Meeresver-schmutzung, der Abnahme des Fischbestandes oder demAbschmelzen der Polkappen.

Die tragischen Ereignisse um die Havarie der „CostaConcordia“ und die Befürchtung einer Umweltkatastro-

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18640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Christian Hirte

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phe durch das noch im Schiff befindliche Schweröl zei-gen das Spannungsverhältnis zwischen Meeresschutzund der wirtschaftlichen Nutzung unserer Meere nurallzu deutlich.

Unsere Ozeane sind eben nicht nur Heimat für einengroßen Teil der biologischen Vielfalt. Sie besitzen aucheinen immensen wirtschaftlichen Wert. Nach Angabender EU-Kommission lebt jeder zweite Bürger Europas ineinem Küstengebiet. Zwei Fünftel der Wirtschaftsleis-tung kommen aus diesen Regionen. Die Aktivitäten rei-chen von der Fischerei über die Schifffahrt und den Tou-rismus bis zur Energiegewinnung. Ein Großteil dereuropäischen Wirtschaftsleistung wird etwa an den Küs-ten von Nord- und Ostsee erwirtschaftet. TausendeSchiffe passieren täglich diese Seegebiete und machensie zu zentralen europäischen Verkehrsdrehscheiben.

Angesichts der wachsenden Inanspruchnahme derOzeane gilt es, die zukünftige Meerespolitik so zu entwi-ckeln, dass die Funktionen und die Leistungsfähigkeitdes Ökosystems Meer nicht gefährdet werden. Wir brau-chen ein viel besseres Verständnis dafür, welche Maß-nahmen erforderlich sind, um Meere als globalen Ge-meinbesitz zu schützen und nachhaltige Praktikenweiterzuentwickeln.

Ich denke, dass das Positionspapier der CDU anläss-lich des maritimen Fraktionskongresses meiner Parteiaus gutem Grund den programmatischen Titel „Nach-haltigkeit – damit die Meere nicht untergehen!“ getra-gen hat. Ich bin meinen Kollegen Ingbert Liebing undEckhardt Rehberg äußerst dankbar, dass sie das Themamaritime Nachhaltigkeit, stärker als das bislang derFall war, in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt haben.

Die Schifffahrt ist einer der wesentlichen Nutzer derMeere, wobei der Verkehrsträger Seeschiff gemessen anseiner Transportleistung ein sehr ökologisches Trans-portmittel mit dem geringsten Energieverbrauch undden niedrigsten CO2-Emissionen ist. Zu den gesamtenglobalen CO2-Emissionen trägt die Schifffahrt lediglich2,7 Prozent bei, obwohl Seeschiffe über 90 Prozent desinterkontinentalen Güterverkehrs leisten. Die verblei-bende Schadstoffbelastung, für die die Schiffe verant-wortlich sind, ergibt sich insbesondere auch durch dieNutzung von Schiffskraftstoffen mit hohem Schwefelge-halt, Ölunfälle oder Plastikvermüllung. Insbesondere anden Küsten und in den Häfen leiden die Anwohner, aberauch die Umwelt unter dem hohen Schwefeldioxid- so-wie Rußpartikelausstoß. Die meisten Schiffsabgase wer-den in unmittelbarer Küstennähe und in den Häfen emit-tiert, in der Nordsee sind es beispielsweise bis zu90 Prozent innerhalb von 90 Kilometern Entfernung zurKüste.

Unser Ziel muss es sein, die durch die Schifffahrt ver-ursachten Emissionen weiter zu reduzieren. Dabei ste-hen innovative Umwelttechnologien im Zentrum einerBalance zwischen Wirtschaftlichkeit und Umweltschutz.In Häfen kann dies beispielsweise in Form von Abwas-ser- und Müllauffanganlagen sowie landseitige Strom-versorgung erfolgen, auf See durch den Einsatz neuerTreibstoffe oder Abgasreinigungssysteme. Diese neuenTechniken verbessern nicht nur die Ökobilanz, sondern

sind auch für den Industriestandort Deutschland einlohnender Zukunftsmarkt.

So wie Deutschland in anderen Bereichen sich einenTechnologievorsprung erarbeiten konnte, kann auch dieNutzung neuer Umwelttechnologien auf See zum Maß-stab für den Rest der Welt werden. Dann bestünde auchdie Möglichkeit, verlorene Anteile am weltweiten Schiff-bau zurückzuerobern. Insoweit schließen sich ambitio-nierte Ökologie und wirtschaftliche Interessen nicht aus.Im Gegenteil: Sie könnten sogar deren Treiber sein.

Das heißt aber nicht, dass wir nur niedrigere Grenz-werte bräuchten, um die Innovationskraft unserer mari-timen Industrie anzukurbeln. Wenn dem so wäre, dannwäre Wirtschaftsförderung wohl eine leichte Aufgabe.Der Schlüssel zum Erfolg ergibt sich vielmehr aus derBalance zwischen hohen Umweltstandards und derenMachbarkeit zu vernünftigen Preisen.

Die Verschärfung der Grenzwerte für den Schwefel-gehalt in Schiffstreibstoffen in Nord- und Ostsee in denSulphur Emission Control Areas, SECAs, durch die In-ternationale Seeschifffahrt-Organisation, IMO, redu-ziert ab 2015 die Emissionswerte von derzeit 1 Prozentauf 0,1 Prozent in Nord- und Ostsee.

Einerseits dient dies der Verbesserung der Meeres-ökologie, andererseits ergeben sich daraus auch ökono-mische Herausforderungen für die Schifffahrt. Um denVorgaben der IMO gerecht zu werden, müssen die Ree-der in den SECAs auf deutlich kostenintensivere Destil-late umsteigen oder alternativ Systeme zur Abgasent-schwefelung nutzen. Dies hat eine Erhöhung derBetriebskosten bzw. neue Investitionskosten zur Folge.

Hier muss die eben erwähnte Balance zwischen nied-rigen Grenzwerten und wirtschaftlicher Machbarkeitgewahrt werden. Das heißt, dass die Branche die not-wendige Zeit erhalten muss, um sich auf die neuenGrenzwerte einstellen zu können. Das betrifft nicht dieneuen oder neuesten Schiffe. Bei deren Bau könnten teil-weise die bereits vorhandenen Umwelttechnologien zumEinsatz kommen. Aber viele der Technologien, und ichdenke hier vor allem an Abgasreinigungssysteme, soge-nannte Scrubber, stehen zwar schon zur Verfügung, ihrevolle Marktreife haben sie indes noch nicht erlangt. Zu-dem gestaltet sich die Nachrüstung bereits fahrenderSchiffe als äußerst schwierig und vor allem kostspielig.Aber selbst wenn eine Nachrüstung mit Scrubbern nichtmöglich oder nicht mehr lohnend ist, sollte doch derEinsatz zumindest von Rußpartikelfiltern erwogen wer-den. Diese stehen bereits zur Verfügung und könnten soeinen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Luftquali-tät vor allem in Häfen oder Küstennähe leisten.

Klar ist aber, dass an probaten Filtersystemen künftigkein Weg vorbei führt. Deshalb ist die maritime Zuliefer-industrie schon jetzt aufgefordert, die Zeichen der Zeitzu erkennen und die Weiterentwicklung solcher Abgas-reinigungssysteme zu forcieren. Dass hier auch der Staatgehalten ist, einen Beitrag zu leisten, erachte ich als un-verzichtbar. Dieses muss aber nicht unbedingt in einemgroß angelegten finanziellen Engagement seinen Nie-derschlag finden. Auch durch ordnungsrechtliche In-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18641

Christian Hirte

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strumente kann der Staat durchaus helfen. Ich denke davor allem an die Ausweitung der SECAs, die sich bislangnur auf die Nord- und Ostsee beschränkten. Es ist nichteinzusehen, warum die in den SECA-Gebieten fahrendenReeder mit höheren Umweltstandards und den damitverbundenen Kosten belastet werden sollen, währendsich der Verkehr übers Mittelmeer keine Sorgen über hö-here Kosten für schwefelarmen Treibstoff oder Abgasfil-ter machen muss.

Eine derart einseitige Belastung ist nicht nur unge-recht, sondern konterkariert den eigentlichen Zweck derSECAs, nämlich die Schwefeldioxidbelastung zu verrin-gern. Was nützt es dem Umweltschutz, wenn die Reederin der SECA-Zone durch weniger Verkehr Emissioneneinsparen, weil die Kunden ihre Fracht wegen der höhe-ren Umweltkosten in Nord- und Ostsee lieber außerhalbder Kontrollzonen anlanden und sie dann per Lkw überunsere Autobahnen und Fernstraßen versenden? Nacheiner Studie des Instituts für Seeverkehrswirtschaft undLogistik könnten so insgesamt 823 000 Standardcontai-ner zusätzlich vom Schiff auf die Straße kommen. Dasentspricht einem zusätzlichen Aufkommen von 604 000 Lkw.Angesichts der ohnehin schon verstopften Autobahnenkein verlockender und wenig ökologischer Gedanke.

Daher ist es aus Sicht meiner Fraktion unumgäng-lich, dass sich die Bundesregierung bei der IMO und in-nerhalb der EU dafür einsetzt, dass die SECAs auf alleeuropäischen Seegebiete ausgeweitet werden, um Wett-bewerbsnachteile in der Nord- und Ostsee zu vermeidenund um den positiven ökologischen Effekt auch für dieanderen Meere zu nutzen. In diesem Zusammenhang be-grüße ich ausdrücklich, dass die IMO im März 2010eine ECA – Emission Control Area – für große Teile derUS-amerikanischen und kanadischen Küsten beschlos-sen hat. Ab August 2012 wird sie für den dortigenSchiffsverkehr verpflichtend sein. Dies kann aber nurein weiterer Schritt sein, um strengere Grenzwerte welt-weit zu etablieren.

Es wird nicht leicht sein, den globalen Umbau derSchifffahrt hin zu einem „Green Shipping“ zu vollzie-hen. Angesichts des Klimawandels und der vermeidba-ren Umweltbelastung ist dies aber möglich und nötig.Wir sollten diesen Strukturwandel mithin nicht nur alsBürde begreifen, sondern vor allem als Chance, umnachhaltige Nutzung unserer Meere und wirtschaftlicheProsperität in Balance zu bringen. Aus diesem Grundsollte die Bundesregierung Initiativen ergreifen und un-terstützen, die eine Verkehrsverlagerung vom Wasser aufdie Straße verhindern. Dies kann beispielsweise durchflexiblere Grenzwerte, die der besonderen Situation älte-rer Schiffe Rechnung tragen, oder durch Anreize zurUmrüstung geschehen. Besonderes Augenmerk mussaber darauf liegen, den Grenzwert für den Schwefelge-halt von Schiffskraftstoff in den SECAs auch auf die Ho-heitsgewässer der Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion und dann darüber hinaus zu erstrecken.

Daher stimme ich dem Entschließungsantrag derKoalition auf Drucksache 17/8211 zu.

Ute Vogt (SPD): Der von der EU vorgelegte Vorschlag für eine Richt-

linie zur Änderung der Richtlinie hinsichtlich desSchwefelgehalts von Schiffskraftstoffen ist als solcher zubegrüßen. Bedauerlich ist, dass es keine einheitlichenSchwefelgrenzwerte für alle Staaten geben soll. Darinsind wir uns zum Glück alle einig. Den Geltungsbereichin dieser Hinsicht zu vereinheitlichen, wie es die Koali-tionsfraktionen in ihrem Entschließungsantrag fordern,ist vernünftig. Unvernünftig ist es jedoch, dass sie ihreeigene Forderung gleich wieder konterkarieren, indemsie weitreichende Ausnahmeregelungen für ältere Schiffeanstreben.

Die Befürchtung, es könne eine massive Verlagerungdes Transports vom Wasser auf den Landweg geben,teile ich nicht. Eher scheint mir, dass hier die Koali-tionsfraktionen wieder einmal einem Lobby-Bären auf-gesessen sind: Diese Verlagerung wird nicht hoch aus-fallen. Hintergrund sind die ebenfalls steigenden Abgas-standards für Lkw. Das bestätigt auch eine Studie derEuropean Maritime Safety Agency, EMSA. Außerdemkann die Politik entsprechende Anreize schaffen, wennsie eine Verlagerung des Transports auf die Straße be-fürchtet. Wenn hier die Auffassung formuliert wird, dassdies nicht möglich ist, ist das eine Bankrotterklärung dereigenen Politik.

Der Vorschlag für diese Richtlinie ist bereits seit Jah-ren bekannt. Und die Klimaschutzziele der EU noch viellänger. Und selbst nach dem Inkrafttreten dieser Richtli-nie können Schiffe immer noch 500-mal mehr Schwefelin die Luft blasen als Fahrzeuge im Straßenverkehr inder EU. Die Richtlinie ist daher überfällig und notwen-dig, aber noch lange nicht ausreichend.

Von der Richtlinie betroffene Unternehmen hatten je-denfalls mittlerweile lange genug Zeit, sich auf die sichändernden Rahmenbedingungen einzustellen. Dass dieszum Teil noch nicht passiert ist, zeigt nur, wie wichtig esist, dass der Staat hohe Messlatten legt. Zudem gibt essehr wohl Unternehmen, die bereits jetzt umweltfreund-lichen Standards entsprechen. Indem wir Ausnahme-regelungen zulassen, bestrafen wir innovative, umwelt-freundliche Unternehmen, die den Zukunftsmarkt dar-stellen. Dies ist in höchstem Maße ungerecht und unso-lidarisch.

Es kann nicht die Aufgabe dieser Bundesregierungsein, zur Gewinnmaximierung von Unternehmen beizu-tragen, die gerade nicht zukunftsfähige, innovativeIdeen umsetzen und damit zum Schaden aller handeln.Ziel einer vernünftigen Politik muss es sein, den größt-möglichen Nutzen für die Menschen in der EU zu errei-chen. Und dies ist dann der Fall, wenn möglichst wenigeSchadstoffe in die Umgebung gelangen.

Am vorliegenden Änderungsantrag zeigen sich wie-der die zwei Gesichter der Röttgen’schen Umweltpolitik:auf der einen Seite die Bestrebungen, die Schifffahrt inden Emissionshandel mit einzubeziehen – das ist dergrüne Mantel –, und auf der anderen Seite die Initiative,im Einzelfall umweltschädliche Lobbyinteressen zu be-dienen. Dies ist leider inzwischen ein Markenzeichen al-

Zu Protokoll gegebene Reden

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18642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Ute Vogt

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ler Ressorts dieser schwarz-gelben Regierung. So kom-men wir in der Energiewende nicht entscheidend weiter.

Torsten Staffeldt (FDP): Ich möchte zuallererst einmal feststellen, dass es kei-

nen effizienteren Gütertransport als den mit Schiffengibt, insbesondere hinsichtlich des Energiebedarfs. Daswird, mit Ausnahme der Grünen, auch von niemandemernsthaft bestritten. Der Wirkungsgrad der modernenGroßmotoren konnte in den letzten Jahren um 50 Pro-zent verbessert werden und damit der CO2-Ausstoß trotzzunehmendem Verkehr deutlich verringert werden; dochdie Emissionen von Stickoxiden und Schwefeloxiden ausder Schifffahrt sind angestiegen. Aus diesem Grund hatdie International Maritime Organisation vor einigenJahren MARPOL Annex 6 eingeführt und zwischenzeit-lich die Grenzwerte für die SECA-Zonen sogar ver-schärft, zu denen auch die Nordsee und die Ostsee gehö-ren. Ab 2015 darf hier nur noch mit 0,1 ProzentSchwefelgehalt im Treibstoff gefahren werden.

Grundsätzlich ist die Zielsetzung richtig, die durchden Schiffsverkehr in die Atmosphäre eingebrachtenEmissionen zu reduzieren. Wir müssen aber vermeiden,dass durch überzogene Emissionsschutzziele der posi-tive Effekt, den wir erzielen wollen, konterkariert wird.Eine ganze Reihe von Gutachten aus unterschiedlicheneuropäischen Ländern kommen übereinstimmend zudem Ergebnis, dass die Schwefelemissionsziele mit0,1 Prozent, insbesondere in den Randmeeren der Ost-und Nordsee, durch deutlich höhere Treibstoffkosten vo-raussichtlich zu Verkehrsverlagerungen führen werden.

Insbesondere betrifft das die Ostsee. Denn dort kannnahezu jede Strecke auch durch Lkw-Verkehre landseitigersetzt werden. Im schlimmsten Fall können sogar, wiedas Gutachten des Instituts für Seeverkehrswirtschaftund Logistik, ISL, darstellt, bis zu 800 000 Containervom Schiff auf den Lkw zurückverlagert werden. Dassind 300 000 bis 400 000 Lkw mehr auf den Straßen,auch und vor allem im Transitland Deutschland. Damiterweisen wir dem Umwelt- und Klimaschutz einen Bä-rendienst. Statt Schwefelemissionen im Schiffsverkehrerhalten wir dann höhere Feinstaubbelastung und CO2-Emissionen im Landverkehr.

Daneben muss aber auch festgestellt werden, dass ab2015 die schärferen Bestimmungen im europäischenKontext nur für Nord- und Ostsee gelten, nicht aber fürdie anderen Küstenregionen Europas. So dürfen im Mit-telmeer, an der Atlantikküste und in der Irischen See zurgleichen Zeit noch Treibstoffe mit einem Schwefelgehaltvon 3,5 Prozent verwendet werden. Das ist eine einsei-tige Wettbewerbsverzerrung zulasten unserer norddeut-schen Seehäfen und zeigt gleichzeitig den Irrsinn derbisherigen Regelungen. Eine Fähre von Southamptonnach Dover muss mit 0,1-prozentigen Schwefelgehaltfahren, zwischen Liverpool und Dublin darf sie es mit3,5-prozentigem, also dem 35-fachen.

Hier muss gegengesteuert werden. Die Schwefeloxid-emissionen des Schiffsverkehrs sind neben dem Absen-ken des Schwefelgehalts im Treibstoff selbst effektiv nurdurch den Einbau von entsprechenden Filtersystemen zu

bekämpfen. Diese Filtertechnologien für den Schiffsver-kehr sind derzeit aber noch nicht marktreif und ihr Ein-satz erscheint bei einem Teil der Bestandsschiffe auch inZukunft fraglich.

Deshalb ist es richtig, Anreizsysteme zur Unterstüt-zung von Umrüstungsmaßnahmen zu entwickeln. Auchgäbe es die Möglichkeit, ältere Schiffe im Rahmen einesMoratoriums für einen bestimmten Zeitraum von derVerschärfung des Grenzwertes in den SECAs auszuneh-men, um Verkehrsverlagerungen zu vermeiden.

Daneben wird es aber auch höchste Zeit, dass endlichalle Hoheitsgewässer und ausschließlichen Wirtschafts-zonen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zuSchwefelemissions-Überwachungsgebieten werden. Nurso erreichen wir gleiche Wettbewerbsbedingungen zwi-schen unseren Nord- und Ostseehäfen auf der einen undden Mittelmeerhäfen auf der anderen Seite. Schließlichkann es nicht im Sinne des Meeresumweltschutzes sein,wenn die emissionsstarken Schiffe zukünftig einfach aufsMittelmeer ausweichen.

Zu diesen Punkten haben wir im Übrigen bereits imMai des letzten Jahres einen Beschluss im DeutschenBundestag zur Zukunftsfähigkeit der maritimen Wirt-schaft herbeigeführt. Daher fordere ich SPD und Grüneauf, aktiv etwas für den Umweltschutz zu tun und nichtnur darüber zu reden. Ich bitte um Zustimmung zu demAntrag.

Ralph Lenkert (DIE LINKE): Meinen letzten Sommerurlaub verbrachte ich in Dä-

nemark. Auf der Fahrt auf dem Deck der Fähre genos-sen Passagiere Sonne, Wind und frische Luft. „Luft!“,schrie dann meine Lunge, als eine Wechselböe uns allein die Abgasschwaden des Schiffsmotors hüllte.

1 Prozent Schwefelgehalt darf Schiffstreibstoff in derOstsee haben. Zum Vergleich: Für Lkw gilt ein Grenz-wert von 0,001 Prozent. Ich denke, ich werde vorläufigkeine Schiffsfahrten im Ausland buchen und schon garnicht als Passagier auf Handelsschiffen, denn dort dür-fen sogar 4,5 Prozent Schwefel im Treibstoff sein – dashält meine Lunge nicht aus.

Meine Fraktion begrüßt, dass die Richtlinie 1999/32/EG die Grenzwerte deutlich absenkt. Leider folgt in derEU einem guten Vorschlag nicht immer eine gute Umset-zung. So sollte die neue Norm für Schiffskraftstoffe 2006umgesetzt sein, das schafften zum Termin immerhin3 Mitgliedstaaten, gegen 16 Staaten wurde ein Vertrags-verletzungsverfahren eröffnet. Aus Sicht von Bewohne-rinnen und Bewohnern der Küste, insbesondere von gro-ßen Hafenstädten, von Touristinnen und Touristen undReisenden ist dies absolut inakzeptabel.

Diese Woche stellte der Naturschutzbund fest, das al-lein die 15 größten Schiffe der Welt mehr schädlichesSchwefeldioxid und Rußpartikel aus dem Schornsteinentlassen als alle Fahrzeuge weltweit zusammen. Des-halb sind beispielsweise Fahrverbotszonen für älterePkw ein Witz, solange Schiffe als Feinstaubschleudernein Vielfaches an Belastung verursachen. Aber selbst dieUmsetzung der Norm hilft nur, wenn auch kontrolliert

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Zu Protokoll gegebene Reden

Page 179: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18643

Ralph Lenkert

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wird. Schwefel- und schadstoffarmer Treibstoff ist teurer,also wird dieser nur genutzt, wenn es nicht anders geht –schließlich herrscht Wettbewerb und die Profite müssenwachsen. Im Schnitt wird ein Schiff von 1 000 Schiffenkontrolliert. Da ist die Angst vor Entdeckung klein. Alsodürfen Anwohnerinnen und Anwohner, Urlauberinnenund Urlauber weiter mit Feinstaub und Schwefeldioxidihre Gesundheit belasten. Die Linke fordert deshalb,dass die Erhöhung der Kontrollfrequenz nicht nur disku-tiert, sondern auch umgesetzt wird.

Selbst bei 100 Prozent Umsetzung der Richtlinie sindSchiffsabgase noch immer stark gesundheitsgefährdend.Liegen Schiffe im Hafen, dann laufen schiffseigene Mo-toren zur Stromversorgung des Schiffes, auch wenn dastrengere Grenzwerte gelten, ohne Kontrollen stinkt’s.Mit einer Pflicht zur externen Stromversorgung könntenzumindest diese Schadstoffe vermieden werden. Wir for-dern dies als zusätzlichen nationalen Schritt zur Redu-zierung der Schadstoffe in Hafenstädten.

Die Koalitionsfraktionen haben überraschend zweivernünftige Vorschläge zur Änderung der Richtlinie ein-gebracht. Dass die strengeren Schwefelgrenzwerte fürSchiffstreibstoffe in allen Gewässern der EU gelten sol-len, hat die volle Unterstützung unserer Fraktion. AlleEU-Bürgerinnen und -Bürger haben den gleichen An-spruch auf gesunde Luft.

Wir stimmen auch zu, dass die Bundesregierung Ini-tiativen ergreifen soll, die eine Verkehrsverlagerungvom Schiff auf die Straße verhindern. Doch dass derSeeverkehr über großzügige Ausnahmen bei den Schwe-felgrenzwerten vor Verkehrsverlagerungen geschütztwerden wird, wie das die Koalitionsfraktionen fordern,lehnt die Linke ab. Wir registrieren, dass die Grenzwert-diskussion nur als Beispiel in der Beschlussempfehlungsteht. Die Linke würde einer Verlagerung der Transportevom Schiff auf die Straße mit einer höheren Lkw-Mautbegegnen. Das wäre ein wirksames Mittel.

Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich aktivfür weltweit gültige, strenge Schwefelgrenzwerte einzu-setzen. Es wird Zeit, dass die Schiffe nicht als preiswerteMüllverbrenner für Raffinerien arbeiten und die Abfälleder Erdölverarbeitung zulasten der Luftqualität entsor-gen. Alle Frauen, Kinder und Männer unserer Welt ha-ben das gleiche Recht auf Gesundheit.

Da in der Entschließung zur Richtlinie zum Schwefel-gehalt richtige Verbesserungen empfohlen werden, lei-der mit einer falschen Idee gekoppelt, können wir derEntschließung nicht zustimmen. Richtige Richtung, fal-scher Weg, deshalb enthält sich unsere Fraktion. Wenndie Regierungskoalition mögliche Verlagerungen vomSchiff auf die Straße zum Beispiel mit einer höheren Be-lastung des Lkw-Verkehrs verhindert, erhält sie unsereUnterstützung. Auch die Anwohnerinnen und Anwohnerder überlasteten Straßen würden es ihr danken.

Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Erlauben Sie mir, bevor ich auf die EU-Vorlage und

den Entschließungsantrag eingehe, ein paar Worte zumSchiffsunglück vor der italienischen Küste. Wir kennen

derzeit noch nicht alle Details. Wir wissen noch nichtgenau, wie es zu dem Unglück kommen konnte und wiegroß hier der Anteil des menschlichen Versagens war. Esist jedoch absehbar, dass die Kreuzschifffahrt in derFolge nicht mehr dieselbe bleiben wird. Viele Menschenwerden zukünftig genauer hinsehen. Sie werden wissenwollen, ob ihr Urlaub nicht nur sicher und gut geplantist. Es wird auch darum gehen, ob diese Form derKreuzschifffahrt noch eine Zukunft hat oder ob es nichtdoch Alternativen zum Preisdumping gibt. Denn der un-glaubliche Boom der Kreuzschifffahrt in den letzten Jah-ren ging mit stetig fallenden Preisen einher – auch aufKosten der Umwelt.

Heute diskutieren wir hier auch über Kostenfragen.Schiffsemissionen reizen Atemwege und erhöhen das Ri-siko von Herz- und Lungenerkrankungen. In Europawird die Zahl der Todesfälle auf etwa 50 000 geschätzt.Hinzu kommen die Wirkungen auf die Umwelt: Meere,Gewässer und Böden in Küstennähe werden versauert,Gebäude beschädigt. Auch Kreuzfahrtschiffe fahren be-sonders gern und dicht an der Küste. In der Nordseewerden bis zu 90 Prozent der Schiffsemissionen mitSchwefel, Stickoxiden und Ruß innerhalb von 90 Kilo-metern Entfernung zur Küste rausgeblasen.

Die EU schätzt, dass sich durch verbesserte Gesund-heit und niedrigere Sterblichkeit 15 bis 34 MilliardenEuro sparen lassen. Die Einführung niedrigerer Schwe-felgrenzwerte in Schiffstreibstoffen würde dagegen zwi-schen 2,6 und 11 Milliarden Euro kosten. Schon reinvolkswirtschaftlich gesehen liegt die Umsetzung derRichtlinie damit auf der Hand.

Aber das ist längst nicht alles: Die Schiffbauindustriesieht auch sehr gute Möglichkeiten für den innovativenSchiffbau. Hier ist Deutschland besonders stark, hierliegt die Zukunft des deutschen Schiffbaus, und wir soll-ten diese Möglichkeit offensiv nutzen. Von den Fachleu-ten wissen wir, dass die Technologien vorhanden sindund sich die Kosten der Umstellung für die Reedereiennach etwa eineinhalb Jahren rentieren.

Hinzu kommt, dass die Richtlinie nur die Übertra-gung eines internationalen Abkommens in EU-Recht ist.Diesem Abkommen der Internationalen Seeschifffahrts-organisation hat Deutschland zugestimmt. Demzufolgewäre es mehr als logisch, das Ganze in europäischesRecht zu übertragen. Aber so einfach ist das bei dieserRegierung nicht. Wir können uns hier alle nur fragen,was der wirkliche Grund für diese Geisterfahrerei derKoalition ist. Sie lässt gesundheits-, umwelt- und wirt-schaftspolitische Aspekte völlig außen vor und ignoriertein internationales Abkommen. Die Antwort ist offen-sichtlich: Hierbei geht es nicht um das Gemeinwohl,sondern um die Interessen einiger weniger – dieses Malsind es Reedereien, die bevorzugt auf Nord- und Ostseeunterwegs sind.

Es bleibt das Geheimnis der Koalition, wieso sie wie-der einmal so eine Politik macht. Etwas kurios war hierdas Abstimmungsverhalten der Linken in den Ausschüs-sen, mit dem dieser politische Unsinn auch noch unter-stützt wurde. Zum Glück haben die Linken das eingese-hen und ihre Meinung geändert.

Zu Protokoll gegebene Reden

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18644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Dr. Valerie Wilms

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Selbstverständlich ist richtig, dass die Umstellungnicht kostenlos zu haben ist. Es ist doch völlig klar, dassschwefelarmer Treibstoff mehr kostet als der Sonder-müll, der heute auf den Weltmeeren verfeuert wird. Aberdas wissen die betroffenen Reeder seit Jahren. Seit Jah-ren ist klar, dass die Grenzwerte sinken. Hierauf hätteschon lange reagiert werden können. Stattdessen wirddas Geld lieber in Lobbyarbeit gesteckt. Da werden Stu-dien verfasst, die entscheidende Aspekte einfach nichtberücksichtigen. Selbst die Bundesregierung gibt das zu.Aber diese Koalition lässt sich davon nicht beeindru-cken, sondern macht einfach weiter ihre Lobbypolitik.

Fassen wir also zusammen: Was hier und heutebeschlossen werden soll, ist gesundheitspolitischerUnsinn, steht gegen den Umweltschutz und zeugt vonwirtschaftspolitischer Inkompetenz. Dazu wird ein inter-nationales Abkommen untergraben. Dem muss nichtsmehr hinzugefügt werden. Die Fakten sprechen für sich.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8211, inKenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzuneh-men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist angenommen mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD unddes Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltung der Lin-ken.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten MartinDörmann, Gerold Reichenbach, Doris Barnett,weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPDeingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zurÄnderung des Telemediengesetzes (TMG)

– Drucksache 17/8454 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und Medien

Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen von denKollegen Andreas Lämmel und Dr. Georg Nüßlein,CDU/CSU, Gerold Reichenbach, SPD, Claudia Bögel,FDP, Halina Wawzyniak, Die Linke, Dr. Konstantin vonNotz, Bündnis 90/Die Grünen.1)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/8454 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist das so beschlossen.

1) Anlage 13

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Matthias W. Birkwald, Diana Golze, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Renten für Leistungsberechtigte des Ghetto-Rentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträglichauszahlen

– Drucksache 17/7985 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss (f) HaushaltsausschussFederführung strittig

Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen vonPeter Weiß, CDU/CSU, Anton Schaaf, SPD,Dr. Heinrich Kolb, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, VolkerBeck, Bündnis 90/Die Grünen.

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Die Aufarbeitung von NS-Unrecht ist nicht nur eine

rechtlich sehr komplexe Aufgabe, sondern auch ein sehrsensibles Thema.

Mit dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten ausBeschäftigungen in einem Ghetto, ZRBG, aus dem Jahre2002 hat der Deutsche Bundestag fraktionsübergreifenddie gesetzliche Grundlage dafür geschaffen, dass die ineinem Ghetto ausgeübte Tätigkeit rentenrechtlich alsBeitragszeit berücksichtigt werden kann. Dieses Gesetzwar und ist ein wichtiger Beitrag, um den Menschen ge-recht werden zu können, die die Nazimachthaber inGhettos zwangen, und die dort einen harten Kampf umsÜberleben führen mussten.

Mit ihren grundlegenden Urteilen vom 2. und 3. Juni2009 haben die Rentensenate des BundessozialgerichtsLeitlinien zur Handhabung des Gesetzes zur Zahlbarma-chung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto,ZRBG, aufgestellt, durch die die frühere teilweise eherrestriktive Rechtsprechung aufgegeben wurde. Damitsollten die extrem hohen Ablehnungsquoten für Anträgenach dem ZRBG, die in den ersten Jahren die Umsetzungdes ZRGB geprägt haben in Zukunft vermieden werden.Die Kriterien „aus eigener Willensentscheidung“ und„Entgeltlichkeit“ müssen im Lichte der besonderen Ziel-setzung des ZRBG gesehen werden, damit die eigentlichbeabsichtigte Regelung nicht ins Leere läuft.

Selbstkritisch betrachtet müssen wir sagen, diesenachträgliche Auslegung der Voraussetzungen für einenRentenanspruch und die Erkenntnis, dass die Ghettobe-schäftigung nicht mit den Maßstäben eines allgemeinenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisseszu messen ist, haben zu lange gedauert.

Die Rentenversicherungsträger haben dennoch ver-sucht, diese neue Rechtsprechung nicht nur umgehendund zügig umzusetzen, um den teilweise sehr betagtenMenschen eine möglichst rasche Auszahlung zu ermög-lichen. Alle zuvor von der Deutschen Rentenversiche-rung abgelehnten Anträge wurden von Amts wegen– das heißt ohne erneuten Antrag oder Meldung durchden oder die Betroffenen – erneut aufgegriffen und über-

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18645

Peter Weiß (Emmendingen)

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prüft. Die Betroffenen wurden direkt von den zuständi-gen Trägern der Deutschen Rentenversicherung kontak-tiert, wobei sich die Bearbeitungsreihenfolge nach denGeburtsjahrgängen der Betroffenen richtete.

Insgesamt wurden 56 753 Fälle überprüft, wobei beiknapp 7 200 Fällen festgestellt werden musste, dass derBezug zum ZRBG fehlt. Von den verbleibenden 49 600 Fäl-len wurden rund 25 000 mit positivem Bewilligungsbe-scheid abgeschlossen. 3 000 Anträge wurden abgelehnt.Etwa 22 000 Anträge konnten leider nicht mit einem Be-scheid abgeschlossen werden, weil die Betroffenen zumBeispiel verstorben und die Rechtsnachfolger – das be-traf rund 7 000 Fälle – nicht ermittelt werden konnten,weil es aufgrund der Prüfung zu keinem anderen Ergeb-nis kam und der ursprüngliche Ablehnungsbescheidweiter Geltung behielt – 4 200 Fälle – oder weil dieÜberprüfung bereits an der Kontaktaufnahme mit denBetroffenen scheiterte – 10 000 Fälle.

In dem abschließenden Bericht der Deutschen Ren-tenversicherung zu den Überprüfungen der abgelehntenAnträge, der Ende November 2011 vorgelegt worden ist,heißt es:

Setzt man die Zahl der Bewilligungen (25.000) insVerhältnis zur maßgeblichen Gesamtzahl zu über-prüfender Vorgänge (49.600), ergibt sich eine Be-willigungsquote von über 50 Prozent.

Insgesamt wurde ein Rentenvolumen von über441 Millionen Euro nachgezahlt, davon 54 Millio-nen Euro an Zinsen. Die laufenden monatlichenRentenzahlungen belaufen sich auf rund 5 Millio-nen Euro.

Am 7. und 8. Februar 2012, also in nur neun Tagen,werden die Rentensenate des Bundessozialgerichts überdie Rückwirkung des erleichterten Zugangs zu den Ghet-torenten entscheiden.

In den rund 5 000 Fällen, in denen eine ablehnendeEntscheidung wegen eingelegter Rechtsmittel nicht be-standskräftig geworden war, konnten, für bis zum30. Juni 2003 gestellte Anträge, gemäß § 3 Abs. 1 ZRBGdie bewilligten Leistungen regelmäßig rückwirkend abdem 1. Juli 1997 erbracht werden.

Etwas anderes gilt rentenrechtlich jedoch, wenn dieAnträge schon einmal bindend abgelehnt worden waren.Hier wurde von den Rentenversicherungsträgern § 44SGB X angewandt, der eine materiell-rechtliche Ein-schränkung für nachträglich zu erbringende Sozialleis-tungen vorsieht.

Im Gegensatz zu § 100 Abs. 4 SGB VI, der als Sonder-regelung zu § 44 SGB X die Rücknahme rechtswidrigernicht begünstigender Verwaltungsakte im Bereich desSGB VI regelt, haben die Rentenversicherungsträger da-mit die günstigere Regelung angewandt. So wird nach§ 44 SGB X eine rückwirkende Leistungserbringungnicht wie bei § 100 Abs. 4 SGB VI quasi ausgeschlossen,sondern auf einen maximalen Zeitraum von vier Jahrenbegrenzt.

In der Praxis haben die Rentenversicherungsträgerdie Renten, wenn aufgrund der neuen Rechtsprechung

im Jahr 2009 Überprüfungsanträge gestellt wurden, beivorhergehender bindender Ablehnung erst ab dem 1. Ja-nuar 2005 gezahlt. Hintergrund dieser Regelung ist derAusgleich zwischen den Interessen des Einzelnen an ei-ner möglichst vollständigen Erbringung der ihm zu Un-recht vorenthaltenen Sozialleistungen und dem Interesseder Solidargemeinschaft aller Versicherten an einermöglichst geringen finanziellen Belastung für Leistun-gen für zurückliegende Zeiträume.

Trotz der hohen Sensibilität für die Materie darf auchnicht außer Acht blieben, dass das Sozialsystem bei ei-ner Nachzahlung für vier Jahre bereits eine außeror-dentliche Belastung von etwa 500 Millionen Euro auf-bringen musste. Bei einer rückwirkenden Nachzahlunggenerell bis 1997 würden schätzungsweise noch einmalMehrkosten in einer Größenordnung knapp unterhalb1 Milliarde Euro dazukommen.

Die Vierjahresfrist ist eine im Sozialgesetzbuchdurchaus übliche Frist, um Rechte und Pflichten aus ei-nem Sozialleistungsverhältnis auszugleichen. Bereitsvor dem Inkrafttreten des SGB I am 1. Januar 1976 galtim Rentenversicherungsrecht gemäß § 29 Abs. 3 RVOdie vierjährige Verjährungsfrist.

Außerdem wird bei § 44 SGB X nicht darauf abge-stellt, ob und wann ein Überprüfungsantrag gestelltworden ist, und auch nicht darauf, auf welchem konkre-ten Rechtsgrund die spätere Entscheidung des Leis-tungsträgers beruht oder ob sie aufgrund eines geänder-ten Sachverhalts oder der geänderten Rechtsauslegunggeändert wird.

Die jetzt bevorstehende Entscheidung des Bundesso-zialgerichts resultiert aus verschiedenen im Rahmen derSprungrevision zugelassenen erstinstanzlichen Verfah-ren, die eine Anwendbarkeit der § 44 Abs. 4 SGB X in-frage stellen.

Vorgetragen wurde in den Verfahren, dass es oftmalsvon Zufällen abhänge, ob über einen Rentenantrag nachdem ZRBG im Juni 2009 schon bindend entschiedenwar. Vielfach seien gerade auch die Verfahren der ältes-ten Antragsteller vorgezogen worden, was sich nun alsnachteilig erweise. Würde man den Ghettoarbeitern dieihnen nach Gesetz und Rechtsprechung zustehendenLeistungen vorenthalten, widerspreche dies dem Grund-gedanken des Wiedergutmachungsrechts.

Von den erstinstanzlich zuständigen Sozialgerichtengibt es unterschiedliche Urteile: Teilweise wurden denKlägern rückwirkende Leistungen bereits ab 1. Juli1997 zugesprochen, teilweise wurden die Klagen abge-wiesen.

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt, dasssich das Bundessozialgericht dieser Frage annehmenwird und wird im Falle einer positiven Entscheidung da-für Sorge tragen, dass die Rentenversicherungsträgerdie neue Regelung umgehend und umfassend umsetzenwerden. Sollten die Richterinnen und Richter zu einerAnwendbarkeit des § 44 Abs. 4 SGB X kommen, werdenwir die Urteilsgründe sehr genau überprüfen.

Zu Protokoll gegebene Reden

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18646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Peter Weiß (Emmendingen)

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Der richterlichen Entscheidung, die ja nun kurz be-vorsteht, durch einen Gesetzentwurf des Deutschen Bun-destages zuvorzukommen, ist nicht nur der systematischfalsche Weg, sondern läuft auch Gefahr einer zweigleisi-gen Debatte, die den Leistungsberechtigten unbedingterspart werden sollte. Es ist daher unverständlich undzeugt von mangelndem Respekt vor der dritten Gewalt– der Rechtsprechung – wenn die Linken jetzt kurz voreinem höchstrichterlichen Urteil einen Antrag im Deut-schen Bundestag einbringen. Der gesetzgeberischeHandlungsbedarf wird durch die höchstrichterlicheRechtsprechung schon sehr bald konkretisiert werden,und damit werden die Voraussetzungen und die Vorga-ben für eine Befassung des Deutschen Bundestages ge-setzt.

Anton Schaaf (SPD): Die Linke greift in ihrem Antrag ein Problem auf, des-

sen Lösung uns allen am Herzen liegen muss: Wer biszum 30. Juni 2003 einen Antrag auf eine sogenannteGhettorente gestellt hat, soll, wie es dem Gesetz ent-spricht – unabhängig vom Zeitpunkt der tatsächlichenBewilligung –, ab 1997 auch Leistungen erhalten. In denmeisten Fällen allerdings bekommen die Betroffenenihre Renten erst ab dem Jahr 2005.

Um diese unterschiedliche Behandlung der ehemali-gen Ghettoarbeiter nachvollziehen zu können, müssenwir kurz rekapitulieren: Die Gewährung der sogenann-ten Ghettorenten ergänzt das bestehende Entschädi-gungsrecht nach Zwangsarbeit und ist damit Teil deut-scher Wiedergutmachung nach dem Terror derNationalsozialisten. Das im Jahr 2002 verkündeteZRBG – Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Be-schäftigungen in einem Ghetto – regelt die Vorausset-zungen. Leistungen werden bei rechtzeitiger Antragstel-lung ab 1997 gewährt.

Das Jahr 1997, auf das sich das ZRBG bezieht, mar-kiert den Beginn der sogenannten „Ghettorechtspre-chung“ und damit einen Wendepunkt deutscher Wieder-gutmachungspolitik. Es war die Erkenntnis gereift, dassArbeitsleistungen von Verfolgten in den vom DrittenReich eingerichteten Ghettos nicht unbedingt mitZwangsarbeit gleichzusetzen sind, sondern auch in ei-nem Beschäftigungsverhältnis erbracht werden konnten,für die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherungzu zahlen sind. Das Gesetz gilt für Zeiten der Beschäfti-gung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dortzwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäfti-gung aus eigenem Willensentschluss zustande gekom-men ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghettosich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reichbesetzt oder diesem eingegliedert war.

Leider führten die folgenden Anträge der ehemalsVerfolgten auf eine Rente nach dem Gesetz zur Zahlbar-machung von Renten aus Beschäftigungen in einemGhetto in den allermeisten Fällen nicht zur Gewährungeiner Rente. Die Erfordernis, eine versicherungspflich-tige Beschäftigung nach den Vorschriften der Reichsver-sicherungsordnung nachzuweisen, bedeutete eine zugroße Hürde.

Rund 90 Prozent der Anträge wurden daher in denJahren nach Inkrafttreten des ZRBG abgelehnt. Dies hatsich erst mit mehreren Entscheidungen des Bundessozial-gerichts im Jahr 2009 geändert. Mit den neu gefasstenLeitlinien zur Handhabung des ZRBG wurde in Teilen diefrühere, restriktivere Rechtsprechung aufgegeben. Diesgilt beispielsweise in Bezug auf die Natur des Entgelts;insofern werden nun auch Nahrungsmittel oder Kleidungals solches gewertet. Denn im Kontext der Ghettos hatteEntlohnung in Form von Naturalien einen höheren Wertals Geld. Damit trägt das Gericht den außerordentlichenVerhältnissen, unter denen die Verfolgten leben mussten,Rechnung; mit rentenversicherungsrechtlichen Entgelt-begriffen sind diese kaum zu fassen. Auch auf ein Min-destalter, das bis dahin Voraussetzung für die Gewäh-rung einer Rente war, wurde verzichtet. Zugleich wurdeauch der Begriff der Willensentscheidung, der das Zu-standekommen eines Beschäftigungsverhältnisses unddie Grenze zur Zwangsarbeit markieren sollte, verein-facht.

Im Nachgang zu den Urteilen hat die deutsche Ren-tenversicherung eine Überprüfung der abgelehnten An-träge vorgenommen, die weitgehend abgeschlossen ist.Mehrere Tausende an Berechtigten erhalten nun Rentennach dem ZRBG. Darunter befinden sich viele, derenAnträge vor der Änderung der Rechtsprechung bereitseinmal bindend abgelehnt worden waren.

Genau hier liegt der wunde Punkt: Für diese Antrag-steller begannen die Rentenzahlungen nicht rückwir-kend zum 1. Juli 1997, wie dies § 3 Abs. 1 ZRBG für biszum 30. Juni 2003 gestellte Anträge vorsieht. Vielmehrhaben die Rentenversicherungsträger die Renten erst ab1. Januar 2005 gezahlt, wenn aufgrund der neuenRechtsprechung im Jahr 2009 überprüft wurde. Insofernkam § 44 SGB X zur Anwendung. Nach dessen Abs. 1 hatjeder einen Anspruch auf erneute Überprüfung, wennsich ein früherer Bescheid zu seinen Ungunsten alsrechtswidrig erweist. In Abs. 4 der Vorschrift ist darüberhinaus festgelegt, dass dann Leistungen für vier Jahrerückwirkend zu erbringen sind.

Besonders tragisch an der geltenden Rechtsanwen-dung ist, dass besonders ältere Betroffene, deren An-träge wegen ihres Alters vorgezogen beurteilt wurdenund daher zum Zeitpunkt der Urteile des Bundessozial-gerichts im Jahr 2009 schon bindend entschieden wa-ren, nun im Nachteil sind. Es ist mehr als fraglich, obdies der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers ent-sprechen kann.

Eine Vielzahl von Antragstellern will die getroffeneEntscheidung nicht akzeptieren und pocht auf einenLeistungsanspruch ab 1997. Einige Betroffene habengeklagt. Im Ergebnis liegen nun gegensätzliche erstin-stanzliche Urteile der Sozialgerichte vor: Einige wiesenKlagen ab, andere beschieden im Sinne der Kläger.

Die Folge der gefällten Urteile: Die zuständigen Se-nate des Bundessozialgerichts werden abschließend am7. und am 8. Februar 2012 über die Rückwirkung des er-leichterten Zugangs zu den Ghettorenten entscheiden.Das Resultat sollten wir abwarten, bevor wir über denvorliegenden Antrag abstimmen oder weitere Initiativen

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 183: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18647

Anton Schaaf

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anschieben. Allerdings ist eine politische Lösung ge-fragt, sollte das Bundessozialgericht nicht im Sinne derZiele des ZRBG entscheiden können.

Auch in der Vergangenheit war in Reaktion auf die– so vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte – enge Ausle-gung des ZRBG ein stetiges Ineinandergreifen vonRechtsprechung und Politik zu beobachten.

So war am 1. Oktober 2007 vor dem Hintergrund dersehr hohen Ablehnungsquote der Anträge nach demZRBG eine Richtlinie der Bundesregierung erlassenworden. Seitdem können Verfolgte im Sinne des § 1 desBundesentschädigungsgesetzes, die sich zwangsweise ineinem Ghetto im nationalsozialistischen Einflussgebietaufhielten, eine einmalige Leistung in Höhe von2 000 Euro erhalten, wenn für diese Arbeit keine Leis-tung im Rahmen der Entschädigung nach Zwangsarbeitgezahlt wurde.

Dies verdeutlicht auch: Das ZRBG gehört zwar zumRentenrecht, stellt aber eine Sonderregelung dar. Diesliegt begründet in der besonderen historischen Konstel-lation und den extremen Bedingungen, unter denen dieVerfolgten in den Ghettos der Nationalsozialisten zu lei-den hatten. Daher dürfen wir auch jetzt nicht in letzterKonsequenz davor zurückscheuen, der ursprünglichenIntention des ZRBG, eine Lücke im Recht der Wiedergut-machung für alle Ghettoüberlebenden zu schließen, zumDurchbruch zu verhelfen. Denn wie sich der Sachverhaltjetzt darstellt, werden, verursacht durch den langen Klä-rungsprozess, nicht alle Betroffenen tatsächlich gleichbehandelt.

Mittlerweile sind circa 7 000 Antragsteller verstor-ben und zu vielen Tausenden konnte – trotz erheblicherBemühungen – kein Kontakt mehr hergestellt werden.Diese Zahlen unterstreichen die besondere Dringlich-keit für eine abschließende und zufriedenstellende Lö-sung.

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das Thema der heutigen Debatte taugt nicht für eine

parteipolitische Auseinandersetzung.

Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2002 das Gesetzzur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen ineinem Ghetto, ZRBG, einstimmig beschlossen. Vorgese-hen war die Rückwirkung ab 1. Juli 1997. Leider hatdieses Gesetz nicht so gewirkt, wie wir alle es uns da-mals erhofft und gewünscht hatten. Das ZRBG war einVersuch, die Problematik der ehemals in einem GhettoBeschäftigten rentenrechtlich zu lösen. Diese Überle-gung stützte sich auf die vorangegangene Rechtspre-chung des Bundessozialgerichts, BSG, die ihrerseits seit1997 erstmals eine rentenrechtliche Lösung für ehemalsin einem Ghetto Beschäftigte vorgab.

Bis zum Urteil des BSG zum Ghetto Łódź vom18. Juni 1997 wurde davon ausgegangen, dass Arbeit inGhettos, die von der deutschen Besatzung oder auf ihreVeranlassung hin eingerichtet wurden, als Zwangsarbeitauf Grundlage eines öffentlich-rechtlichen Gewaltver-hältnisses geleistet wurde. Da damit keine rentenversi-cherungspflichtige Beschäftigung vorlag, kamen Zah-

lungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung auchnicht in Betracht. Mit dem Urteil des BSG wurde danndie Arbeit im Ghetto Łódź als ein sozialversicherungs-pflichtiges Arbeitsverhältnis angesehen, das auf freiemWillensentschluss beruhte und gegen Entgelt ausgeübtwurde. Das ist Voraussetzung für jede Rentenzahlung.

Dieser rentenrechtliche Lösungsansatz hat Schwie-rigkeiten mit sich gebracht. Die für die Verhältnisse desGhettos in Łódź passende Regelung war nicht ohne Wei-teres auf andere Ghettos übertragbar. Insbesondere derKern der rentenrechtlichen Lösung, also die Geltend-machung einer „aus eigenem Willensentschluss zu-stande gekommenen“ und „gegen Entgelt ausgeübten“Tätigkeit, war in der Antragspraxis oft nicht nachweis-bar.

Die FDP hat sich nicht nur deswegen in der Vergan-genheit eher für Entschädigungslösungen als für dierentenrechtliche Bewertung ausgesprochen. Die aufge-tretenen Schwierigkeiten bestätigen unsere Haltung.

In seiner praktischen Anwendung hat das ZRBG nichtzu befriedigenden Ergebnissen geführt, sondern zu ho-hen Ablehnungsraten und Klagen. Den Rentenversiche-rungsträgern, also den zuständigen LVAs, kann dasScheitern der Umsetzung des ZRBG aber nicht vorge-worfen werden. Sie haben nur nach den im Gesetz gere-gelten rentenrechtlichen Grundsätzen gehandelt.

Im Jahr 2009 hat das BSG praktikablere Leitliniengesetzt und die Entgeltlichkeit der Tätigkeiten erleich-tert. Danach waren bis Ende Juni 2011 mehr als50 000 Anträge bearbeitet und beschieden worden, da-von mehr als 90 Prozent positiv. Gut 2 000 Anträge wa-ren zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht abgeschlossen.

Nach wie vor laufen Prüfungen, insbesondere auchGerichtsverfahren. Anfang Februar ist erneut mit Urtei-len des BSG zur Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X zurechnen. Wie schon in der Vergangenheit wird das Rich-terrecht uns Hinweise geben, ob gesetzgeberische Kon-sequenzen notwendig und sinnvoll sind.

Ich bin überzeugt, dass der Bundestag bei diesemThema wie in der Vergangenheit auf einer sehr breiten– ich hoffe einstimmigen – Basis agieren wird. Einer Ini-tiative der Linken hätte es dazu nicht bedurft.

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Unser Antrag zielt darauf ab, eine Ungerechtigkeit

bei der Auszahlung der sogenannten Ghettorenten aus-zugleichen.

Im Jahr 2002 hat der Bundestag einen Beschluss desBundessozialgerichts umgesetzt und einstimmig beschlos-sen, dass NS-Opfer, die unter den Nazis in Ghettos ge-zwungen wurden und dort einer Arbeit nachgegangenwaren, für diese Arbeit eine Rente erhalten sollen. Wirmüssen leider feststellen, dass dieses Gesetz nicht soumgesetzt worden ist, wie es von uns allen hier im Hausbeabsichtigt war. Durch Fehler und Mängel habenZehntausende von überlebenden Ghettoarbeitern keinGeld erhalten oder weniger als geplant.

Zu Protokoll gegebene Reden

Page 184: Deutscher Bundestagdipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17155.pdf · Plenarprotokoll 17/155 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 155. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 26. Januar

18648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Ulla Jelpke

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Ich will hier nicht anfangen, Schuldzuweisungen anParlament, Bundesregierung und Deutsche Rentenversi-cherung zu verteilen. Die Linke will, dass der Mangelbehoben wird. Denn eine Seite kann definitiv nichts da-für: Die NS-Opfer, die im Ghetto geschuftet haben. Esdarf nicht sein, dass sie für Fehler bezahlen sollen, diebei der Anwendung des Gesetzes zutage traten. Deshalbstellt die Linke diesen Antrag.

Das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Be-schäftigungen in einem Ghetto, ZRBG, musste praktischals gescheitert angesehen werden, als in den ersten Jah-ren von über 60 000 Anträgen nur 5 100 bewilligt wur-den. Das lag zu einem großen Teil an den fragwürdigenBegrifflichkeiten im Gesetz selbst bzw. ihrer Auslegung,so etwa der erforderten Freiwilligkeit der Arbeitsauf-nahme und dem Erhalt von Entgelt dafür. Etliche Betrof-fene haben das als Verharmlosung der mörderischen Zu-stände im Ghetto empfunden. Die Deutsche Renten-versicherung hat fast alle Anträge abgelehnt, weil sieebenfalls keine Freiwilligkeit gesehen hat.

Erst spät, 2009, hat das Bundessozialgericht ent-schieden, dass die Begriffe großzügig interpretiert wer-den müssen und man die Spielräume berücksichtigenmuss, die es auch im Ghetto gab, so gering sie auch ge-wesen sind. Auch eine Handvoll Kartoffeln extra stelltein Entgelt dar, das damals überlebenswichtig seinkonnte. Dieses Urteil war extrem wichtig. Das zeigt dasErgebnis der Überprüfungen, die danach von der Ren-tenversicherung vorgenommen wurden. Ich habe mirdieser Tage die aktuellen Zahlen geben lassen: Vonknapp 28 000 neu erteilten Bescheiden fielen rund25 000 positiv aus.

Diese Menschen erhalten jetzt also Rente, nachdemsie ihnen erst verweigert worden war. Das ist eine er-freuliche Nachricht, die aber dadurch getrübt wird, dassmindestens 17 000 Betroffene keinen neuen Bescheidmehr erhalten konnten: 7 000 sind zwischenzeitlich ver-storben, weitere 10 000 nicht mehr auffindbar, weil sieunbekannt verzogen oder ebenfalls verstorben sind.

Und einen weiteren Wermutstropfen gibt es: Noch im-mer wird das Gesetz nicht so durchgeführt, wie es vomBundestag einst beschlossen worden ist. Damals habenwir den Betroffenen gesagt: Wenn ihr bis Mitte 2003euren Antrag einreicht, dann zahlen wir euch die Renteab dem Jahr 1997 rückwirkend aus. 1997 wurde deswe-gen als Stichdatum gewählt, weil damals der erste ein-schlägige Beschluss des Bundessozialgerichts ergangenwar, dass Ghettoarbeit prinzipiell einen Rentenanspruchbegründet. Auszahlung ab 1997 – darin waren wir unsdamals alle einig; auch die Gesetzesbegründung machtedas klar.

Doch das hat nicht geklappt. Bei den 25 000 Anträ-gen, die nach dem Urteil des Bundessozialgerichts neugeprüft und anerkannt worden sind, wird die Rückwir-kung erst ab 2005 angewandt. Das hat die Bundesregie-rung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage mit der imallgemeinen Sozialrecht geltenden maximalen Rückwir-kung von vier Jahren begründet; und diese vier Jahrewerden von der BGS-Entscheidung an gerechnet.

Im Klartext heißt das also: Die allermeisten Berech-tigten erhalten die Rente nicht, wie ursprünglich ver-sprochen, rückwirkend ab 1997, sondern erst ab 2005.Das hält die Linke für einen Fehler, den wir gutmachenmüssen, auch wenn wir dafür rechtliches Neuland betre-ten müssen. Das haben wir beim ersten Gesetz ja auchgetan.

Deswegen beantragen wir, dass die Renten ab 1997rückwirkend ausgezahlt werden. Darin waren wir uns indiesem Parlament ja alle einig, und ich hoffe sehr, dasswir uns auch heute noch darin einig sind. Wir könnennicht die NS-Opfer verhöhnen, indem wir sie für unsereFehler bezahlen lassen.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus

Beschäftigungen in einem Ghetto, kurz ZRBG, von 2002wollte Rot-Grün eine Lücke im Entschädigungsrechtschließen. Hier geht es um Menschen, die unter demNS-Regime in ein Ghetto gezwungen wurden und dort,oft um dem Hungertod zu entgehen, eine Beschäftigungannahmen. Dieser Personenkreis sollte nach der Inten-tion des Gesetzgebers für die Arbeitszeit im Ghetto Ren-tenzahlungen erhalten, ohne dafür nachträglich Bei-träge zur Rentenversicherung entrichten zu müssen. DasGesetz fußt auf einer Entscheidung des Bundessozialge-richts vom 18. Juni 1997. Nach dem ZRBG haben Über-lebende des NS-Terrors auch rückwirkend ab Juli 1997deutsche Rentenansprüche erworben, wenn sie in einemGhetto gearbeitet haben. 2009 entschied das Bundesso-zialgericht zudem, dass dies auch gilt, wenn sie imGhetto zur Arbeit verpflichtet waren und als Lohn ledig-lich Nahrung oder Lebensmittelkarten erhalten haben.Bis dahin wurde davon ausgegangen, dass die Arbeit inGhettos, die von der deutschen Besatzung oder auf ihreVeranlassung hin eingerichtet wurden, als Zwangsarbeitauf Grundlage eines Gewaltverhältnisses geleistetwurde und Zahlungen aus der gesetzlichen Rentenversi-cherung deshalb nicht in Betracht kommen.

Das ZRBG wurde 2002 einstimmig vom DeutschenBundestag beschlossen. In seiner praktischen Anwen-dung hat das Gesetz aber lange nicht zu den vom Gesetz-geber gewünschten Ergebnissen geführt. Von den etwa70 000 Anträgen wurden anfangs nur wenige positivbeschieden. Die zuständigen Landesversicherungsan-stalten haben viel zu hohe Hürden aufgebaut. Das wi-derspricht der Intention des Deutschen Bundestages.Der Gesetzgeber hatte 2002 zugunsten der betroffenenNS-Verfolgten entschieden, wohl wissend, dass damitrentenrechtliches Neuland betreten wurde.

Dennoch mussten die Überlebenden der Nazischinde-rei mit den deutschen Rentenversicherungen kämpfen:mit deren fehlender Sensibilität für persönliche Schick-sale und historische Zusammenhänge. Dadurch wurdenAnträge verzögert, blockiert und oft auch pauschal ab-gelehnt. Diese langwierige deutsche Bewilligungspraxiswar zuletzt im Vorfeld der deutsch-israelischen Regie-rungskonsultationen 2011 von der israelischen Regie-rung kritisiert worden. Aber nicht nur die israelische,

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18649

Volker Beck (Köln)

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auch die deutsche Öffentlichkeit erwartet von Schwarz-Gelb eine klare Ansage.

Heute warten über 20 000 Holocaustüberlebende da-rauf, dass ihnen ein Rentenanspruch rückwirkend zumJahr 1997 gewährt wird. Bislang beruft sich die Bundes-regierung auf das Sozialrecht und gewährt diesen Ren-tenanspruch nur rückwirkend für vier Jahre, von 2009gerechnet also ab dem Jahr 2005. Als wir im Bundestagdieses Gesetz verabschiedeten, war das nicht unsere Ab-sicht als gesetzgebendes Organ. Es ist unhaltbar, dassnun den letzten überlebenden NS-Opfern durch dieseVerschleppungstaktik Rentenansprüche vorenthaltenwerden. Es drängt sich der Verdacht auf, dass man hierauf eine „demografische Lösung“ des Problems hofft.Das ist zynisch, unanständig und zutiefst beschämend.

Der Antrag der Linksfraktion, die Rentenzahlungenrückwirkend ab dem 1. Juni 1997 zu zahlen, findet des-halb die uneingeschränkte Zustimmung meiner Frak-tion.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/7985 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung istjedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDPwünschen die Federführung beim Ausschuss für Arbeitund Soziales, die Fraktion Die Linke wünscht Federfüh-rung beim Innenausschuss.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Die Linke abstimmen: Federführung beim In-nenausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-schlag? – Dagegen? – Enthaltungen? – Der Überwei-sungsvorschlag ist abgelehnt mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Zustim-mung der Linken und der Grünen.

Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-schlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Fe-derführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Werstimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Dagegen? –Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist ange-nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen undder SPD gegen die Stimmen der Linken und der Grünen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten OliverKrischer, Stephan Kühn, Undine Kurth (Quedlin-burg), weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Ein neues Bergrecht für das 21. Jahrhundert

– Drucksache 17/8133 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen vonAndreas Lämmel, CDU/CSU, Rolf Hempelmann, SPD,Klaus Breil, FDP, Eva Bulling-Schröter, Die Linke,Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen.

Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Fragen der Rohstoff- und Energiepolitik bleiben auch

im Jahr 2012 von hoher Aktualität und politischer Bri-sanz. Gleich zum Jahresauftakt erfreuen uns die Grünenauf ihre Art mit einem Antrag zur angeblichen Moderni-sierung des Bergrechts. Sie hätten ihren Antrag auchehrlicherweise „Bergbau in Deutschland abschaffen!“oder „Bergbau in Deutschland – im 21. Jahrhundert istSchluss!“ nennen sollen.

Diesen Antrag gilt es in einem größeren Kontext zusehen, um ihn auch angemessen beurteilen zu können.

Erstens. Deutschland ist umfassend von Rohstoffim-porten abhängig. Die christlich-liberale Koalition hatdaher in dieser Legislaturperiode eine umfassende Roh-stoffstrategie vorgelegt. Ein wesentlicher Bestandteildieser Rohstoffstrategie ist die Diversifizierung derRohstoffbezugsquellen. So werden Abhängigkeiten ver-mieden oder reduziert, und die Versorgungssicherheitkann erhöht werden.

Zweitens. Zur Diversifizierung zählt auch die Nut-zung heimischer Rohstoffe. Damit kann DeutschlandRohstoffimporte vermeiden, Vermögens- und Kaufkraft-transfers ins Ausland verhindern und Wertschöpfungs-ketten im Land halten.

Drittens. Neben diesem ökonomischen Aspekt sindauch ökologische und soziale Aspekte zu beachten. Wirhaben in Deutschland bereits hohe Standards an Um-weltauflagen für den Bergbau. Dies gilt auch für den Ar-beitsschutz. Findet Bergbau nicht mehr in Deutschlandstatt, wird der Bedarf durch den Abbau in anderen Welt-regionen gedeckt. Wir alle wissen, dass die ökologischenund sozialen Standards in den meisten Ländern vielniedriger sind als bei uns. Eine Verlagerung des Berg-baus aus Deutschland steigert die Nachfrage nach im-portierten Rohstoffen, die unter niedrigeren bis nichtvorhandenen ökologischen und sozialen Standards ab-gebaut wurden.

Viertens. Das Motto der Grünen „Kein Bergbau beiuns – kein Problem“ ist kurzsichtig und verantwortungs-los. Das sollten sie auch gegenüber ihren Anhängern er-klären.

Fünftens. Ein weiterer grundlegender Punkt ist dieEnergiepolitik. Fast alle Mitglieder des Deutschen Bun-destages, auch die Fraktion der Grünen, haben imSommer des vergangenen Jahres die „Energiewende“beschlossen. Wir haben also gemeinsam acht grundlast-fähige Kernkraftwerke vom Netz genommen und wollenschrittweise bis zum Jahr 2022 komplett auf die Kern-energie verzichten. Bis der erforderliche Ausbau dererneuerbaren Energien erfolgt und insbesondere die be-gleitende Infrastruktur errichtet ist – ich nenne nurNetze und Speicher als Stichworte –, werden wir inDeutschland verstärkt fossile Energieträger nutzen müs-sen. Dazu gehören neben überwiegend importiertemErdgas und Erdöl auch die heimischen EnergieträgerStein- und Braunkohle. Folglich müssen wir in der Lagesein, die erforderlichen Rohstoffe auch in Deutschlandabzubauen. Diesen Zusammenhang sollten die Grünenauch ihren Anhängern erläutern. Mit dem Abschalten

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18650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Andreas G. Lämmel

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von Kernkraftwerken ist es nicht getan. Wer aussteigt,muss auch einsteigen.

Nun aber zum Antrag. Die Grünen wollen ein Berg-recht für das 21. Jahrhundert, ein neues Bergrecht, umgenau zu sein. Sie übersehen, dass ein in Deutschlandeinheitliches Bergrecht in dieser Form seit den frühen80er-Jahren besteht. Das Bergrecht wurde seit seinemInkrafttreten 1982 ständig an umweltrechtliche Vorga-ben, insbesondere denen des EU-Rechts, angepasst.Auch in der ständigen Rechtsprechung der Gerichtewurden keine Differenzen zwischen dem Bergrecht undbestehenden umwelt- oder verfahrensrechtlichen Rege-lungen angemahnt.

Das Bergrecht hat selbstverständlich den Zweck, dieRohstoffgewinnung zu ermöglichen. Aber dies geschiehtnatürlich in einer Abwägung mit den Interessen Dritter,primär der ansässigen Bevölkerung und der Natur. So istseit 1990 für größere Vorhaben die Durchführung einesPlanfeststellungsverfahrens inklusive Umweltverträg-lichkeitsprüfung und Öffentlichkeitsbeteiligung obliga-torisch. Speziell für den Braunkohlebergbau ist noch dasraumordnerische Braunkohlenplanverfahren vorgese-hen, welches mehrere Jahre in Anspruch nimmt undunter Durchführung von Umweltprüfungen, Öffentlich-keitsbeteiligung und auf Basis von zahlreichen Gutach-ten die gesamtheitliche Abwägung der Braunkohlege-winnung im Tagebau mit allen anderen berührtenBelangen vollzieht. Die Wiedernutzbarmachung der Erd-oberfläche nach erfolgtem Abbau ist – das ist weltweiteinmalig – Bestandteil unseres Bergrechts.

Gerade in diesem Punkt zeigt sich eine unsachliche Zu-spitzung im Antrag der Grünen. Sie schreiben auf den Sei-ten 1 und 2 von „300 Ortschaften mit 110 000 Menschen“,die seit 1945 in Ost- und Westdeutschland aufgrund desBraunkohlebergbaus ihre Heimat verloren hätten. Sieübersehen aber dabei, dass das Bergrecht, über das wirhier sprechen, in der ehemaligen DDR gar nicht galt. Esist unseriös, die Ursachen für die Naturschäden in denmitteldeutschen und Lausitzer Braunkohlerevieren beimgeltenden Bergrecht zu suchen. Dafür sind ein men-schen- und naturfeindliches Wirtschafts- und Gesell-schaftsmodell verantwortlich, welches die Kollegen derLinken sicher gern umfangreich erläutern können. Dieehemaligen Tagebaue werden seit 1990 unter der Gel-tung des Bergrechtes, mit großem finanziellen Aufwanddes Bundes, saniert und rekultiviert. Das hätte man imAntrag auch erwähnen können.

Übrigens werden 98 Prozent aller Umsiedlungsfällegütlich geregelt und Grundabtretungsverfahren werdenvermieden.

Das geltende Bergrecht erfüllt also seinen Zweck: Esschafft Ausgleich zwischen den Interessen der Men-schen, der Natur und der Rohstoffgewinnung.

Besonders fragwürdig und wirklichkeitsfremd sinddie Forderungen unter Punkt 8 und 14. Bergbauprojektesind kapitalintensive Unternehmungen, die sich oft überJahrzehnte erstrecken und daher umfassende Rechtssi-cherheit benötigen. Eine ständige Überprüfung erteilterGenehmigungen, wie hier gefordert, steht dem aber ent-

gegen. Sie würden jede Investitionsentscheidung imBergbau de facto verhindern. Auch verhindert man da-mit Rechtssicherheit und Klarheit für die Betroffenen,um die es den Grünen doch vordergründig geht.

Auch der Punkt 18 ist bemerkenswert. Die Grünenfordern ein umfassenderes Klagerecht für Bergbaube-troffene und auch für Umweltverbände. Dies ist einer-seits nicht nötig, da jeder Bürger die Möglichkeit derKlage hat, falls er seine Grundrechte eingeschränktsieht. Dies betrifft selbstverständlich auch bergrechtli-che Entscheidungen. Anderseits habe ich Verständnis,dass diese Forderung gestellt wird. Wahrscheinlich müs-sen die Grünen die Wutbürger und die Wir-sind-gegen-alles-Fraktion in ihren Reihen zufriedenstellen. Jetzt, dadie Bürger den Grünen in Stuttgart per Referendum mit-geteilt haben, dass sie ihre Infrastrukturphobie nicht tei-len und ein grüner Ministerpräsident und ein grünerVerkehrsminister Stuttgart 21 wohl umsetzen müssen,sind die Grünen natürlich in der Pflicht, ihre Klientel zubefriedigen, indem sie neue oder erweiterte Klage- undVerzögerungsbefugnisse fordern.

Wir brauchen Bergbau zur Gewährleistung der Roh-stoffversorgung und zur Sicherung des Know-hows inDeutschland. Das geltende Bergrecht berücksichtigt da-bei auch die Interessen anderer Beteiligter.

Schließlich kann ich Urlaub in Sachsen empfehlen.Dort kann man in der Lausitz beobachten, wie aus altenBraunkohletagebauen touristische Destinationen entste-hen und sich die Natur erholt. Oder man fährt ins Erzge-birge und lässt sich zeigen, wie die Menschen vor Ortmit Stolz die Tradition des Bergbaus pflegen und dieFolgen der Devastierung einer Landschaft wegen einesfehlenden Bergrechts fast nicht mehr zu finden sind.

Rolf Hempelmann (SPD): Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen beschäftigt

sich zusammengefasst mit einer Revision des Berg-rechts. Auch die SPD-Bundestagsfraktion beschäftigtsich mit diesem Thema und denkt über eine Weiterent-wicklung nach. Hintergrund unserer Diskussion war undist unter anderem die aktuelle Situation beim unkonven-tionellen Erdgas. Wir haben festgestellt, dass das gel-tende Bergrecht über Unzulänglichkeiten bei den Rege-lungen zur Aufsuchung und Förderung verfügt. In denDeutschen Bundestag haben wir dazu einen Antrag ein-gebracht, der sich mit der Transparenz und der Umwelt-verträglichkeit von Fördermethoden beim Fracking be-schäftigt.

Nun zum aktuellen Antrag von Bündnis 90/Die Grü-nen: Ich kann vorausschicken: Über viele Dinge im For-derungsteil des Antrages können wir reden. Jedoch fin-den wir einige Mängel im Antrag, insbesondere imFeststellungs- und Begründungsteil. So sind sehr aus-führlich die Risiken und Konfliktpotenziale beim Abbauvon Bodenschätzen aufgeführt, aber es gibt keine Würdi-gung der heimischen Bergbauindustrie und der mit ihrverbundenen Wertschöpfungskette unter anderem auchbei der Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen undder Entwicklung von Bergbauregionen. Ohne die heimi-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Rolf Hempelmann

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schen Bergbauunternehmen wäre der Erfolg der deut-schen Industrie nicht möglich gewesen.

Die einheimische Rohstoffgewinnung macht Deutsch-land unabhängiger von Rohstoffimporten. Sie ist not-wendig und verfügt über vielfältige positive Effekte. DieVersorgungssicherheit bei energetischen und nichtener-getischen Rohstoffen erhöht sich durch den heimischenAbbau deutlich. Durch heimische Rohstoffe wird diedeutsche Bauindustrie ortsnah mit Baumaterialien fürden öffentlichen und privaten Bau versorgt. Energeti-sche Rohstoffe im eigenen Land sichern eine stabile Ver-sorgung insbesondere der energieintensiven Industrien.Und nicht zu vergessen ist das deutlich höhere Umwelt-schutzniveau bei der heimischen Gewinnung im Ver-gleich zur Gewinnung importierter Rohstoffe. Wenn Sieim Antrag die negativen Nebenwirkungen der inländi-schen Bergbauaktivitäten beschreiben, gleichzeitig aberdie positiven Hauptwirkungen außen vor lassen, wirdeine echte Güterabwägung im Sinne eines fairen Chan-cen-Risiken-Vergleichs kaum gelingen.

Planfeststellungsverfahren laufen heute nicht seltenüber 10 bis 15 Jahre. Dies erzeugt weder Rechtssicher-heit bei den betroffenen Menschen noch bei den jeweili-gen Unternehmen. Die Herausforderung in einer aufge-klärten Zivilgesellschaft besteht heute darin, eineBeschleunigung der ohne Zweifel zu langen Verfahrenmit einer Verbesserung von Transparenz und Bürgerbe-teiligung zu verbinden.

Das deutsche Bergrecht ist eine unvergleichliche Er-folgsgeschichte. Die enorme Beschäftigungsentwick-lung, der Aufschwung der Bergbauregionen oder derschnelle Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg wä-ren ohne die Nutzung der energetischen und nichtener-getischen Rohstoffe aus heimischen Lagerstätten nichtmöglich gewesen. In manchen Teilen scheint das histo-risch gewachsene geltende Bergrecht trotz mancherWeiterentwicklung nicht mehr zu einer modernen aufge-klärten und an Teilhabe interessierten Gesellschaft zupassen. Eine Überarbeitung muss deshalb angemesseneRegelungen zu Transparenz und frühzeitig beginnenderBürgerbeteiligung enthalten. Auch stehen heute andereFragen im Vordergrund als zur Entstehungszeit desdeutschen Bergrechts. Heute spielen zum Beispiel um-welt- und wasserrechtliche Aspekte eine ganz andereRolle. Das muss eine Revision des deutschen Bergrechtsüberzeugend aufnehmen. Dabei muss Spielraum bleibenfür eine sachgerechte Abwägung ökologischer, sozialerund ökonomischer Belange.

Bündnis 90/Die Grünen schlagen in ihrem Antrag un-ter anderem die Einführung einer „generellen Bergscha-denvermutung mit Beweislastumkehr“ vor. In der Tat istschwer begründbar, warum gerade der Betroffene alsschwächstes Glied die komplette Beweislast, dass dieSchäden aufgrund der Bergbautätigkeit aufgetretensind, tragen soll. Ob eine Beweislastumkehr das richtigeHeilmittel ist oder ob weitere Wege möglich sind, solltenwir versuchen in einer Anhörung zu klären.

Es gibt viel zu besprechen. Dafür haben wir unsereAusschüsse. Im Rahmen der Ausschussberatungen ha-ben wir auch, wie gesagt, die Möglichkeit zur Durchfüh-

rung einer Anhörung. Da können wir noch mancheFrage klären.

Klaus Breil (FDP): Der vorliegende Antrag der Grünen betont, dass

Bergbau in Deutschland auch in Zukunft grundsätzlichmöglich sein soll. Schaut man sich die darin aufgestell-ten Forderungen jedoch im Detail an, dann lässt das zu-mindest Zweifel an diesem Grundsatz aufkommen. Viel-mehr zeugt der Antrag inhaltlich in schon gewohnter Artund Weise von der ökologischen Dialektik der Grünen.

Es ist ein Januskopf: Janus der römische Gott des An-fangs und des Endes. Im Antrag ist der Anfang das ver-meintliche Bekenntnis zum Fortschritt. Das Ende folgtin Form der Forderungen, die jeden Fortschritt in derRealität unmöglich machen.

Doch wie sieht die Realität aus? Seit 1980 gibt dasBundesberggesetz – zuletzt mit Änderungen im Jahr2009 – einen verbindlichen ordnungspolitischen Rah-men für die Aufsuchung und Gewinnung von Rohstoffensowie die damit verbundenen finanziellen Anforderun-gen und sicherheitstechnischen Bedingungen vor. Dergesamte Prozess, von der Erkundung über den Betriebbis zum Rückbau, wird dabei mit hoher fachlicher Kom-petenz von den jeweiligen zuständigen Landesbehördenüberwacht und geleitet. Selbstverständlich umfassen dieBefugnisse der Behörden auch das Versagen bergbauli-cher Tätigkeiten für den Fall, dass umweltrechtlicheoder sicherheitstechnische Probleme aufgetreten sindoder diesbezüglich Bedenken bestehen.

Dass die zugrundeliegenden Regeln zielführend undzuverlässig greifen, zeigt nicht zuletzt die Verhängungeines sofortigen Förderstopps infolge der 2008 durchArbeiten im Bergwerk Saar ausgelösten Erdbeben in derRegion. Selbst die Möglichkeit der dauerhaften Stillle-gung des Bergwerks, welche in diesem Jahr abgeschlos-sen sein wird, war auf Basis des geltenden Gesetzesrechtlich gegeben.

Zur gemäß Bundesberggesetz geforderten Regulie-rung der aufgetretenen Bergschäden wendete die RAGDeutsche Steinkohle AG einen dreistelligen Millionenbe-trag auf. Derartigen Ansprüchen kann sich das Unter-nehmen, trotz der Einstellung des Betriebes, auch in dennächsten Jahrzehnten bei eventuell auftretenden Schä-den oder Beeinträchtigungen nicht entziehen. DerAntrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen kritisiertwortgewaltig die verheerenden Auswirkungen von Berg-bauvorhaben auf die betroffenen Bürger. Sogar ein Be-zug zu Menschenrechtsverletzungen wird hierbei gewagt.Sicherlich sind die im Bundesberggesetz festgelegtenEntschädigungsregelungen nicht immer einfach umzu-setzen und bedingen eine spezifische Form des Dialogs.

Als Beispiel für deren konstruktive Anwendung sei andieser Stelle aber das in der brandenburgischen Lausitzgelegene Haidemühl genannt. Als dieses Dorf demnahenden Braunkohletagebau Welzow-Süd weichenmusste, wurde den Bewohnern nicht nur in kurzer Ent-fernung ein neuer Ort mit modernster Infrastruktur undenergieeffizienten Häusern errichtet; vielmehr steht nun

Zu Protokoll gegebene Reden

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18652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Klaus Breil

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auch den Vereinen ein Gemeindezentrum mit Kegelbahnund Schießstand zur Verfügung.

Zudem entspannen sich die Angelfreunde am eigensfür sie angelegten Biotop, und es rückt die örtliche Feu-erwehr mit leistungsfähiger Technik aus einem großzü-gig ausgestatteten Gerätehaus aus. Um den demografi-schen Effekten in der Region entgegenzuwirken, erhaltenJugendliche des Ortes zudem bevorzugt einen Ausbil-dungsplatz bei Vattenfall, dem Betreiber des Tagebausund wichtigsten Energieversorger in den neuen Bundes-ländern.

Vor diesem Hintergrund ist es wohl kaum verwunder-lich, dass nahezu alle Einwohner dem Umzug bereitwil-lig zustimmten. Das Investitionsvolumen, welches in die-sem Fall Vattenfall bereitstellte, belief sich auf rund150 Millionen Euro. Hier gesetzgeberischen Hand-lungsbedarf auszumachen, stößt allgemein auf wenigVerständnis.

Würde man die gestellten Forderungen der Grünenim Rahmen einer Gesetzesänderung aufgreifen, dannstünde dem Bergbau in Deutschland die gleiche Ent-wicklung bevor, wie sie leider immer häufiger bei Pro-jekten zum Ausbau des Stromnetzes oder der Errichtungvon Speicherseen zu verzeichnen ist. Hierin liegt dieStoßrichtung des Antrags: die Implementierung vonBlockademechanismen, und dies in Form einer angeord-neten Berücksichtigung ausgesuchter Partikularinteres-sen.

Dies ist weder im Sinne einer zukunftsfähigen undfortschrittlichen Entwicklung unserer Volkswirtschaft,noch spiegelt dies das überwiegende öffentliche Inte-resse im Land wieder. Daher lehnen wir den Antrag ab.

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Das deutsche Bergrecht ist überholt. Es stammt aus

einer Zeit, in der Begriffe wie Klimaschutz, Energieein-sparung oder Materialeffizienz noch kaum Bedeutunghatten. Aus dem Berg geholt und verwertet wurde, wasder Berg hergab. Und dieser Abbau hatte Vorrang vorallen anderen Interessen, seien es Dörfer oder ganzeStädte, die, insbesondere im Braunkohletagebau, riesi-gen Baggern weichen mussten.

Heute, in einer Zeit, in der die Erderwärmung voran-schreitet und zugleich das grenzenlose Wachstum in-frage gestellt wird, ist ein Umsteuern angezeigt. Erleich-tert wird dieses Umsteuern zu mehr Maß und Umsichtbeim Umgang mit unseren Ressourcen, weil es inzwi-schen Alternativen gibt. Somit ist etwa die Frage:„Brauchen wir eigentlich den neuen Tagebau und dieKohle daraus?“, keine ethisch-moralische mehr, son-dern eine ganz praktische.

Beispielsweise gestattet es das rasante Wachstum dererneuerbaren Energien, die Braunkohleverstromung inabsehbarer Zeit auslaufen zu lassen. Wind und Sonneernten, anstatt immer neue Dörfer abzubaggern, das istdie Zukunft, natürlich auch aus Sicht des Klimaschutzes.Studien haben ergeben, dass sich die Region Berlin-Brandenburg bereits 2030 vollständig mit regenerativenEnergien versorgen wird. Warum dann also neue Tage-

baue aufschließen, die noch bis nach 2050 klimaschäd-liche Braunkohle liefern könnten?

Ähnliche Rechnungen könnte man für Nordrhein-Westfalen oder andere Bundesländer aufmachen. Kurz-um, ein Bergrecht, dass so gestrickt ist, dass es demBergbau automatisch Vorrechte einräumt, weil der Roh-stoffabbau alternativlos wäre, fällt vollkommen aus derZeit. Es fällt auch aus der Zeit, weil es keine tatsächlicheBeteiligung von Bürgerinnen und Bürgern oder Verbän-den kennt, weil in ihm der Umwelt- und Landschafts-schutz kaum eine Rolle spielt, ja weil nicht einmal Vari-anten des Abbaus geprüft werden müssen.

Das Bergrecht kennt nur das Vorrecht der Konzerne,mit den Rohstoffen unseres Landes Profit zu machen,egal wie hoch die langfristigen Kosten des Abbaus sind.Und deshalb ist eine Reform des Bergrechtes überfällig.Auch die Linke wird hierzu in Kürze einen Antrag ein-bringen. Unsere Kernforderungen sind folgende:

Das neue Bergrecht muss den Erfordernissen derRohstoffversorgung Rechnung tragen – logisch. Dabeimuss es aber die Interessen der Umwelt und der von Ab-bau betroffenen Menschen und Unternehmen angemes-sen berücksichtigen.

So sollten Bergbauvorhaben in besiedelten Gebietennur noch dann genehmigt werden, wenn ein volkswirt-schaftlich unabweisbares Erfordernis für den Rohstoff-abbau an dieser Stelle besteht. Es muss vom Vorhaben-träger nachgewiesen werden, dass dieser Abbauzwingend und alternativlos ist. Die Beweislast dafürliegt dann also beim Unternehmen.

Diese und weitere Aspekte, insbesondere die Umwelt-auswirkungen des Abbaus und mögliche Varianten, müs-sen künftig in einem Planfeststellungsverfahren für dasgesamte Vorhaben geprüft werden. Damit wäre Schlussmit dem scheibchenweisen Zulassen und Abarbeiten vonunterschiedlichen Betriebsplänen, Schluss mit dem Ver-wirrspiel für Kommunen und Anwohner. Vor allem aberhätten die Bürgerinnen und Bürger erstmals realistischeChancen, Abbauvorhaben gerichtlich überprüfen zu las-sen. Wir setzen uns auch dafür ein, dass Gemeinden, In-teressenvertretungen von betroffenen Anwohnern undUmweltverbände der Klageweg offensteht. Und zwarauch dann, wenn es um die Fragen der Bedarfsfeststel-lung oder der Umweltauswirkungen insgesamt geht. An-erkannte Umweltorganisationen beispielsweise solltensich also im Verfahren nicht nur um den reinen Natur-schutz streiten können, sondern auch um den Wasser-haushalt oder den Klimaschutz.

Wir wollen ferner Schluss machen mit dem überkom-menen Konstrukt des Bergwerkseigentums, das Abbau-rechte handelbar macht. Rohstoffe sind Eigentum desVolkes, und das Land darüber gehört auch nicht den En-ergiekonzernen. Darum sollten Abbaurechte erst dannan Unternehmen verliehen werden, wenn ein Abbau ineinem demokratischen Verfahren beschlossen wurde.Und zwar unter Abwägung aller Interessen und nach ei-ner sogfältigen Umweltverträglichkeitsprüfung – undkeinen Tag vorher.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18653

Eva Bulling-Schröter

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Die Linke spricht sich zudem für mehr Transparenz inden bergrechtlichen Verfahren aus. Die Vorhabenpla-nung muss nicht nur öffentlich bekannt gemacht werden,sondern auch individuell durch Benachrichtigungen anGrundstückseigentümer, Träger öffentlicher Belange so-wie anerkannte Umweltverbände. Die Bürgerinnen undBürger wollen rechtzeitig wissen, was los ist. Denn nurwer informiert ist, kann seine Rechte wahrnehmen. Dasgilt natürlich auch für den Abbau selbst und die Zeit da-nach. Darum sollen künftig auch alle Monitoringdatenins Internet gestellt werden.

Nicht zuletzt ist das Haftungsrecht bei Bergschädenzu ändern. Ähnlich wie beim Steinkohlebergbau unterTage bereits heute geregelt, muss künftig auch in Tage-bauen die Beweislast bei den Vorhabenträgern liegenund nicht bei den Geschädigten.

Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bin froh, dass wir uns heute mit dem Thema Berg-

recht beschäftigen, das nicht nur die Menschen in dentraditionellen Kohleabbaugebieten Nordrhein-Westfa-lens, des Saarlandes und der Lausitz bewegt, sondernauch die Menschen an vielen anderen Orten in Deutsch-land, an denen Bodenschätze abgebaut werden. Dies ge-schieht nämlich an mehr Orten, als man gemeinhindenkt, und das Bundesberggesetz, kurz das Bergrecht, istdort immer wieder der Ausgangspunkt für politische undgesellschaftliche Debatten. Das Bergrecht ist in Deutsch-land die Rechtsgrundlage für vielerlei Vorhaben: Sei esder Abbau von Kohle, Salz, Gestein und Kies, die Förde-rung, aber auch Speicherung von Gas und Öl, die Ab-falldeponierung bis hin zur Genehmigung von untertägi-gen Industriebetrieben und sogar die Erkundung vonGorleben.

Kaum ein Projekt ohne tiefgreifende Konflikte, für de-ren Lösung das seit über 30 Jahren nicht mehr entschei-dend geänderte Bergrecht mit in großen Teilen noch äl-teren Rechtsgrundsätzen, die ausschließlich auf die Roh-stoffgewinnung ausgerichtet sind, eher Hindernis alseine Hilfe ist. In unserem heute in der ersten Lesung zurDebatte stehenden Antrag schlagen wir vor, das Berg-recht grundlegend zu reformieren und an die Anforde-rungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Unser Antragbenennt die Probleme des Bergrechts konkret und machtLösungsvorschläge.

In Deutschland gibt es eine lange Bergbautradition.Ohne den Bergbau wäre in den vergangenen Jahrhun-derten und Jahrzehnten die wirtschaftliche EntwicklungDeutschlands so nicht möglich gewesen. Auch wenn derBergbau heute nicht mehr die wirtschaftliche Rollespielt, wird der Abbau von Bodenschätzen auch in Zu-kunft in Deutschland ein wesentlicher Bestandteil derÖkonomie sein und sein müssen. Doch die dafür gel-tende Rechtsgrundlage ist nicht mehr zeitgemäß. Sie istin Teilen regelrecht aus der Zeit gefallen. Moderne Bür-gerbeteiligung, Transparenz, Interessenabwägung sindbeinahe Fremdworte bei der Genehmigung von Berg-bauvorhaben und der deren Umsetzung. Es bedarf einerAnpassung dieses Rechts an die Gesellschaft des 21. Jahr-hunderts. Nicht zuletzt aufgrund neuer Interessen bei

der Bodenschatzgewinnung und auch durch neue För-dermethoden.

Das heutige deutsche Bergrecht ist stark geprägtdurch das Allgemeine Preußische Berggesetz von 1865.Zur Zeit der NS-Herrschaft kamen weitere Regelungenhinzu, welche der deutschen Kriegswirtschaft ungehin-derten Zugang zu Ressourcen ermöglichen sollten, sichaber zum Teil noch im heutigen Bergrecht wiederfindenlassen. Ein einheitliches Bundesberggesetz wurde 1980geschaffen. Die letzten wesentlichen Änderungen gab esim Jahr 1990 im Zusammenhang mit der deutschen Ein-heit und der Einführung von Regelungen zur Durchfüh-rung einer Umweltverträglichkeitsprüfung, UVP.

Um es auf den Punkt zu bringen: Das deutsche Berg-recht ist geprägt von einem starren Über- und Unterord-nungssystem. Das heißt, dem öffentlichen Interesse desBergbaus wird weitgehend Vorrang vor anderen Belan-gen, Interessen und Rechten, insbesondere denen Priva-ter, eingeräumt. Eine gleichwertige Interessenabwägungin der Planungs- und Genehmigungsphase findet fak-tisch nicht statt. Gerade die Menschen in den deutschenBraunkohlerevieren können ein Lied davon singen.110 000 Menschen wurden allein für den Braunkohle-bergbau zwangsumgesiedelt. Viele von Ihnen versuchtensich juristisch dagegen zur Wehr zu setzen, dass manihre Heimat wegbaggern wollte – vergeblich, weil dasdeutsche Bergrecht die Interessen des Einzelnen kaumberücksichtigt. Die Vertreibung aus und die Zerstörungder Heimat, einer der schwersten denkbaren Eingriffe indie Menschenwürde, ohne wirksamen Rechtsschutz –das muss ein Ende haben.

Die Anforderungen an das deutsche Bergrecht wer-den weiter zunehmen, je stärker auch heimische Boden-schätze durch steigende Weltmarktpreise wieder in denFokus der bergbautreibenden Unternehmen rücken. Da-rüber hinaus werden immer mehr Anforderungen durchneue Technologien wie die Nutzung der Geothermie, dieFörderung von unkonventionellem Erdgas oder die Er-richtung großer Erdgasspeicher an den Untergrund ge-stellt werden. Dafür ist das Gesetz in seiner derzeit gül-tigen Fassung jedoch überhaupt nicht ausgelegt. Nachunserer Auffassung steht das deutsche Bergrecht daherzurzeit von mehreren Seiten unter Druck, und eine An-passung an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts er-scheint dringend erforderlich.

Ich möchte im Folgenden drei Sachverhalte nennen,stellvertretend für weitere wichtige Punkte, die wir inunserem Antrag formuliert haben, bei denen wir im Bun-desberggesetz dringenden Handlungsbedarf sehen:

Erstens fordern wir, dass die durch das Bergrecht ge-deckte und leider nach wie vor häufig übliche Hinter-zimmerpolitik durch ein öffentliches „Transparenzge-bot“ ersetzt wird. Die verfahrensführenden Behördenmüssen dazu verpflichtet werden, die Öffentlichkeit früh,bürgernah und umfassend zu informieren.

Zweitens muss die Durchführung einer UVP als we-sentlicher Bestandteil des Planfeststellungsverfahrensals ökologisches Bewertungsinstrument mit Frühwarn-funktion gestärkt werden. Gegenwärtig wird eine UVP

Zu Protokoll gegebene Reden

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18654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Oliver Krischer

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nur in Ausnahmefällen bei bergrechtlichen Vorhabendurchgeführt; dabei handelt es sich bei nahezu allenBergbauprojekten um ganz massive Eingriffe in Umweltund Natur, bei denen ökologische Folgeschäden nahezuunvermeidlich sind. So muss nach aktuell geltendemRecht zum Beispiel bei der Förderung von unkonventio-nellem Erdgas keine UVP durchgeführt werden, obwohldabei erhebliche Umweltschäden auftreten können, wieman vor allem in den USA beobachten kann. Die Verord-nung über die Umweltverträglichkeitsprüfung bergbau-licher Vorhaben muss daher dringend geändert werden.

Drittens möchte ich auf die nach unserer Auffassungdringend gebotene Beweislastumkehr hinweisen. Aktuellstehen Betroffene von Bergschäden vor der häufigschwierigen und für Privatpersonen sehr kostspieligenAufgabe, nachweisen zu müssen, dass es sich bei Schä-den an ihren Immobilien um Bergschäden handelt. Ent-scheiden sich Bergbaubetroffene, zu klagen, droht Ihnenvor Gericht eine ungleiche Auseinandersetzung mit ei-nem Großkonzern. Wir Grünen fordern, dass im gesam-ten potenziellen Einwirkungsbereich bergbaulicher Tä-tigkeiten bei typischen Schadensmerkmalen von Berg-schäden auszugehen ist. Im Zweifel muss der Bergbau-treibende nachweisen, dass es sich nicht um einen Berg-schaden handelt.

Die sind nur drei exemplarische Punkte, bei denenwir dringenden Handlungsbedarf im deutschen Berg-recht sehen. Wir möchten mit unserem Antrag eine De-batte über eine Reform des deutschen Bergrechts ansto-ßen, da wir der festen Überzeugung sind, dass es geradeauch angesichts der Herausforderungen der kommen-den Jahre dringend einer Anpassung an die Verhältnissedes 21. Jahrhunderts bedarf. Wir freuen uns daher aufdie Beratungen in den Ausschüssen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/8133 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten CorneliaBehm, Friedrich Ostendorff, Markus Tressel,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Regionale Produktions-, Verarbeitungs- undVermarktungsstrukturen stärken

– Drucksache 17/7249 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss

Die zu diesem Punkt zu Protokoll gegebenen Redenstammen von Marlene Mortler, CDU/CSU, Willi Brase,SPD, Rainer Erdel, FDP, Alexander Süßmair, Die Linke,Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.

Marlene Mortler (CDU/CSU): Regionale Produktions-, Verarbeitungs- und Ver-

marktungsstrukturen im Agrar- und Ernährungssektorsind wichtig und richtig für die wirtschaftliche Entwick-lung des ländlichen Raums. Die Stärkung des ländlichenRaums ist ein zentrales Anliegen christsozialer Politik.Das haben wir in Bayern erfolgreich über viele Jahr-zehnte unter Beweis gestellt. Die Grünen mit ihrer land-wirtschaftsfeindlichen Politik tragen zum Aufschwungdes ländlichen Raums nichts bei.

Diskutieren wir über ländliche Räume als Heimat mitZukunft: Auf dem Land sind Leistungsbereitschaft undEigenverantwortung besonders gefragt. Die Menschensind dazu bereit. Ländliche Räume dürfen aber nicht nurschöne Lebensräume sein, nicht nur bloße Schlafstätten.Nein, die Menschen auf dem Land müssen konkrete wirt-schaftliche Perspektiven haben. Viele junge Menschenfragen sich, was ihnen die hohe Lebensqualität im länd-lichen Raum nützt, wenn es keine Ausbildungs- und Ar-beitsplätze gibt. Ich sage darauf: Nur mit einem hohenMaß an regionaler Wertschöpfung sind wir in der Lage,das Leben im ländlichen Raum attraktiv zu gestalten –wie bei uns in Bayern.

In Bayern spiegelt sich die Schönheit und Vielfalt derLebensräume in einer Vielzahl regionaler Spezialitätenund Vermarktungsinitiativen wider, die die Wertschöp-fung innerhalb einer Region vergrößern und damit diewirtschaftliche Entwicklung stärken. Beispiele sind dasvon der Natur begünstigte Weinland Unterfranken, Mit-tel- und Oberfranken mit ihren berühmten Bratwürstenund Bieren, oder der Alpenraum mit typischen Produk-ten wie Käse, Milch und Rindfleisch.

Regionale Initiativen und Projekte haben sich zumZiel gesetzt, die Wertschätzung des Verbrauchers für re-gionale Produkte und Dienstleistungen zu verbessern.Regionale Wertschöpfung heißt für mich: Die Wachs-tumspotenziale der heimischen Region entdecken. Dieregionalen Ressourcen nachhaltig nutzen. Die eigeneRegion als Marke verkaufen. Auf regionale Produkteund Leistungen setzen. Landwirtschaftliche und nichtlandwirtschaftliche Beschäftigung im ländlichen Raumstärken.

Wertschöpfung hat auch immer etwas mit Besinnungauf die eigenen Stärken zu tun. Die Stärken können da-bei sowohl im eigenen Betrieb als auch in der Heimatre-gion liegen. Es gilt, so viel Wertschöpfung wie möglichin der Region zu halten. Hier spielen natürlich dieMarktentwicklung und Nachfragetrends eine entschei-dende Rolle. Ebenso wichtig sind die Fähigkeiten derErzeuger, sich auf diese Entwicklungen einzustellen.

Artgerechte Tierhaltung und Direktvermarktung dereigenen Produkte sind heute spürbare Wettbewerbsvor-teile. Zusammen können Landwirte ihre Marktmachtbündeln und so den Absatz ihrer Qualitätsprodukte för-dern. Besonders für kleine Betriebe sind innovativeNetzwerke wichtig.

Auch die Verbraucher entdecken verstärkt den Wertregionaler Erzeugnisse. Sie sind bereit, für regionaleQualitätsprodukte einen höheren Preis zu zahlen. Zwei

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Marlene Mortler

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Drittel der Verbraucher achten heute schon auf die re-gionale Herkunft ihrer Lebensmittel; das hat eine Um-frage im Auftrag des Bundeslandwirtschaftsministe-riums ergeben.

Wichtig ist dabei: Wo regional draufsteht, muss auchregional drin sein. Hier muss die Politik klare Spielre-geln vorgeben. Aus Brüssel kommen positive Signale.Die Regelungen zum Geoschutz und zu traditionellenSpezialitäten werden in einem einzigen Rechtsakt ge-bündelt. Das heißt: Klare Erkennbarkeit für den Ver-braucher. Das heißt: Klarheit für Produzenten und Ver-markter. Und das ist ein großer Fortschritt. Denn geradeder Geoschutz ist als Instrument für die Vermarktung re-gionaler Produkte sehr interessant.

Auch in Deutschland können wir für die Vermarktungregionaler Produkte neue Impulse setzen. In diesem Zu-sammenhang fallen oft Begriffe wie „Regionalmarke“oder „Regionalsiegel“. Wie diese auszugestalten sind,wird kontrovers diskutiert.

Zum einen kann ein Regionalsiegel als Dachsiegel fürbereits bestehende oder geplante Siegel entwickelt wer-den. Neben allen Vorzügen eines solchen Siegels bestehtjedoch immer die Gefahr, dass bestehende Regionalsie-gel ihre Bezugskraft verlieren können. Denn Regionali-tät ist stark mit Emotionen verbunden, und weniger ra-tional überprüfbar. Das Regionsverständnis ist auchabhängig von der Region: So identifiziert sich ein Bayerzum Beispiel sehr mit Bayern, ein Nordrhein-Westfaleaber eher mit dem Rheinland, mit Westfalen oder abermit seiner Stadt, zum Beispiel mit Köln oder Düsseldorf.

Zum anderen könnte versucht werden, ein Konformi-tätszeichen für Regionalität zu entwickeln. Das heißt,ein Instrument zu entwickeln, um bestehende oder ge-plante Regionalitätsprojekte zu zertifizieren, ähnlich ei-ner ISO-Norm.

Zusätzlich muss geklärt werden, wo welche Verarbei-tungsschritte stattfinden. Die Leute wollen nicht wissen,wo ein Stück Fleisch verpackt wurde, sondern wo dasTier aufgewachsen ist. Und vielleicht auch, wie es gefüt-tert wurde.

Ein solches Regionalsiegel kann einen wesentlichenBeitrag zu regionaler Wertschöpfung leisten.

Ich sage aber auch ganz deutlich: Neben regionalenVermarktungsstrukturen sind nationale und internatio-nale Produktions- und Vermarktungsstrukturen uner-lässlich für eine ressourcenschonende, nachhaltige undproduktive Landwirtschaft. Wir brauchen sie mit Blickauf die wachsende Weltbevölkerung. Die Welternäh-rungsorganisation FAO in Rom hat den Begriff „Nach-haltige Intensivierung“ geprägt und versteht hierunterWege der landwirtschaftlichen Produktion, Verarbeitungund Vermarktung, die den Herausforderungen des neuenJahrhunderts gerecht werden. Die Welternährungsorga-nisation sieht beide Wege, Globalisierung und Regiona-lisierung, als notwendig an, die bestehenden Problemeim Zusammenhang mit Ernährungsfragen auf unseremGlobus zu lösen.

Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung, OECD, in Paris betont dieNotwendigkeit, Globalisierung und Regionalisierungnicht gegeneinander auszuspielen. In ihrem Ausblick fürdie Jahre 2011 bis 2020 sieht die OECD die Produk-tionskosten der Landwirtschaft steigen und das Produk-tivitätswachstum sich verlangsamen. Dies ist fatal fürdie Welternährungssituation vor dem Hintergrund einerwachsenden Menschheit und eines steigenden Energie-bedarfs.

Die Herausforderungen für die Politik sieht dieOECD in folgenden Punkten: in der Unterstützung vonProduktivitätswachstum, in der Verringerung von Ver-schwendung, in der Unterstützung lokaler Märkte undzuletzt in der Öffnung der Märkte für Agrargüter, also inder weiteren Liberalisierung des internationalen Agrar-handelssystems.

Ich komme nun zum Schluss meiner Ausführungen.Mein Fazit: Es lohnt sich, sich neben klassischen Pro-duktions-, Verarbeitungs- und Vermarktungswegen überRegionalität und regionale Herkunftszeichen Gedankenzu machen. Regionale Initiativen und Projekte arbeitenerfolgreich daran, die Wertschätzung des Verbrauchersfür regionale Produkte und Dienstleistungen zu erhöhen.Die europäischen Regelungen zum Geoschutz und zutraditionellen Spezialitäten wirken regional identitäts-stiftend. Die Einrichtung eines Regionalsiegels ist gene-rell wünschenswert, da damit eine erhöhte Wertschöp-fung für die Landwirtschaft wie auch für eine ganzeRegion generiert werden kann.

Ich bin überzeugt: Mit mehr Regionalität können wirdie ländlichen Räume zukunftsfähig machen, wenn wirdie Leistungsbereitschaft der dort lebenden Menschenund das Wertschöpfungspotenzial vor Ort sinnvoll mit-einander verbinden.

Willi Brase (SPD): Die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist

das sozialdemokratische Leitbild zur Entwicklung länd-licher Räume. Dazu gehört eine gesicherte Daseinsvor-sorge unter anderem in den Bereichen Bildung und so-ziale Infrastruktur sowie Gesundheit. Dazu gehört derErhalt der Mobilität der Menschen vor Ort und die Si-cherung von Arbeitsplätzen genauso wie der Zugang zuöffentlichen und privaten Dienstleistungen. Und selbst-verständlich muss die Grundversorgung der Menschenmit den Dingen des täglichen Bedarfs gewährleistetsein.

Es wird deutlich: Zur zukunftssichernden Entwick-lung ländlicher Räume ist ein Gesamtansatz unabding-bar, und das besonders mit Blick auf die demografischeEntwicklung. Wir wissen, dass es bis 2020 in einigenLandkreisen einen Bevölkerungsrückgang von über20 Prozent geben wird. Besonders die ostdeutschenBundesländer sind bereits massiv davon betroffen, dassjunge Menschen aus ihren Regionen abwandern, die Be-völkerung immer älter wird – obwohl wir selbstver-ständlich jedem Menschen ein langes und gesundes Le-ben wünschen – und die Kinderzahl pro Frau sinkt.

Zu Protokoll gegebene Reden

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18656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Willi Brase

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Einen Schwerpunkt legen wir dabei auf die Stärkungder Kommunen. Für die vielfältigen Herausforderungenim ländlichen Raum gibt es keine Patentlösung. Im Ge-genteil: Ideen und Potenziale müssen sich vor Ort ent-falten können. Starke Kommunen sind der Schlüssel füreigenständiges und ortsspezifisches Handeln. Ihren Auf-gaben entsprechend benötigen sie eine ausreichende fi-nanzielle Ausstattung.

Für die wirtschaftliche Stabilisierung der Kommunenist die Vermarktung regionaler Produkte ein richtigerSchritt. Allerdings müssen Lebensmittel mit Regional-siegel auch tatsächlich aus regionalen Rohstoffen beste-hen. Die Zeitschrift Ökotest hat jüngst eine Palette vonLebensmitteln dahin gehend untersucht und Folgendesfestgestellt: Von 53 Lebensmitteln stammten tatsächlichnur 14 aus der jeweiligen Region. So werden die Ver-braucherinnen und Verbraucher aufs Glatteis geführtund der Region wird geschadet.

Offensichtlich müssen Mindeststandards entwickeltwerden, nach denen Lebensmittel als regional bezeich-net werden können. Die Länder Baden-Württemberg undRheinland-Pfalz haben dazu in einem Diskussionspapiererste Leitlinien entworfen. Danach müssten Lebensmit-tel wie Obst oder Fleisch hundertprozentig aus der Re-gion kommen, wenn sie ein Siegel für ein regionales Pro-dukt tragen. In einem nächsten logischen Schritt müssendann natürlich die regionalen Verarbeitungs- und Ver-marktungsstrukturen gefördert werden – hier liegt derAntrag völlig richtig. Das hatten wir bereits unter derrot-grünen Regierung auf den Weg gebracht. Hier solltedie Bundesregierung tätig werden.

Die ökologische Land- und Lebensmittelwirtschafterbringt nicht nur gesellschaftlich gewünschte Leistun-gen wie Klima-, Arten- und Bodenschutz, sondern sieleistet einen hohen Beitrag zur regionalen Wertschöp-fung. Mittlerweile sind in der deutschen Biobrancheknapp 180 000 Menschen vor allem in ländlichen Regio-nen beschäftigt. Die Nachfrage ist größer als das deut-sche Angebot an Waren. Deshalb ist die Förderung derUmstellung auf ökologische Landwirtschaft von beson-derer Bedeutung. Die Konkurrenz um die Flächen zurErzeugung erneuerbarer Energien macht es den Ökobe-trieben nicht leichter, zu wachsen. Die Anbauflächendürfen nicht zum Spekulationsobjekt von Investorenwerden, die lediglich die eigene Rendite vor Augen ha-ben. Zum Beispiel ist in Brandenburg ein Anstieg derBodenpreise zu verzeichnen. Das hat zur Folge, dassBauern mit kleineren Höfen, die gerne ihre Ertragsflä-chen vergrößern wollen, in Bieterverfahren nicht zumZuge kommen.

Die Umstellungsphase, bis ökologische Produkteauch als solche vermarktet werden können, ist für mancheinen Umstellungsinteressierten eine zusätzliche Hürde.Deshalb ist es so wichtig, dass eine verlässliche Finan-zierung von Extensivierungs-, Umstellungs- und Beibe-haltungsprämien über Agrarumweltprogramme sicher-gestellt wird.

Rainer Erdel (FDP): Ich freue mich, dass das wichtige Thema Regional-

produkte heute auf der Tagesordnung steht. Hier gibt esin der Tat Handlungsbedarf. Das sehen wir auch alsKoalition so.

Regionale Produkte schonen die Umwelt, weil bei-spielsweise die Transportwege kürzer sind, und schaffeneine Verbindung zwischen den Konsumenten und denHerstellern von Produkten. Laut einer aktuellen Studiekaufen 81 Prozent der Menschen regelmäßig oder zu-mindest gelegentlich Regionalprodukte. Zum Vergleich:Bei Bioprodukten sind es nur 45 Prozent. Immerhin für48 Prozent der Verbraucher ist die Frage nach der Re-gionalität beim Einkauf von erheblicher Bedeutung.Wenn sich aber gleichzeitig nur knapp ein Fünftel überden Regionalbezug ausreichend informiert fühlen, danngibt es Handlungsbedarf. Die Koalition wird daher fürmehr Transparenz sorgen. Ziel muss es sein, dass dermündige Verbraucher zuverlässig und schnell erkennenkann, ob ein Produkt regional ist oder nicht.

Leider machen sich die Grünen ausgerechnet beimkniffligen Thema: „Wie definieren wir eigentlich genauein Regionalprodukt, und wie genau kennzeichnen wires?“, einen ziemlich schlanken Fuß. Dabei muss genaudiese Frage am Anfang jeder Strategie zu Regionalpro-dukten stehen.

Wann genau ist ein Produkt regional? In meiner Hei-mat Franken gab es vor kurzem eine Kontroverse, obNürnberger Bratwürste, in denen norddeutsches Fleischsteckt, eigentlich noch ein echtes Regionalprodukt sind.Ich denke, ja, das sind sie. Der spezielle Geschmack derNürnberger Rostbratwürste kommt durch die besondereRezeptur und Produktionsweise. Geschmacklich machtes keinen Unterschied, ob „Nürnberger“ nun Fleischaus Franken oder aus Niedersachsen enthalten. Abernatürlich spielt es für die Verbraucher schon auch eineRolle, wo das Fleisch herkommt. Idealerweise kann derVerbraucher also leicht unterscheiden, welche Nürnber-ger nicht nur nach traditioneller Rezeptur hergestelltwurden, sondern zudem auch noch überwiegend odergar ausschließlich Zutaten aus der Region enthalten.Dieses Beispiel macht auch klar, dass der Verbraucherwissen muss, ob nun die Rohstoffe, die Verarbeitungoder beides einen regionalen Bezug aufweist. Wie immerbei der Auszeichnung von Lebensmitteln geht es darum,den richtigen Mittelweg zwischen hohem Informations-gehalt bei guter Verständlichkeit zu finden. Zu viel Infor-mation, die niemand mehr liest, hilft auch nichts.

Selbstverständlich muss dabei auch klar sein, umwelche Region es geht. Ein Siegel à la „Gutes aus derRegion“, welches dann deutschlandweit vertriebenwird, ist meines Erachtens nicht sinnvoll. Ich begrüßedaher das Konzept von Ministerin Aigner, das sie ges-tern auf der Grünen Woche erläutert hat, sehr. Wir alsKoalition wollen ein abgestuftes Siegel mit einem bun-desweit einheitlichen Rahmen. Dabei muss auf den ers-ten Blick erkennbar sein, ob die Zutaten zu einem Pro-dukt aus der Region kommen, ob die Verarbeitungregional war oder ob es zumindest nach regionaler Re-zeptur hergestellt wurde. Innerhalb dieses einheitlichen

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18657

Rainer Erdel

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Rahmens könnten meiner Meinung nach dann auch be-stehende Regionalsiegel in ein einheitliches Rahmende-sign eingebettet werden.

Die genaue Ausgestaltung wird durch das For-schungsinstitut für biologischen Landbau unter Einbin-dung der Vertreter des Ökosiegels und des bereits beste-henden Regionalsiegels erarbeitet werden. Dererhebliche Sachverstand der bestehenden Regionalbe-wegungen ist dabei unbedingt einzubeziehen. Zu klärensind dabei allerlei Detailfragen. Dass beispielsweise einOrangensaft aus Konzentrat, der im Wesentlichen ausfränkischem Wasser besteht, deswegen noch lange keinfränkisches Regionalprodukt ist, dürfte zwar intuitiv ein-sichtig sein – aber hier allgemein gültige, praktikableund für den Verbraucher nachvollziehbare Abgrenzun-gen zu finden, dürfte nicht immer einfach werden.

Der Antrag der Grünen macht leider den zweitenSchritt vor dem ersten. Statt klar zu definieren was „re-gional“ eigentlich ist, soll an allen möglichen StellenGeld ausgeschüttet werden, um Produktion und Ver-marktung der Regionalprodukte staatlich zu subventio-nieren. Auch die Art und Weise, wie hier Gelder mit derGießkanne über das Land verteilt werden sollen, istschon mehr als eigenwillig. So sollen laut dem Antragnicht nur Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe zur Ver-besserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzesumgewidmet werden, sondern es soll zusätzlich ein Bun-desprogramm „Regionalvermarktung“ geschaffen wer-den, und neben dem Aufbau von Vermarktungssystemensollen auch noch Dorfläden gefördert werden. MehrereFörderprogramme parallel aufzulegen, hat nichts mittransparenter und effizienter Haushaltspolitik zu tun.

Schließlich werden in dem Antrag die Förderung vonÖkobetrieben und Regionalprodukten vermischt. Warumin einem Antrag, der Regionalprodukte fördern will,eine Mindestförderquote für Ökobetriebe bei den GAK-Mitteln festgeschrieben werden soll, erschließt sich mirnicht. Die GAK-Mittel sind kein Förderinstrument fürdie ökologische Landwirtschaft – und das ist auch gutso.

Wir als Liberale werden gemeinsam mit unserem Ko-alitionspartner die Rahmenbedingungen für Regional-produkte verbessern. Wir setzen dabei dort an, wo es nö-tig ist: bei der Kennzeichnung.

Alexander Süßmair (DIE LINKE): Das Thema regionale Wertschöpfung, das Bünd-

nis 90/Die Grünen mit dem Antrag aufrufen, ist wichtig,und viele Aspekte, die im Antrag enthalten sind, habeneine breite politische Mehrheit. Natürlich fordert auchdie Linke eine Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufeals Beitrag gegen die Landflucht, das soziale Ausblutenländlicher Regionen, für Klimaschutz und Ressourcen-schonung.

Schade nur, dass der erste Satz im Antrag gleich mitdem Begriff „Green New Deal“ anfängt und damit sogetan wird, als ob die Stärkung regionaler Wertschöp-fung allein eine Sache der Grünen wäre. Zudem klingtder Begriff für mich nach neoliberaler Ideologie im grü-

nen Gewand. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wennman weiterliest, dass

der Aufbau regionaler Wirtschaftskreisläufe Men-schen die Chance gibt, mit ihrem Engagement undKonsumverhalten Verantwortung für ihre Gemeindeund ihre Region zu übernehmen. Das schafft neuesSelbstbewusstsein vor Ort und ist fruchtbarer Bo-den für unternehmerische Tätigkeit und ein ver-stärktes Bürgerengagement.

Ihr Motto lautet also: Läuft die „regionale“ Wirt-schaft, sind alle Probleme gelöst, weil das neue Selbst-bewusstsein Unternehmertum und verstärktes Bürger-engagement auslöst. Das ist im Kern neoliberalesGedankengut, und auch in den Forderungen kommtdann ein Programm der direkten und indirekten Wirt-schaftsförderung heraus. Aber genau diese Ideologie istweltweit grandios gescheitert und hat zum Niedergangder ländlichen Räume maßgeblich beigetragen.

Breiten Raum nimmt die Vorbildfunktion des öffentli-chen Beschaffungswesens ein und der Ausbau von För-derprogrammen zum Bundesprogramm „Regionalver-marktung“ oder im Rahmen der Programmgestaltungder Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrar-struktur und des Küstenschutzes“.

Das sind alles, auch aus Sicht der Linken, richtigeForderungen, die wir auch unterstützen können. Abertrotzdem bleibt der Antrag unter den Möglichkeiten, dieim Zusammenhang mit einer Politik zur Stärkung ländli-cher Räume notwendig sind. Dazu an dieser Stelle vierAspekte:

Erstens. Es fehlt eine gezielte frauen- bzw. geschlech-terspezifische Förderung. Eines der Hauptprobleme ge-rade in strukturschwachen ländlichen Regionen istAbwanderung von Frauen. Eine Politik, die gegenzu-steuern versucht, muss daher eine verstärkte Förderungvon Frauen gerade im Bereich regionaler Wertschöp-fung und Vermarktung vorsehen. Es mag zwar sein, dasssich in gewissem Maß von selber positive Effekte fürFrauen ergeben, aber das ist nicht zwangsläufig.

Zweitens. Nur an der direkten und indirekten Wirt-schaftsförderung anzusetzen, reicht nicht aus. Wenn wiebisher die Infrastruktur im Verkehr, bei Bildung, Ge-sundheit und im Sozialbereich in vielen ländlichenKommunen zusammenbricht, sind die Standorte fürProduktion, Verarbeitung und Vermarktung schon vonvorneherein chancenlos. Eine direkte und indirekte Wirt-schaftsförderung allein hilft nicht. Es ist aus unsererSicht erforderlich, die regionale Wirtschaftsförderung inein umfassendes Programm für ländliche Räume einzu-betten. Aber auch eine generelle Verbesserung der fi-nanziellen Situation der Kommunen ist erforderlich, da-mit diese wieder selbst handlungsfähig werden. Einsolches Programm muss zwingend die Entwicklung vonInfrastruktur und der öffentlichen Daseinsvorsorge mit-berücksichtigen.

Drittens. Über die Wirtschaftsförderung hinaus mussaus Sicht der Linken darüber nachgedacht werden, wieökologisches und soziales Verhalten in der Wirtschaftbelohnt wird. So gehört unsere Forderung nach einem

Zu Protokoll gegebene Reden

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18658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

Alexander Süßmair

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flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn mit dazu.Nur so kann das Einkommensgefälle zwischen Städtenund ländlichen Regionen wirksam verringert werden.Und die Frage der Einkommensmöglichkeiten ist für diemeisten Menschen bei der Wahl ihres Wohn- und Le-bensortes eine entscheidende.

Viertens. Die Einkommen aus regionaler Wertschöp-fung müssen gerecht verteilt werden. So zeigt zum Bei-spiel die Entwicklung der regenerativen Energien, vorallem Windkraft und Photovoltaik, dass zwar regionalproduziert wird, die Wertschöpfung aber aus den Kom-munen bzw. Dörfern abfließt. Hier ist einiges an Fehl-entwicklungen zu korrigieren. Und im Agrarbereichdürfen sich diese Fehler nicht wiederholen, sonst istnichts gewonnen. Was bringt denn ein Regionalsiegel,wenn es zuletzt nur noch über die üblichen Discountervermarktet wird? Und es gibt bereits eine Entwicklungin diese Richtung.

Abschließend möchte ich feststellen: der Antrag derGrünen hat zwar ein richtiges und wichtiges Thema auf-genommen und spricht auch vieles an. Er bleibt aber invielen Aspekten hinter dem zurück, was dringend zurStärkung der ländlichen Räume notwendig wäre. DieLinke wird in den nun folgenden Beratungen diesePunkte deutlich machen und mit allen Kolleginnen undKollegen diskutieren.

Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Landauf, landab wird beklagt, dass sich die ländli-

chen Räume entleeren. Mangels wirksamer Gegenstra-tegien werden Infrastruktur, Gesundheitsversorgung undMobilitätsangebote an die abnehmende Bevölkerungangepasst und damit Arbeitsplätze und Lebensqualitätweiter abgebaut und die Landflucht beschleunigt. Wäh-rend Teile der Politik angesichts dessen in scheinbareSchockstarre verfallen sind, andere Analysen und Stu-dien beauftragen und wieder andere Heimatpakete andie Wegzügler senden, haben sich einige Heimattreuelängst auf den Weg gemacht. Sie haben überlegt, wie sieihre Heimat besser in Wert setzen können, damit Arbeits-plätze erhalten oder geschaffen werden und die Men-schen in der Region bleiben.

Zwar hat die Landwirtschaft in ihrer Bedeutung alsRückgrat ländlicher Räume abgenommen, doch kommtihr nach wie vor eine große Verantwortung bei der Nut-zung der Agrarflächen zu. Dieser Verantwortung habensich Bauern in verschiedenen Regionen gestellt. Sie ha-ben gemeinsam mit anderen Wirtschaftsbeteiligten wieVerarbeitern, Vermarktern, Touristikern, Gastronomieund Hotellerie und mit gesellschaftlichen Gruppen, zumBeispiel Naturschützern, in einer regionalen Initiativeeinen Kodex erstellt, nach dem sie produzieren und ihreProdukte an die Kundschaft bringen wollen. Ein Kern-stück dieses Kodex ist, dass in der Region für die Regionproduziert wird, wobei als Absatzmarkt natürlich immerauch die nächstgelegene Metropole zu sehen ist. So sinddann die verschiedenen Regionalmarken entstanden wieEIFEL, SooNahe oder Rhön, um nur einige zu nennen.

Obst und Gemüse, Fleisch und Gewürze aus bäuerli-chen Agrarbetrieben, als Frischware angeboten oder

verarbeitet in handwerklichen Betrieben, sind begehrtbeim Verbraucher und haben es dennoch schwer imWettbewerb mit Produkten aus der industriellen Land-und Ernährungswirtschaft. Das liegt vor allem am Preis.Viele Städter sind aber sogar bereit, etwas mehr für ihreErnährung zu zahlen, wenn sie wissen, woher die Er-zeugnisse kommen, und wenn sie die Möglichkeit haben,dem Bauern, Bäcker oder Fleischer einmal über dieSchulter zu gucken. Aber natürlich spielt auch dasRegionaltypische eine Rolle: die altbekannten Obst- undGemüsesorten und die traditionellen Rezepturen.

Aber im Supermarkt stehen Cornflakes neben Hafer-flocken, es stehen Essiggurken neben Senfgurken, undSchinken liegt neben Serrano. Das Angebot ist kaum zuüberschauen, und so bedarf es einiger Entscheidungs-hilfen für Verbraucher.

Die Regionalmarken, erkennbar an ihrem regional-spezifischen Siegel, sind eine gute Hilfe. Dass sie Wir-kung entfalten, haben große Erzeuger und Lebensmittel-ketten schnell erkannt. Inzwischen sind die Siegel wiePilze aus dem Boden geschossen. Was einst als Orientie-rung der Verbraucher entstand und die Wertschöpfungin ländlichen Regionen verbessern sollte, trägt heuteoftmals zur Verwirrung bei. Deshalb bedarf es bei diesenvielen Siegeln, die auf Lebensmittelverpackungen zu fin-den sind, einer Überprüfung, ob drin ist, was draußenversprochen wird.

Bei Bio ist das klar. Deshalb genießt Bio auch dasVertrauen der Verbraucher und hat jährliche Zuwachs-raten im zweistelligen Bereich.

Bei den Regionalmarken hat sich jedoch Spreu unterden Weizen gemischt. Deshalb bedarf es eines bundes-weit einheitlichen und überprüfbaren Kriterien- undKontrollsystems zur Bewertung von Regionalsiegeln.Das von der Ministerin geplante Regionalfenster auf derLebensmittelverpackung ist da keine Hilfe.

Nicht zum Selbstzweck hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eine Arbeitsgruppe Ländliche Entwicklungeingerichtet, zahlreiche Fachgespräche und Kongresseorganisiert und Einzelgespräche vor Ort geführt. Zielwar und ist es, Perspektiven für ländliche Regionen aus-zuloten und die politischen Rahmenbedingungen fürmehr Wertschöpfung auf dem Lande zu schaffen. In un-serem Antrag machen wir einige grundsätzliche undauch ganz konkrete Vorschläge dazu.

Es bleibt abzuwarten, ob die Koalition bereit ist,durch diese Maßnahmen den bäuerlichen Betrieben undhandwerklichen Verarbeitern in den Regionen bessereBedingungen zu verschaffen. Wenn es ihr ernst ist mitder Entwicklung der ländlichen Regionen, dann solltesie nicht länger zögern.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/7249 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-schlossen.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18659

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

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Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 27. Januar 2012, ein.Morgen findet um 9 Uhr hier im Plenarsaal die Gedenk-veranstaltung des Deutschen Bundestages für die Opfer

des Nationalsozialismus statt. Aus diesem Grund be-ginnt die Plenarsitzung erst um 10.30 Uhr.

Die Sitzung ist geschlossen. Vielen Dank.

(Schluss: 22.26 Uhr)

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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012 18661

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Anlagen zum Stenografischen Bericht

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

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Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Bär, Dorothee CDU/CSU 26.01.2012

Beck (Bremen), Marieluise

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

26.01.2012*

Bellmann, Veronika CDU/CSU 26.01.2012

Birkwald, Matthias W. DIE LINKE 26.01.2012

Dağdelen, Sevim DIE LINKE 26.01.2012

Dreibus, Werner DIE LINKE 26.01.2012

Fischer (Göttingen), Hartwig

CDU/CSU 26.01.2012

Fischer (Karlsruhe-Land), Axel E.

CDU/CSU 26.01.2012*

Friedhoff, Paul K. FDP 26.01.2012

Dr. Friedrich (Hof), Hans-Peter

CDU/CSU 26.01.2012

Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

26.01.2012

Hübinger, Anette CDU/CSU 26.01.2012*

Kipping, Katja DIE LINKE 26.01.2012

Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 26.01.2012

Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

26.01.2012

Künast, Renate BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

26.01.2012

Lanfermann, Heinz FDP 26.01.2012

Lühmann, Kirsten SPD 26.01.2012

Luksic, Oliver FDP 26.01.2012

Nešković, Wolfgang DIE LINKE 26.01.2012

Poland, Christoph CDU/CSU 26.01.2012

Poß, Joachim SPD 26.01.2012

Roth (Augsburg), Claudia

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

26.01.2012

* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-sammlung des Europarates

Anlage 2

Erklärungen nach § 31 GO

zur namentlichen Abstimmung über die Be-schlussempfehlung und den Bericht zu dem An-trag: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneterdeutscher Streitkräfte an dem Einsatz der In-ternationalen Sicherheitsunterstützungstruppein Afghanistan (International Security Assis-tance Force, ISAF) unter Führung der NATOauf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001)und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution2011 (2011) vom 12. Oktober 2011 des Sicher-heitsrates der Vereinten Nationen (Tagesord-nungspunkt 7)

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Mit dem Engagement der internationalenGemeinschaft haben wir eine Schutzverantwortung fürdie Menschen in Afghanistan übernommen. Wir sindweiter verpflichtet, sie nicht alleine zu lassen. Zustim-mung bedeutet für uns auch, Mitverantwortung zu über-nehmen für den schwierigen, teilweise lebensgefährli-chen Einsatz der Soldatinnen und Soldaten sowie derzivilen Aufbauhelferinnen und Aufbauhelfer.

Ein sofortiger militärischer Abzug würde die Men-schen in Afghanistan in einem zu befürchtenden Bürger-krieg alleine zurücklassen und die gesamte Region de-stabilisieren. Dies machen immer wieder Expertinnenund Experten sowie Vertreterinnen und Vertreter der Zi-vilgesellschaft aus Afghanistan deutlich, die eindringlichvor einem überstürzten Abzug der internationalen Trup-pen warnen.

Ein einseitiger Abzug der Bundeswehr wäre gleich-zeitig der Ausstieg aus einer verantwortlichen multilate-

Roth (Esslingen), Karin SPD 26.01.2012*

Rupprecht (Tuchen-bach), Marlene

SPD 26.01.2012*

Storjohann, Gero CDU/CSU 26.01.2012

Weinberg, Harald DIE LINKE 26.01.2012

Werner, Katrin DIE LINKE 26.01.2012*

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Anlagen

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ralen Politik. Das weitere Vorgehen in Afghanistan mussinnerhalb der internationalen Gemeinschaft abgestimmtwerden. Es darf keinen deutschen Sonderweg beim Ab-schluss des militärischen Engagements geben.

Deshalb stimme ich dem Mandat zur Verlängerungdes Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr bis zum31. Januar 2013 zu.

Karin Binder (DIE LINKE): Ich lehne die Fortset-zung des ISAF-Mandats im Wesentlichen aus folgendenGründen ab:

Während in Afghanistan der Mohnanbau unter denAugen der internationalen Streitkräfte immer weiter aus-gebaut wird, wird der Getreideanbau zurückgedrängt.Die Getreideernte reicht bei weitem nicht aus, um dieBevölkerung mit dem Nötigsten zu versorgen. Von 2010auf 2011 erhöhte sich deshalb der Bedarf an Getreideim-porten um 600 000 Tonnen, von 1,1 Millionen Tonnenauf ungefähr 1,7 Millionen Tonnen. Das Überleben von3 Millionen Menschen hängt von ausländischen Hilfslie-ferungen ab. Laut Oxfam ist ein Drittel der afghanischenKinder unterernährt.

Die afghanische Gesellschaft verfällt zusehends. „DieZahl der Drogensüchtigen in Afghanistan nimmt weiterzu, und mit ihr die Ausbreitung von HIV und andererKrankheiten“, so die Bundesregierung in ihrem Fort-schrittsbericht.

2007 hatten lediglich 5 Prozent der Afghanen „Zu-gang zu gesundheitlich akzeptabler Sanitärversorgung“;innerhalb der letzten vier Jahre stieg der Anteil auf ganze7,5 Prozent, Zahlen der Bundesregierung, 2011!

Festzustellen ist: Nach zehn Jahren Krieg und Besat-zung in Afghanistan ist die soziale Situation der afghani-schen Bevölkerung katastrophal. Die durchschnittlicheLebenserwartung liegt bei 43 Jahren. In Bezug auf dieGesundheitsversorgung liegt Afghanistan beim HumanDevelopment Index an letzter Stelle. Darüber hinaussind noch immer die Hälfte der Männer und über 90 Pro-zent der Frauen Analphabeten. Kinder und Jugendlichebesuchen durchschnittlich 3,3 Jahre lang die Schule.Eine Verbesserung der Situation für die afghanische Be-völkerung ist während einer andauernden Besatzungnicht zu erwarten.

Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Vieles ist immernoch nicht gut in Afghanistan – trotz zehn Jahren ISAF-Mandat, trotz vieler Opfer, auch auf afghanischer Seite.Vor diesem Hintergrund fällt es schwer, einer weiterenVerlängerung des Mandates zuzustimmen. Es fällt auchdeswegen schwer, weil Krieg – und wir haben in Afgha-nistan Krieg – niemals normales politisches Mittel seindarf.

Die Bundesregierung hat zusammen mit den interna-tionalen Partnern Anfang 2010 eine neue Strategie be-schlossen. Ziel ist eine vollständige Übergabe der Si-cherheitsverantwortung an afghanische Kräfte im Jahr2014. Parallel dazu soll die Zahl der ausländischen Trup-pen massiv abgebaut werden. Es ist gut, dass man sichnun einig ist, dass der Afghanistan-Konflikt letztlich zi-

vil bzw. politisch gelöst werden muss. Diesen Paradig-menwechsel begrüße ich ausdrücklich. Er zeigt einenWeg auf, wie man dieses Engagement geordnet beendenund zumindest einiges von den Aufbauleistungen erhal-ten kann. Unter diesen Voraussetzungen und in Erwar-tung signifikanter Fortschritte habe ich bisher einerMandatsverlängerung zugestimmt.

Vor einem Jahr habe ich die Erwartung geäußert, dassdie Erfolge der neuen Strategie deutlicher sichtbar wer-den müssen. Das ist nur bedingt geschehen. Die Sicher-heitslage hat sich im vergangenen Jahr zwar leicht ver-bessert. Es gibt aber immer noch zu viele Gefechte mitzu vielen Opfern. Es wurden mehr Polizisten und Solda-ten ausgebildet, aber es muss sich noch herausstellen,wie nachhaltig deren Loyalität zu der afghanischen Ad-ministration sein wird. Die Übergabe der Sicherheitsver-antwortung geht nur langsam voran und ist an vielenStellen problematisch.

Ich denke trotzdem, dass es noch zu früh ist, den Er-folg der neuen Strategie abschließend zu bewerten. Da-her stimme ich trotz meiner kritischen Haltung zumISAF-Einsatz für eine Verlängerung des Mandates.

Mein Dank und mein Respekt gilt den Soldaten, Poli-zisten und Aufbauhelfern für ihren schwierigen Einsatz.

Christine Buchholz (DIE LINKE): Ich lehne denAntrag der Bundesregierung auf Verlängerung des Man-dates für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan ab.

Seit meinem Besuch in Kunduz im Januar 2010 gehenmir die Gesichter der Männer und Frauen nicht mehr ausdem Kopf, die ihre Ehemänner, Söhne und Neffen durchdas von einem deutschen Oberst befehligte Bombarde-ment verloren haben, genauso ihre Trauer, ihre Ohn-macht und ihre Wut, Wut auch gegenüber der deutschenRegierung, die sich gegenüber den Opfern aus der Ver-anstaltung stiehlt.

Ich sehe die hektischen Blicke der Soldaten vor mir,die angespannt und nervös, in Angst vor Anschlägen dieStrecke vom Feldlager in die Stadt Kunduz zurücklegen,ihren Argwohn und ihr Misstrauen gegenüber den einfa-chen afghanischen Männern, Frauen und Kindern amStraßenrand.

Weil die überwältigende Mehrheit in Deutschlandkeinen Sinn mehr in dem Krieg sieht, redet die Regie-rung von Abzug. Doch das heute abzustimmende Man-dat sieht für 2012 praktisch überhaupt keine Verände-rung vor. Es ist ein Mandat zur ungehemmtenFortsetzung des Krieges.

Selbst der angeblich endgültige Abzug in drei Jahrenist unsicher. Verteidigungsminister de Maiziére wird amletzten Montag in der Südwest-Presse auf die Frage nachdem Abzugsdatum 2014 mit den Worten zitiert: „Wennsich die Dinge grundlegend ändern, könnte eine neueLage entstehen … Natürlich ist die Strategie immer ab-hängig von den obwaltenden Umständen.“ Der Regie-rungssprecher redet von Abzug, doch der zuständigeMinister hält sich alle Türen offen.

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Solange die Bundeswehr und die NATO in Afghanis-tan sind, wird es Widerstand und Anschläge geben. Die-ser Widerstand und diese Anschläge werden dann alsneue Begründung für den Verbleib am Hindukusch he-rangezogen werden.

Dieser Teufelskreis muss jetzt unterbrochen werden.Der Abzug der Bundeswehr aus diesem sinnlosen Kriegmuss unverzüglich beginnen.

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Ich stimme ge-gen das Mandat, weil Krieg immer ein falscher Weg ist.Krieg tötet und verletzt. Er verletzt nicht nur körperlich,sondern auch psychisch.

Studien haben festgestellt, dass der Jugoslawien-Krieg beinahe die gesamte Bevölkerung traumatisiert hatund dass auch viele Menschen in anderen ehemaligenKriegsgebieten massiv an Traumata leiden. Dies wirdnoch Generationen nachwirken und wirkt sich auch aufdie jeweiligen Gesellschaften aus – mit allen fatalen Fol-gen.

Darüber wird nicht viel gesprochen, das Thema wirdmeist ausgeblendet. Aber diese Probleme müssen end-lich ins Licht gerückt werden. Aber vielleicht sehen Sie,meine Damen und Herren von der Koalition, das ange-sprochene Thema auch als Teil der sogenannten Kollate-ralschäden?

Ich stimme auch gegen den Einsatz, weil ich aus per-sönlicher Erfahrung weiß, dass etliche Soldatinnen undSoldaten hier in dieses Land mit psychischen Verletzun-gen und traumatisiert aus dem Auslandseinsatz zurück-kommen. Und offensichtlich wird für sie viel zu weniggetan. Nach einigen Behandlungen werden sie letztlichmit ihren Familien alleingelassen. Auch hier wird Ver-antwortung abgewälzt auf Menschen, die weder dieKriege verursacht haben noch davon profitieren. Effek-tive Hilfe fehlt, und das obwohl die Zahlen der Betroffe-nen von Jahr zu Jahr steigen. Zwischen Januar und Sep-tember 2011 wurden im Zusammenhang mit dem ISAF-Einsatz 587 Fälle Posttraumatischer Belastungsstörungbei Rückkehrerinnen und Rückkehrern bekannt. Und dasist nur die Spitze des Eisberges. Die Dunkelziffer dürftenoch um einiges höher liegen. Zahlen aus den USA be-sagen, dass bis zu 22 Prozent der Soldaten, die im Irakoder in Afghanistan eingesetzt waren, früher oder späteran einer PTBS erkrankten. Der Kriegseinsatz brutalisiertdie Menschen. Das zeigen die Gewaltexzesse des 2011in den USA verurteilten Kill Teams, das aus Spaß Jagdauf afghanische Zivilistinnen und Zivilisten machte, umsie zu ermorden und zu verstümmeln. Die Brutalisierungmacht auch vor den Bundeswehrsoldaten nicht Halt. Dieungewisse Verlängerung des Einsatzes und die Sinnlo-sigkeit des Krieges verschlimmern dies noch.

Ich stimme dagegen, weil es für mich keine Alterna-tive gibt, als Nein zu sagen.

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Es ist nicht nurnichts gut in Afghanistan – dort ist noch nicht einmaletwas besser!

Es gibt genau zwei Möglichkeiten, mittels derer sichjeder der hier abstimmenden Abgeordneten seinesVotums vergewissern und dieses vor sich selbst rechtfer-tigen kann: Da ist zum einen das Gewissen als mora-lische Instanz, von dem man nicht immer ganz klar undeindeutig sagen kann, seine Forderung sei richtig oderfalsch. Und zum anderen kann und muss sich jeder, derder heute zur Entscheidung anstehenden Verlängerungdes Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan zustim-men will, die Frage beantworten: Hat sich etwas verbes-sert in diesem Land, wurde der afghanischen Bevölke-rung geholfen?

Freiheit, Demokratie, Bildung, Gesundheit und Frau-enrechte waren die von den Befürwortern des Einsatzesimmer wieder benannten Ziele, die es rechtfertigen soll-ten, diesem Kriegseinsatz zuzustimmen. Nach zehn Jah-ren Krieg und Milliarden von Hilfsgeldern ist aber kei-nes, nicht ein einziges dieser Ziele erreicht worden! Undich bin davon überzeugt, dass auch das neue Minimalzielder NATO für Afghanistan, die Etablierung effektiverStaatlichkeit, nicht realistisch ist.

Realistisch ist allenfalls ein reaktionäres Bündnis ausdem Clan um Hamid Karzai, den Taliban und der Nord-allianz. Dafür braucht man aber keinen Krieg.

Deswegen ist jeder Tag, an dem Krieg ist in Afghanis-tan, ein Tag zu viel, ist jedes Todesopfer ein sinnlosesGewaltopfer – und damit meine ich ausdrücklich auchdie gefallenen deutschen Soldaten, die Verletzten, dieTraumatisierten.

Ich kann nicht sehen, wie ich – weder aus Gewissens-gründen noch aus pragmatischen Erwägungen – dieserEinsatzverlängerung zustimmen können sollte.

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Ich möchte zumeinem Abstimmungsverhalten zum Antrag der Bun-desregierung, das Mandat der Bundeswehr im Rahmendes ISAF-Einsatzes erneut zu verlängern, und zum An-trag der Fraktion Die Linke, der Bundesregierung jegli-che weitere Mitwirkung an gezielten Tötungen zu unter-sagen, eine Erklärung abgeben.

Ich habe zum Antrag der Bundesregierung mit Neingestimmt. Alle meine Erfahrungen nach mehr als zehnJahren Krieg in Afghanistan besagen, dass die Anwesen-heit ausländischer Truppen in Afghanistan den Wider-stand der Bevölkerung herausfordert. Es gibt eineunheilvolle Kette: mehr ausländische Truppen – mehrWiderstand – mehr Truppen … Die Herabsenkung derObergrenze der Anzahl eingesetzter Bundeswehrsolda-ten trägt in diesem Zusammenhang nur kosmetischenCharakter. Nur ein Abzug der Bundeswehr kann dieseKette aufsprengen. Der Abzug der Bundeswehr ist derSchlüssel zu einer anderen Politik in Afghanistan.

Zu einer anderen Politik in Afghanistan kommt manauch nur dann, wenn alle völkerrechtswidrigen Handlun-gen eingestellt werden. Ich will nicht mitschuldig wer-den, dass auch deutsche Stellen afghanische Personenfür Listen nominieren, die zur „Ausschaltung“ dieserPersonen führen können. Ich behaupte nicht, dass dieBundeswehr direkt an gezielten Tötungen beteiligt ist.

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Ich kann aber nicht ausschließen, dass Spezialkomman-dos anderer Länder, insbesondere der USA, Personen,die von deutschen Stellen benannt wurden, gezielt töten.Deshalb habe ich für den Antrag der Linken gestimmt,der Bundesregierung jegliche Mitwirkung an gezieltenTötungen zu untersagen.

Annette Groth (DIE LINKE): Ich stimme dem An-trag auf Verlängerung des Einsatzes der Bundeswehr inAfghanistan nicht zu, da ich den Krieg der NATO in Af-ghanistan ablehne. Dieser Krieg hat den meisten Afgha-ninnen und Afghanen nur Schrecken, Armut und Tod ge-bracht.

Das Ergebnis nach über zehn Jahren Krieg in Afgha-nistan ist verheerend. Jeden Tag steigt die Zahl der Opferan. Die Armut der Bevölkerung wächst. Nach Schätzun-gen von Hilfsorganisationen hat etwa ein Drittel der af-ghanischen Bevölkerung nicht genug zu essen. Der Be-darf an Getreideimporten erhöhte sich von 2010 auf2011 von 1,1 Millionen Tonnen auf geschätzte 1,7 Mil-lionen Tonnen. Laut Oxfam sind in dem Land ein Drittelder Kinder unterernährt. Das Überleben von 3 MillionenMenschen hängt von ausländischen Hilfslieferungen ab.Laut einem Bericht des UN-Sicherheitsrats sterben inAfghanistan jedes Jahr 40 000 Personen an den Folgenunzureichender Ernährung.

Es sind gerade Frauen und Kinder, die am stärkstenunter diesem Krieg leiden. Deutschland steckt jedes Jahrmehr als 530 Millionen Euro in den Krieg in Afghanis-tan. Lediglich ein Viertel dieser Summe wird für zivileHilfsprojekte zur Verfügung gestellt. Gemeinsam mit derFriedensbewegung, aber auch mit der Mehrheit der Be-völkerung in Deutschland fordere ich: Truppen raus ausAfghanistan – und zwar sofort.

Die USA gibt jährlich mehr als 173 Milliarden Dollarfür diesen Krieg aus. Mit einem Bruchteil dieses Geldeskönnten die Armut in Afghanistan bekämpft und die so-ziale Situation der Bevölkerung nachhaltig verbessertwerden.

Nach zehn Jahren NATO-Krieg ist Afghanistan einesder ärmsten Länder der Welt. Die heutige NATO-Strate-gie treibt die verarmte und verbitterte Bevölkerung gera-dezu in die Arme der Talibankämpfer, die ihnen aus ihrerSicht wenigstens ein geregeltes Einkommen bieten.

Ich stimme auch gegen die Verlängerung des Mandatsfür den Bundeswehreinsatz in Afghanistan, weil dieKriegsökonomie des NATO-Krieges dazu geführt hat,dass sich Afghanistan zum weltweit größten Produzen-ten von Opium entwickelt hat. 80 bis 90 Prozent desweltweit angebauten Opiums kommen aus Afghanistan.Im Jahr 2010 ist die Menge des angebauten Schlafmohnsvon 3 600 Tonnen um 61 Prozent auf 5 800 Tonnen ge-stiegen. Nach UN-Angaben liegt der Wert des in Afgha-nistan produzierten Opiums bei etwa 1,4 Milliarden US-Dollar. Allein im Jahr 2011 hat sich die Opiumanbauflä-che um 61 Prozent vergrößert. Das ist eine direkte Folgeder NATO-Intervention.

Viele Bauern haben nur durch den Opiumanbau unddie Drogenökonomie eine reale Überlebenschance. All

die schönen Worte vom Aufbau Afghanistans sindSchall und Rauch. Durch den zunehmenden Drogenkon-sum verfällt die afghanische Gesellschaft immer mehr.Selbst im „Fortschrittsbericht“ der Bundesregierungwird zugegeben: „Die Zahl der Drogensüchtigen in Af-ghanistan nimmt weiter zu, und mit ihr die Ausbreitungvon HIV und anderer Krankheiten.“

In Afghanistan ist die gesamte Politik und Wirtschaftvon einer korrupten Drogenökonomie durchsetzt. Diesemafiösen Zustände verhindern die politische und sozialeEntwicklung des Landes. Brutale Warlords finanzierenmit dem Drogengeld den Kauf von Waffen und Privatar-meen, die ihre Vormachtstellung absichern. Die NATOund ihre Verbündeten sind mit ihrer derzeitigen Politiknicht in der Lage, den Menschen in Afghanistan einePerspektive jenseits dieser Drogenökonomie zu bieten.Vielmehr werden durch die bisherige Politik die Drogen-clans gefördert, die sich verbal als Gegner der Talibanerklären.

Die Afghanistan-Politik der Bundesregierung und derISAF ist gescheitert. Kriege und Waffengewalt schaffenin Afghanistan keine Demokratie; vom Schutz der Men-schenrechte möchte ich gar nicht reden. Deshalb werdeich heute mit Nein stimmen. Mit diesem Nein möchteich dazu beitragen, die Möglichkeit für einen zivilenAufbau in Afghanistan zu eröffnen und die Logik desKrieges, der Gewalt und des täglichen Sterbens zu been-den.

Frank Heinrich (CDU/CSU): Die Umfragen spre-chen eine deutliche Sprache: Die Menschen sind müde,wenn sie an Afghanistan denken. Die damalige Ratsvor-sitzende der EKD, Bischöfin Margot Käßmann, formu-lierte bereits vor zwei Jahren sehr deutlich: „Nichts istgut in Afghanistan!“ Das Medienecho war groß, derRückhalt in der Bevölkerung für die Einsätze schwandzusehends. Doch kann man das einfach so stehen lassen?

Die Gründe gegen eine Verlängerung des Mandatsliegen auf der Hand:

Generell dürfen Militäreinsätze immer nur die UltimaRatio der Politik sein. Alle anderen Wege wie etwa dip-lomatische Verhandlungen, der Aufbau der Zivilgesell-schaft, die Stärkung regionaler Institutionen haben Vor-rang.

Die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert ver-pflichtet uns, jeden Auslandseinsatz der Bundeswehrdoppelt kritisch zu beleuchten.

Deutsche Soldaten sind in Afghanistan ums Lebengekommen; viele kehren traumatisiert in die Heimat zu-rück. Leib und Leben dieser Menschen dürfen nichtleichtfertig gefährdet werden.

Die Befriedung der Region und der Aufbau einertragfähigen Zivilgesellschaft sind bei weitem nicht sovorangekommen, wie es erwartet wurde. Viele interna-tionale Partner ziehen sich aus Afghanistan zurück. DieKosten für den Einsatz sind immens.

Ausdrücklich schließe ich mich dieser Argumentationan. Sie wird dazu getragen von meiner persönlichen Ge-

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wissensüberzeugung als Christ, die geprägt ist von derBergpredigt, in der Jesus Christus sagt: „Selig sind, dieFrieden stiften.“

Dennoch werde ich heute der Verlängerung des Man-dates zustimmen. Wenn ich mich frage, wodurch in Af-ghanistan Frieden „gestiftet“ werden kann, dann bewe-gen mich in der derzeitigen Situation folgendeGedanken:

Ein „Ad-hoc-Abzug“ hat nach Aussagen aller Exper-ten aus der Politik, dem Militär und den Nichtregie-rungsorganisationen für die menschenrechtliche und zi-vilgesellschaftliche Lage sowie den Aufbau derpolitischen und ökonomischen Infrastruktur in Afghanis-tan katastrophale Folgen. Noch sind die Strukturen nichttragfähig.

Die humanitäre Lage bleibt höchst unbefriedigend.Um nur zwei Zahlen zu nennen, die das Auswärtige Amtim Januar ermittelt hat: Circa 9 Millionen Menschensind infolge einer Dürrekatastrophe auf Nahrungsmittel-hilfe angewiesen, 500 000 Menschen sind Binnenflücht-linge. Die Zahl wird voraussichtlich im Laufe des Jahresauf 700 000 steigen, Afghanistan kann diese Not alleinenicht bewältigen.

Es gibt viele Berichte über signifikante Unterschiededer menschenrechtlichen Lage in den Gebieten, die vonNATO-Truppen geschützt werden, und anderen. Einigeextreme Beispiele schilderte die Mitarbeiterin einerNGO, die sich in Gesundheitsfragen engagiert, den Mit-gliedern der AG Menschenrechte in meiner Fraktion. Sieberichtete von Dörfern, in denen Mädchen, die einenGynäkologen bzw. eine Gynäkologin besuchen wollen,von Heckenschützen hinterrücks vom Fahrrad geschos-sen werden, von Mädchen, die gesteinigt wurden, weilsie die Schule besuchten. Deutsche Soldaten stiften Frie-den, indem sie solche Geschehnisse verhindern. Es istkein westlicher Krieg, auch wenn hier häufig der – fal-sche! – Eindruck erweckt wird, dass die westlichenMächte den Krieg nach Afghanistan tragen würden.

Bei einem Besuch in Afghanistan konnte ich mir eineigenes Bild der Lage machen und viele Gespräche mitSoldaten führen. Die einhellige Meinung: Wir dürfennicht überstürzt abbrechen, was wir begonnen haben –das würde im Nachhinein den Kameraden spotten, diefür diesen Einsatz gestorben sind.

Die Vertreter Afghanistans haben ausdrücklich umunsere Unterstützung nachgesucht.

Die instabile politische Gesamtlage am Hindukuschmit der Nachbarschaft zu Pakistan ist eine Gefahr weitüber die Region hinaus.

Meine Zustimmung verbinde ich dabei mit folgendenForderungen:

Der geplante Abzug der NATO-Truppen im kommen-den Jahr muss sofort mit einer nachvollziehbaren Exit-Strategie verbunden werden; die bisherigen Aussagendazu sind nicht befriedigend.

Die Strategie muss mit internationalen NGOs abge-stimmt werden.

Die internationale Staatengemeinschaft muss die not-wendigen Ressourcen zu einem Aufbau der zivilgesell-schaftlichen Strukturen zur Verfügung stellen und einverlässlicher Partner Afghanistans bleiben.

Es muss eine politische Gesamtstrategie für die Re-gion Afghanistan/Pakistan geben.

Verwundete und traumatisierte Soldaten müssen nochleichteren Zugang zu therapeutischen Angeboten erhal-ten und darüber hinaus eine Würdigung ihres Einsatzeserfahren, die von einer breiten Mehrheit unserer Gesell-schaft getragen ist.

Ich möchte daher zum Schluss noch einmal Bezug aufmein Eingangszitat nehmen und es etwas umformulie-ren: Nicht alles ist schlecht in Afghanistan – aber es istnoch nicht gut genug für einen sofortigen Abzug deut-scher Soldaten.

Inge Höger (DIE LINKE): Ich stimme gegen dieFortsetzung des Krieges in Afghanistan, weil die Bun-desregierung die Öffentlichkeit und auch uns Parlamen-tarierinnen und Parlamentarier von Anfang an nicht voll-ständig informiert hat über den Charakter und dasAusmaß der deutschen Beteiligung am Krieg in Afgha-nistan. Das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahr-heit.

Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, so sieht esunser Grundgesetz vor. Doch Kontrolle setzt Informa-tion voraus.

Wichtige Berichte haben wir aber in den letzten Jah-ren häufig aus den Medien und nicht vom Verteidigungs-ministerium bekommen. Zwei Untersuchungsausschüssemussten sich mit dem Verhalten von Bundeswehrange-hörigen in Afghanistan beschäftigen. Dies illustriert dieUnkontrollierbarkeit einer „Armee im Einsatz“ über-deutlich. Bundeswehr und Bundesregierung betonengerne die Konzepte des „Staatsbürgers in Uniform“ undder „Inneren Führung“. Doch all das kann nicht darüberhinwegtäuschen: Krieg und Demokratie passen schlechtzusammen. Auch deshalb stimme ich gegen die Fortset-zung des Krieges in Afghanistan.

Besonders deutlich wird der Widerspruch von demo-kratischer Kontrolle und militärischer Eigendynamikbeim Kommando Spezialkräfte – dem KSK. Diese ver-schworene Eliteeinheit war seit Beginn des Afghanistan-Krieges in offensive und aggressive Kampfführung ver-wickelt. Das KSK war damit Teil der Eskalationsspiralein Afghanistan. Dennoch haben wir als Abgeordnete da-von jahrelang nichts erfahren. Ausnahme waren sporadi-sche Medienberichte, deren Richtigkeit wir nicht über-prüfen können. In einer Demokratie darf es keineGeheimarmeen geben!

Im Magazin des Reservistenverbandes Loyal war inder Januarausgabe das Folgende zu lesen: „Das KSKdürfte noch geraume Zeit in Afghanistan bleiben, selbstwenn die übrigen Truppen weg sind“. Als Aufgabe fürdas KSK wird genannt „Führer und Drahtzieher aus demVerkehr zu ziehen“. Das klingt wie eine Lizenz zum Tö-ten. Ein Verdacht wird dabei schnell zum Todesurteil.

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Wie wollen Sie solche Barbarei mit den angeblich hohenAnsprüchen deutscher Außenpolitik in Einklang brin-gen?

Ich stimme gegen das Mandat zur Fortsetzung des Af-ghanistan-Krieges, weil die bisherige verfehlte Politikund die bisherigen Kriegslügen fortgesetzt werden.

Lange haben Sie sich geweigert, zuzugeben, dass inAfghanistan Krieg herrscht. Nun reden Sie vom Abzug2014, und auch das ist ein Betrug. Was heute beschlos-sen wird, ist eine Intensivierung des Krieges in der va-gen Hoffnung, doch noch zu siegen. Zudem sollen deut-sche Soldatinnen und Soldaten noch lange nach 2014 vorOrt bleiben. Der Beschluss bedeutet die Fortsetzung vonLeid und Blutvergießen. Dem kann und werde ich nichtzustimmen. Beenden Sie das Lügen, geben Sie zu, dassder Afghanistan-Krieg falsch war und ist. Beenden Sieden Einsatz. Holen Sie die Truppen zurück! Jetzt! Undnicht erst in drei, vier, fünf oder zehn Jahren.

Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ImJahre 2001 habe ich in Rostock bei der Bundesdelegier-tenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen mit einerRede den Einsatz in Afghanistan voller Überzeugungbefürwortet. Das schien mir damals notwendig und ge-eignet, um den Terror der Taliban gegenüber der afgha-nischen Bevölkerung und dem Rest der Welt zu beenden.Leider wurde ich durch die Entwicklungen in den Jahrendanach eines Besseren belehrt: Die US-Regierung for-derte von Deutschland immer mehr militärischen Ein-satz. Die Bundesrepublik Deutschland wurde langsam,aber sicher immer stärker in eine kriegerische Auseinan-dersetzung hineingezogen. Regelmäßig beteiligt sich dieBundeswehr seitdem mit schweren Waffen an denKämpfen. Unser Land hat dadurch an diplomatischerStärke und Glaubwürdigkeit in der zivilen Bevölkerungverloren.

Angesichts der getöteten Soldaten und Zivilisten istdie Aussage, die Bundeswehr würde nur Sozialarbeitleisten, seit langem überholt. Die militärische Strategiegeht viel eher in die Richtung, die Taliban militärischnoch so weit wie möglich zu schwächen, um die eigeneVerhandlungsposition zu verbessern, bevor man ihnenwieder die Kontrolle über Afghanistan überlässt.

Diese falsche Strategie hat unser Land in eine kriege-rische Auseinandersetzung hineingezogen, und diesePolitik wird von der aktuellen Regierung fortgesetzt.Diese Fortsetzung der militärischen Eskalation ist aberkeine Lösung für die afghanische Bevölkerung und trägtauch nicht zur Sicherheit Deutschlands und der Welt bei.Die Bundesrepublik wird nicht am Hindukusch vertei-digt, unsere Sicherheit geht dort verloren.

Wir Grünen fordern seit langem einen erheblichenStrategiewechsel. Wir müssen raus aus der Spirale derGewalt! Wir gehen mit Frieden, Sicherheit und Men-schenleben nicht leichtfertig und populistisch um.

Die grüne Bundestagsfraktion hat einen Entschlie-ßungsantrag vorgelegt, mit dem sie einen konkreten Ab-zugsplan fordert. Dieser hat meine volle Unterstützung.Das vorgelegte Mandat der Bundesregierung hat keine

Perspektive und erfüllt keinen sinnvollen Zweck, daherwerde ich es ablehnen.

Sabine Leidig (DIE LINKE): Ich habe – wie alleAbgeordneten der Partei Die Linke – gegen diesenKriegseinsatz und seine Verlängerung gestimmt, weil dietraurige Wirklichkeit zeigt, dass der Krieg die zivile undsoziale Entwicklung der Gesellschaft in Afghanistanblockiert und – wie alle Kriege – Grausamkeit, Tod undLeid in den Alltag der Bevölkerung bringt.

Mein zweiter wesentlicher Grund ist, dass unsereeigene Gesellschaft verändert wird. Die historischeLehre, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg aus-gehen darf, wird in die Vergessenheit gedrängt. Ichzitiere den Präsidenten von Pax Christi Deutschland,Heinz Josef Algermissen, Bischof von Fulda, der in sei-ner Erklärung zur heutigen Abstimmung schreibt:

Die Bundeswehr wird zur Armee im Einsatz um-funktioniert. Die Verteidigungsrestriktion desGrundgesetzes verliert faktisch ihre Bedeutung. DerAfghanistankrieg als vorläufiger Höhepunkt dieserEntwicklung hat die Änderung der Verteidigungs-hin zur Einsatzarmee gefördert. Die junge Genera-tion in Deutschland wächst in einer Gesellschaftauf, die zwar Krieg führt, es aber zugleich leugnet.Was für die Trümmerfrauen und für viele Kriegs-rückkehrer des Zweiten Weltkrieges undenkbarschien, ist heute wieder möglich. Gleichzeitig fehltder politische Diskurs über diese Entwicklung. Diedeutsche Gesellschaft akzeptiert seit Jahren eine be-schönigende Darstellung, die den Blick auf dieGrausamkeit des Krieges vernebelt.

Die Unmenschlichkeit und die Gewalt des Kriegesbetreffen vor allem diejenigen, in deren Land die Waffenzum Einsatz kommen, und jene, die die Waffen zum Ein-satz bringen. Darüber hinaus entsteht eine Rohheit imUmgang der Völker, und die deutsche Bevölkerung ver-liert zusehends an Integrität, an Glaubwürdigkeit, anPotenzial für Frieden und Gerechtigkeit – sich selbst undanderen gegenüber.

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Ich stimme demAntrag der Bundesregierung aus folgendem Grund zu:

In ihrem Antrag zur Fortsetzung der Beteiligung be-waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz in Af-ghanistan hat die Bundesregierung zahlreiche Forderun-gen der SPD übernommen. Das Mandat leitet den vonder SPD seit langem geforderten Abzug der deutschenTruppen in Afghanistan ein. Die Reduzierung des Bun-deswehrkontingents auf 4 900 entspricht den Forderun-gen der SPD, unsere Truppenstärke kontinuierlich zureduzieren mit dem Ziel der vollständigen Verantwor-tungsübergabe in die Hände der afghanischen Sicher-heitskräfte bis 2014.

Ich habe allerdings folgende Bedenken:

Der Antrag beschreibt die zivil-militärische Zusam-menarbeit als einen wichtigen Teil des Engagements derdeutschen Seite. Gleichwohl hindert das Kooperations-gebot des Entwicklungsministeriums viele NGOs daran,

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sich in Afghanistan zu engagieren, denn sie lehnen eineZusammenarbeit mit der Bundeswehr ab. Da sie dadurchohne deutsche Finanzmittel arbeiten müssen, geht denAfghanen schon seit zwei Jahren wichtige Unterstützungverloren.

Leider geht der Antrag zu wenig auf die Menschen-rechtslage in Afghanistan ein, die sich in den letzten Jah-ren leider deutlich verschlechtert hat. Dies gilt auch fürdie Sicherheitslage. Unter diesen erschwerten Bedingun-gen soll ziviler Aufbau stattfinden und ziviles Engage-ment verstärkt werden. Dafür ist kein Konzept erkenn-bar, das jetzt umgesetzt wird und nach 2013/2014 tragenkann. Denn die bisherige militärische Strategie – eine of-fensive Aufstandsbekämpfung sowie das Partnering –erachte ich nicht für die richtige Vorgehensweise für dieverbleibenden zwei Jahre.

Ich erwarte von der derzeitigen und zukünftigen Bun-desregierung ein transparentes Konzept für den Abzugdeutscher Soldaten und Soldatinnen aus Afghanistan,das den schnellstmöglichen Rückzug unter Wahrung un-serer internationalen Verpflichtungen und in Respekt vorden Menschen in Afghanistan ermöglicht und dessenUmsetzung sichergestellt wird.

Kirsten Lühmann (SPD): Der Antrag „Fortsetzungder Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an demEinsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungs-truppe in Afghanistan, International Security AssistanceForce, ISAF, unter Führung der NATO“ – Drucksache17/8166 – der Bundesregierung hat meine Unterstüt-zung. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich schon längerfür einen Strategiewechsel ausgesprochen, der auf einepolitische Lösung der Konflikte in Afghanistan setzt.Voraussetzung für eine politische Lösung muss ein Ver-söhnungsprozess innerhalb des Landes sein. Hierfür istes zwingend erforderlich, mit allen Beteiligten Gesprä-che zu führen. Dies schließt also auch die Taliban ein.Obgleich die Bundesregierung diesen Ansatz zunächstabgelehnt hat, entspricht der Antrag der Bundesregie-rung nun weitgehend den Vorstellungen der SPD-Bun-destagsfraktion.

Ferner befürworte ich das Konzept der schrittweisenÜbergabe der Sicherheitsverantwortung an Afghanistan.Anzumerken ist, dass dieses jedoch eine verstärkte Aus-bildung afghanischer Sicherheitskräfte erfordert.

Niema Movassat (DIE LINKE): Seit einem Jahr-zehnt führt die NATO in Afghanistan unter dem Vor-wand der „humanitären Intervention“ und des „Kriegesgegen den Terror“ einen Feldzug für wirtschaftliche undgeostrategische Interessen. Was ist das Ergebnis diesesmodernen Feldzuges? Jahr für Jahr steigen die Opferzah-len – 2011 war das blutigste Jahr seit Beginn des Krie-ges. Die Infrastruktur des Landes wurde zugrundegerichtet; die Bevölkerung leidet an massiver Unterer-nährung und unbehandelten Krankheiten, sodass die Le-benserwartung rapide gesunken ist.

Ein weiteres Mal hatten heute die Abgeordneten desDeutschen Bundestages die Möglichkeit, zu entscheiden,ob deutsche Soldaten in Afghanistan sich weiterhin an

dem Morden beteiligen müssen oder abgezogen werden.Die weitere Kriegsführung entscheidet sich hier im Bun-destag. Die Frontlinie der modernen Kriege hat sich ver-schoben: Die heutigen Feldherren entscheiden nichtmehr auf dem Schlachtfeld, sondern in Parlamenten überLeben und Tod.

Die Beschlussvorlage der Bundesregierung ist eineFarce: Der Öffentlichkeit wird vorgegaukelt, Deutsch-land würde Kampftruppen abziehen. Tatsächlich werdennur Reserveeinheiten zurückgeholt, die nicht mehr benö-tigt werden. Die Bundesregierung will uns weißmachen,die Bundeswehr leiste in Afghanistan humanitäre Auf-bauarbeit. Das Gegenteil ist der Fall: Deutschland führtweiterhin im Rahmen der ISAF Krieg.

Für ein friedliches und freies Afghanistan, das der Be-völkerung eine Zukunft bietet, muss der Kriegseinsatzbeendet und die rein zivile Entwicklungshilfe aufgebautwerden. Stattdessen baut die NATO die Zivil-Militäri-sche-Zusammenarbeit, ZMZ, aus. Im Klartext bedeutetdas eine enge Verzahnung politischer, militärischer, wirt-schaftlicher, humanitärer und polizeilicher Instrumente.So wird dann auch „Entwicklungshilfe“ zum Bestandteilder NATO-Kriegsstrategie. An ein und demselben Tagkann dieselbe Einheit im Rahmen der ZMZ eine neueStraße befestigen, ein Dorf dem Erdboden gleichmachenund danach den Ausbildungsdienst der afghanischenPolizei übernehmen.

So kann kein Frieden geschaffen werden. Der Bun-deshaushalt sieht rund 1,1 Milliarde Euro für den Kriegvor. Diese müssen ab sofort für den Wiederaufbau unddie Verbesserung der Lebensbedingungen der afghani-schen Bevölkerung nach deren Bedürfnissen eingesetztwerden. Die ausländischen Truppen – allen voran diedeutschen – müssen Afghanistan verlassen.

Jens Petermann (DIE LINKE): Ich stimme der Be-schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zudem Antrag der Bundesregierung unter anderem deswe-gen nicht zu, weil Krieg das falsche Mittel ist, um Hun-ger und Elend von Millionen Afghaninnen und Afgha-nen zu verhindern, sondern im Gegenteil diese weiterbefördert. Das Überleben von über drei Millionen Men-schen hängt auch weiterhin von ausländischen Nah-rungsmittelhilfslieferungen ab. Die Getreideernte imLand reicht nicht aus, die Bevölkerung zu ernähren. Eswird auf immer mehr landwirtschaftlichen FlächenMohnanbau betrieben, die somit für den Getreideanbaufehlen. Ein Großteil der Bevölkerung hungert. LautOxfam sind in dem Land ein Drittel der Kinder unterer-nährt.

Darüber hinaus ist nach zehn Jahren Krieg und Besat-zung in Afghanistan die soziale Situation der Bevölke-rung fatal: In Bezug auf die Gesundheitsversorgung liegtAfghanistan beim Human Development Index weit ab-geschlagen an letzter Stelle. Seit 2005 konstatieren in re-präsentativen Umfragen die Afghaninnen und Afghaneneine kontinuierliche Degradierung ihrer sozialen Situa-tion. 2007 hatten nur 5 Prozent der Afghanen „Zugangzu gesundheitlich akzeptabler Sanitärversorgung“; 2011liegt diese Zahl bei ganzen 7,5 Prozent – Zahlen der

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Bundesregierung, 2011. Die durchschnittliche Lebens-erwartung stagniert seit Jahren bei 43 Jahren. Die Hälfteder Männer und über 90 Prozent der Frauen sind An-alphabeten. Kinder und Jugendliche besuchen durch-schnittlich 3,3 Jahre lang die Schule.

Die afghanische Gesellschaft verfällt weiter: „DieZahl der Drogensüchtigen in Afghanistan nimmt weiterzu, und mit ihr die Ausbreitung von HIV und andererKrankheiten“, so die Bundesregierung in ihrem Fort-schrittsbericht.

Der Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan trägtnach alledem nicht zu einer Verbesserung der Lage derafghanischen Bevölkerung bei und ist deshalb abzuleh-nen.

Mechthild Rawert (SPD): Der Einsatz der Bundes-wehr in Afghanistan auf Grundlage der Beschlüsse desUN-Sicherheitsrates dauert mittlerweile zehn Jahre an.Ich habe den Einsätzen der Bundeswehr in der Regelmeine Zustimmung im Deutschen Bundestag gegeben.Bei der Entscheidung im Jahr 2011 waren allerdingsmeine Zweifel über die Ernsthaftigkeit der Beibehaltungdes Strategiewechsels durch die Bundesregierung sogroß, dass ich dem Antrag nicht zustimmen konnte.

Doch im Unterschied zur Situation der Entscheidungüber den Bundeswehreinsatz im letzten Jahr lässt sich imJanuar 2012 konstatieren, dass der Abzug der Bundes-wehrtruppen bereits begonnen hat. Im Regierungsantragist der Truppenrückzug im Jahr 2012 von 5 350 Soldatenauf zunächst 4900 und im weiteren Jahresverlauf auf4 400 festgelegt. Während Ende November noch 5 329Bundeswehrsoldaten in Afghanistan stationiert gewesenwaren, betrug die Truppenstärke am 7. Dezember 2011noch 4 991. Damit sind meine ernsthaften Zweifel, obdie Bundesregierung ihr Wort für eine Abzugsperspek-tive hält, vorerst ausgeräumt.

Für problematisch halte ich, dass der Antrag der Bun-desregierung die Hintertür offen lässt, den Truppenab-zug aufzuweichen. Die Formulierung „soweit die Lagedies erlaubt und dadurch die eingesetzten Truppen oderdie Nachhaltigkeit des Übergabeprozesses nicht gefähr-det werden“ lässt diese Interpretation zu.

Insgesamt entspricht der vorliegende Mandatstextweitgehend der SPD-Position für einen Strategiewech-sel, der auf eine politische Lösung der Konflikte in Af-ghanistan setzt und als Voraussetzung einen Versöh-nungsprozess innerhalb des Landes auch mit den Talibanvorsieht.

Der Transitionsprozess sieht vor, dass die Sicherheits-verantwortung Schritt für Schritt an Afghanistan überge-ben wird. Das erfordert eine verstärkte Ausbildung af-ghanischer Sicherheitskräfte. Seit Juli 2011 findet dieseTransition in Gebieten mit eher ruhiger Lage statt. Mitt-lerweile sind 305 600 Soldaten und Polizisten in Afgha-nistan ausgebildet worden, und bis Oktober 2012 sollenes 352 000 sein. Der Härtetest für die Übertragung derSicherheitsverantwortung steht erst noch bevor.

Ich erwarte, dass ein tragfähiges Konzept zur nach-haltigen Ausbildung, Ausstattung und vor allem bezüg-lich der Finanzierung der afghanischen Sicherheitskräfteentwickelt wird, wie es im Antrag der Bundesregierungversprochen wird. Denn ein Rückfall Afghanistans ineine erneute Bürgerkriegssituation, wie nach dem Abzugder sowjetischen Truppen, muss verhindert werden. Dasist aus meiner Sicht eine Verantwortung, die sich aus denzehn Jahren des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanis-tan ergibt.

Die mehrdimensionalen Konflikte in Afghanistan undseinen Anrainerstaaten lassen sich nur auf politischemund nicht auf militärischem Wege lösen. Dem trägt derStrategiewechsel insofern Rechnung, indem auch die Ta-liban als Verhandlungspartner akzeptiert und in einenVersöhnungsprozess eingebunden werden.

Eine politische, nicht militärische Lösung bedeutetzugleich auch die Aufwertung ziviler Konfliktlösungensowie Aufbauhilfe im Rahmen der Entwicklungszusam-menarbeit. Insofern war die Aufstockung der jährlichenUnterstützung für Wiederaufbau und Entwicklung in Af-ghanistan auf bis zu 430 Millionen Euro notwendig. Umden Aufbau einer stabilen Wirtschaft und Gesellschaftzu gewährleisten, müssen die Mittel für Entwicklungs-zusammenarbeit über den von der Bundesregierung zu-gesagten Zeitraum bis 2013 hinaus beibehalten werden.

Die deutsche Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee.Jede Soldatin, jeder Soldat braucht insbesondere beiAuslandseinsätzen politische, moralische und auch fi-nanziell ausreichende Unterstützung zur Gewährungbestmöglicher Sicherheit. Ich bin nach wie vor bereit,diese zu geben. Frieden ist aber mehr als die Abwesen-heit von Krieg. Eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bür-ger ist nach wie vor für den Abzug der Bundeswehr ausAfghanistan. Ich stimme dem Antrag zu, weil er eine festterminierte Abzugsperspektive bietet.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Vor knapp zehn Jahren hat Deutschland unterdem Mandat der Vereinten Nationen, im Rahmen derInternational Security Assistance Force, ISAF, aufWunsch der afghanischen Regierung und unter Beteili-gung zahlreicher Partner Verantwortung in Afghanistanübernommen. Trotz der erheblichen Schwierigkeitenund Rückschläge, die man in Afghanistan in den vergan-genen zehn Jahren beobachten konnte, stehe ich zu unse-rer Verantwortung gegenüber den afghanischen Frauenund Männern, den zivilen Helferinnen und Helfern, denSoldatinnen und Soldaten und den Vereinten Nationen.Ziel aller deutschen Beiträge muss die Stabilisierung ei-nes afghanischen Staates sein, der nach gängigen rechts-staatlichen Normen operiert und die Menschenrechteseiner Bürgerinnen und Bürger schützt, fördert undgarantiert. Dabei muss sich die Unterstützung Deutsch-lands und der internationalen Gemeinschaft an der Kern-forderung der Vertreterinnen und Vertreter der afghani-schen Zivilgesellschaft orientieren.

Parallel zum Stabilisierungseinsatz mit UN-Mandat,ISAF, wurde im Rahmen der „Operation Enduring Free-dom“, OEF, der sogenannte Krieg gegen den Terror mit

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vielen zivilen Opfern betrieben. Diese Politik hat sich alsIrrtum erwiesen. Die Dominanz des Militärischen wurdebegleitet vom weitgehenden Fehlen einer am tatsächli-chen Bedarf orientierten zivilen und entwicklungspoliti-schen Aufbaustrategie und einer Unterordnung von zivi-len gegenüber militärischen Zielsetzungen. All diesbedarf einer fundierten, selbstkritischen Aufarbeitung,der sich die Bundesregierung bisher verweigert. DieBundesregierung blockiert nicht nur eine solche Evaluie-rung, sondern sie legt Fortschrittsberichte vor, die nichtüberzeugen. Die Behauptung, die offensive Aufstands-bekämpfung hätte die Aufständischen entscheidend unddauerhaft geschwächt, wird von vielen Expertinnen undExperten bezweifelt. Gleichzeitig schwindet das Ver-trauen in die ISAF-Truppen. Auch die Bundeswehr istseit 2010 intensiver an solchen offensiven Operationenbeteiligt.

Die internationalen Kampftruppen sollen bis 2014 ausAfghanistan abgezogen werden. Das haben wir mit un-serem Entschließungsantrag (Drucksache 17/8466) imvollen Verantwortungsbewusstsein und ausführlich be-gründet. Nur so entsteht der notwendige politischeDruck auf die afghanische Seite, eine politische Lösungentschieden anzugehen. Der begonnene Prozess derÜbergabe in Verantwortung muss aber entschieden undmit konkreten Zwischenschritten weiter fortgeführt undauf die Dynamik der Situation in den jeweiligen Provin-zen sowie die zivile Aufbauarbeit angepasst werden.Hierfür ist allerdings ein klarer Zeitplan unerlässlich.Die Bundesregierung will mit dem vorliegenden Mandatreal nur 200 Soldatinnen und Soldaten abziehen. Das istviel zu wenig. Wenn ein Abzug 2014 erfolgen soll, dannmüsste das Bundeswehrkontingent in 2012 und 2013substanziell reduziert werden. Zudem beendet die Bun-deswehr auch nicht die offensive Aufstandsbekämpfung.Diese geht einher mit einer hohen Zahl an zivilen Op-fern, und sie blockiert die Versuche zu einer politischenLösung.

Da ich an den heutigen Sitzungen und Abstimmungendes Bundestages nicht teilnehmen kann, möchte ich mitdieser persönlichen Erklärung klarstellen, dass ich denvorliegenden Anträgen der Bundesregierung aus denoben genannten Gründen nicht zustimme.

Ein überstürzter und ungeordneter Abzug der interna-tionalen Truppen, den manche bis Ende 2012 fordern, istnicht verantwortbar. Das könnte das Land erneut in ei-nen Bürgerkrieg stürzen, die zivilen Helferinnen undHelfer gefährden und die in den letzten Jahren erzieltenErfolge infrage stellen.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Den Antrag der Bundesregierung lehne ich ab.Ich bin dagegen, dass die Bundeswehr sich ein weiteresJahr an diesem grausamen Krieg in Afghanistan betei-ligt.

Das neue Mandat gilt formal nur für ein Jahr, enthältaber faktisch eine Verlängerung des Bundeswehreinsat-zes um mindestens drei Jahre. Bis Ende 2014 soll derKrieg so weitergeführt werden wie bisher, nur mit weni-ger Soldaten. Es werden Tausende weitere Menschen ge-

tötet und noch viele mehr verwundet durch Anschlägeund Angriffe der Aufständischen und durch offensiveOperationen der Interventionsstreitkräfte. Das „Partne-ring“ der Bundeswehr wird fortgesetzt wie bisher. Dasheißt, auch Spezialkommandos aus afghanischen unddeutschen Streitkräften führen weiter unter deutscherFührung gezielte Operationen gegen tatsächliche odervermeintliche Aufständische durch. Gezielte Tötungenvon Taliban, die aufgrund oft dubioser und unüberprüf-barer Informationen auf Todeslisten gelistet wurden,werden unvermindert von Spezialeinheiten und mittelsbewaffneter Drohnen fortgesetzt. Allein in drei Monatenzu Beginn des letzten Jahres fanden über 1 400 solcherextralegaler Hinrichtungen statt. Dabei wurden vieleHundert Menschen getötet, darunter auch viele an demKrieg Unbeteiligte und zu Unrecht Denunzierte. Wenndie Bundesregierung auch behauptet, die Bundeswehrbeteilige sich nicht an solchen Tötungen, dann konntesie doch nicht ausschließen, dass Personen, die sie für„capture or kilI“-Listen benennt, dann doch von Droh-nen oder Spezialkommandos alliierter Streitkräfte gejagtund getötet werden. Durch diese Kriegsführung wirdimmer neuer Hass und neue Gewalt geschürt. Es wirdweiter vermehrt Sprengstoffanschläge und Angriffe aufdie Bundeswehr und die Verbündeten geben.

Vor allem aber werden sämtliche Bemühungen umVerhandlungen und Waffenstillstand erheblich erschwertund gar unmöglich gemacht. Wenn man die, mit denenverhandelt werden soll, auf Todeslisten setzt, jagt undtötet, werden ernsthafte Gespräche hintertrieben. Viermit Raketen bewaffnete Killerdrohnen werden in diesemMonat neu in Masar-i-Scharif im Verantwortungsbereichder Bundeswehr stationiert.

Es heißt, die Verlängerung des Krieges sei notwendigund richtig, weil bis Ende 2014 so viel Sicherheit inAfghanistan geschaffen werden könne, dass die afghani-schen Sicherheitskräfte ohne Hilfe die Bürgerinnen undBürger schützen und eine friedliche Entwicklung garan-tieren können. Solche Hoffnungen und Erwartungen sindunbegründet. Die Entwicklung der Sicherheit im Land inden letzten fünf Jahren spricht eher dagegen. Jahr fürJahr wurde die Sicherheitslage dramatisch schlechtertrotz des Einsatzes von immer mehr Soldaten und immerschwererer Waffen. Afghanistan war für die Bevölke-rung seit Beginn des Einsatzes internationaler Streit-kräfte noch nie so unsicher wie heute. Alles sprichtdafür, dass die Lage sich in den nächsten Jahren eherweiter verschlechtert, als dass sie besser oder gar gutwird.

Weiter Krieg zu führen, ist der falsche Weg. Es gibtAlternativen. Auf meiner Afghanistan-Reise vor vierMonaten habe ich erfahren, Verhandlungen und Waffen-stillstand mit den Aufständischen – auch den Taliban –sind möglich. Es gab schon Angebote für Waffenstill-stand in einzelnen Regionen, auch für den Verantwor-tungsbereich der Bundeswehr im Norden. Anstatt weiterauf Krieg zu setzen, muss jede Chance für Verhandlun-gen genutzt werden. Solche Chancen werden aber durchdas Weiter-so und die Verlängerung des Kriegsmandatsfür die Bundeswehr nicht genutzt, sondern zunichtege-macht.

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Sabine Stüber (DIE LINKE): Ich stimme gegen dieFortsetzung des Mandats, weil Krieg nicht Mittel derPolitik sein darf. Deutsche Soldatinnen und Soldatenmüssen sofort aus Afghanistan abgezogen werden. DerBundeswehreinsatz schafft keinen Frieden und sorgt kei-neswegs für eine bessere Lebenssituation der Afghanin-nen und Afghanen.

Ich stimme der Mandatsverlängerung nicht zu, weillaut UNAMA, United Nations Assistance Mission inAfghanistan, 87 Prozent der afghanischen Frauen schoneinmal Opfer von Gewalt waren. Die Bundesregierungstellt Ende 2011 fest: „Eine strafrechtliche Verfolgungfindet so gut wie nicht statt“ (aus dem Fortschrittsberichtder Bundesregierung zu Afghanistan). Des Weiteren hat-ten 2007 nur 5 Prozent der Afghaninnen und Afghanen„Zugang zu gesundheitlich akzeptabler Sanitärversor-gung“; 2011 liegt diese Zahl bei ganzen 7,5 Prozent– Zahlen der Bundesregierung, 2011.

Ich stimme der Mandatsverlängerung nicht zu, weilauch nach zehn Jahren Krieg und Besatzung in Afgha-nistan die soziale Situation der afghanischen Bevölke-rung fatal ist: In Bezug auf die Gesundheitsversorgungliegt Afghanistan beim Human Development Index weitabgeschlagen an letzter Stelle. Seit 2005 zeigen re-präsentative Umfragen, dass die Afghaninnen undAfghanen einen kontinuierlichen Rückgang ihrer sozia-len Situation feststellen. Die durchschnittliche Lebens-erwartung stagniert seit Jahren bei 43 Jahren. Die Hälfteder Männer und über 90 Prozent der Frauen sind An-alphabeten. Kinder und Jugendliche besuchen durch-schnittlich nur 3,3 Jahre lang die Schule.

Ich stimme der Mandatsverlängerung nicht zu, weilder Krieg in Afghanistan gescheitert ist und die Fortset-zung dieses Einsatzes mit deutscher Beteiligung keinenSinn hat. Es müssen alle finanziellen Mittel in den zivi-len Aufbau des Landes fließen und die Bundeswehr un-verzüglich abgezogen werden. Nur dann ist eine Verbes-serung der Lage in Afghanistan möglich.

Alexander Ulrich (DIE LINKE): Spätestens seitKunduz wissen nicht nur wir, sondern auch die Kriegs-befürworter von CDU, CSU, FDP, SPD und Grünen,dass die Bundeswehr nicht Teil der Lösung, sondern Teildes Problems in Afghanistan ist.

Dennoch äußerte ausgerechnet Verteidigungsministerde Maizière zuletzt am 23. Januar wiederholt seineZweifel daran, dass bis 2014 tatsächlich alle Bundes-wehrsoldaten abgezogen werden. Auf die Frage, ob bisEnde 2014 tatsächlich mit dem kompletten Abzug vonSoldaten aus Deutschland und den anderen Staaten zurechnen ist, antwortete er: „Natürlich ist die Strategieimmer abhängig von den obwaltenden Umständen.Wenn sich die Dinge grundlegend ändern, könnte eineneue Lage entstehen“.

Faktisch sieht das neue Mandat für 2012 überhauptkeine wirkliche Reduzierung des Truppenkerns vor, dieZahl verringert sich lediglich um eine nicht genutzte Re-serve. Die Rede von dem vermeintlichen Abzug ver-sucht, vor allem die hiesige Bevölkerung zu täuschen,

von der die große Mehrheit einen wirklichen Abzug ausAfghanistan befürwortet, wie Umfragen zeigen.

Terrorismus lässt sich nicht mit Krieg bekämpfen.Um Waffenruhe und einen anschließenden Friedenspro-zess zu erreichen, ist nicht die Aufstockung, sondern derAbzug aller Truppen sowie eine zivile Aufbauhilfe einepolitische Notwendigkeit. Das Töten unschuldiger Men-schen muss beendet werden. Als einzige Antikriegsparteiim Deutschen Bundestag begrüßen wir die Entscheidungder niederländischen Sozialdemokraten. Diese habenihre Forderung eines kompletten Abzugs der Truppenkonsequent vertreten – bis zum Ausstieg aus der Regie-rung. Die SPD im Bundestag sollte sich ein Beispiel da-ran nehmen.

Kathrin Vogler (DIE LINKE): Ich stimme gegen dieFortsetzung des Mandats, weil ich gerade auch als Ge-sundheitspolitikerin den Einsatz der Bundeswehr inAfghanistan für gescheitert halte.

Ich habe an der Afghanistan-Konferenz im Dezemberin Bonn teilgenommen und dort die Berichte über die an-geblichen Erfolge auch im Gesundheitsbereich gehört.Auch hier im Parlament hat uns Minister Westerwellenoch am 15. Dezember 2011 erklärt: Über 80 Prozentder afghanischen Bevölkerung habe Zugang zu Gesund-heitsleistungen.

Ganz anderes hingegen berichtet uns etwa dieHilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, die in Afghanis-tan tätig ist. In den dortigen Behandlungsstationen gibtes regelmäßig Schwerverletzte, die mehrere Tagesreisenhinter sich haben, um behandelt werden zu können. Ins-besondere Frauen haben kaum Zugang zum Gesund-heitswesen; die Quote der Mütter- und Säuglingssterb-lichkeit ist nach UN-Angaben heute nicht geringer als2001.

Die ehemalige afghanische Parlamentarierin MalalaiJoya hat mir berichtet, dass die verbreitete Korruption inAfghanistan auch vor dem Gesundheitssystem nichthaltmacht. So verlangen viele Ärztinnen und Ärzte vonihren Patientinnen und Patienten 80 bis 120 Dollar, be-vor sie überhaupt mit ihnen sprechen. Das können sichin einem der ärmsten Länder der Welt ganz sicher nicht80 Prozent der Menschen leisten.

Die Ärzte ohne Grenzen berichten ebenfalls, dass diemilitärische Intervention für ihre Arbeit überhaupt nichthilfreich ist. Im Gegenteil fühlen sich ihre Mitarbeiterund Mitarbeiterinnen, wie die vieler anderer NGOs auch,dort am sichersten, wo das Militär am weitesten entferntist.

Die unwürdigen Zustände in der Gesundheitsversor-gung sprechen allen Erfolgsberichten des Bundeswehr-einsatzes Hohn. Gerade auch als Gesundheitspolitikerinsage ich: Die Beendigung des Krieges wird eine bedarfs-gerechte Gesundheitsversorgung erst möglich machen.Wenn nur ein Bruchteil des Geldes, das bisher für denKrieg verpulvert wird, in die medizinische Versorgungder Bevölkerung fließen würde, würde es den Menschenin Afghanistan besser gehen. Deshalb kann ich einer er-

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neuten Verlängerung dieser falschen Politik nicht zu-stimmen.

Johanna Voß (DIE LINKE): Ich stimme gegen dieFortsetzung des Mandats, weil sich bis heute an derSituation am Hindukusch nichts verändert hat. DieRegion ist Opiumlieferant Nummer eins, der Bildungs-stand weiterhin katastrophal. Das Volk wendet sich sei-nen jeweiligen Stammesfürsten zu und die wiederumpaktieren mit den Taliban. Der Einsatz ist gescheitert.Untermauert wird dies bedauerlicherweise durch diesteigende Anzahl toter deutscher Soldaten. Der einzigrichtige Befehl kann daher nur sein: Kehrt Marsch! Sol-daten sind keine Mörder, und das muss so bleiben!

Die Bundesregierung selbst räumt in ihrem letztenFortschrittsbericht zu Afghanistan ein: „Die Zahl derzivilen Opfer hat 2011 zugenommen.“

Dort heißt es weiter: Die Gesamtzahl der „Zwischen-fälle“ liegt immer noch weit über dem Wert von 2009,wo 16 500 dieser Vorfälle gezählt wurden. ZwischenOktober 2010 und Oktober 2011 unterscheiden sich dieZahlen minimal: statt 3 200 nun 2 900 „Zwischenfälle“.Das heißt, dass im Oktober 2011 Tag für Tag nach of-fiziellen Angaben 100 Angriffe mit Hand- und Panzer-abwehrwaffen, Beschuss durch Mörser und Raketen,Beschuss von Flugzeugen, Einsatz von Sprengvorrich-tungen, Selbstmordanschläge und sonstige Überfälle aufdie ISAF und ihre afghanischen Verbündeten stattfinden.Die Zahl gibt keine Auskunft darüber, wie viele Angriffeund Bombardements die NATO gestartet hat, wie vieleRazzien die KSK durchgeführt haben.

Auf der Suche nach Aufständischen terrorisiert dieNATO jede Nacht afghanische Familien. 2011 wurdenim Schnitt 19 Kommandoaktionen pro Tag durchgeführt,Soldaten treten Haustüren ein und überfallen Afghanenim Schlaf. Routinemäßig mordet die NATO Unschul-dige. Allein im letzten Sommer wurden im NATO-Krieglaut UN-Angaben über 3 000 Zivilisten getötet.

Es sind die Armut, das Unrecht und der NATO-Ter-ror, der den Aufständischen wie in früheren Kolonial-kriegen immer neue Rekruten zuführt. Allein im vergan-genen Jahr sind 20 000 der insgesamt 126 000afghanischen Polizisten desertiert – auch weil der Soldeines einfachen Polizisten unter dem Existenzminimumliegt. Der Versuch der NATO, das Karsai-Regime durchBomben und Razzien zu stabilisieren, ist gescheitert.

Der Afghanistan-Krieg ist ein sinnloser Krieg. Dieangebotene Strategie, den Krieg durch schrittweiseÜbertragung der Verantwortlichkeiten zu „afghanisie-ren“, erscheint bei näherer Betrachtung aussichtslos. ImUS-Haushalt sind für das kommende Jahr 12,8 Milliar-den US-Dollar für die Ausbildung und Ausrüstung loka-ler afghanischer „Sicherheitskräfte“ eingeplant. ZumVergleich: Der gesamte Staatshaushalt Afghanistansbeträgt lediglich 1,5 Milliarden US-Dollar.

Mit militärischen Mitteln war und ist in Afghanistannichts zu erreichen. Und deshalb stimme ich der Fortset-zung des Mandats nicht zu.

Anlage 3

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Dr. Tobias Lindner undTabea Rößner (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN) zur namentlichen Abstimmung über dieBeschlussempfehlung und den Bericht zu demAntrag: Fortsetzung der Beteiligung bewaffne-ter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz derInternationalen Sicherheitsunterstützungs-truppe in Afghanistan (International SecurityAssistance Force, ISAF) unter Führung derNATO auf Grundlage der Resolutionen 1386(2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Re-solution 2011 (2011) vom 12. Oktober 2011 desSicherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages-ordnungspunkt 7)

Über zehn Jahre nach dem 11. September 2001 undden damit verbundenen Einsätzen in Afghanistan ist esgeboten, das militärische Engagement in Afghanistansukzessive und verantwortungsvoll zu reduzieren undschließlich in absehbarer Zeit zu beenden.

Deutschland hat durch seinen Einsatz in Afghanistaneine Schutzverantwortung für die afghanische Bevölke-rung übernommen. Dieser Verantwortung müssen wirsowohl mit unserem zivilen als auch militärischen Enga-gement gerecht werden. Ein sofortiger Abzug bringt dasenorme Risiko mit sich, dass das Land in einem nochschlimmeren und blutigeren Bürgerkrieg versinkt. Einsofortiger Abzug gefährdet nicht nur bereits Erreichtes,sondern auch die Zukunft der afghanischen Kinder,Frauen und Männer in existenzieller Art und Weise.

Das Engagement in Afghanistan wurde durch die in-ternationale Gemeinschaft beschlossen. Ein notwendigerund verantwortungsvoller Abzug erfordert ein koordi-niertes Vorgehen, abgestimmt mit den davon betroffenenNationen. Ein nicht abgesprochener, unilateraler Abzugmüsste durch andere Beteiligte kompensiert werden undwürde deren Belastung entsprechend stark erhöhen.

Der Abzug aus Afghanistan kann nicht von heute aufmorgen geschehen. Die beteiligten Nationen haben sichauf das Jahr 2014 als Abzugsdatum geeinigt. Bis dahinsollen die afghanischen Sicherheitskräfte dazu befähigtwerden, selbst für die Sicherheit in Afghanistan zu sor-gen. Wir möchten, dass auch Deutschland weiterhin ei-nen Beitrag zu dieser notwendigen Ausbildung leistet.

Wir begrüßen grundsätzlich, dass die Bundesregie-rung die Mandatsobergrenze auf 4 900 Soldatinnen undSoldaten absenkt, auch wenn die Reduktion in unserenAugen größer hätte ausfallen können. Skeptisch stehenwir jedoch der bloßen Ankündigung gegenüber, dass dasKontingent bis zum Ende des Mandatszeitraumes auf4 400 Soldatinnen und Soldaten verkleinert werde, ohneklare Kriterien oder einen konkreten Zeitplan vorzule-gen. Diese Aussage ist in unseren Augen viel zu unver-bindlich. Im Allgemeinen gilt dies auch für den Abzugdeutscher Truppen bis 2014: Die Bundesregierung bleibtein konkretes Abzugskonzept schuldig.

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Es gibt zahlreiche Aspekte, die uns an einem fortdau-ernden militärischen Engagement zweifeln lassen.

Der Militäreinsatz dominiert die Debatte über Afgha-nistan. Nur das zivile Engagement kann jedoch derafghanischen Bevölkerung eine wahrhaft nachhaltigePerspektive bieten. Nur zivile Aufbauhilfe kann zumAufbau von Verwaltungsstrukturen, eines Justiz-, Bil-dungs- oder auch Gesundheitssystems beitragen. Nurdurch die zivilen Anstrengungen kann sich eine nachhal-tige Wirtschaftsperspektive entwickeln. Die zivile Auf-baustrategie darf militärischen Zielsetzungen nicht un-tergeordnet werden. Die Bundesregierung verweigerteine selbstkritische Aufarbeitung dieses Problems.

Trotz des Militäreinsatzes ist die Sicherheitslage be-sorgniserregend. UNAMA meldet einen Anstieg der zi-vilen Opfer im Vergleich zum Vorjahr um 15 Prozent.Auch wenn die Verantwortung dafür überwiegend Auf-ständischen anzulasten ist, zeigt dies doch, dass ein somassives Militäraufgebot nicht dazu in der Lage ist, dasLand zu befrieden.

Ganz im Gegenteil führen kontraproduktive NightRaids oder Capture-or-kill-Operationen nur zu weiterenOpfern und zur Verunsicherung seitens der Bevölkerung.Sie führen zu weiterer Radikalisierung und treiben somitdie Gewaltspirale weiter an.

Obwohl es Argumente für den weiteren Verbleib derBundeswehr in Afghanistan gibt, sehen wir ebenso ge-wichtige Entwicklungen, die uns an der Wirksamkeit desmilitärischen Engagements entscheidend zweifeln las-sen.

Wir haben uns dazu entschieden, uns bei der Abstim-mung über die Fortsetzung des ISAF-Mandates der Bun-deswehr zu enthalten. Ein einfaches „Weiter so“ könnenwir ebenso wenig vertreten wie einen sofortigen Abzug.Dies ist eine Gewissensentscheidung.

Der Entschließungsantrag unserer Fraktion findet un-sere Unterstützung und legt unsere Position im Hinblickauf den Afghanistan-Einsatz näher dar.

Anlage 4

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Ute Koczy und Dr. WolfgangStrengmann-Kuhn (beide BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung überdie Beschlussempfehlung und den Bericht zudem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung be-waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatzder Internationalen Sicherheitsunterstützungs-truppe in Afghanistan (International SecurityAssistance Force, ISAF) unter Führung derNATO auf Grundlage der Resolutionen 1386(2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Re-solution 2011 (2011) vom 12. Oktober 2011 desSicherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages-ordnungspunkt 7)

Erneut stimmen wir über das Mandat zur Entsendungvon deutschen Soldatinnen und Soldaten nach Afghanis-

tan ab. Die komplexe Situation in diesem Land und dieProbleme bei der Einschätzung der Lage geben weiter-hin Anlass zu vielen Fragen und erschweren die Ent-scheidung enorm.

Wir schicken voraus, dass unser Dank und unsereWertschätzung denjenigen gelten, die als Soldatinnenund Soldaten, als zivile Helferinnen und Helfer in Ver-bindung mit ihren Familienangehörigen Aufgaben in Af-ghanistan erfüllen. Dieses Mandat in Afghanistan fordertmitunter den höchsten Einsatz, und das darf nie verges-sen werden. Auch angesichts dieser Verantwortung rin-gen wir um die richtige Entscheidung.

In der Abwägung unserer Argumente sind wir zu ei-ner Ablehnung des Mandats gekommen und möchtendiese mit der vorliegenden Erklärung begründen. UnsereAblehnung ist auf keinen Fall mit der Forderung nach ei-nem Sofortabzug gleichzusetzen. Einen Sofortabzugweisen wir deutlich zurück, da dies die Situation in Af-ghanistan in unverantwortbarer Weise destabilisierenwürde.

Dieses Mandat für 2012 wird unter anderen Vorzei-chen als die bisherigen beschlossen. Denn erstmals solldas deutsche militärische Engagement – wenn auch nurin geringem Maße – zurückgeführt werden. Die Zeichenstehen auf Abzug bis 2014, und bis dahin soll das Not-wendige geleistet werden, um einen geordneten Überga-beprozess an die afghanische Regierung zu ermöglichen.

Aber weiterhin folgt dieses Mandat nicht dem Primat„Zivil vor Militär“. Die Strategie der offensiven Auf-standsbekämpfung und der gezielten Tötungen wirdfortgesetzt. Dies halten wir für falsch, weil es zur Gewalt-eskalation beiträgt und kontraproduktiv für die Errei-chung des Ziels einer Stabilisierung von Afghanistan ist.So ist die Sicherheitslage in Afghanistan weiterhin be-sorgniserregend und eine Trendwende nicht absehbar.Im Gegenteil, die Sicherheitslage hat sich insbesonderefür die Bevölkerung in großen Teilen des Landes ver-schlechtert. Daher überzeugt die Bewertung der Bundes-regierung im aktuellen Fortschrittsbericht nicht. DieZahl der zivilen Opfer hat sich laut der Beobachtermis-sion der Vereinten Nationen in Afghanistan 2011 im Ver-gleich zum Vorjahr noch einmal um fast 15 Prozent er-höht. Auch deshalb schwindet das Vertrauen in dieISAF-Truppen.

Die Dominanz des Militärischen wird begleitet vomweitgehenden Fehlen einer am tatsächlichen Bedarforientierten zivilen und entwicklungspolitischen Auf-baustrategie, die in Abstimmung mit den afghanischenund internationalen Partnerinnen und Partnern ausgear-beitet werden müsste. Einer fundierten, selbstkritischenAufarbeitung des bisher Geleisteten verweigert sich dieBundesregierung bis heute, sodass eine systematischeGrundlage für die Beurteilung von Erfolgen und Miss-erfolgen insbesondere im entwicklungspolitischen Auf-bauprozess fehlt.

Uns ist bewusst, dass Afghanistan noch lange aufsolch eine Unterstützung angewiesen ist. Gerade deshalbist eine fundierte Diskussion der bestmöglichen Maß-nahmen unerlässlich und dringend geboten, genauso wie

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die Bereitschaft der Bundesregierung, sich dem öffentli-chen Diskurs über die Situation in Afghanistan zu stel-len. Diese vermissen wir. So wichtig die Ausrichtungund die konstruktive Begleitung der internationalenKonferenzen zu Afghanistan sind, so gilt: Wenn dieseDebatten nicht in die deutsche Öffentlichkeit getragenwerden, wird der Abkehr an Interesse und Bereitschaft,sich für dieses faszinierende Land einzusetzen, Vorschubgeleistet.

Wir kritisieren das Fehlen einer Agenda für den ent-wicklungspolitischen Aufbau bis 2014 und danach sowiedas Fehlen eines Stufenplans, wie der militärische Ab-zug funktionieren kann, ohne dass in Afghanistan ein er-neuter Bürgerkrieg ausbricht.

Anlage 5

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Cornelia Behm, Hans-JosefFell, Tom Koenigs, Omid Nouripour, ManuelSarrazin und Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmungüber die Beschlussempfehlung und den Berichtzu dem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung be-waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatzder Internationalen Sicherheitsunterstützungs-truppe in Afghanistan (International SecurityAssistance Force, ISAF) unter Führung derNATO auf Grundlage der Resolutionen 1386(2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Re-solution 2011 (2011) vom 12. Oktober 2011 desSicherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages-ordnungspunkt 7)

Nur eine politische Lösung kann verhindern, dass Af-ghanistan nach dem Abzug der internationalen Truppenin einen neuen, blutigen Bürgerkrieg fällt. Die Bundesre-gierung und die internationale Gemeinschaft müssen da-her ihre Anstrengungen erhöhen, um den Verhandlungs-und Reintegrationsprozess in Afghanistan zu unterstüt-zen und eine Friedenslösung unter Einbeziehung der be-teiligten Nachbarstaaten zu erzielen. Deutschland sollteseinen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nut-zen, um eine Initiative auf den Weg zu bringen, die alleafghanischen und internationalen Akteure unter demDach der Vereinten Nationen an den Verhandlungstischbringt. Gleichzeitig muss sich Deutschland dafür einset-zen, dass die erreichten Fortschritte insbesondere beiMenschenrechten sowie für Frauen und Mädchen imRahmen der Verhandlungen nicht ausgehöhlt werden.

Der zivile Aufbau in Afghanistan erfordert ein lang-fristiges Engagement der internationalen Gemeinschaftund verlässliche Zusagen für Hilfen und Unterstützungs-leistungen auch über das Jahr 2014 hinaus. Die Bundes-regierung belässt es bislang bei vagen Zusagen undunkonkreten Versprechen. Um der VerantwortungDeutschlands für die Menschen in Afghanistan gerechtzu werden, muss die Bundesregierung bindende Ver-pflichtungen aussprechen. Hierzu gehört, schon heuteeine Verstetigung der zivilen Zusammenarbeit in Höhevon mindestens 430 Millionen Euro auch über 2014 hi-

naus zuzusagen. Dies ist auch erforderlich, da in Afgha-nistan die Befürchtung zunimmt, dass mit dem militäri-schen Abzug auch die Aufbauhelferinnen und -helfer dasLand verlassen werden. Ein solches Vorgehen wäre un-verantwortlich.

Im militärischen Engagement setzen Partnernationenweiter auf kontraproduktive „gezielte Tötungen“. DieBundesregierung muss sich im Rahmen von ISAF undgegenüber den Partnern dafür einsetzen, dass dieses fal-sche Vorgehen beendet wird. Sie muss außerdem sicher-stellen, dass sich die Bundeswehr nicht an solchen Ak-tionen beteiligt.

Trotz unserer Kritik an der unzureichenden und teil-weise fehlgeleiteten Afghanistan-Strategie der Bundes-regierung stimmen wir dem Mandat zur Verlängerungdes Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr bis zum31. Januar 2013 zu. Dies ist eine Gewissensentschei-dung.

Mit dem Engagement der internationalen Gemein-schaft haben wir eine Schutzverantwortung für die Men-schen in Afghanistan übernommen. Wir fühlen unsweiterhin verpflichtet, sie nicht alleine zu lassen. Zu-stimmung bedeutet auch, dass wir Mitverantwortungübernehmen für den schwierigen, oft lebensgefährlichenEinsatz der Soldatinnen und Soldaten und der zivilenAufbauhelferinnen und Aufbauhelfer.

Ein sofortiger militärischer Abzug würde die Men-schen in Afghanistan in einem neu eskalierenden Bür-gerkrieg alleine zurücklassen und die gesamte Regiondestabilisieren. Die Polizei und die Armee Afghanistanssind noch nicht in der Lage, verlässlich für ein Mindest-maß an Sicherheit im Land zu sorgen. Expertinnen undExperten sowie Vertreterinnen und Vertreter der Zivilge-sellschaft aus Afghanistan machen immer wieder deut-lich, dass deswegen eine militärische Präsenz internatio-naler Truppen notwendig ist.

Ein einseitiger Abzug der Bundeswehr wäre gleich-zeitig der Ausstieg aus einer verantwortlichen multilate-ralen Politik. Das weitere Vorgehen in Afghanistan mussinnerhalb der internationalen Gemeinschaft abgestimmtwerden. Es darf keinen deutschen Sonderweg beim Ab-schluss des militärischen Engagements geben.

Anlage 6

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Agnes Brugger, KatjaDörner, Dr. Anton Hofreiter, Uwe Kekeritz,Sven-Christian Kindler, Sylvia Kotting-Uhl,Maria Klein-Schmeink, Agnes Krumwiede,Monika Lazar, Beate Müller-Gemmeke, LisaPaus, Ulrich Schneider und Dorothea Steiner(alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur nament-lichen Abstimmung über die Beschlussempfeh-lung und den Bericht zu dem Antrag: Fortset-zung der Beteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte an dem Einsatz der InternationalenSicherheitsunterstützungstruppe in Afghanis-tan (International Security Assistance Force,

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ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlageder Resolutionen 1386 (2001) und folgender Re-solutionen, zuletzt Resolution 2011 (2011) vom12. Oktober 2011 des Sicherheitsrates der Ver-einten Nationen (Tagesordnungspunkt 7)

Die Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundes-wehr gehört zu den schwierigsten Entscheidungen, dieAbgeordnete des Deutschen Bundestages zu treffen ha-ben, und fordert wie kaum eine andere das Gewissen undHerz der Parlamentarierinnen und Parlamentarier. DemEngagement der in Afghanistan eingesetzten zivilenHelferinnen und Helfer, Soldatinnen und Soldaten sowieihren Familienangehörigen gilt unser großer Dank undunsere Wertschätzung.

Das vorliegende Mandat setzt die Strategie der offen-siven Aufstandsbekämpfung und gezielten Tötungenfort. Wir stimmen gegen einen solchen Militäreinsatz,der zur Gewalteskalation beiträgt und kontraproduktivfür die Erreichung des Ziels einer Stabilisierung Afgha-nistans ist. Unsere Ablehnung des Mandats ist nichtgleichzusetzen mit der Forderung nach einem Sofortab-zug, die wir ausdrücklich zurückweisen, da dies die Si-tuation in Afghanistan destabilisieren würde.

Vor einem Jahrzehnt begannen die Operation Endu-ring Freedom, OEF, und der ISAF-Einsatz in Afghanis-tan, an dem sich die Bundeswehr beteiligt. Sicherheitund Stabilität sind jedoch in Afghanistan nicht einge-kehrt. Im Gegenteil, die Sicherheitslage hat sich in denletzten Jahren dramatisch verschlechtert.

Auch das vergangene Jahr war geprägt von gewaltsa-men Auseinandersetzungen zwischen ISAF-Truppenund afghanischen Sicherheitskräften auf der einen Seiteund Taliban und anderen Aufständischen auf der ande-ren. Zwar ist die Bedrohungslage im Süden am höchsten,jedoch auch im deutschen Einsatzgebiet im Norden Af-ghanistans hat sie sich weiter deutlich verschlechtert.Brutale Anschläge auf die Zivilbevölkerung gehörenzum Alltag in Afghanistan. Dem letzten Bericht der Be-obachtermission der Vereinten Nationen in Afghanistan,UNAMA, zufolge hat sich die Zahl der zivilen Opfer2011 in Afghanistan insgesamt nochmals um 15 Prozenterhöht. Für die meisten zivilen Opfer sind die Anschlägeder Aufständischen verantwortlich. Doch auch die An-zahl der zivilen Opfer von ISAF-Luftschlägen hat sicherhöht.

Die Strategie der offensiven Aufstandsbekämpfungund der gezielten Tötungen hat in den vergangenen bei-den Jahren die Sicherheit der afghanischen Zivilbevölke-rung nicht erhöht, sondern zur Eskalation der Gewalt bei-getragen. Die Ausweitung der gezielten Tötungen vonvermeintlichen Talibankämpfern zerstört in der afghani-schen Bevölkerung den Rückhalt für den Einsatz undfördert die Radikalisierung und den Zulauf bei den Auf-ständischen. Da die Drohnenangriffe in Pakistan zahlrei-che Opfer unter der pakistanischen Bevölkerung fordern,stößt der Einsatz auch in Pakistan zunehmend auf Ableh-nung. Die notwendige Einbindung Pakistans in eine Lö-sung des Konfliktes wird vor diesem Hintergrund immerschwieriger. Die Bundeswehr beteiligt sich vor allem imRahmen von gemeinsamen Ausbildungsoperationen mitafghanischen Sicherheitskräften, dem sogenannten Part-

nering, an der offensiven Aufstandsbekämpfung. DieBefürchtungen, dass die Strategie der offensiven Auf-standsbekämpfung und der gezielten Tötungen dieChancen auf Frieden schmälert, haben sich auf tragischeWeise bewahrheitet. Wir fordern die Einstellung offensi-ver militärischer Kampfhandlungen und die Beendigungdes Partnering. Deutschland muss sich außerdem dafüreinsetzen, dass die völkerrechtswidrigen gezielten Tö-tungen aufhören. Sie stehen einer zivilen Lösung desKonfliktes durch Verhandlungen entgegen. Wir lehnendiese Schwerpunktlegung auf den Einsatz militärischerGewalt, die zahlreiche Menschenleben kostet, ab. Diederzeitige Kriegsführung in Afghanistan ist mit demGrundsatz des größtmöglichen Schutzes der Zivilbevöl-kerung nicht vereinbar.

Für einen nachhaltigen Frieden in Afghanistan ist einbreiter Versöhnungsprozess nötig, der alle Akteure, ins-besondere die afghanische Zivilgesellschaft, miteinbe-zieht. Menschenrechtsverletzungen – ungeachtet vonwelcher Seite – müssen mit geeigneten Instrumenten derÜbergangsjustiz, Transitional Justice, aufgedeckt undaufgearbeitet werden. Nur so gibt es eine Chance, dassder Versöhnungsprozess in der nach wie vor traumati-sierten und zerrissenen afghanischen Gesellschaft Erfolghat. Dies ist eine große Herausforderung, da Frieden undGerechtigkeit im von Gewaltherrschaft und Krieg ge-prägten Afghanistan nur schwer miteinander verwirk-licht werden können. Es müssen Kompromisse gemachtwerden, die in demokratischer und menschrechtlicherHinsicht problematisch sind. Eine dauerhafte Versöh-nung, die von der Gesamtgesellschaft Afghanistans un-terstützt wird, ist jedoch mit der aktuellen afghanischenRegierung äußerst schwierig. Denn das Regime vonKarzai und das politische System insgesamt befindensich wegen Wahlbetrugs und massiver Korruption in ei-ner tiefen Legitimitätskrise. All diese Herausforderun-gen werden von dem vorliegenden Mandat und derAfghanistan-Politik der Bundesregierung nicht angegan-gen.

Wir halten den Abzug der internationalen Kampftrup-pen bis 2014 für richtig. Das vorliegende Mandat lässthierfür jedoch einen klaren Zeitplan vermissen. Die da-rin vorgesehene Absenkung der Mandatsobergrenzereicht nicht aus, um den Abzug schrittweise durchzufüh-ren. Rechnet man die Streichung der flexiblen Reserveheraus, die de facto bisher ohnehin kaum eingesetztwurde, werden deutlich weniger Soldatinnen und Solda-ten abgezogen, als von der Bundesregierung suggeriert.Die Übergabe der Provincial Reconstruction Teams aneine zivile Leitung verläuft mit großen Schwierigkeiten,da ein tragfähiges Konzept zur Stärkung der zivilen Seitefehlt und nicht genügend ziviles Personal zur Verfügunggestellt wird. Wir fordern einen konsequenten Abzug derKampftruppen aus Afghanistan und eine konsequenteUmwandlung in einen zivilen Einsatz.

Trotz einiger Erfolge beim zivilen Aufbau ist das Zi-vile dem Militärischen noch immer untergeordnet. DieUN-Mission UNAMA in Afghanistan ist im Vergleichzur NATO-Mission völlig unterfinanziert. Bei der Unter-stützung des Aufbaus eines funktionierenden afghani-schen Sicherheitsapparats kommt der Polizeiaufbau vielzu kurz. Aber auch die verschlechterte Sicherheitslage,

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die politische Instabilität des Karzai-Regimes und gras-sierende Korruption hemmen die Wirkung der Entwick-lungszusammenarbeit und des zivilen Aufbaus in Afgha-nistan. Mit großer Sorge erfüllt uns die Frage, wiegesichert werden kann, dass in der Zeit nach dem Abzug2014 das internationale Engagement für den Aufbau inAfghanistan fortgesetzt werden kann. Die Finanzierungsollte zumindest auf dem bisher erreichten Niveau ge-währleistet bleiben. Die afghanische Bevölkerung mussdabei im Mittelpunkt der Zusammenarbeit stehen. Auchdie Koordination des zivilen Aufbaus muss dringendverbessert werden. Es bedarf eines Gesamtkonzepts undeiner sinnvollen Schwerpunktlegung für die Wirtschafts-entwicklung Afghanistans. Dabei müssen wir uns an dieBedürfnisse der afghanischen Bevölkerung und die Ge-gebenheiten vor Ort anpassen. Der für die afghanischeWirtschaft zentrale landwirtschaftliche Sektor muss be-sonders berücksichtigt werden. Auch die Modernisie-rung des afghanischen Bildungssystems und der Ausbauvon Hoch- und Berufsschulen sollten künftig stärker imVordergrund stehen.

Der Erfolg der Entwicklungszusammenarbeit in Af-ghanistan setzt ebenso wie der Aufbau des Sicherheits-sektors funktionierende Regierungs- und Verwaltungs-strukturen voraus. Es gibt jedoch im vorliegendenMandat keine Auskunft über den zur Verbesserung bzw.Schaffung solcher Strukturen benötigten deutschen Bei-trag. Statt diese Mängel zu beheben, wird sogar völligauf eine nähere Beschreibung des zivilen EngagementsDeutschlands in Afghanistan verzichtet.

Unser Votum richtet sich nicht gegen die in Afghanis-tan eingesetzten Soldatinnen und Soldaten, sondern gegendie falsche Afghanistan-Politik der Bundesregierung. AlsMitglieder des Bundestages fühlen wir uns dazu ver-pflichtet, ein Mandat, das auf Eskalation statt Stabilisie-rung setzt und somit das Leben der Zivilbevölkerung unddeutschen Einsatzkräfte gefährdet, abzulehnen.

Anlage 7

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Angelika Graf (Rosenheim),Uwe Beckmeyer, Lothar Binding (Heidelberg),Martin Burkert, Elvira Drobinski-Weiß, PetraErnstberger, Dr. Barbara Hendricks, GustavHerzog, Christel Humme, Dr. Bärbel Kofler,Dr. Matthias Miersch, Aydan Özoğuz, SwenSchulz (Spandau) und Stefan Schwartze (alleSPD) zur namentlichen Abstimmung über dieBeschlussempfehlung und den Bericht zu demAntrag: Fortsetzung der Beteiligung bewaffne-ter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz derInternationalen Sicherheitsunterstützungstruppein Afghanistan (International Security Assis-tance Force, ISAF) unter Führung der NATOauf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001)und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution2011 (2011) vom 12. Oktober 2011 des Sicher-heitsrates der Vereinten Nationen (Tagesord-nungspunkt 7)

Ich stimme dem Antrag der Bundesregierung aus fol-genden zwei Gründen zu:

In ihrem Antrag auf Fortsetzung der Beteiligung be-waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz in Af-ghanistan hat die Bundesregierung zahlreiche Forderun-gen der SPD übernommen. Das Mandat leitet den vonder SPD seit langem geforderten Abzug der deutschenTruppen in Afghanistan ein. Die Reduzierung des Bun-deswehrkontingents auf 4 900 und schließlich – als Ziel-vorgabe in der Begründung des Antrags – im Verlauf desJahres 2012 auf 4 400 Soldatinnen und Soldaten ent-spricht einer der Kernforderungen der SPD, unsere Trup-penstärke kontinuierlich zu reduzieren mit dem Ziel dervollständigen Verantwortungsübergabe in die Hände derafghanischen Sicherheitskräfte bis 2014.

Einige NGOs, die sich seit vielen Jahren in Afghanis-tan engagieren und daher die Lage der Zivilgesellschaftund im Besonderen die der Frauen und Mädchen ken-nen, haben in einem Gespräch mit Abgeordneten vor ei-niger Zeit einen stufenweisen, geordneten Abzug derTruppen empfohlen. Sie befürchten bei einem sofortigenRückzug – dieser Einschätzung schließe ich mich an –eine Erhöhung der Gewalt, die besonders diejenigen Be-völkerungsgruppen trifft, die am anfälligsten sind:Frauen, Kinder und Minderheiten. Zudem sähen sie beieinem sofortigen Abzug keine Möglichkeit, sich auf dieveränderte Lage einzurichten.

Ich habe allerdings folgende Bedenken:

Der Antrag beschreibt die zivil-militärische Zusam-menarbeit als einen wichtigen Teil des Engagements derdeutschen Seite. Viele NGOs wollen – auch aus Sicher-heitsgründen – nicht mit der Bundeswehr kooperieren.Durch das vom Entwicklungsministerium verfügte Ko-operationsgebot für in Afghanistan tätige NGOs, diedurch deutsche Finanzmittel unterstützt werden wollen,geht den Afghanen schon seit zwei Jahren wichtige Un-terstützung verloren. Gleichzeitig wird auf die im „Fort-schrittsbericht Afghanistan“ vom Dezember 2011 aufSeite 5 erwähnte Umstellung bei den PRTs, zum Beispielin Faizabad ab Dezember 2011, auf eine zivile Leitungund die daraus erwachsenden Konsequenzen nicht ein-gegangen.

Zudem geht der Antrag im Begründungsteil nur sehr ge-ringfügig auf die sich aus meiner Sicht seit 2007 deutlichverschlechternde Sicherheits- und Menschenrechtslage ein.Es fehlen Hinweise auf die notwendigen Bedingungen ei-nes zivilen Wiederaufbaus und eines verstärkten zivilenEngagements in den kommenden Jahren. Er beschreibtalso keinen wirklichen und richtungsweisenden Wechselder Strategie in Afghanistan und legt auch kein Konzeptfür das politische Handeln nach 2013/2014 vor. Der An-trag lässt offen, wie die Strategie im nächsten Jahr ge-staltet sein wird. Die bisherige militärische Strategie,eine offensive Aufstandsbekämpfung sowie das Partne-ring erachte ich nicht für die richtige Vorgehensweise fürdie verbleibenden zwei Jahre. Dies betrifft auch den inFachkreisen diskutierten eventuellen weiteren Verbleibnach 2014 von Truppen und Truppenteilen der Bundes-wehr in Afghanistan, die zum Beispiel im Bereich derAusbildung und Beratung der ANA eingesetzt werden

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sollen. Obwohl der Antrag den Abzug der Truppen bis2014 festschreibt, stellt Verteidigungsminister deMaizière in den letzten Tagen diesen Abzugstermin in-frage.

Der Antrag fokussiert vor allem die aktuelle militäri-sche Truppenreduzierung, wobei die Stärkung der Zivil-gesellschaft, also der entwicklungspolitische und men-schenrechtliche Aufbau, essenziell für die kommendenJahre sein wird. Besonders der Ausbau und die Festi-gung der Frauenrechte und des Gesundheitsbereichs so-wie die Rechtsstaatlichkeit bleiben völlig unerwähnt.Neben der Sicherheit für unsere Soldatinnen und Solda-ten muss die afghanische Bevölkerung im Mittelpunktdes deutschen Engagements stehen.

Hinsichtlich der Unterstützung der afghanischen Si-cherheitskräfte vermisse ich im Antrag, die Bindung derafghanischen Polizei an das Recht im Rahmen derRechtsstaatlichkeit zu fokussieren. Auch fehlt mir einHinweis auf die Wichtigkeit der Qualität der Ausbildungder afghanischen Sicherheitskräfte.

Der Antrag lässt außerdem offen, ob am Ende desEinsatzes eine wissenschaftliche Evaluierung der Fort-schritte und Entwicklungen durchgeführt wird. Dieswäre dringend erforderlich, um die begangenen Fehler inder Zukunft zu vermeiden.

Der Antrag verliert kein Wort über die Situation der-jenigen Afghaninnen und Afghanen, die mit der Bundes-wehr oder anderen deutschen Einrichtungen – auchNGOs – kooperiert haben. Im Falle einer steigenden Ge-fährdung dieses Personenkreises muss eine Aufnahme inDeutschland gewährleistet werden. Dies gilt auch fürAfghaninnen und Afghanen, die nach Afghanistan zu-rückgegangen sind, um ihr Land aufzubauen, und diewegen der langen Abwesenheit aus Deutschland ihrenAufenthaltstitel verloren haben.

Anlage 8

Erklärung nach § 31 GO

der Abgeordneten Martin Gerster, Hans-Joachim Hacker, Uwe Beckmeyer, Lothar Binding(Heidelberg), Willi Brase, Martin Burkert,Siegmund Ehrmann, Gabriele Fograscher,Dagmar Freitag, Ulrike Gottschalck, GustavHerzog, Steffen-Claudio Lemme, Heinz Paula,Dr. Carsten Sieling und Andrea Wicklein (alleSPD) zur Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung und den Bericht zu dem Antrag: NeueImpulse für die Sportbootschifffahrt (Tagesord-nungspunkt 15)

Der zur Abstimmung vorliegende Antrag enthält eineReihe von Vorschlägen zur Steigerung der Attraktivitätdes Wassertourismus in Deutschland, die mitgetragenwerden können. Die Umsetzung dieser Maßnahmenwerden bereits durch zwei Anträge – „Attraktivität desWassertourismus und des Wassersports stärken“ vom23. Mai 2007, Drucksache 16/5416; „Infrastruktur undMarketing für den Wassertourismus in Deutschland ver-

bessern“ vom 15. Oktober 2008, Drucksache 16/10593 –gefordert, die der Deutsche Bundestag in der letzten Le-gislaturperiode angenommen hatte und die bislang vonder Bundesregierung nur unzureichend umgesetzt wor-den sind. Der vorliegende Antrag „Neue Impulse für dieSportbootschifffahrt" bekennt sich zu den Zielen Erhaltder Sicherheit auf dem Wasser sowie erleichterter Zu-gang für Interessierte auf dem Wasser. Dem Sicherheits-erfordernis wird der Antrag jedoch tatsächlich in gravie-render Weise nicht gerecht.

Erstens. Mit der vorgesehenen Anhebung der Führer-scheinpflicht von 3,68 kW (5 PS) auf 11,4 kW (15 PS)werden entgegen den Hinweisen der meisten Sachver-ständigen in der Anhörung am 18. Januar 2012 bewusstRisiken für die Schifffahrt auf deutschen Gewässern inKauf genommen. Die völlige Freigabe der Führerschein-freiheit bis 11,4 kW (15 PS) selbst für stark befahreneBundeswasserstraßen wie dem Rhein und der Mosel undohne begleitende Regelungen zur Haftpflichtversiche-rung und zum Mindestalter der Bootsführer birgt Risi-ken, die in der Anhörung von den Sachverständigen vor-getragen wurden. Im Übrigen setzt sich der Antragoffenkundig über die Interessen anderer Wassersportlerund Wassertouristen hinweg, die muskelbetriebene Fahr-zeuge nutzen. Fehlende Erfahrung von Motorsportboot-führern, die nach dem Antrag ein Sportboot bis 11,4 kW(15 PS) ohne Prüfung führen könnten, schließt im Weite-ren Risiken im Schleusenbetrieb nicht aus. Der Antragnegiert völlig den offensichtlichen Konflikt mit Umwelt-schutzbelangen, da eine Schulung für Sportbootführerbeim Betrieb eines Sportbootes bis 11,4 kW (15 PS)nicht mehr erfolgt und Beeinträchtigungen für Uferbe-festigungen und Röhrrichtgebiete durch Wellenschlagnicht ausgeschlossen werden können.

Es ist unverantwortlich, ohne Bestehen einer bundes-weiten Unfalldatei für den Bereich der Sportschifffahrtund einer entsprechenden gesicherten Analyse der Sport-bootunfälle die Ausdehnung der Führerscheinfreiheitvorzunehmen.

Zweitens. Die bisherigen Regelungen zur Nutzungvon Charterbooten haben sich aus touristischer Sicht be-währt. Die Anhörung hat jedoch auch ergeben, dass beiKontrollen durch die Wasserschutzpolizei immer wiederMängel festgestellt werden. Insofern erwächst aus derim Antrag geforderten „Freigabe von zusätzlichen Fahrt-strecken mit geringer Güterschifffahrt“ ein nicht kalku-lierbares Risiko. Dieses würde sowohl bei Binnenrevie-ren, jedoch mehr noch auf Ostseerevieren entstehen, dadie Einweisungen für Bootscharterer die notwendigentheoretischen und praktischen Kenntnisse hierfür nichtvermitteln können.

Drittens. Auch wenn der Antrag die Überprüfung derRegelungen zur Führerscheinfreiheit bis 11,4 kW (15 PS)und zum Charterschein nach drei Jahren vorsieht, wür-den damit die aufgezeigten Sicherheitsrisiken und Kon-flikte mit anderen Wassersportlern und Wassertouristenund die Auswirkungen auf den Umweltbereich nichtausgeschlossen. Diese Überprüfungsregelung wird demZiel „Sicherheit auf dem Wasser“ nicht gerecht.

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Viertens. Wegen der damit verbundenen Kosten fürFührerscheininhaber wird die Umstellung der Dokumen-tation auf „Scheckkartenformat“ – Plastikkarte – abge-lehnt.

Anlage 9

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts zu dem Vorschlag für eine Verordnungdes Europäischen Parlaments und des Ratesüber Leitlinien der Union für den Aufbau destranseuropäischen Verkehrsnetzes (Tagesord-nungspunkt 11)

Arnold Vaatz (CDU/CSU): Die Europäische Kom-mission hat am 19. Oktober 2011 zur Schaffung eineseinheitlichen europäischen Verkehrsnetzes, TEN-V, fürStraßen, Schienenwege, Wasserstraßen und Flughäfenihren Verordnungsvorschlag zu den TEN-Leitlinien vor-gestellt. Der Vorschlag sieht ein zweilagiges europäi-sches Verkehrsnetz vor. Es besteht aus einem Kernnetzund einem Gesamtnetz, die beide auf den derzeitigen na-tionalen Planungen basieren. Das Kernnetz soll nach denVorstellungen der Kommission bis 2030 fertiggestelltwerden, das Gesamtnetz bis zum Jahr 2050.

Ziel des Vorschlags ist es, die noch wichtigen fehlen-den europäischen Verbindungen zwischen Verkehrskno-ten und Zentren herzustellen. Das neue TEN-V-Kernnetzsoll durch das umfassende Gesamtnetz von Zubringernauf regionaler und nationaler Ebene unterstützt werden.Der von der Europäischen Kommission geschätzte In-vestitions- und Finanzierungsbedarf für die Realisierungdes Kernnetzes beläuft sich auf 1 500 Milliarden Euro.Bis zum Jahr 2020 werden 500 Milliarden Euro benötigt.Zur Unterstützung der Mitgliedstaaten sollen von derKommission im Rahmen der parallel aufgestellten Ver-ordnung Infrastrukturfazilität „Connecting Europe“,CEF, von 2014 bis 2020 insgesamt 31,7 Milliarden Eurofür das transeuropäische Verkehrsnetz TEN-V bereitge-stellt werden. Der maßgebliche Finanzierungsaufwandverbleibt also bei den Mitgliedstaaten.

Zur Realisierung des Kernnetzes hat die Kommissionzehn länderübergreifende Entwicklungskorridore be-nannt. Durch Deutschland führen davon sechs Korridore.Mit den Kernnetzkorridoren möchte die EU-Kommissionüber ein effizientes Instrument verfügen, um die definier-ten Ziele durchzusetzen. Dazu hat sie Anforderungenvorgegeben, die objektiv in die Planungs- und Finanzie-rungshoheit der Mitgliedstaaten eingreifen.

Wir begrüßen das Konzept der Europäischen Kom-mission eines Kernnetzes und eines Gesamtnetzes sowiedie Festlegung europäischer Verkehrskorridore. Wirwollen ein lückenloses leistungsfähiges transeuropäi-sches Verkehrsnetz zusammen mit den anderen Mit-gliedstaaten verwirklichen.

Allerdings haben wir Bedenken gegen den Verord-nungsentwurf im Hinblick auf die Wahrung der Subsidi-arität und Verhältnismäßigkeit. Die Kommission beab-

sichtigt über das Instrumentarium der KernnetzkorridoreDurchführungsmaßnahmen gegenüber staatlichen In-stanzen der Mitgliedstaaten und auch gegenüber Dritten,zum Beispiel Infrastrukturunternehmen, zu ergreifen,um ihre Ziele umzusetzen. Mit der Umsetzung der Vor-schläge würde ein Präzedenzfall für zu weitreichendeDurchgriffsrechte der Kommission geschaffen werden.Dies geht uns zu weit.

Andererseits sehen wir bei gleichzeitiger Reduzierungder Kompetenzen der EU in dem Korridorkonzept derKommission die Chance für die gezielte Verknüpfung undEntwicklung von Wirtschaftszentren in der EuropäischenUnion. Beispielhaft sei der in Nord-Süd-Ausrichtung be-deutsame Entwicklungskorridor Hamburg–Rostock–Bur-gas/Türkische Grenze–Piräus–Lefkosia genannt. Damitwird auch das in unserem Koalitionsvertrag formulierteZiel erreicht, eine integrierte Raum-, Wirtschafts- undVerkehrsentwicklung und insbesondere ein internationalkonkurrenzfähiges Verkehrsinfrastrukturangebot in ei-nem europäischen Nord-Süd-Korridor zu schaffen. InVerknüpfung mit weiteren Korridoren wird die Verbin-dung zwischen der Nord- und Ostsee und dem Mittelmeersowie dem Schwarzen Meer hergestellt. Die neuen Korri-dore im TEN-V-Netz bieten gerade für strukturschwä-chere europäische Regionen neue Chancen für ihre wirt-schaftliche Entwicklung.

Wir – damit schließe ich an dieser Stelle unseren Ko-alitionspartner FDP und die SPD-Fraktion mit ein – ha-ben auch grundsätzliche Bedenken gegen die Rechts-form der TEN-Leitlinien als Verordnung anstatt einerRichtlinie. Interessant sind in diesem Zusammenhangdie Parallelwelten der Grünen.

So führen sie in ihrem Entschließungsantrag nochaus, dass alle Möglichkeiten der Rechtsformwahl ge-prüft werden sollen. In ihrer mündlichen Stellungnahme– namentlich Frau Dr. Valerie Wilms – im Ausschusshingegen haben sie die Verordnung als Rechtsform fürgeeignet angesehen.

Sie kritisieren in ihrem Antrag die mangelnde Umset-zung grenzüberschreitender Verkehrsprojekte in Deutsch-land, verzögern und bekämpfen aber gleichzeitig mit Ei-fer wichtige Verkehrsprojekte in Deutschland.

Zeigt dies vielleicht die dissoziative Identitätsstrukturder grünen Verkehrspolitik – lebend zwischen Realitätund Ideologie? Oder ist es mangelndes Rechtsverständ-nis? Sichtbar immer wieder in zahlreichen Formen derIgnoranz von bestehendem Baurecht für Verkehrspro-jekte in Deutschland.

Die Grünen erheben auch den Vorwurf, dass die ande-ren Fraktionen nur die nationale Sichtweise in den Vor-dergrund stellen, die europäischen Belange aber ver-nachlässigen. Genau dies ist nicht der Fall. Im Gegensatzzu der eingeschränkten europäischen Sichtweise derGrünen haben wir den von der Kommission vorgelegtenVerordnungsentwurf nach den geltenden europäischenGrundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeitbetrachtet – und vom Wissenschaftlichen Dienst desDeutschen Bundestages prüfen lassen. Der Wissen-schaftliche Dienst – wie übrigens auch die Regierung –

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18678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

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kommt in seiner Gesamtbewertung zu dem gleichenSchluss: Der Verordnungsvorschlag der Kommissionsteht nicht im Einklang mit den Vorgaben des Subsidiari-tätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzesnach Art. 5 Abs. 3 und 4 des EU-Vertrages.

Bei einer abgeschwächten Übertragung der mitglied-staatlichen Kompetenzen auf die EU erscheint dem Wis-senschaftlichen Dienst die Einhaltung der Anforderun-gen des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnis-mäßigkeitsgrundsatzes jedoch wahrscheinlich. Dies wol-len wir mit unserer Stellungnahme gegenüber der Bun-desregierung gemäß Art. 23 Abs. 4 GG verdeutlichen.Gegenüber einer möglichen Subsidiaritätsrüge haltenwir den Verhandlungsweg für zielführender.

Wir möchten mit Beschluss des Bundestages demBundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung den Auftrag geben, bei den weiteren Verhandlun-gen auf europäischer Ebene darauf hinzuwirken, dass dieMängel des vorliegenden Verordnungsentwurfes besei-tigt werden.

Ulrich Lange (CDU/CSU): Der Aufbau eines trans-europäischen Verkehrsnetzes ist für Europa von großerBedeutung. Wir brauchen innerhalb von Europa mög-lichst gute Verknüpfungen zentraler Verkehrsknoten-punkte zu einem leistungsfähigen zusammenhängendenVerkehrsnetz. Der schnelle und ungehinderte Transportvon Wirtschaftsgütern ist insbesondere für eine Export-nation wie Deutschland von großer Bedeutung.

Wir begrüßen deshalb die Initiative, transeuropäischeInfrastrukturprojekte zu fördern und damit Verkehrsin-frastrukturprojekte zu realisieren, die nicht nur dem je-weiligen Nationalstaat, sondern auch anderen europäi-schen Mitgliedstaaten nutzen und einen deutlichenMehrwert für die EU haben. Dies haben wir in unseremEntschließungsantrag, den die Koalitionsfraktionen ge-meinsam mit der SPD-Fraktion erstellt haben, deutlichgemacht. An dieser Stelle wird deutlich, dass wir in dereuropäischen Politik eine große Mehrheit im Bundestaghaben.

Es muss an dieser Stelle jedoch auch gefragt werden,ob der von der EU eingeschlagene Weg der richtige istoder ob es andere, praktikablere Lösungen gibt.

Aus meiner Sicht verstößt die Verordnung des Euro-päischen Parlaments und des Rates über die Leitliniengegen die Grundsätze der Subsidiarität und die Verhält-nismäßigkeit gemäß Art. 5 des Vertrages über die Euro-päische Union in Verbindung mit Art. 5 des ProtokollsNr. 2 zum Vertrag von Lissabon.

Erstens Subsidiarität: Auch wenn europäische The-menbereiche tangiert werden, fällt die Infrastrukturpla-nung, einschließlich Bau und Finanzierung, grundsätz-lich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, die auchbisher erfolgreich Planung, Finanzierung und Durchfüh-rung der einzelnen Projekte in eigener Regie durchge-führt haben. In der Verordnung wird unterstellt, dass einden Zielen der EU entsprechendes transeuropäischesVerkehrsnetz ausschließlich durch Koordination auf EU-Ebene erreichbar sei. Es wird dabei verkannt, dass ein

transeuropäisches Verkehrsnetz kein Selbstzweck ist,sondern dem Verkehrsbedarf in den jeweiligen Mitglied-staaten entsprechen muss und dass Investitionen den ge-samtwirtschaftlichen Anforderungen genügen müssen.

Der Verkehrsbedarf ergibt sich dabei sowohl aus demnationalen wie auch aus dem intereuropäischen und in-ternationalen Verkehr. Dieser Verkehr muss auf den na-tionalen Teilnetzen bewältigt werden. Folglich ist dasEigeninteresse der Mitgliedstaaten an bedarfsgerechtenInfrastrukturen groß. Deshalb ist auch in Art. 171 Abs. 2AEUV – Vertrag über die Arbeitsweise der Europäi-schen Union – vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten dieeinzelstaatlichen Politiken in diesem Bereich koordinie-ren. Diese Bestimmung geht davon aus, dass die Planungund Durchführung der innerstaatlich erforderlichenMaßnahmen in Eigenverantwortung der Mitgliedstaatenzu erfolgen hat. Insbesondere können aufgrund ihrer Fi-nanzierungsverantwortung, die neben der Herstellungauch die Erhaltung der Infrastrukturen umfasst, nur dieMitgliedstaaten selbst entscheiden, welche Infrastruktur-projekte in welchem zeitlichen Rahmen vordringlichumgesetzt werden.

Die Übertragung der Planungsentscheidung auf dieKommission und die Reduzierung der Aufgaben derMitgliedstaaten auf Finanzierung und Ausführung kämeeiner Kompetenzverlagerung gleich.

Zweitens Verhältnismäßigkeit: Die im Verordnungs-entwurf vorgeschlagenen Regelungen sind zur Realisie-rung eines transeuropäischen Verkehrsnetzes weder ge-eignet noch erforderlich oder angemessen. Regelungs-umfang und -dichte lassen bewährte nationale Strukturenund Verfahren außer Acht. Darüber hinaus entstehen denMitgliedstaaten finanzielle Belastungen durch Ausrüs-tungs- und Umsetzungsverpflichtungen sowie zusätzli-cher Verwaltungsaufwand durch unnötige Berichte anvon der Kommission eingesetzte Koordinatoren.

Die Mitgliedstaaten sollen verpflichtet werden, ihreVerkehrsinfrastruktur nach festgelegten technischen Para-metern innerhalb vorgegebener Fristen auszubauen, aus-und aufzurüsten. Vor allem die willkürlich gewähltenRealisierungszeiträume – Kernnetz bis 2030, Gesamtnetzbis 2050 – und die den Mitgliedstaaten überlassene Fi-nanzierung stellen unverhältnismäßige Belastungen dar.

Der geschätzte Investitions- und somit auch Finanzie-rungsbedarf für die vorgeschriebene Realisierung desKernnetzes bis 2030 wird von der KOM mit 1 500 Mil-liarden Euro angegeben; bis 2020 sollen circa 500 Mil-liarden Euro benötigt werden. Das ist in der gegenwärti-gen Finanzkrise von den Mitgliedstaaten nicht zu leisten.Dies bedeutet, dass es Änderungen geben muss.

Grundvoraussetzungen für zu beschließende Richtli-nien sind die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips undder Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie die Ein-richtung eines Planungs- und Haushaltsvorbehalts derMitgliedstaaten.

Wir unterstützen die Einteilung in Gesamt- und Kern-netz und die Festlegung der europäischen Verkehrskorri-dore, von denen sechs von zehn Deutschland betreffen,um die europäischen Wirtschaftsräume besser miteinan-

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der zu verknüpfen und damit unsere Wettbewerbsfähig-keiten zu steigern. Die Befugnisse der EuropäischenKommission, zum Beispiel rechtsverbindliche Durch-führungsbeschlüsse fassen zu können, greifen aber zutief in Kernkompetenzen der Mietgliedstaaten ein.

So wichtig und richtig die Grundidee ist, so ist die ge-plante Ausführung noch verbesserungswürdig.

Martin Burkert (SPD): Alle Wege führen nach Rom.Und nach Amsterdam. Und nach Genua. Und nach Ber-lin. Und nach Nürnberg. Und und und. Dass alle Europä-erinnen und Europäer spätestens im Jahr 2050 nur 30 Mi-nuten von einem Zubringernetz nach Rom, Amsterdamoder sonstwo in Europa entfernt sein sollen, das ist daseuropäische Ziel. Denn mit den Vorschlägen zu den trans-europäischen Verkehrsnetzen soll aus dem Flickentep-pich aus Schienenwegen, Straßen, Schifffahrtskanälenund Flughäfen ein einheitliches europäisches Verkehrs-netz geschaffen werden. Zehn sogenannte Korridore sol-len bis 2030 quer durch Europa entstehen. Sie werden15 000 Kilometer Eisenbahnstrecken zusammenführen,die für den Hochgeschwindigkeitsverkehr ausgelegt sind.

Heute mangelt es aber beim grenzüberschreitendenVerkehr noch erheblich an Verbindungen und es beste-hen enorme technische Barrieren wie fehlende Elektrifi-zierungen, verschiedene Spurweiten und Stromsystemeoder Signaltechniken. Die europäischen Eisenbahnen ar-beiten beispielsweise mit sieben unterschiedlichen Spur-weiten sowie 18 unterschiedlichen Leit- und Sicherungs-systemen. Nur 20 der europäischen Großflughäfen und35 der wichtigsten Häfen sind direkt an das europäischeSchienennetz angeschlossen.

Deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass auch effizienteVerkehrsvernetzungssysteme wie das sogenannte ERTMSfinanziert werden sollen. Beim ERTMS handelt es sichum ein System zur Steuerung des Eisenbahnverkehrs aufden Strecken der transeuropäischen Netze. Das wird denReisenden und den Unternehmen in ganz Europa zugute-kommen. Denn weder der Individual- noch der Handels-verkehr endet an den nationalen Grenzen. Und dakommt in den nächsten Jahrzehnten auch noch einigesauf uns zu: Der Güterverkehr soll in Europa bis zum Jahr2050 um schätzungsweise 80 Prozent zunehmen, derPersonenverkehr um mehr als 50 Prozent.

Aus meiner Sicht spielen – vor allem natürlich inRichtung Osteuropa – besonders die Korridore Nürn-berg–Prag sowie München–Prag beim grenzüberschrei-tenden Verkehr eine große Rolle. Bundesverkehrsminis-ter Ramsauer ist herzlich dazu aufgerufen, dieses Projektvoranzubringen. Abgesehen davon, dass es, wie ichfinde, nicht die feine englische Art war, dass die bayeri-sche Landesgruppe in der SPD-Bundestagsfraktion lei-der nicht vom Minister, sondern nur zufällig bei einemBesuch vergangenen September in Tschechien erfahrenhat, dass die Strecke Prag–München in Brüssel angemel-det wurde.

Für einen Alleingang ist das transeuropäische Netz zubedeutend. So etwas darf nicht am Parlament vorbei pas-sieren. Denn bei den Leitlinien zu den transeuropäischen

Verkehrsnetzen geht es nicht nur um Verkehr, sondernauch um Geld, um sehr viel Geld. Es geht um enorme In-vestitionen in die Infrastruktur, die Arbeitsplätze schaf-fen und die europäische Konjunktur anschieben können.Dass die TEN-Mittel aus Brüssel aufgestockt wurden, istdeshalb zu begrüßen. Bis 2020 werden für die Verkehrs-infrastruktur 31,7 Milliarden Euro bereitgestellt. Rund20 Milliarden Euro gehen davon in die Schiene.

Der normale Kofinanzierungsanteil für die TEN-Vor-haben im Kernnetz betragen – nur – bis zu 20 Prozentfür Arbeiten wie zum Beispiel Erkundungsmaßnahmenbei Tunnelarbeiten. Das nennt sich dann Anschubfinan-zierung. Nach Adam Riese verbleiben für die Mitglied-staaten aber in einem solchen Fall mindestens 80 Pro-zent, die sie selbst finanzieren müssen. Im schlimmstenFall müssen die betroffenen Mitgliedstaaten bis zu90 Prozent des Projektes kofinanzieren. Aus der soge-nannten Anschubfinanzierung der EU wird dann ganzschnell eine riesige Schuldenfalle. Welches Land sollund kann das heute überhaupt leisten?

Die europäischen Mitgliedstaaten werden letztlichalso zu Investitionen in den Auf- und Ausbau der trans-europäischen Netze von rund 300 Milliarden Euro ver-pflichtet. Par Ordre de Mufti. Und das bis zum Jahr2030. Aber: In Zeiten wie diesen ist der Haushalt mit daswichtigste Interesse der einzelnen Mitgliedstaaten. Fi-nanzvernunft und Sparsamkeit sind oberstes Gebot. Dennes geht um zentrale nationale Fragen, nicht nur für dieeinzelnen Mitgliedstaaten, sondern vor allem auch fürdie europäische Gemeinschaft.

Und so schön es für Deutschland ist, dass sechs vonzehn transeuropäischen Verkehrskorridoren durch unserLand führen, zu so viel Investitionsverpflichtungen führtdas auch. Deshalb müssen wir dringend auf die Einrich-tung eines Planungs- und Haushaltsvorbehalts hinwir-ken, damit die finanzielle Belastung der Mitgliedstaatentragbar ist.

Letztlich stehen noch drei wichtige juristische Fragenim Raum, die zu überprüfen sind:

Erstens. Inwieweit wird mit dem Verordnungsentwurfdas Subsidiaritätsprinzip verletzt?

Zweitens. Ist der Verordnungsvorschlag der Europäi-schen Kommission verhältnismäßig?

Drittens. Wie ist der Erlass der Leitlinien zu dentranseuropäischen Verkehrsnetzen in der Form als Ver-ordnung rechtlich zu beurteilen?

Meine Einschätzung ist, dass der Verordnungsvor-schlag in wesentlichen Aspekten über das Ziel hinaus-schießt. Er sieht Regelungen vor, die grundsätzlich in dieZuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen. Dazu zählt dieZuständigkeit für die Planung, den Bau und vor allemfür die Finanzierung von Verkehrsinfrastrukturmaßnah-men. Der Verordnungsvorschlag nimmt aber enorm aufdie Verkehrshaushalte der Mitgliedstaaten Einfluss, undzwar in einem Maße, den sich die Mitgliedstaatenschlichtweg nicht leisten können.

Juristisch problematisch ist auch, dass die Kommis-sion als Handlungsform für die transeuropäischen Ver-

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kehrsnetze eine Verordnung gewählt hat, die unmittelbarund allgemein gilt. Im Übrigen nicht nur für die Mit-gliedstaaten, sondern auch für Dritte wie zum BeispielTerminal- oder andere Infrastrukturbetreiber. Deshalbmüssen noch einmal alle Möglichkeiten der Rechtsform-wahl gründlich überprüft werden.

Ich hoffe, dass Herr Ramsauer den starken Auftrag,den er aus dem Bundestag mitnimmt, ernst nimmt. Undich hoffe, dass eine Lösung gefunden wird. Eine Lösung,die einvernehmlich ausgestaltet wird und nicht mittelseines Sanktionsdrucks aus Brüssel.

Ich hoffe, dass es dann spätestens 2050 heißen kann:Alle Wege führen nach Rom. Und nach Amsterdam.Und nach Genua. Und nach Berlin. Und nach Nürnberg.Und und und.

Werner Simmling (FDP): Wir widmen uns heuteAbend doch einem der wichtigsten Bereiche des verein-ten Europas, nämlich der freien und auch grenzüber-schreitenden Mobilität. Ich halte es für besonders wich-tig, dass sich der Deutsche Bundestag ausführlich mitdiesem Thema befasst. Denn Deutschland als Land imHerzen Europas und Transitland ist von Entscheidungenin der Verkehrspolitik besonders betroffen.

Nachdem wir kürzlich das Weißbuch Verkehr verhan-delt haben, liegt uns nun die Verordnung zu den trans-europäischen Netzen vor. Die FDP begrüßt die vorlie-gende Revision der Leitlinien transeuropäischerVerkehrsnetze. Ausschlaggebend für unsere grundsätz-lich positive Haltung ist, dass der Verordnungsvorschlagein erster wichtiger Schritt in Richtung Priorisierung ist.Die Einteilung in ein Kern- und ein Ergänzungsnetz aufBasis transparenter Kriterien sowie die Förderung vonKomodalität, Schnittstellen und intelligenten Verkehrs-systemen sind ein richtiger Ansatz für das europäischeVerkehrsnetz.

Der Ausbau transeuropäischer Verkehrsnetze, im Be-sonderen das Kernnetz, bietet Investitionsanreize, um In-frastrukturprojekte realisieren zu können. Vor dem Hin-tergrund der jahrelangen allgemeinen Unterfinanzierungin der Verkehrsinfrastruktur, bekennen wir uns daherklar zu den transeuropäischen Netzen. Allerdings, unddas ist Anlass für den Entschließungsantrag der Regie-rungsfraktionen gemeinsam mit der SPD gewesen, sehenwir in Teilen die Grundsätze der Subsidiarität und derVerhältnismäßigkeit berührt.

Die Europäische Union soll und darf dann tätig wer-den, wenn gewünschte Maßnahmen auf Ebene der Mit-gliedstaaten, regionaler und lokaler Ebene nicht umge-setzt werden können. Das besagt das Subsidiaritäts-prinzip. Dessen Einhaltung und Wahrung ist für uns keinSelbstzweck, sondern garantiert die besten Lösungen fürdie Verkehrsprobleme auf der richtigen Ebene. Wir sa-gen: Brüssel soll grenzüberschreitenden Verkehr regelnund sich aber aus dem regionalen und lokalen Verkehrraushalten.

Bedenklich im Sinne der Subsidiarität sind insbeson-dere diejenigen Vorschläge, die sich auf Planung, Durch-führung und Finanzierung beziehen. Der Infrastruktur-

aufbau sollte nach unserem Dafürhalten zwar aufeuropäischer Ebene abgestimmt werden, dennoch weitervorrangig Aufgabe und Kompetenz der Mitgliedstaatensein. Schon im Weißbuchantrag haben wir klargestellt,dass die nationale Planungshoheit erhalten bleiben soll.Da die Finanzierung weiter in der Verantwortung derMitgliedstaaten liegt, muss diesen vorbehalten sein, zuentscheiden, welche Projekte prioritär in welchem Zeit-rahmen durchgeführt werden.

Was wir nicht wollen, ist, durch zu pauschale und un-differenzierte Kritik mit einem platten Verweis auf Sub-sidiarität sinnvolle europäische Lösungen zu behindernbzw. unmöglich machen. Die FDP begrüßt, wie bereitsgesagt, die sinnvolle Priorisierung und zweilagige Pla-nung in ein Kern- und ein Gesamtnetz. Ebenfalls stehenwir der Fazilität „Connecting Europe“ und den projekt-bezogenen Anleihen positiv gegenüber. Eine Umschich-tung der Mittel auf europäischer Ebene und zusätzlicheFinanzinstrumente können grundsätzlich positive An-reize auslösen. Trotzdem können wir einem massivenEingriff in die nationalen Haushalte nicht zustimmen,und das nicht nur, weil wir aufgrund mangelnden Haus-haltsvorbehaltes eine solide Finanzierung bislang nichtgewährleistet sehen, sondern auch, weil wir die parla-mentarischen Haushaltsrechte gefährdet sehen. Immer-hin sprechen wir hier von einer Summe von 1,5 Billio-nen Euro.

Wir wünschen daher eine deutliche Darstellung, wa-rum eine Kompetenzverlagerung auf europäischer Ebenesinnvoll sein soll. Hinsichtlich der Planungsbefugnis undKoordinierung auf europäischer Ebene sehen wir dasnicht erfüllt. Insbesondere die Vorschläge zu den Kern-netzkorridoren greifen maßgeblich in die Kompetenzender Mitgliedstaaten ein. Die Vorgaben gehen in ihremDetaillierungsgrad bei den Durchführungsplänen viel zuweit, führen zu einer unverhältnismäßigen Einfluss-nahme auf die nationalen Verkehrshaushalte und würdendiese überfordern.

Erstens. Wir fordern also eine ausführliche Prüfungder Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.

Zweitens. Wir wünschen eine begründete Stellung-nahme.

Drittens. Wir fordern die Prüfung einer anderenRechtsform. Statt einer Verordnung sind eine Richtlinieoder Leitlinie unseres Erachtens besser geeignet.

Herbert Behrens (DIE LINKE): Wir alle sind frohdarüber, dass in Europa die Grenzen gefallen sind. ImVerkehr sieht es aber anders aus. Es gibt zwar keineGrenzkontrollen mehr, aber häufig trennen uns zum Bei-spiel unterschiedliche nationale Vorschriften, Gebühren-systeme und Signalregelungen. Wir brauchen dringendeine gemeinsam abgestimmte Verkehrspolitik der EUund ein einheitliches europäisches Verkehrsnetz.

Der Vorschlag eines transeuropäischen Verkehrsnet-zes vonseiten der EU-Kommission liegt auf dem Tisch.Es hätte ein Vorschlag werden können, der über die na-tionalen Grenzen der Verkehrspolitik hinausgeht, derKlimaschutz und Mobilität gleichberechtigt bewertet,

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Nadelöhre zielgenau beseitigt und Verkehrsströme sinn-voll lenkt. Aber gerade das steht in der Vorlage nichtdrin. Sie wurde am grünen Tisch der Planer erarbeitet.Es wurde nicht beachtet, dass Europa mehr ist als einWirtschaftsstandort, der attraktiv und effizient gestaltetsein soll. Ein Verkehrsnetz soll aus unserer Sicht nichtnur Waren von A nach B transportieren, sondern sichnach den Bedürfnissen der Menschen richten.

Die Menschen wollen sinnvolle Verkehrsverbindun-gen und sie wollen weniger Verkehrsbelastung; sie wol-len keine ratternden Güterzüge mit Lärm und Dreck vorihrer Nase haben, und sie wollen beteiligt werden, wennes um die Planung von Verkehrsprojekten vor ihrerHaustür geht.

Wir lesen im Vorschlag der Kommission, dass künftigzentrale Verkehrskorridore gefördert werden sollen. Daswäre ja grundsätzlich sinnvoll, wenn keine Milliarden-zuschüsse mehr für isolierte Großprojekte fließen wür-den, die möglicherweise gar kein Verkehrsnetz ergeben.Stattdessen sollten die Zuschüsse zielgenau zur Beseiti-gung von Nadelöhren verwendet werden, und es solltevergleichbare Zuschüsse für vergleichbare Strecken ge-ben. Das ist leider nicht der Fall. Dafür hat die Kommis-sion einen Preis von 1 500 Milliarden Euro ausgerech-net. Soviel würde es kosten, wenn das europäischeKernnetz bis zum Jahr 2030 verwirklicht werden sollte.1 500 Milliarden Euro – das ist eine 15 mit 11 Nullen!Das ist zehnmal so viel wie der jährliche Gesamthaushaltder EU. Zum Vergleich: Damit könnte man etwa 6 Mil-lionen Einfamilienhäuser bauen. Und weil das aus Steu-ermitteln nicht aufgebracht werden könnte, wird das Torweit aufgestoßen für private Investoren. An sie sollenProjektanleihen ausgegeben werden, und mit ihnen sol-len öffentlich-private Partnerschaften geschlossen wer-den. Es winken natürlich hohe Renditen für die Investo-ren, und die Bürgerinnen und Bürger werden dafürkräftig zur Kasse gebeten werden. So würden dann wohlviele neue Mautsysteme auf uns zukommen. Dass willdie Linke nicht.

Wenn die Interessen der Großen im Mittelpunkt ste-hen, geht es regelmäßig daneben. Denken wir nur anStuttgart 21 oder die Beltquerung nach Dänemark. Bei-des wahnsinnig teure EU-Projekte, beides gegen den Wi-derstand der Bürgerinnen und Bürger. All dem setzt derneue Vorschlag die Krone auf. Er beseitigt selbst die Be-teiligungsrechte der Staaten. Mit dieser Neuregelungkönnte die EU direkt durchregieren und Beschlüsse fas-sen, die unmittelbar Einfluss auf die Investitionsplanungund Durchführung von Verkehrsprojekten in den betrof-fenen Mitgliedstaaten nehmen könnten. Das machen wirnicht mit. Das Centrum für Europäische Politik kommtzu einem ernüchternden Ergebnis: „Der Erlass der TEN-Leitlinien als Verordnung ist rechtswidrig.“ Deutlicherkann eine Klatsche doch wohl nicht ausfallen, oder?

Die Linke fordert darum, dass ein Vorschlag vorge-legt wird, der erstens finanzierbar ist und zweitens auchunserem Rechtssystem entspricht. Deshalb unterstützenwir auch den Antrag von CDU/CSU, SPD und FDP.

Beim Antrag von Bündnis 90/Die Grünen können wiruns nur enthalten. Die Grünen unterstreichen die aus ih-

rer Sicht guten Ansätze für ein europäisches Verkehrs-netz, beklagen aber gleichzeitig, dass der Ausbau einesgemeinsamen europäischen Verkehrsnetzes „stetig dennationalen Interessen der Mitgliedstaaten untergeordnet“worden ist, und verteidigen damit den EU-Eingriff. DieLinke lehnt es klar ab, per Verordnung Mitgliedstaatender Europäischen Union zu disziplinieren und auf denvermeintlich rechten Weg zu bringen. Deshalb werdenwir dem Antrag nicht zustimmen.

Das Vertrauen der Menschen in die europäische Ideewäre vollends dahin, wenn der Vorschlag der EU füreine Verordnung umgesetzt würde. Die Linke will mehrBeteiligung der Bürgerinnen und Bürger und nicht weni-ger.

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Der Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes,TEN-V, ist für den freien Personen- und Güterverkehrim europäischen Binnenmarkt, die Wettbewerbsfähigkeitund die nachhaltige und klimafreundliche Verkehrsent-wicklung in der EU von enormer Bedeutung. Deshalbhat die Kommission bereits 1996 Leitlinien für einentranseuropäischen Verkehrsraum verabschiedet. DieseLeitlinien wurden immer wieder überarbeitet, erweitertund durch verschiedene Finanzinstrumente ergänzt.

Dennoch fällt die Bilanz nach 15 Jahren schlecht aus.Die Koordinierungsbereitschaft und der Umsetzungs-wille der Mitgliedstaaten haben bisher nicht ausgereicht,ein transeuropäisches Netz zu etablieren. Der Ausbau ei-nes gemeinsamen europäischen Verkehrsnetzes wurdevon den nationalen Interessen der Mitgliedstaaten stetiguntergraben. So führen fehlende grenzüberschreitendeVerbindungen noch immer zu erheblichen Engpässenbeim Güter- und Personenverkehr auf wichtigen euro-päischen Verkehrsachsen. Auch hinsichtlich der Ver-kehrsträger ist das Infrastrukturnetz weiterhin fragmen-tiert.

Verschärft werden die Hindernisse und Engpässe imVerkehrssystem durch unterschiedliche Betriebsvor-schriften, Normen und Sicherheitssysteme. Erst letztesJahr hat die Bundesregierung die europäische Zusam-menarbeit bei der Stärkung der umweltfreundlichenSchiene aufgekündigt, indem sie bekannte, die Einfüh-rung von ETCS im Korridor A bis Ende 2015 nicht ter-mingerecht einzuhalten. Auch die DB AG bestätigte,kein eigenwirtschaftliches Interesse an der Installationvon ERTMS zu haben.

Was ist daraus zu lernen? Die bisher in Eigenregie derMitgliedstaaten erfolgte Planung und Durchführunggrenzüberschreitender Verkehrsprojekte ist nicht geeig-net, ein transeuropäisches Verkehrsnetz zu etablieren.Der freiwillige Ansatz reicht nicht aus, den notwendigenDruck beim Ausbau einer transeuropäischen Infrastruk-tur zu erzeugen. Das wäre so, als ob man von den Län-dern und Kommunen verlangen würde, ein nationalesVerkehrsnetz zu errichten. Alle wissen, was dabei he-rauskäme.

Deshalb fordert die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, den Ausbau der TEN-V konsequent voran-

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zutreiben. Wir unterstützen den Vorschlag einer Verord-nung des Europäischen Parlaments und des Rates für denAuf- und Ausbau eines transeuropäischen Verkehrsnet-zes, TEN-V, mit dem die ressourceneffiziente Mobilitätvon Personen und Gütern unter möglichst sozialverträg-lichen, umweltfreundlichen sowie sicherheitsorientiertenBedingungen gesichert werden kann.

Vor allem begrüßen wir, dass nach dem Vorschlag derKommission nachhaltige Verkehrsträger das Rückgratder TEN-V bilden sollen. Das Ziel der Verlagerung desVerkehrs von der Straße auf die Schiene und, wo sinn-voll, auf das Binnenschiff ist zu unterstützen. 90 Prozentder vorgeschlagenen Projekte betreffen den Schienen-verkehr. Das ist der richtige Schritt zu einem nachhalti-geren transeuropäischen Verkehrsnetz. Denn selbstZweiflern dürfte inzwischen klar sein, dass ein weiteresAnheizen des Verkehrswachstums durch neue Straßenund Autobahnen nicht mehr akzeptiert werden kann.

Die Schuldenbremse zwingt heute alle Länder, einesehr gewissenhafte Kosten-Nutzen-Rechnung anzustel-len, wenn es um die Finanzierung neuer Infrastrukturengeht. Deshalb fordern wir, dass der verkehrliche Nutzenim Mittelpunkt der Projektauswahl stehen muss. Klei-nere, schnell umsetzbare Maßnahmen mit hohem Nutzenfür die Integration der europäischen Verkehrsnetze müs-sen Vorrang vor Großprojekten mit hohem finanziellenAufwand und sehr langen Realisierungszeiträumen ha-ben. Zudem muss ein Gleichgewicht zwischen finanziel-ler Realisierbarkeit und ausreichender Verbindlichkeitgefunden werden. In dem von der Europäischen Kom-mission vorgeschlagenen Prinzip der Umschichtung vonEU-Mitteln bei ausbleibendem Projektfortschritt – „useit or lose it“-Prinzip – sehen wir hierzu ein geeignetesMittel.

Anlage 10

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung

Antrag: Gleichwertigkeit von Berufsbildungund Abitur gewährleisten

Beschlussempfehlung und Bericht zu den An-trägen:

– Gleichwertigkeit von Berufsbildung undAbitur sichern

– Deutschen Qualifikationsrahmen zum Er-folg führen – Gleichwertigkeit von Abiturund Berufsabschlüssen sicherstellen

(Tagesordnungspunkt 13)

Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Laut Angaben desStatistischen Bundesamtes haben 2010 50,2 Prozent derdeutschen Bevölkerung als höchsten Bildungsabschlusseine Lehre absolviert bzw. eine Berufsausbildung im du-alen System abgeschlossen. Dies entspricht circa35,5 Millionen Deutschen. Ich bin mir sicher, dass vieledieser Menschen in einer selbstkritischen Reflektion zudem Schluss kommen würden, dass ihre Berufsausbil-dung dem Abitur gleichwertig ist. Auch deshalb warten

sicherlich viele gespannt auf eine abschließende Einord-nung der Berufs- und Bildungsabschlüsse im DeutschenQualifikationsrahmen.

Ich kann Ihnen zudem aus persönlicher Erfahrungversichern, dass eine berufliche Ausbildung durchausdem Abitur gleichwertig ist. Ich habe schließlich ein eh-renwertes Handwerk erlernt, danach jahrelang als Hei-zungsinstallateur gearbeitet und auch ohne Abitur stu-diert, promoviert und stehe heute hier. Ich kann also austiefster Überzeugung das bestätigen, was mein KollegeUwe Schummer in seiner hochspannenden und gewinn-bringenden Rede zum Jahreswirtschaftsbericht 2012 ge-sagt hat: Das Flaggschiff unserer Bildungslandschaft istdie duale Berufsausbildung.

Gutausgebildete Lehrlinge sind für die deutsche Wirt-schaft genauso wichtig wie Akademiker; sie sind not-wendige Standortvoraussetzung für erfolgreich agie-rende Unternehmen, seien es nun kleine, mittlere odergroße. Ohne ihre Fachkräfte wäre die deutsche Wirt-schaft nicht so innovativ und erfolgreich, wie sie heuteist. Dies müssen wir auch zukünftig sicherstellen. Ge-rade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels müs-sen wir dabei auch die Attraktivität der dualen Berufs-ausbildung weiter steigern.

Mittelständische Unternehmen tragen – so besagt esder Innovationsreport des Büros für Technikfolgenab-schätzung beim Deutschen Bundestag aus dem Jahre2010 mit dem Titel „Zukunftspotenziale und Strategiennichtforschungsintensiver Industrien in Deutschland“ –erheblich zur deutschen Wertschöpfung bei. Für Mittel-ständler ohne eigene Forschungsabteilung sind gutaus-gebildete Lehrlinge dabei der wichtigste innovationsre-levante Faktor.

Deshalb bin ich froh, dass wir heute hier in diesemHohen Hause darüber einig sind, dass wir eine Gleich-stellung von Abitur und dualer Ausbildung im DeutschenQualifikationsrahmen auf dem Weg zu einem Europäi-schen Qualifikationsrahmen wollen und brauchen. Aufdiese Weise schaffen wir ein Instrument, das die Gleich-wertigkeit zwischen allgemeiner, hochschulischer undberuflicher Bildung abbildet.

Dabei haben alle Akteure – Bund und Länder, Sozial-partner, Wirtschaftsorganisationen, die Wirtschaftsmi-nisterkonferenz – in vertrauensvoller und konstruktiverZusammenarbeit einen Vorschlag vorgelegt, der sinnvollund realistisch erscheint, nämlich die Zuordnung desAbiturs auf Niveau 4 und der beruflichen Erstausbildun-gen auf den Niveaus 3 und 4.

Es ist für mich unverständlich, warum die Kultus-ministerkonferenz, KMK, sich auf ihrer 335. Sitzung imvergangenen Oktober im Gegensatz dazu für die Einord-nung des Abiturs auf Stufe 5 und der beruflichen Erst-ausbildungen auf den Niveaus 3 bis 5 ausgesprochen hat.Dies ist ein Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen der Realität inDeutschland. Ein x-beliebiger Unternehmer würde – vordie Wahl gestellt, ob er eher einen frischgebackenenAbiturienten oder einen ausgebildeten Facharbeiter ein-stellen würde – keinen Moment zögern, dem Facharbei-ter den Vorzug zu geben. Das Abitur im Sinne der KMK

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derart überzubewerten, ist aus meiner Sicht eine Fehlein-schätzung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es giltaber, diese beim DQR zur Kenntnis zu nehmen und aufdie realistischen Einschätzungen der Sozialpartner undWirtschaftsverbände zu hören. Sie sind es letztlich auch,die den DQR umsetzen und anwenden müssen.

Die Einordnung der KMK wird unserem Ziel der an-zuerkennenden Gleichwertigkeit von Abitur und berufli-cher Erstausbildung nicht nur nicht gerecht; sie ist auchdeshalb befremdlich, weil wir Bildungspolitiker immernoch darauf warten, dass die KMK ihre eigentlichenHausaufgaben erledigt. Wenn sie schon für eine Höher-bewertung des Abiturs gegenüber den dualen Berufsab-schlüssen plädiert, sollte sie auch dafür sorgen, dass end-lich einheitliche Bildungsstandards für die gymnasialeOberstufe zur Pflicht werden, die ihrerseits die Voraus-setzung für eine echte Vergleichbarkeit der Schulab-schlüsse in den 16 Bundesländern schaffen.

Ich hoffe, dass die Kompromissbereitschaft aller Be-teiligten letzten Endes doch noch zu einer tragfähigenLösung führen wird. Vielleicht kann mein KollegeMarcus Weinberg seinem Landsmann und neuen Präsi-denten der KMK, Herrn Rabe, noch einmal ins Gewissenreden. In den ersten Interviews von Herrn Rabe habe ichmit großem Interesse gelesen, dass er ebenfalls die hoheQualifikation der dualen Ausbildung verdeutlichen will(Welt Online, 28. Dezember 2011). Das wäre eine guteBasis für eine Einigung im Sinne der Gleichwertigkeit.

Mit unserer praxisorientierten dualen Berufsausbil-dung setzen wir – ich will das einmal ganz selbstbewusstklarstellen – Maßstäbe in Europa. Duale Ausbildung isteben nicht nur Praxis, sondern bedeutet auch schulischeAusbildung in einer erstaunlichen Tiefe und Komplexi-tät. Damit stellt diese Form der beruflichen Qualifizie-rung eine Besonderheit dar, die ohne Weiteres der Quali-fikation des Abiturs entspricht. Dies gilt es, mit einerstarken deutschen Stimme – und diese soll der DQR ha-ben – auch in Richtung Europa zu sagen. Pläne der Euro-päischen Kommission, dass zum Erlernen von Heil- undPflegeberufen notwendigerweise das Abitur vorliegenmüsse, würden so ad absurdum geführt. Ein Blick aufeuropäische Anstellungspraxis verdeutlicht dies; dennauch wenn in den nordischen Ländern das Abitur fürKrankenschwestern, Pfleger und vergleichbare Berufs-gruppen obligatorisch ist, gibt es eine Vielzahl von Ini-tiativen, um das in Deutschland abiturfrei, aber dual aus-gebildete Personal für den Einsatz in diesen Ländernabzuwerben.

Die grundsätzliche Übereinstimmung aller Beteilig-ten hier im Hause wird durch die in weiten Teilen in-haltsgleichen Anträge deutlich. Wir sind der Meinung,dass die Zuordnung der Qualifikation zum DQR imKonsens mit allen Beteiligten getroffen werden muss.Wir sind uns auch einig darüber, dass die Zuordnung vonallgemeiner Hochschulreife gleichwertig mit den min-destens dreijährigen dualen Ausbildungen auf einem Ni-veau erfolgen soll. Allerdings – und das ist der wesentli-che Unterschied zu den Anträgen der SPD und derGrünen – sind wir der Meinung, dass der Bundestagnicht die richtige Institution ist, um konkrete Festlegun-

gen zur Einordnung der Abschlüsse zu beschließen. Sowie die Eingruppierung der Berufsbilder von den Sozial-partnern im Konsens und in allgemeiner Tarifautonomievereinbart wird, so wie die Prüfungsordnungen von denKammern einvernehmlich geregelt werden, so sind esauch hier die Bildungsakteure und Sozialpartner vor Ort,die konkrete Entscheidungen im Zuge der Festlegungenzum DQR zu treffen haben. Dies ist nicht Aufgabe desParlaments.

Wir fordern in unserem Antrag die Bundesregierungauf, gegenüber den Bundesländern darauf hinzuwirken,dass die Gleichwertigkeit von allgemeiner bzw. fachge-bundener Hochschulreife und mindestens dreijährigerdualer Ausbildung durch deren übereinstimmende Ein-ordnung auf ein und derselben Niveaustufe des DQRzum Ausdruck kommt. Zweijährige berufliche Erstaus-bildungen dürfen unserer Auffassung nach nicht mehrals eine Niveaustufe unterhalb der allgemeinen bzw.fachgebundenen Hochschulreife angesiedelt werden.

Ich persönlich stehe der Zuordnung der allgemeinenHochschulreife auf Stufe 4 positiv gegenüber, weil ichdiesen Vorschlag für realistisch halte. Falls sich aber alleAkteure darauf einigen, dass das Abitur auf Stufe 5 ein-geordnet werden soll, dann sollten und müssen sich auchdie dreijährigen Berufsabschlüsse auf dieser Stufe wie-derfinden. Alles andere ist für mich und meine Fraktioninakzeptabel.

Für den Fall, dass eine entsprechende Einigung nichterzielt werden kann, sollte auf die Einordnung allge-meinbildender Schulabschlüsse im DQR zunächst ver-zichtet werden. Auch in Frankreich sind Schulab-schlüsse bisher kein Bestandteil von Qualifikations-rahmen. Dies wäre zwar nicht die optimale Lösung, aberaus meiner Sicht besser als die Nichtgleichstellung vonAbitur und dualer Berufsausbildung. Dies wäre ein fata-ler Fehler, der unbedingt verhindert werden muss. Inso-fern bin ich gespannt auf die endgültigen Festlegungen,die Ende des Monats erfolgen sollen.

Willi Brase (SPD): Wir bieten unseren Jugendlichenheute zwei Wege für ein gutes Leben und für Leistungund Aufstiegsbereitschaft an. Der erste Weg ist ein mitt-lerer Abschluss, ein Hauptschulabschluss oder die Hoch-schulreife; es folgt die duale Ausbildung. Es besteht wei-terhin die Möglichkeit, einen Fachwirt und Meister zumachen, später zu studieren und über diesen Weg zuhöchsten Ämtern und Positionen in der Gesellschaft zugelangen. Der zweite Weg erfolgt über den mittlerenSchulabschluss, das Abitur oder die Fachhochschulreifeund anschließend ein Studium. Auch mit diesem Bil-dungsweg ist man in der entsprechenden Liga aufge-stellt, um qualifizierte Tätigkeiten auszuüben.

Beide Wege sind wichtig und haben etwas – wenn wirgegenüber den Jugendlichen ehrlich sind – mit derGleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bil-dung zu tun. Mit diesen beiden Wegen zeigen wir denJugendlichen immer wieder Perspektiven auf. Deshalbist es nur konsequent, dass die Allgemeine Hochschul-reife, die fachgebundene Hochschulreife und die Fach-hochschulreife gemeinsam mit der drei- und dreieinhalb-

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jährigen beruflichen Ausbildung in die Stufe vier desDeutschen Qualifikationsrahmens eingeordnet werden.

Unser duales Bildungs- und Weiterbildungssystem istdie Stärke der deutschen Wirtschaft. Sie sichert Innova-tionsfähigkeit und führt dazu, dass wir mit Spitzenbran-chen nicht nur in Europa, sondern weltweit vorhandensind und unsere Produkte auch absetzen können. Mit denvielen Neuordnungen und Modernisierungen der Ausbil-dungsordnungen im dualen Bildungssystem sind wir denweiteren wissensbasierten Arbeits- und Produktionswei-sen gerecht geworden – Aufstiegsfortbildungen ergän-zen und erweitern diesen Prozess. Es gibt nicht nurPerspektiven, sondern auch notwendige betriebliche Er-fordernisse. Deshalb ist es richtig, dass wir diesen Pro-zess der Aufstiegsfortbildungen in die Stufe fünf desDeutschen Qualifikationsrahmens einordnen. DieseStufe darf nicht verfallen, wie es die Kultusministerkon-ferenz gerne hätte.

Mit dem Antrag auf Drucksache 16/13615 vom 1. Juli2009 haben CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/DieGrünen unter anderem gefordert, den Deutschen Qualifi-kationsrahmen zur Verbesserung der Durchlässigkeit desBildungssystems und der Gleichwertigkeit verschiede-ner Bildungswege zu entwickeln. Vor diesem Hinter-grund besteht ein zweiter Punkt darin, die Stufe vier so-wohl für die Allgemeine Hochschulreife als auch für diedrei- und dreieinhalbjährigen dualen Ausbildungsord-nungen beizubehalten. In dem gleichen Antrag habenwir das Konsensprinzip bei der Erarbeitung gefordert.Beides kann nur gemeinsam auf den Weg gebracht wer-den. Gelingt dies nicht, sollten wir uns dem französi-schen Modell nähern.

Die Auszubildenden haben nach Ende der Ausbil-dung nicht nur Berufsfähigkeit – das sogenannte Berufs-prinzip – erlangt, sondern auch arbeitsmarktrelevanteKompetenzen und Fertigkeiten erlernt, die ein Abiturientnaturgemäß nicht hat. Schon allein deshalb wäre eineHöherstufung aus meiner und unserer Sicht nicht fach-und sachgerecht.

Das Zusammenspiel zwischen Ingenieuren, Meis-tern, Technikern und Facharbeitern im konkreten Ar-beits- und Produktionsprozess ist das Geheimnis der in-dustriellen Stärke Deutschlands. Das liegt auch daran,dass die verschiedenen Bildungsmöglichkeiten und Bil-dungswege gleichwertig betrachtet und im Arbeitspro-zess die Fähigkeiten und Kompetenzen – unabhängigvon der Herkunft – gefragt sind. Nicht umsonst wollenzunehmend Unternehmen über das Duale Studium– Hochschulstudium und Ausbildung – ihren zukünfti-gen Spitzenbedarf decken. Auch das spricht dafür, an derGleichwertigkeit der allgemeinen und beruflichen Bil-dung nicht nur festzuhalten, sondern sie endlich umzu-setzen. Wir haben jetzt die Chance, dieses mit dem DQRauf den Weg zu bringen.

Es verwundert doch immer wieder, warum viele Bil-dungsminister in dieser Beharrlichkeit darauf bestehen,die Allgemeine Hochschulreife auf eine höhere Stufe alsdas Gesamttableau der dualen Ausbildung zu setzen.Liegt es vielleicht daran, dass wir und vor allem die Bil-dungs- und Kultusminister jahrzehntelang dachten, das

allgemeine deutsche Schulsystem sei das Beste der Weltund führend, und mit dem PISA-Schock, mit TIMSS undanderen Untersuchungen gezeigt wurde, dass unser Sys-tem nicht mehr so gut ist? Und deshalb startet man einenletzten Versuch über die Einstufung in Stufe fünf, umsich doch noch gegenüber den anderen Ländern in derEU abzuheben? Wie wir wissen, sind fast alle Länder inder EU bereit, die Allgemeine Hochschulreife mit Se-kundärstufe-II-Abschluss auf Stufe vier einzuordnen undnicht, wie die KMK fordert, auf Stufe fünf.

Vor dem Hintergrund all dieser Argumente plädierenwir für die Annahme des Antrags unserer Fraktion undbitten um entsprechende Unterstützung.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Zu der Debatteum die Einordnung der Qualifikationen des deutschenBildungssystems in den Deutschen Qualifikationsrah-men und darüber hinausgehend damit in den Europäi-schen Qualifikationsrahmen, sind zwei abschließendeBemerkungen zu machen. Die eine Bemerkung beziehtsich auf das Verfahren und den politischen Umgang mitdieser Diskussion, die zweite Bemerkung bezieht sichauf die Sache und die zukünftige Perspektive von DQRund EQR und dessen weitere Ausgestaltung.

Zum Ersten. Gerade weil die inhaltlichen Auffassun-gen der Bildungs-, der Arbeitsmarkt- und der Wirt-schaftspolitiker in den Fraktionen im Deutschen Bundes-tag in der Sache nicht sehr weit auseinanderliegen, solltees am Ende möglichst nicht kleinlichen Streit und dasSpiel mit taktischen Finessen geben. Die SPD hat des-halb sehr frühzeitig, nämlich schon am 29. November2011, einen Antrag in den Bundestag eingebracht, derunter dem Leitmotiv „Gleichwertigkeit von Berufsbil-dung und Abitur sichern“ zwei klare Botschaften enthal-ten hat, nämlich erstens die Aufforderung des DeutschenBundestages an die Bundesregierung, gegenüber denBundesländern darauf hinzuwirken, dass die Gleichwer-tigkeit von allgemeiner Hochschulreife und mindestensdreijährigen dualen Ausbildungen durch deren überein-stimmende Einordnung auf dem Niveau 4 des DQR Aus-druck verliehen wird. Dies ist für uns damals wie heuteaus der Sache heraus begründet. Es nimmt die Anforde-rungen auf, die an das Niveau 4 des Deutschen Qualifi-kationsrahmens gestellt werden. Es hat eine Entspre-chung auch in den Sachbeurteilungen, die seitensKolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und der FDPwie auch der anderen Fraktionen in ehrlicher Betrach-tung der acht Niveaustufen des Deutschen Qualifika-tionsrahmens bei verschiedenen Diskussionen bis in denAusschuss deutlich angesprochen und unterstützt wor-den sind. Es deckt sich im Übrigen auch mit dem Vor-schlag, den seinerzeit eine CDU-Fachkommission zurVorbereitung des CDU-Bildungsprogramms, das dieseauf ihrem Parteitag im letzten Jahr verabschieden wollte,mit vorgelegt hatte. Der sächsische Bildungsministerwie die Bundesbildungsministerin, beide CDU-Regie-rungsmitglieder, hatten in diesem Vorschlag glasklar da-für plädiert, eine entsprechende Einordnung auf der Ni-veaustufe 4 vorzunehmen. Soweit die CDU, als sie nochklaren Verstandes in der Sache war.

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Dann gab es allerdings eine besondere Schizophreniebeim sächsischen Bildungsminister, der mit einem Malvon der Zuordnung auf das Niveau 4 nichts mehr wissenwollte. Es gab die immer wieder bei der Bundesbil-dungsministerin zu beobachtende einmalige Mischungvon Ankündigung, Rückzug, Verschleierung sachlicherPositionen, und entsprechend hat sich die CDU auf ih-rem Parteitag von ihrem sachgerechten Vorschlag verab-schiedet und stattdessen eine Leerstelle hinterlassen.Dies kann aber einen Bundestag, der auch eine sachlicheOrientierung für das mitgeben soll, was eine Bundesre-gierung dann entsprechend umzusetzen hat, nicht darausentlassen, klar Position zu beziehen.

Diese klare Position ist allerdings in dem Antrag vonCDU/CSU und FDP jetzt kastriert. Wohl wird noch dieGleichwertigkeit von Berufsbildung und Abitur ange-sprochen, aber die Niveaustufe selbst wird nicht mehrerwähnt. Dies ist für eine politische Mehrheit des Bun-destages, die ja nicht ins Unverbindliche ausweichensollte, sondern von der auch klare Positionen erwartetwerden dürfen, zu wenig. Die SPD bedauert deshalb dieKleinmütigkeit von CDU/CSU und FDP, zumal wir beiverschiedenen Gelegenheiten ja vollkommene Überein-stimmung, auch in der Sacheinschätzung, erleben konn-ten.

Gleichzeitig ist einem klar, dass eine dauerhafteSelbstblockade zwischen den beteiligten Instanzen,nämlich den Ministerpräsidenten, hinter denen dann dieBlockaden durch die Bildungsminister der Länder einer-seits und die Wirtschaftsminister der Länder andererseitsstehen, in sich und auch gegenüber dem Bund in der Sa-che nicht weiterführen würde. Die SPD hat deshalbschon am 29. November 2011 in ihren Beschlussvor-schlag die Forderung aufgenommen, auf die Einordnungallgemeinbildender Schulabschlüsse im DQR, sollte esnicht umsetzbar sein, zu einer übereinstimmenden Ein-ordnung auf Niveau 4 des DQR zu kommen, grundsätz-lich zu verzichten. Gleiches haben auch die SPD-Bil-dungsminister schon frühzeitig in die Debatte gebracht,weil auch sie der Auffassung sind, dass es keine Blo-ckade in dem Prozess geben darf, der mit den nächstenSchritten auf der europäischen Ebene weitergeht und mitdem natürlich auch prozesshaft noch weitere Positions-klärungen im Zusammenwirken mit den übrigen Part-nern, den europäischen Nachbarländern, der Europäi-schen Kommission und an erster Stelle den Sozial-partnern, zu finden sein werden.

Dass man dann jetzt, medial entsprechend vorbereitet,die voluminöse Ankündigung der Bundesbildungsminis-terin lesen darf, dass sie den großen Befreiungsschlagplant, mit dem sie genau diesen SPD-Vorschlag neu indie Diskussion einbringt, zeugt dann allerdings von einerziemlichen Ignoranz und Überheblichkeit der Bundesbil-dungsministerin. Es ist wirklich bedauerlich, dass FrauSchavan, statt klar, eindeutig und rechtzeitig Orientie-rung zu geben, zu solchen Mitteln greifen muss, um sich– bildhaft gesprochen – hinter den Zug zu werfen, derschon lange vorbeigefahren ist. Von „Idee für einen Be-freiungsschlag“ kann hier jedenfalls keine Rede sein. Inanderen Zusammenhängen würde man wohl eher vonpolitischem Plagiat sprechen.

Zum Zweiten die Bemerkung in der Sache und zumweiteren Vorgehen. Gerade weil der Europäische Quali-fikationsrahmen und in diesem der DQR ein hochan-spruchsvolles Konstrukt bilden, darf auch für uns inDeutschland die Diskussion mit der vorläufigen Heraus-nahme der allgemeinbildenden schulischen Abschlüssenicht beendet sein. Gerade weil wir sehr sicher sind, dassauch im europäischen Kontext, in dem Vergleich dessen,was in anderen europäischen Ländern als Einordnungsolcher Abschlüsse vorgenommen wird, am Ende dochdie sachliche Lösung, nämlich hier die gemeinsame Ein-ordnung auf Niveau 4, auf mittlere Sicht wieder auf unszukommen wird, wollen wir gleichzeitig noch den Blickauf andere offene Fragestellungen richten.

So hat unseres Erachtens die Aufgabe, das ganze Sys-tem der beruflichen Aufstiegsfortbildung in den ver-schiedenen Niveaus in den Europäischen alias Deut-schen Qualifikationsrahmen mit einzuordnen, bisher vielzu wenig Bedeutung gehabt. Genau hierfür ist aber auchentscheidend, dass es noch eine eigene Kategorie 5 inden entsprechenden Anforderungen an die fachliche unddie personale Kompetenz gibt.

Wenn Sie sich noch einmal in Erinnerung rufen, wasin der Matrix vom DQR hier mit angesprochen ist, sofinden Sie als Anforderung im Bereich des Wissens so-wohl das integrierte Fachwissen in einem Lernbereichoder integriertes berufliches Wissen in einem Tätigkeits-feld, das auch vertieftes fachtheoretisches Wissen ein-schließt. Bei den Fertigkeiten ist daran gedacht, das Ni-veau 5 an ein sehr weites Spektrum spezialisierter,kognitiver und praktischer Fertigkeiten zu binden. Ar-beitsprozesse sollen danach übergreifend geplant werdenkönnen und unter umfassender Einbeziehung von Hand-lungsalternative und Wechselwirkung mit benachbartenBereichen beurteilt werden können. In der personalenKompetenz wird erwartet, dass Arbeitsprozesse koope-rativ, auch in heterogenen Gruppen, geplant, gestaltetund auch mit anderen Personen zusammen angeleitetwerden können. Insgesamt muss hier schon eine be-trächtliche Führungsleistung erbracht werden können.

Genau diese Kompetenzen gehen alle über die Quali-fikation hinaus, die junge Menschen nach einer berufli-chen Erstausbildung oder nach dem Abitur schon auf-weisen können. Sie ziehen vielmehr nach sich, dass eseinen systematischen Aufbau von Weiterbildung im in-formellen Sinne geben sollte, deren Entwicklung undAnerkennung ja nicht zuletzt durch den Anspruch desQualifikationsrahmens mit angestoßen werden soll. Ge-nau hierauf werden wir aber zusammen mit den Sozial-partnern, mit den Bildungsinstitutionen, im System deslebenslangen Lernens und der systematischen Weiterbil-dung ein vermehrtes Gewicht zu legen haben, wenn die-ses anspruchsvolle Instrument des Europäischen und desDeutschen Qualifikationsrahmens wirklich zu einem Er-folg geführt werden soll.

Wir werben deshalb noch einmal nachdrücklich dafür,dass nicht so sehr taktische Finessen von der Bildungs-ministerin Schavan bis hin zu den Koalitionsfraktionenbei der Abstimmung die Orientierung geben, sondern dieklare, sachliche Begründung. Gerade wenn es um Quali-

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fikationen geht, sollte Sachlichkeit doch eigentlich keinNachteil sein.

Heiner Kamp (FDP): „Ist die Lehre so wertvoll wiedas Abi?“ – So und so ähnlich haben die Zeitungen zumEuropäischen Qualifikationsrahmen und seiner nationa-len Umsetzung im Deutschen Qualifikationsrahmen ge-titelt. Um es vorwegzunehmen: Die Antwort auf die da-mals im Handelsblatt aufgeworfene Frage lauteteindeutig und unmissverständlich: Ja. Selbstverständlichgibt es Unterschiede zwischen dem Abitur und einer ab-geschlossenen beruflichen Ausbildung. Die Abschlüssesind verschiedenartig. Sie sind aber eindeutig gleichwer-tig.

Bei der spröden Bezeichnung „Europäischer Qualifi-kationsrahmen“ könnte man annehmen, dass es sich umeine weitere technokratische Segnung der EU handelt,von der man nicht unbedingt eine positive Auswirkungerwarten sollte. In diesem Fall sind derlei Befürchtungenunbegründet. Der Europäische Qualifikationsrahmenund der Deutsche Qualifikationsrahmen als seine natio-nale Umsetzung bieten eine große Chance, gerade dieBedeutung und Qualität der beruflichen Ausbildung imeuropäischen Kontext angemessen deutlich zu machen.Und dies ist von nicht zu unterschätzender Relevanz.

Erst kürzlich hat eine Studie des Instituts der deut-schen Wirtschaft Köln nachgewiesen, dass die duale Be-rufsausbildung die Triebfeder für Innovationskraft undWirtschaftswachstum in unserem Land ist. Im Auslandwerden wir um unsere hervorragend ausgebildeten Fach-kräfte beneidet. Ihnen haben wir es zu verdanken, dassunsere Betriebe und damit unsere Volkswirtschaft imVergleich zu anderen Staaten so zügig aus der Krise ge-kommen ist.

Der Europäische Qualifikationsrahmen bietet uns dieMöglichkeit, diese große Stärke unseres deutschen Bil-dungssystems endlich nach Europa zu spiegeln. Dieberufliche Dualausbildung zeichnet das deutsche Bil-dungssystem aus, unterscheidet uns von anderen Mit-gliedstaaten. Das ist ein Riesenvorteil. Und dennochwurde unser Berufsausbildungswesen auf europäischerEbene geringgeschätzt und belächelt. Man denke nur an dieregelmäßigen Vorwürfe vonseiten der OECD, Deutschlandhabe eine zu geringe Akademikerquote. Mit dem Deut-schen Qualifikationsrahmen haben wir die Möglichkeit,die hohe fachliche Qualität unserer Berufs- und Weiter-bildungsabschlüsse in Europa in Relation zu den diver-sen College-Abschlüssen zu stellen und sie damit ver-gleichbar zu machen. Wir können zeigen, dass unsereAusbildungsberufe keinesfalls zurückstehen müssen,sondern vielfach den vollschulischen oder quasiakade-mischen Lehrangeboten unserer Nachbarn überlegensind.

Der Deutsche Qualifikationsrahmen wird außerdemdazu beitragen, gerade die Weiterbildungsabschlüsseauch innerhalb unseres Landes verständlicher und ver-gleichbarer zu machen. Was meine ich damit? Ein Bei-spiel: Der Fortbildungsabschluss Fachwirt wird von vie-len als nicht gleichwertig mit einer akademischenAusbildung wahrgenommen. Er ist es aber. Die Wege

sind verschieden, das Ergebnis ist gleich viel wert. Wennder Fachwirt künftig gemeinsam mit dem ersten berufs-qualifizierenden Hochschulabschluss, dem Bachelor, aufNiveaustufe 6 des DQR steht, wird das die Wahrneh-mung der Fortbildungsabschlüsse positiv befördern. Dasist gut für die Bildungsnation Deutschland. Weiterbil-dungsabschlüsse gewinnen an Anerkennung. Und Wei-terbildung gewinnt damit an Attraktivität. Aufstiegdurch Bildung, das ist das Motto. Der DQR bietet alsogerade für das einzigartige deutsche Modell der berufli-chen Dualausbildung eine gute Gelegenheit, in Europaendlich angemessen vergleichbar zu werden.

Leider haben die Kultusminister der Länder dieseChance nicht erkannt. Sie sehen den DQR eher als Teil ei-nes Schönheitswettbewerbs und wollen ihr Abitur alsSchönheitskönigin möglichst weit oben auf dem Trepp-chen sehen. Dass sie sich damit außerhalb des Konsenseszwischen allen übrigen an der Erarbeitung des DQR Be-teiligten begeben, kümmert die Kultusminister bislangwenig. Ärgerlich ist, dass die Kultusminister sich erst zuWort gemeldet haben, nachdem der DQR bereits entwi-ckelt war. Mit dem Beschluss auf ihrer 335. Sitzung, dasAbitur auf Niveaustufe 5 statt, wie vom ArbeitskreisDQR beabsichtigt, auf Niveaustufe 4 einzuordnen, torpe-dierten sie den DQR-Prozess und die Chance auf eine an-gemessene Anerkennung unserer dualen beruflichenAusbildung.

Die Entscheidung der Kultusministerkonferenz warfachlich und ordnungspolitisch falsch. Sie kommt eineröffentlichen Beschädigung der beruflichen Dualausbil-dung gleich – statt für sie zu werben. Die Gründe hatteich bereits genannt.

Die Kultusministerkonferenz stellt sich mit ihremBeschluss nicht nur gegen die Bundesregierung, dieWirtschaftsminister der Länder, die Gewerkschaften, dieWirtschaftsverbände und alle übrigen an der Entwick-lung des DQR Beteiligten. Nein, auch gegen die übrigenMitgliedstaaten der Europäischen Union. Niemand sonstordnet die Hochschulzugangsberechtigung auf Niveau-stufe 5 ein. Die Position ist nur eins: isoliert.

Die FDP-Fraktion fordert die Kultusministerkonfe-renz nachdrücklich auf, ihre Einzelmeinung aufzugebenund zu einem Konsens zurückzukehren. Die Alternative,auf die Einordnung der allgemeinbildenden Abschlüssein den DQR zu verzichten, wäre für die KMK vielleichteine gesichtswahrende Lösung. Wirklich erstrebenswertist sie nicht.

Der dualen beruflichen Ausbildung hat die Kultus-ministerkonferenz bereits einen Bärendienst erwiesen.Mit der durch ihren Beschluss angestoßenen Debatte– ich erinnere an das von mir eingangs genannte Zitat –hat sie der dualen Ausbildung alles andere als die Aner-kennung zuteilwerden lassen, die sie verdient.

Vom Spitzengespräch am 31. Januar 2012 erwartenwir von den Kultusministern ein Einlenken. Andernfallssind die Ministerpräsidenten gefragt, ihre Kabinettsmit-glieder zum Wohle der beruflichen Ausbildung zur Ord-nung zu rufen.

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Agnes Alpers (DIE LINKE): Mit dem EuropäischenQualitätsrahmen und dem Deutschen Qualitätsrahmenhaben wir uns auf den Weg gemacht, die Gleichwertig-keit und die Durchlässigkeit zwischen allgemeiner, be-ruflicher und hochschulischer Bildung herzustellen. Dasneue Prinzip lautet: Wir vergleichen nicht mehr dieAbschlüsse, sondern die Lernergebnisse in Form vonKompetenzen. Hierzu hat man zum Beispiel die Lern-ergebnisse aus Ausbildungsrahmenplänen und Abitur-verordnungen in einer Matrix von acht Niveaustufen ein-geordnet. Wir als Linke begrüßen dieses Umdenken: Esist jetzt nicht mehr wichtig, wo ich meinen Abschlussgemacht habe, sondern was ich im Ergebnis an Kompe-tenzen erworben habe.

Aber genau dieser Paradigmenwechsel ist der Grund,warum wir hier heute stehen, warum es einen Konfliktgibt: Alle am DQR Beteiligten waren sich zunächst ei-nig: Eine vollqualifizierende duale Ausbildung – alsoeine Ausbildung von 3 und 3,5 Jahren – und das Abitursind gleichwertig. Deshalb sollen beide auf dem Niveauvier angeordnet werden. Doch die Kultusministerkonfe-renz der Länder hat sich dagegen ausgesprochen. Siewill das Abitur auf Stufe fünf installieren und die dualeAusbildung im Wesentlichen auf vier. Zur Begründungschrieb die KMK in einem Brief an die Ministerpräsi-denten der Länder im Dezember: Das deutsche Abitur istim europäischen Kontext etwas Besonderes. Es ist nichtnur ein Schulabschluss, sondern ein Universitätsein-gangszeugnis, und dies ist in Europa nicht selbstver-ständlich.

Diese Behauptung ist schlichtweg falsch. Das deut-sche Abitur hat in Europa kein Alleinstellungsmerkmal;denn auch in den anderen Staaten berechtigt dieserSchulabschluss zum uneingeschränkten Zugang zu denUniversitäten. Zulassungsbeschränkungen und Aufnah-meprüfungen gibt es auch in Deutschland. Die Einord-nung auf Stufe fünf ist daher nicht nachvollziehbar undwird in Europa nicht geteilt. Die anderen Staaten habensich dafür ausgesprochen, dass auch das Abitur auf demNiveau vier anzusiedeln ist. Durch solche Behauptungenisoliert sich Deutschland in Europa und vermittelt dasBild, dass die Deutschen mit ihrem Abitur etwas Besse-res sein wollen. Als Europäerin sage ich Ihnen: Dies istnicht der Weg in ein gemeinsames und solidarischesEuropa.

In Abgrenzung zu einer dualen Ausbildung hebt dieKMK hervor, dass man durch ein Abitur über vertieftesfachtheoretisches Wissen verfüge und deshalb auf derStufe fünf einzuordnen sei. Es stellt sich hier die Frage,warum die Kompetenzen einer Tischlerausbildung weni-ger wert sein sollen als die eines Abiturs. Ich komme auseiner Tischlerfamilie, und ich selbst habe jahrelangTischler unterrichtet. In der Ausbildung erwerben sienicht nur breite fachtheoretische Kenntnisse, sondern be-raten Kunden, kalkulieren Preise, planen selbsttätigArbeitsabläufe, programmieren Werkstücke an CNC-Maschinen, sind in die Strukturen der Arbeitswelt einge-bunden und erwerben nach einer theoretischen Prüfungmit fünf Prüfungsfächern und einer praktischen Prüfungmit der Planung, Zeichnung und eigenständigen Herstel-lung eines Werkstückes die volle Berufsfähigkeit. Fazit:

Tischlerinnen und Tischler und Abiturientinnen undAbiturienten lernen ganz unterschiedliche Dinge. Aberes ist vermessen zu behaupten, dass die erworbenenKompetenzen eines Tischlers geringer sind als die einesAbiturienten.

Die KMK pocht darauf, dass ein Abiturient alle Kom-petenzen der Stufe fünf durch das Abitur erreicht hat.Geht die KMK wirklich davon aus, wie auf Stufe fünfvorgesehen, dass ein Abiturient „andere anleiten und mitfundierter Lernberatung unterstützen“ kann?

Aber es geht weniger um all diese Einzelfragen. Diezentrale Frage ist: Ist die KMK bereit, von ihrem hohenRoss abzusteigen und die Gleichwertigkeit von berufli-cher und allgemeiner Bildung zu akzeptieren? Wir for-dern die KMK auf: Beenden Sie Ihr Denken von obenund unten, von besser und schlechter! Denn der Zug derZeit ist schon auf einem anderen Weg.

Wie verhalten sich nun die Fraktionen zu dem Kon-flikt um die Stufen vier und fünf des DQR? Alle spre-chen sich für die Gleichwertigkeit und somit für dieStufe vier für die allgemeine und berufliche Bildung aus.Alle begrüßen den Wechsel von abschlussorientierterWertigkeit hin zu ergebnisorientierten Kompetenzen.Doch wenn die KMK nicht zustimmt, sprechen sichSPD, CDU/CSU und FDP dafür aus, dass auf die Ein-ordnung der allgemeinen Schulabschlüsse verzichtetwerden soll.

Auch wenn der Bundestag keine Entscheidungskom-petenz beim DQR hat, so ist es doch bezeichnend, wel-ches Bild SPD, CDU/CSU und FDP hier abliefern: Siesind nicht bereit, sich klar und deutlich hinter die Gleich-wertigkeit zu stellen. Sie nehmen davon Abstand, dass esInhalt und Ziel des DQR ist, alle – ich betone: alle – Ab-schlüsse und Qualifikationen mit einzubeziehen. Ichkann hier nur feststellen: Diese Fraktionen sind nicht inder Lage, Konflikte auszutragen, klare Entscheidungenzu treffen. Die Annahme, dass die KMK schon nochnachziehen wird, mag wünschenswert sein, hat abernichts mit der zugespitzten Realität zu tun.

Meine Damen und Herren von SPD, CDU/CSU undFDP, Sie sind in dieser Frage weder Fisch noch Fleischund liefern ein fatales Signal an Europa: Deutschlandgeht wieder einen Sonderweg, und deutsche Abschlüssesollen wieder über europäischen Abschlüssen stehen. ImGegensatz zu dieser Konfliktvermeidungsstrategie setztdie Linke klare Signale für eine gleichwertige Bildungauf europäischer Ebene und für ein solidarisches Europa:Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bil-dung, jetzt und ohne Wenn und Aber.

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): DieIdee des Europäischen Qualifikationsrahmens ist gut undrichtig. Er soll mehr Transparenz schaffen und die Mobi-lität auf dem europäischen Arbeitsmarkt, aber auch inder beruflichen Aus- und Weiterbildung fördern. AlsÜbersetzungsinstrument kann er die Vergleichbarkeit derBildungsabschlüsse für Europas Arbeitgeberinnen undArbeitgeber, für die Auszubildenden und Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer erheblich verbessern.

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In Buxtehude wissen wenige, was HBO in den Nie-derlanden bedeutet. Umgekehrt sollen Betriebe in Spa-nien mit dem Qualifikationsrahmen auf einen Blick er-kennen können, ob Michaela Müller aus Hamburg mitihrer Qualifikation für die ausgeschriebene Stelle über-haupt in die nähere Auswahl kommt.

Beim EQR und DQR zählen die Lernergebnisse undHandlungskompetenzen. Wo und wie die Kompetenz er-langt wurde, steht nicht mehr an erster Stelle. Einmal flä-chendeckend in allen Unterzeichnerstaaten umgesetzt,kann und soll der EQR eine grundsätzliche Orientierunggewährleisten, weshalb die einzelnen Stufen recht breitangelegt sind.

Warum ist es hierzulande nicht gelungen, fristgemäßvor dem Jahreswechsel alle Bildungsabschlüsse den achtQualifikationsstufen zuzuordnen? Warum tut sichDeutschland anders als andere Teilnehmerländer mit derUmsetzung so schwer?

Mit ihrer Entscheidung, das Abitur höher einzustufenals die Berufsausbildungsabschlüsse, hat die KMK denZuordnungsprozess im Herbst vorerst zum Stillstand ge-bracht. In der Konsequenz bedeutet der KMK-Be-schluss, dass Abiturienten nach einer abgeschlossenenAusbildung von dem Qualifikationsniveau 5 auf 4 zu-rückgestuft werden.

Sogar Vertreter der Koalition räumten gestern im Bil-dungsausschuss ein, „viel Sympathie für die gemein-same Einordnung auf Stufe 4“ zu haben, wie wir es inunserem grünen Antrag fordern. Offenbar leuchtet auchder Koalition ein, dass es nicht angehen kann, dass Abi-turientinnen und Abiturienten der Anreiz genommenwird, eine hochwertige duale Berufsausbildung zu absol-vieren. Unsere Wirtschaft braucht schließlich alle, auchdie Leistungsstarken. Darüber hinaus werden die Berufs-bilder unter dem Modernisierungsdruck anspruchsvollerund komplexer, was die höhere Einordung des Abitursnicht rechtfertigt. Gerade für Mittelständler sind gut aus-gebildete nichtakademische Fachkräfte ein wichtigerFaktor für die Entwicklung neuer Produkte und ihreWettbewerbsfähigkeit. Es ist Aufgabe der Politik, inno-vationsfreundliche Rahmenbedingungen zu schaffen.Und dazu gehört auch ein lebensnaher und realitätsge-rechter DQR.

Immerhin setzten sich alle anderen in der Bildungs-und Berufsbildungslandschaft relevanten Akteure wieWirtschafts- und Arbeitgeberverbände, Gewerkschaftensowie die Wirtschaftsministerkonferenz und auch dasBMBF für die gleichwertige Zuordnung der mindestensdreijährigen Ausbildungen und des Abiturs auf Kompe-tenzniveaustufe 4 ein. Dies haben wir in unserem grünenAntrag deutlich gemacht.

Der Antrag der SPD hingegen hat schon die Kompro-missformel vorweggenommen, die schulischen Bil-dungsabschlüsse aus dem DQR herauszunehmen, wasdie Verhandlungsposition der Bundesebene unnötigschwächte. Seit Dienstag macht sich nun auch öffentlichMinisterin Schavan für diese Variante stark, vor allemmit Blick auf das Treffen am 31. Januar, an dem sie übri-gens nicht teilnehmen wird. Ich entnehme dem, dass von

dem Treffen keine Lösungsimpulse mehr erwartet wer-den.

Das sogenannte Französische Modell kann nur eineÜbergangslösung sein und ist nichts anderes als eineProblemvertagung, die jetzt eine aufgeheizte Debattekurzfristig beenden mag. Ich würde es bedauern, wennsich ausgerechnet die „Grande Nation“ und das „Landder Dichter und Denker“ bei einem bedeutsamen DQR-Bestandteil ausklinkten. Ministerin Schavan möchte denKonflikt lösen, indem sie ebendiesen ausklammert.Doch die lösungsorientierten Gespräche zwischen KMKund den anderen bildungspolitischen Akteuren müssenweitergehen.

Es ist besser, einen funktionierenden EQR in regel-mäßigen Abständen zu überprüfen und nachzujustieren,als das sinnvolle Instrument zur europäischen Mobilitätjetzt mutlos in die Ecke zu legen. Möge dem neuenKMK-Präsidium die Konsensfindung gelingen.

Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär bei der Bun-desministerin für Bildung und Forschung: Wir wollenunsere Bildungsabschlüsse, von den einfachsten bis zuden höchsten, in einer achtstufigen Skala transparentmachen, um zu zeigen, welche Kompetenzen der Ein-zelne im Laufe seines Bildungsprozesses erwirbt. Es sollzukünftig nicht mehr darauf ankommen, wo oder wielange jemand lernt, sondern darauf, was er am Ende ei-ner Ausbildung kann. Und das nicht nur in Deutschland,sondern in ganz Europa: über 30 Staaten arbeiten derzeitan dem gleichen Ziel.

Zum ersten Mal in der europäischen Geschichteschaffen wir ein übergreifendes Vergleichssystem fürBildungsabschlüsse. Wir wagen damit einen entschei-denden Schritt hin zu einer europäischen Bildungsland-schaft und nähern uns dem Ziel, die Europäische Unionzum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissens-basierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Zudemhaben wir die Chance, unser nationales Bildungssystemzu öffnen.

Natürlich sind wir in Deutschland stolz auf viele Er-rungenschaften unseres Bildungssystems – die langenTraditionen der Hochschulen in Forschung und Lehre,den hohen Qualitätsstand der dualen Ausbildung oderdie breite Allgemeinbildung, die unsere Schulen vermit-teln. Aber wenn wir ehrlich sind, errichten unsere kom-plexen Systeme mit ihren Traditionen und Eigenheitenin mancher Hinsicht hohe Hürden zwischen den ver-schiedenen Bildungswegen. Manchmal hat unser SystemAufstiege erschwert, Talente ausgebremst und „gläserneDecken“ errichtet, wo es allein auf Können, Initiativeund den Willen zur Weiterbildung ankommen sollte.

In den letzten vier Jahren hat eine breite Koalition ausBeteiligten den Deutschen Qualifikationsrahmen erarbeitet.Vertreter von Bund, Ländern, Sozialpartnern, Wirtschaft,Wissenschaft und Gesellschaft haben dabei vertrauensvollzusammengewirkt und weitestgehend Übereinstimmungdarüber erzielt, wie die Stufen beschrieben und Abschlüsseeingeordnet werden sollen.

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Bund, Wirtschaftsministerkonferenz, Gewerkschaftenund Arbeitgeberverbände genauso wie die Hochschul-vertretungen sind sich einig: Gemessen an den vermittel-ten Kompetenzen ist die Einordnung des Abiturs aufStufe 4 des DQR richtig. Das gilt auch für die anspruchs-volleren dualen Ausbildungen, die ebenfalls auf Stufe 4eingeordnet werden sollen. Die Stufe 5 bildet dagegentertiäre Abschlüsse ab, wie die ersten hochschulischenAbschlüsse oder berufliche Aufstiegsfortbildungen. Da-mit entsteht ein stimmiges Gesamtbild, in Deutschlandund in Europa. Wir setzen uns für die Gleichwertigkeitdes Abiturs und der anspruchsvollen dualen Ausbildun-gen ein.

Bei den dualen Erstausbildungen wollen wir überzwei Stufen differenzieren: Stufen 3 und 4. Die Hoch-schulzugangszeugnisse aller europäischen Länder sollensich auf einer gemeinsamen Stufe wiederfinden. Dasentspricht nicht nur unseren Verabredungen bei andereninternationalen Vergleichsinstrumenten, sondern auchder Vielzahl bilateraler Vereinbarungen.

Jetzt ist der Erfolg dieser jahrelangen Arbeit gefähr-det. Es ist in den letzten Monaten trotz intensiver Bemü-hungen und zahlreicher Gespräche nicht gelungen, mitder Kultusministerkonferenz Einigkeit über die Zuord-nung des Abiturs zu erzielen. Die Kultusministerkonfe-renz beharrt darauf, dass das Abitur auf der Stufe 5 ein-geordnet wird. Gleichwertigkeit mit der dualenBerufsausbildung soll dadurch hergestellt werden, dassdie Ausbildungsberufe über drei Stufen gestreckt wer-den. Gleichzeitig soll die Fachhochschulreife eine Stufeunterhalb des Abiturs angesiedelt werden. Das gefährdetdie Kohärenz des DQR. Es wird der Gleichwertigkeitvon allgemeiner und beruflicher Bildung nicht gerechtund setzt die duale Ausbildung gegenüber der Schulbil-dung herab.

Es stellt uns außerhalb der europäischen Wahrneh-mung, die das deutsche Abitur nicht als höherwertigeransieht als die Matura, das Baccalaureat oder die A-Le-vels. Und es wahrt nicht den erforderlichen Abstand zuden tertiären Abschlüssen der Stufe 5. Zudem unter-scheidet es zwischen dem Abitur und der Fachhoch-schulreife, obwohl beides zur Aufnahme eines Bachelor-studiengangs an einer Hochschule berechtigt und derBachelor unabhängig von der Art der Hochschule aufStufe 5 eingeordnet wird. Es gefährdet unsere Glaub-würdigkeit gegenüber unserer eigenen Bevölkerung undin Europa. Der DQR ist ein beschäftigungsbezogenesBewertungsinstrument, in dem vor allem nach den aufdem Arbeitsmarkt verwertbaren Kompetenzen gefragtwird. Zu Recht wird daher in den Medien gefragt: Wa-rum soll der Geselle zwei Stufen unter dem Abiturientenstehen?

Wenn wir den DQR ernst nehmen, wenn wir Transpa-renz und Mobilität fördern wollen und wenn wir danachfragen, welche Kompetenzen tatsächlich vermittelt wer-den, dann müssen wir wirkliche Gleichwertigkeit zwi-schen Abitur und anspruchsvollen beruflichen Erstaus-bildungen schaffen. Wir dürfen die zweijährigen Aus-bildungen nicht mehr unterhalb der Hochschulreife ein-ordnen. Auf der anderen Seite müssen wir den Abstand

zu den ersten tertiären Abschlüssen wahren. Wie sollsonst der Wissens- und Kompetenzzuwachs zum Bei-spiel in Kurzstudiengängen oder Aufstiegsfortbildungengezeigt werden?

Aus diesem Grund sage ich es offen: Wenn an dieserStelle keine Einigkeit mit der Kultusseite möglich ist, istes besser, auf die Zuordnung der Schulabschlüsse zu-nächst zu verzichten. Als nationales und europäischesTransparenzinstrument macht der DQR nur Sinn, wennseine Zuordnungen richtig und stimmig sind. Auch wennder EQR im Grundsatz bildungsbereichsübergreifendangelegt ist, hat er vor allem berufliche und akademischeQualifikationen mit unmittelbarem Arbeitsmarktbezugim Blick. Da die allgemeinbildenden Schulabschlüsseselbst nicht berufsqualifizierend sind, sondern dieGrundlage für die weitere akademische und beruflicheAusbildung bilden, stellen sie ohnehin eine Besonderheitdar. Die allgemeinbildenden Schulabschlüsse könntendaher als Notlösung, wenn die weiteren Entwicklungenbei uns und in der EU klarer absehbar sind, in einemzweiten Schritt zugeordnet werden – wie es zum Bei-spiel auch Frankreich plant. So könnte die Stimmigkeitdes Rahmens gewahrt und die Zuordnung der Qualifika-tionen sukzessive vorgenommen werden – und wir be-wahren uns die Chance, mit dem DQR einen echten Bei-trag für mehr Transparenz und Durchlässigkeit zuleisten.

Ich werbe noch einmal ausdrücklich um die Einfüh-rung des DQR: Qualifikationsrahmen sind Instrumentezur Erhöhung von Transparenz und Mobilität auf demArbeitsmarkt. Sie machen Gleichwertigkeit und Unter-schiede zwischen Schulbildung und Studium und beruf-licher Bildung in Deutschland sichtbar und tragen zurDurchlässigkeit und einer Erhöhung der Bildungsge-rechtigkeit Deutschland und Europa bei.

Anlage 11

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Für wirksamenRechtsschutz im Asylverfahren – Konsequen-zen aus den Entscheidungen des Gerichtshofsder Europäischen Union und des EuropäischenGerichtshofs für Menschenrechte ziehen (Ta-gesordnungspunkt 16)

Helmut Brandt (CDU/CSU): In ihrem Antrag for-dert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Bundes-regierung auf, den in §§ 27 a, 34 a Abs. 2 und § 75AsylVfG vorgesehenen Ausschluss des vorläufigenRechtsschutzes gegen Überstellungen nach Griechen-land im Rahmen der Dublin-II-Verordnung aufzuhebenund stattdessen das Recht auf einen effektiven Rechts-schutz mit aufschiebender Wirkung festzuschreiben.

Hintergrund des vorliegenden Antrags ist neben einerEntscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Men-schenrechte vom 21. Januar 2011 eine Entscheidung desGerichtshofs der Europäischen Union vom 21. Dezem-ber 2011. In dem Verfahren von Asylbewerbern aus Af-

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ghanistan, dem Iran und Algerien gegen das VereinigteKönigreich und die Republik Irland hat der Gerichtshofder Europäischen Union entschieden, dass ein Asylbe-werber nicht an einen Mitgliedstaat überstellt werdendarf, in dem er Gefahr läuft, unmenschlich behandelt zuwerden. Das Unionsrecht lasse keine unwiderlegbareVermutung zu, dass die Mitgliedstaaten die Grundrechteder Asylbewerber beachten.

Begründet wird der Antrag von Bündnis 90/Die Grü-nen damit, dass ein Schutzsuchender in jedem Falle voreiner Rückführung in einen anderen EU-Mitgliedstaatdie Möglichkeit einer effektiven rechtlichen Überprü-fung mit aufschiebender Wirkung haben müsse.

Diesen Antrag lehnen wir ab, da die Forderungendurch eine Entscheidung des Bundesinnenministers vomDezember des letzten Jahres unbegründet sind. Bereitsam 19. Januar 2011 hatte der damalige Bundesinnen-minister, Thomas de Maizière, erstmalig entschieden,dass mit sofortiger Wirkung für die Dauer eines Jahreskeine Überstellungen von Drittstaatsangehörigen nachder sogenannten Dublin-Verordnung nach Griechenlanddurchgeführt werden sollen. Das Bundesamt für Migra-tion und Flüchtlinge wurde gebeten, entsprechend zuverfahren. Deutschland macht in diesen Fällen von sei-nem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 3 der Dublin-II-Verordnung Gebrauch und führt die Asylverfahren inDeutschland durch.

Auch vorher schon, bereits in 2009 und 2010, hat dasBundesamt für Migration und Flüchtlinge der schwieri-gen Situation in Griechenland Rechnung getragen, in-dem es bei besonders schutzbedürftigen Personen, zumBeispiel für Minderjährige, für Flüchtlinge hohen Altersoder für Flüchtlinge, bei denen Schwangerschaft, ernst-hafte Erkrankungen, Pflegebedürftigkeit oder eine be-sondere Hilfebedürftigkeit vorlagen, von seinem Selbst-eintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-Verordnungsehr großzügig Gebrauch gemacht und von einer Über-stellung nach Griechenland abgesehen hat. Hintergrundder Entscheidung des Bundesinnenministers waren Be-richte von Delegationsteilnehmern sowie von NGOs unddem Hohen Flüchtlingskommissariat, die immer wiederauf die chaotischen Zustände in Griechenland hinwie-sen.

Dieses und vor allem die tatsächliche Entwicklung inGriechenland haben das Bundesinnenministerium nun-mehr veranlasst, erneut für ein Jahr von seinem Selbst-eintrittsrecht gemäß der Dublin-II-Verordnung Gebrauchzu machen. Trotz der geleisteten oder angebotenen Hilfeherrschten und herrschen in den Flüchtlingslagern men-schenunwürdige Zustände. Die griechische Regierungist nach wie vor nicht in der Lage und wohl auch nichtwillens, sich für eine deutliche Verbesserung der Lageder Flüchtlinge einzusetzen. Zusätzlich soll mit dieserEntscheidung des Bundesinnenministers auch zum Pro-zess der Konsolidierung des griechischen Asylsystemsbeigetragen werden.

Mit der Entscheidung des Bundesinnenministers, für dieDauer eines Jahres keine Überstellungen von Drittstaats-angehörigen nach der sogenannten Dublin-II-Verordnungnach Griechenland durchzuführen und stattdessen von

der Möglichkeit des Selbsteintrittsrechts Gebrauch zumachen, haben sich Ihre Forderungen nach einer grund-sätzlichen Aufhebung des in den §§ 27 a, 34 a Abs. 2 und§ 75 AsylVfG vorgesehenen Ausschlusses des vorläufi-gen Rechtsschutzes gegen Überstellungen nach Grie-chenland im Rahmen der Dublin-II-Verordnung erübrigt.

Eine grundsätzliche Einführung einer aufschieben-den Wirkung von Rechtsbehelfen gegen Rücküberstel-lungen brauchen wir nicht. Denn das in Art. 3 Abs. 3 derDublin-II-Verordnung vorgesehene Instrument des Selbst-eintrittsrechts trägt der jetzigen Situation hinreichendRechnung. Wie die jetzige und vergleichbare Entschei-dungen anderer Staaten zeigen, bietet die Dublin-Verord-nung bereits in ihrer geltenden Fassung hinreichendeMöglichkeiten, um auf außergewöhnliche Situationen zureagieren. Und wir wollen sie auch nicht. Denn das Dub-lin-II-Abkommen war und ist der Garant dafür, dass wirkeinen unkontrollierten und auch von uns nicht mehr zubewältigenden Asylbewerberstrom haben. Die grund-sätzliche Einführung einer aufschiebenden Wirkungwürde dieses System aushöhlen.

Ich betone deshalb noch einmal ausdrücklich, dasswir mit der Entscheidung des Bundesinnenministers, fürdie Dauer eines Jahres keine Überstellungen von Dritt-staatsangehörigen nach der sogenannten Dublin-II-Ver-ordnung nach Griechenland vorzunehmen, nicht das Du-blin-System als solches infrage stellen. Denn die aufdem Verantwortungsgrundsatz basierenden Zuständig-keitsregelungen der Dublin-Verordnung und ihres Vor-gängerabkommens haben sich in den über zehn Jahrenihrer Anwendung bewährt. Das Dublin-System bietet dieGarantie dafür, dass jeder auf dem Gebiet der teilneh-menden Staaten gestellte Asylantrag auch tatsächlich ge-prüft wird. Hierzu muss das System weiterhin zügigeEntscheidungen und Überstellungen in den zuständigenStaat ermöglichen.

Ich stimme mit den Kollegen und Kolleginnen vonBündnis 90/Die Grünen überein, dass wir ein menschen-unwürdiges Dasein der Flüchtlinge, das gegen alle inter-nationalen Standards verstößt, nicht dulden können.Meine Kollegen und ich haben deshalb im Dezembervergangenen Jahres Griechenland aufgefordert, alle not-wendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die menschen-unwürdigen Bedingungen in den griechischen Auffang-lagern sofort zu beenden und die bereitstehenden Mittelaus dem Europäischen Flüchtlingsfonds zu beantragenund abzurufen, um die Situation schnellstmöglich zuverbessern.

Griechenland erhält von uns jede erdenkliche Unter-stützung, um schnellstmöglich ein funktionierende Asyl-system aufzubauen. Eine grundlegende Veränderung inunserem Rechtsschutz lehnen wir daher ab.

Reinhard Grindel (CDU/CSU): Der Antrag der Grü-nen ist alter Wein in neuen Schläuchen. Wir haben überdiesen Sachverhalt bereits im März des vergangenenJahres debattiert. Und überraschenderweise hat sich anden Argumenten auch nichts verändert. Das Urteil desEuropäischen Gerichtshofes vom 21. Dezember 2011,auf das sich der Antrag der Grünen bezieht, hat wie

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schon ein früheres Urteil des Europäischen Gerichtsho-fes für Menschenrechte im Falle von Deutschland keinepraktische Bedeutung.

Wie unsere Fraktion bereits bei der Debatte im letztenJahr deutlich gemacht hat, ist der Forderung der Grünender Boden entzogen.

Seit dem 19. Januar 2011 werden keine Drittstaatsan-gehörigen mehr gemäß der Dublin-II-Verordnung nachGriechenland überstellt. Deutschland macht in diesenFällen von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch. Das be-deutet: Die Asylverfahren werden in Deutschland durch-geführt und nicht in Griechenland, weil dort nicht dieGewähr für ein Verfahren nach rechtsstaatlichen Grund-sätzen gegeben ist.

Mit dieser Entscheidung sollte gleichzeitig den Grie-chen die Gelegenheit gegeben werden, ihr Asylsystemdem eigentlich in Europa üblichen Standard anzunähern.Wir als CDU/CSU haben gegenüber dem griechischenBotschafter erst vor kurzem deutlich gemacht, dass wirdie Auffassung vertreten, dass Griechenland seine An-strengungen insoweit noch erheblich verstärken muss.Wir kritisieren nachhaltig, dass der von der griechischenSeite der EU vorgelegte Aktionsplan für eine bessereBewältigung des Zustroms von Asylbewerbern undFlüchtlingen noch nicht einmal ansatzweise in die Tatumgesetzt wurde. Es ist unverantwortlich, dass Grie-chenland angesichts der großen Solidarität, die es geradeauch von Deutschland erfährt, seine gegenüber Brüsselgemachten Versprechungen nicht einhält. So kann Soli-darität in Europa nicht funktionieren!

Es ist auch ein Trugschluss der Griechen, wenn sieglauben, durch die Dublin-Verordnung in besondererWeise benachteiligt zu sein. Das Gegenteil ist der Fall.Obwohl der Dublin-Mechanismus in Bezug auf Grie-chenland außer Kraft ist, reißt der Zustrom von Asylbe-werbern, die über Griechenland in die EU kommen,nicht ab. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: DieAsylbewerber wollen in Wahrheit ja gar nicht nach Grie-chenland, sondern sie wollen in die wirtschaftlich star-ken und sozial leistungsfähigen Länder wie Deutsch-land, die Niederlande oder Dänemark. Die Schlepperund Schleuser wissen allerdings sehr genau, dass einAsylbewerber, der nachweisen kann, über Griechenlandin die EU gekommen zu sein, eben gerade nicht in diesesLand zurückgeschoben wird, sondern in seinem eigentli-chen Zielland bleiben kann. Damit haben wir genau das„Asyl-Shopping“ erreicht, was wir mit der Dublin-Ver-ordnung gerade vermeiden wollten.

Für die Personen, die ansonsten nach Griechenlandzurückkehren müssten, ist also gesorgt. Eine grundsätzli-che Einführung einer aufschiebenden Wirkung vonRechtsbehelfen gegen Rücküberstellungen brauchen wirnicht. Denn das Instrument des Selbsteintrittsrechts trägtder jetzigen Situation ausreichend Rechnung. Eine sol-che Maßnahme wäre auch im höchsten Maße politischgefährlich. Die Grünen legen mit dem Vehikel Griechen-land in Wahrheit die Axt an ein Kernstück des von ihnenimmer abgelehnten Asylkompromisses aus dem Jahre1993, der damals zu einer deutlichen Reduzierung desMissbrauchs des Asylrechts geführt hat.

Durch den Grundsatz, dass ein Drittstaatsangehöriger,der bereits in einem anderen Land vor Verfolgung sicherwar, auch in diesem Staat sein Asylverfahren durchfüh-ren muss, ist es uns in Deutschland gelungen, den unge-steuerten Zustrom von Zuwanderern zu begrenzen.Durch das unmittelbare Recht auf Rückführung in denNachbarstaat hat endlich das unsägliche „Durchwinken“von Asylbewerbern aufgehört, das bei vielen Transit-staaten leider zu beobachten war. Nur durch den Dublin-Mechanismus hatten diese Länder in den letzten Jahrenein Eigeninteresse an einer effizienten Kontrolle ihrerGrenzen und einer zügigen Bearbeitung von Asylanträ-gen.

Auch Griechenland ist grundsätzlich ein sicherer EU-Staat für Flüchtlinge. Mit dem Selbsteintrittsrecht undder Aussetzung von Rücküberstellungen wird ein Bei-trag zur Konsolidierung und Entlastung der griechischenAsylbehörden geleistet. Griechenland muss jetzt handelnund nicht nur eine leistungsfähige Bürokratie für eineschnelle Bearbeitung der Asylanträge aufbauen, sondernmuss auch für eine menschenwürdige Unterbringung derAsylsuchenden in der Zeit ihres Aufenthalts in Grie-chenland sorgen.

Im Augenblick muss aber kein Drittstaatsangehörigerbefürchten, den Unzulänglichkeiten des griechischenAsylsystems ausgesetzt zu sein. Im Übrigen sind die Ver-hältnisse in allen anderen EU-Staaten und der Schweiz soangemessen, dass die Gültigkeit der Dublin-II-Verord-nung in diesen Fällen vollständig erhalten bleiben kann.Für den Antrag der Grünen gibt es wegen des Selbstein-tritts Deutschlands kein Bedürfnis, und er ist wegen derFolgewirkung, einer faktischen Außerkraftsetzung desbewährten Asylkompromisses, sogar politisch gefähr-lich.

Rüdiger Veit (SPD): Wenn ich jemals Zweifel anden Berichten über die katastrophale Lage der Flücht-linge in Griechenland hatte, so sind diese spätestens seitder Delegationsreise des Deutschen Bundestages imSeptember letzten Jahres, deren Mitglied ich war, an dietürkisch-griechische Grenze der endgültigen Gewissheitgewichen, dass die Lage der Flüchtlinge dort einfachentsetzlich ist: Die Menschen hausen in winzig kleinenZellen, auf verschmutzten Matratzen ohne Warmwasserund Heizung. Die sanitären Anlagen sind eine Zumu-tung: Abort und Dusche zugleich. Medizinische Versor-gung fand nur dort statt, wo Mitglieder von „Ärzte ohneGrenzen“ diese notdürftig leisteten.

Es geht mir nicht darum, mit dem Finger auf Grie-chenland zu zeigen. Dass Menschenrechte unteilbarsind, haben wir hier an dieser Stelle am 15. Dezember2011 unmissverständlich und deutlich ausgesprochenund Griechenland dazu aufgefordert, die Situation derFlüchtlinge im eigenen Land umgehend zu verbessern.

Wir wissen, Griechenland hat schwerste wirtschaftlicheProbleme zu meistern. Es hat eine Landgrenze mit der Tür-kei und eine schwer kontrollierbare Seegrenze einschließ-lich Hunderter Inseln. Und es liegt an der EU-Außengrenze.So dient es jährlich 200 000 bis 300 000 Flüchtlingen alsEintrittstor nach Europa. Und dies mit der Maßgabe, dass

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es niemandem die Weitereise nach Europa erlauben darf:Griechenland ist ein sicherer Drittstaat im Sinne der Dub-lin-II-Verordnung.

Statt Griechenland und die anderen Staaten an derEU-Außengrenze mit den Flüchtlingen allein zu lassen,müssen wir dringend für ein gerechtes Verteilungssys-tem sorgen, dass die Flüchtlinge nach Quoten auf dieMitgliedsländer verteilt.

Es ist aber vor allem unsere Verantwortung, Überstel-lungen in ein Erstaufnahmeland gemäß Dublin II nichtvorzunehmen, wenn uns nicht verborgen geblieben seinkonnte, dass systematische Mängel des Asylverfahrensund der Aufnahmebedingungen in dem Erstaufnahme-land für den Asylbewerber tatsächlich mit hoher Wahr-scheinlichkeit zu einer unmenschlichen oder erniedri-genden Behandlung im Sinne der Charta der Grund-rechte der Europäischen Union führen könnten. Diesstellt der Europäische Gerichtshof, EuGH, in seinem Ur-teil vom 21. Dezember 2011 deutlich und unmissver-ständlich klar. Damit bestätigte der EuGH die Richtung,die schon der Europäische Gerichtshof für Menschen-rechte, EGMR, zuvor vorgegeben hatte: vor der Rück-führung muss es für einen Schutzsuchenden die Mög-lichkeit einer rechtlichen Überprüfung mit auf-schiebender Wirkung geben. Dies hat auch das Bundes-verfassungsgericht in mehreren Eilentscheidungen, indenen es die aufschiebende Wirkung eingelegter Rechts-mittel gegen Rückführungen nach Griechenland auf-grund einer „grundrechtskonformen Auslegung“ des§ 34 a Abs. 2 Asylverfahrensgesetz bejaht hat, so gese-hen. Ebenso urteilten verschiedene Verwaltungsgerichtequer durch die gesamte Republik.

Die Forderung der Kolleginnen und Kollegen derFraktion von Bündnis 90/Die Grünen ist die logischeKonsequenz aus der Entscheidung des Europäischen Ge-richtshofs, des Europäischen Gerichtshofs für Men-schenrechte, der deutschen Rechtsprechung, und es istauch unsere Überzeugung.

Ich empfehle, dem Antrag zuzustimmen.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Nicht zuletztaufgrund der Verhältnisse in Griechenland, des Urteilsdes EGMR und nun auch des EuGH sowie der Verfas-sungsgerichtsbeschlüsse zu Dublin II wegen muss überdas europäische Asylsystem weiter beraten und nachge-dacht und das auch bei den anstehenden Verhandlungenzum Ausdruck gebracht werden. Eine Nachjustierung er-scheint erforderlich.

In diesem Zusammenhang plakativ von „menschen-und europarechtswidrigen Bestimmungen des deutschenRechts“ zu sprechen, wie die Antragsteller das zum wi-derholten Male tun, ist aber überzogen.

Ob tatsächlich das von Regierungen vereinbarte Eu-roparecht, wie die Grünen das mutig behaupten, das Ver-fassungsrecht, etwa des Parlamentarischen Rates inDeutschland, bricht, darüber hat Karlsruhe sich bislangnicht so eindeutig geäußert.

Als Parlamentarier finde ich, dass Recht, das direktaus einer demokratisch-parlamentarischen Willensbil-dung entsteht, grundsätzlich Vorrang vor intergouverne-mentalen Vereinbarungen haben sollte. Da ist der demo-kratische Einfluss mir denn doch zu indirekt. Insofernsind Reformen zur Stärkung der parlamentarischen De-mokratie auf europäischer Ebene geboten.

Das Bundesministerium des Innern hat voriges Jahralle Überstellungen nach der Dublin-II-Verordnung nachGriechenland ausgesetzt. Hier hat der Bundesinnen-minister die volle Unterstützung der FDP-Bundestags-fraktion. Damit wird die schwierige Situation berück-sichtigt, die in Griechenland für Asylbewerber besteht.Bereits im Jahr 2010 war nur ein kleiner Anteil von Per-sonen überhaupt nach Griechenland überstellt worden;in den restlichen Fällen hatte die BundesrepublikDeutschland bereits von ihrem Selbsteintrittsrecht Ge-brauch gemacht.

Das Bundesverfassungsgericht hat als Reaktion aufdie Aussetzung die Verfahren, die dort zur Geltendma-chung einstweiligen Rechtsschutzes anhängig waren,eingestellt. Es ist über die Notwendigkeit eines einstwei-ligen Rechtsschutzes also nicht entschieden worden.Man muss allerdings sagen, dass Deutschland angesichtsder bisherigen Situation des Rechtsschutzes bei Dublin-II-Verfahren noch Nachholbedarf hat. Hieran arbeitenwir. Die Singularstellung in Europa ist nicht wirklichruhmreich.

Die Bundesregierung geht sehr verantwortungsvollmit dem Rückführungsmechanismus um: Für ein Jahrsind nun Rückführungen ausgesetzt; bereits im vergan-genen Jahr wurden nur 50 Personen nach Griechenlandzurückgeschoben, beim Rest wurde vom Selbsteintritts-recht Gebrauch gemacht. Gleichzeitig können auch Staa-ten wie Griechenland nicht bevorzugt werden, wenn siedie Standards nicht einhalten: Der Druck muss aufrecht-erhalten bleiben. Konkrete Hilfe hat die Bundesregierungfür die griechischen Behörden auch angeboten – hinsicht-lich der menschenwürdigen und schnelleren Gestaltungder Asylverfahren und der Rahmenbedingungen hierzuist dieses ebenso wie zur stärkeren Grenzsicherheit von-nöten.

Die FDP wird in der Koalition mit der CDU/CSU dieAsylpolitik weiterhin verantwortungsbewusst und sensi-bel entwickeln und die EU-Planungen konstruktiv be-gleiten. Der Schutz von Menschen in Not ist für uns einhohes Gut.

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wir beraten heute einenAntrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, in dem dieWiederherstellung des effektiven Rechtsschutzes inAsylverfahren gegen eine Zurücküberstellung in einenanderen Mitgliedstaat der Europäischen Union gefordertwird. 2007 wurde bekanntlich die aufschiebende Wir-kung solcher Rechtsmittel gesetzlich ausgeschlossen.Die Bundesregierung argumentiert, dass Gerichte unge-achtet dessen in vielen Fällen vorläufigen Schutz gewäh-ren würden. In der Praxis erhalten Asylsuchende aller-dings häufig erst kurz vor oder sogar während ihrerÜberstellung in den zuständigen Mitgliedstaat die Mit-

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teilung über die anstehende Überstellung. Faktisch ist ih-nen dann die Anrufung eines Gerichts gar nicht mehrmöglich, wenn sie bereits auf der Gangway zum Flug-zeug stehen. Diese massive Einschränkung des Rechts-schutzes in Überstellungsverfahren wurde von der Frak-tion Die Linke im Bundestag schon immer scharfkritisiert. Die CDU/CSU verteidigt diese Regelung je-doch als Herzstück des Asylkompromisses von 1993.Von ihr wird immer wieder in schillernden Farben diedrohende Flut von Asylsuchenden an die Wand gemalt.Das ist eine populistische Stimmungsmache, die wir klarzurückweisen.

Die Bundesrepublik hat mit dem Dubliner Überein-kommen ihre sogenannte Drittstaatenregelung erfolg-reich exportiert. Asylsuchende müssen in der EU dort ihrAsylverfahren betreiben, wo sie zuerst die EU betretenhaben. Die Harmonisierung des Asylrechts hat bislangjedoch noch nicht dazu geführt, dass in allen EU-Staatenauch nur annähernd gleiche Standards in den Asylver-fahren gelten und es eine menschenwürdige Unterbrin-gung und Versorgung der Schutzsuchenden gibt, im Ge-genteil. Beispiele gibt es zuhauf. In Griechenland undItalien herrschen zum Teil unmenschliche Zustände inden Aufnahmeeinrichtungen, viele Schutzsuchende undselbst anerkannte Flüchtlinge leben auf der Straße. Asyl-anträge werden pauschal abgelehnt oder gar nicht erstangenommen. Auch in Ungarn wächst die Kritik an denZuständen im Asylsystem, so haben beispielsweiseAsylsuchende aus Syrien keine Chance auf Anerken-nung – selbst wenn sie aus der Armee desertiert sind undihnen bei der Rückkehr sogar die Todesstrafe droht.

Vor diesem Hintergrund hat der Europäische Ge-richtshof im Dezember eine wichtige und bahnbre-chende Entscheidung getroffen. Die EU-Staaten dürfennach dieser Entscheidung nicht mehr pauschal davonausgehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten die Grund-rechte von Asylsuchenden achten. Ein Asylbewerberdürfe nicht in einen anderen EU-Staat überstellt werden,wenn ihm dort unmenschliche Behandlung droht. DerEuropäische Gerichtshof schließt sich damit einerGrundsatzentscheidung des Europäischen Gerichtshofsfür Menschenrechte an, der Belgien wegen der Überstel-lung eines irakischen Asylsuchenden nach Griechenlandverurteilt hatte. Bereits der Europäische Gerichtshof fürMenschenrechte hatte den ungenügenden Rechtsschutzin solchen Überstellungsverfahren kritisiert. Nach dieserEntscheidung des EuGH ist der viel beschworene Asyl-kompromiss bereits obsolet. Die unwiderlegliche An-nahme „sicherer Staaten“ und der Ausschluss effektivenRechtsschutzes ist mit EU-Recht unvereinbar – Punk-tum.

Eine Änderung des deutschen Asylverfahrensrechtsist nach der Entscheidung des EuGH mehr als überfällig.Die Bundesregierung hat aber bislang immer noch nichterklärt, wie sie mit diesem Urteil umgehen will. Ichweise darauf hin, dass die Urteile des EuGH bindendesRecht in allen Staaten sind. Auch jetzt schon müssenalso die Behörden prüfen, ob bei einem Dublin-Fall dieGefahr besteht, dass die Grundrechte eines Betroffenenbei einer Rücküberstellung verletzt werden. Diese Über-prüfung muss auch durch Gerichte durchgeführt werden

können, und dafür muss der Ausschluss von vorläufigemRechtsschutz in Dublin-Verfahren gesetzlich wieder invollem Umfang hergestellt werden. Die Linke schließtsich in diesem Sinne der Forderung der Grünenfraktionan, die Bundesregierung zur Vorlage eines entsprechen-den Gesetzentwurfes aufzufordern.

Die Bundesregierung muss aber auch darüber hinausaktiv werden. In den Verhandlungen über die Neufas-sung der Asylverfahrensrichtlinie der EU muss ebenfallsein Rechtsschutz für Asylbewerber in Dublin-Verfahrenverankert werden. Darüber hinaus muss das ganze Asyl-system der EU grundsätzlich neu geordnet werden, umdas Hin- und Herschieben von Schutzsuchenden zu be-enden und allen Asylbewerbern in der EU ein fairesAsylverfahren und eine menschenwürdige Aufnahme zugarantieren.

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Im vorliegenden Antrag geht es zum einen umeine dringend notwendige Verbesserung des Rechts-schutzes für Flüchtlinge und zum anderen um eine zu-künftig stärkere Verpflichtung der Bundesrepublik zurWürdigung des Einzelschicksals eines jeden Flüchtlings,woran die Bundesregierung peinlicherweise erst durcheuropäische Gerichte erinnert werden musste.

In einem Urteil vom 21. Dezember 2011 in den ver-bundenen Rechtssachen C-411/10 und C-493/10 hat derGerichtshof der Europäischen Union unmissverständlichklargestellt, dass ein Asylbewerber nicht in einen Mit-gliedstaat überstellt werden darf, in dem er Gefahr läuft,unmenschlich behandelt zu werden. Der EuGH hat fer-ner entschieden: Das Unionsrecht lässt keine unwider-legbare Vermutung zu, dass die Mitgliedstaaten dieGrundrechte der Asylbewerber beachten. Der Gerichts-hof stellte fest, eine Anwendung der Dublin-II-Verord-nung (EG 343/2003) auf der Grundlage einer unwider-legbaren Vermutung, dass die Grundrechte des Asyl-bewerbers im zuständigen Mitgliedstaat beachtet wer-den, ist mit der Pflicht der Mitgliedstaaten zur grund-rechtskonformen Auslegung und Anwendung der Ver-ordnung unvereinbar.

Zuvor hatte bereits der Europäische Gerichtshof fürMenschenrechte in einer Grundsatzentscheidung vom21. Januar 2011 im Verfahren M.S.S. (Beschwerde-Nr.3096/09) aus Art. 3 in Verbindung mit Art. 13 der Euro-päischen Menschenrechtskonvention die Verpflichtungder Vertragsstaaten abgeleitet, vor einer Überstellung anden zuständigen Mitgliedstaat im Rahmen einer Einzel-fallprüfung die Einhaltung der aus Art. 3 EMRK folgen-den Verpflichtungen durch den zuständigen Mitglied-staat zu prüfen. Art. 13 EMRK – in Verbindung mitArt. 3 EMRK – sei dann verletzt, wenn es vor einerÜberstellung für den Betroffenen keine Möglichkeitgibt, gegen die Entscheidung, ihn in einen anderen Mit-gliedstaat zu überstellen, wirksame Rechtsmittel einzu-legen.

Schon die Entscheidung des EGMR hat unmittelbareund weitreichende Folgen für den Rechtsschutz im Asyl-verfahren in Deutschland. Denn die deutsche Regelung,wonach die aufschiebende Wirkung von Rechtsmitteln

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gegen eine Dublin-Überstellung ausgeschlossen ist, istmit der Europäischen Menschenrechtskonvention nichtvereinbar. Das bedeutet im Klartext: Ein automatischeRücküberstellung eines Asylbewerbers, ohne dass sichein Gericht mit den Verhältnissen in dem anderen Mit-gliedsland befasst, ist nicht im Einklang mit EU-Recht.Der deutsche Gesetzgeber muss nunmehr endlich denWeg frei machen und durch eine Gesetzesänderung ge-währleisten, dass Schutzsuchenden ein effektiverRechtsschutz gegen eine Abschiebung in einen anderenEU-Mitgliedstaat gewährt wird.

Um auch dies klarzustellen: die Entscheidung desEuGH bezieht sich auf alle Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union – nicht nur auf Griechenland. Wenn nunalso die Bundesregierung, wie gestern im Innenaus-schuss vorgetragen, sich in ihrer Haltung bestätigt fühlt,weil sie keine Asylbewerber mehr im Rahmen des Dub-lin-II-Verfahrens nach Griechenland zurücküberstellt,dann ist dies viel zu kurz gegriffen, was die Dimensionder Entscheidung des EuGH angeht. Es geht also auchum systemische Missstände in den Asylverfahren undder Anerkennungspraxis anderer EU-Mitgliedstaatenwie zum Beispiel Ungarn, wo ein diktatorischer Folter-staat wie Syrien als „sicheres Herkunftsland“ eingestuftist – unfassbar! –, oder Bulgarien, wo Asylsuchende un-ter unwürdigen Bedingungen inhaftiert werden, bloßweil sie einen Asylantrag stellen wollen.

Für den deutschen Gesetzgeber ergibt sich aus denUrteilen des EuGH und des EGMR ein klarer Auftrag:§ 34 a des Asylverfahrensgesetzes ist zu streichen. Nachdiesem Paragrafen ist in Deutschland bis heute per Ge-setz der einstweilige Rechtsschutz bei sogenannten Dub-lin-Überstellungen untersagt. Dieser unionsrechtswid-rige Zustand muss mit dem EuGH-Urteil nun beendetwerden.

Seit den mit dem 1. EU-Richtlinienumsetzungsgesetz2007 eingeführten Änderungen wurde über § 34 a Abs. 2Asylverfahrensgesetz der einstweilige Rechtsschutz ge-gen Entscheidungen im Verfahren nach der Dublin-II-Verordnung generell ausgeschlossen. Vom Ausland auskann ein effektiver Rechtsschutz vor deutschen Verwal-tungsgerichten aber nicht greifen. Ein Rechtsbehelf istnur dann wirksam, wenn irreparable Folgen, wie siedurch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maß-nahme vor deren gerichtlicher Überprüfung eintretenkönnen, so weit wie möglich ausgeschlossen werdenkönnen.

Die große Mehrheit der Verwaltungsgerichte setztsich zwar seit einiger Zeit in Verfahren des einstweiligenRechtsschutzes gegen Abschiebungsanordnungen desBundesamtes für Migration und Flüchtlinge, BAMF,über den Wortlaut des § 34 a Abs. 2 Asylverfahrensge-setz hinweg. Zur Begründung wird von den Gerichtenausgeführt, die Bestimmung des § 34 a Abs. 2 Asylver-fahrensgesetz sei verfassungskonform dahingehend aus-zulegen, dass sie entgegen ihrem Wortlaut die Gewäh-rung einstweiligen Rechtsschutzes im Zusammenhangmit geplanten Abschiebungen auf der Grundlage derDublin-II-Verordnung nicht generell verbiete.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatin der Entscheidung M.S.S. gegen Belgien und Grie-chenland festgestellt, dass ein Schutzsuchender in jedemFall vor einer Rückführung in einen anderen EU-Mit-gliedstaat die Möglichkeit einer effektiven rechtlichenÜberprüfung mit aufschiebender Wirkung haben muss.Eine solche Möglichkeit gibt es aber nach geltendemdeutschen Recht nicht. Die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen hatte daher am 23. Februar 2011 auf Drucksache17/4886 einen Antrag eingebracht, mit dem die Bundes-regierung aufgefordert wurde, die deutsche Rechtslageden Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonven-tion anzupassen. Dieser Antrag wurde bedauerlicher-weise von den Koalitionsfraktionen abgelehnt.

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat nun-mehr die vom EGMR vorgegebene Richtung bestätigt.Er hat entschieden, Art. 4 der Charta der Grundrechteder Europäischen Union sei dahingehend auszulegen,dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalenGerichte obliege, einen Asylbewerber nicht an einenMitgliedstaat zu überstellen, in dem er Gefahr läuft, un-menschlich behandelt zu werden. Eine unwiderlegbareVermutung – wie sie auch im deutschen Recht enthaltenist –, dass die Mitgliedstaaten die Grundrechte der Asyl-bewerber beachten, verwirft der EuGH ausdrücklich. So-mit ist jeder vertretbaren Behauptung eines von derÜberstellung an den zuständigen Mitgliedstaat betroffe-nen Asylsuchenden, dort bestehe für ihn eine konkreteGefahr, einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behand-lung ausgesetzt zu werden, in einem summarischen Eil-rechtsschutzverfahren nachzugehen.

Das Unionsrecht enthält für alle Mitgliedstaaten ver-bindliche Normen und Handlungsanweisungen, welcheentgegenstehendes nationales Recht – einschließlich desVerfassungsrechts – verdrängt. Nach der Klarstellungdurch den EuGH, dass das Unionsrecht keine unwider-legliche Vermutung der Sicherheit der Mitgliedstaatenkennt, dürfen § 27 a und § 34 a Asylverfahrensgesetznicht mehr angewandt werden.

Es erscheint daher dringend geboten, die menschen-und europarechtswidrigen Bestimmungen des deutschenRechts aufzuheben und im deutschen Recht effektivenRechtsschutz gemäß der Europäischen Menschenrechts-konvention und unionsrechtlichen Vorgaben festzu-schreiben.

Anlage 12

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines VierzehntenGesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgeset-zes (Tagesordnungspunkt 17)

Peter Wichtel (CDU/CSU): Nachdem wir in derletzten Sitzungswoche vor dem Jahreswechsel den vor-liegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung in ersterLesung beraten haben, kommen wir heute nach der Aus-sprache im federführenden Ausschuss für Verkehr, Bauund Stadtentwicklung zur zweiten und dritten Lesung

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sowie zur Abstimmung über das Vierzehnte Gesetz zurÄnderung des Luftverkehrsgesetzes wieder zusammen.Auch mehrere Wochen nach der ersten Debatte im Ple-num bin ich noch immer davon überzeugt, dass der Ent-wurf die nachhaltige und verantwortungsbewusste Luft-verkehrspolitik der Bundesregierung in besonderemMaße widerspiegelt, da die Interessen aller Akteure imFeld der Luftfahrt – seien es Passagiere, Beschäftigte,die Unternehmen der Luftverkehrswirtschaft oder auchPrivatpersonen, die in der Sportluftfahrt engagiert sind –Berücksichtigung finden.

Ich will zudem vorwegnehmen, dass die hauptsächli-che Zielsetzung des vorliegenden Entwurfes – die An-passung der bisher in der Bundesrepublik geltenden na-tionalen Regelung bezüglich der Flughafenentgelte undderen Festsetzung an die Vorgabe der EU-Richtlinie2009/2012/EG aus dem März 2009 – vollends erfülltwurde. Die Bundesregierung hat die überaus komplexeAufgabe der seitens der EU geforderten Umsetzung derFlughafenentgeltrichtlinie in deutsches Recht überausangemessen gelöst. Auch wenn sich mit den Flughafen-betreibern und den Luftverkehrsunternehmen als Flug-hafennutzer bezüglich der Berechnung der Flughafen-entgelte zwei starke unabhängige Parteien mit jeweilseigenen wirtschaftlichen Interessen gegenüberstehen, istes gelungen, die Interessen beider Partner sorgfältig undausbalanciert zu berücksichtigen.

Dank der inhaltlich stimmigen Ausarbeitung des Ge-setzentwurfes waren auch in den weiteren parlamentari-schen Beratungen keine maßgeblichen Änderungenmehr notwendig. Das vorliegende Luftverkehrsände-rungsgesetz beinhaltet bereits eine angemessene undnachvollziehbare Regelung bezüglich der Entgelte undderen Festsetzung. Es verankert die allgemeinen Grund-sätze der Entgelterhebung wie Transparenz und Diskri-minierungsfreiheit und gewährt Flughäfen mit mehr als5 Millionen jährlichen Fluggastbewegungen zudem ei-nige Sonderbestimmungen. So wird beispielsweise dieDurchführung eines obligatorischen Konsultationsver-fahrens zwischen Flughafenunternehmern und -nutzerneingeführt. Zudem werden die für die bezüglich der Ge-nehmigung der Entgeltordnung zuständigen Landesbe-hörden verpflichtet, zu prüfen, ob eine Orientierung aneiner effizienten Leistungserstellung erkennbar ist.

Weiterhin gilt es auch heute erneut hervorzuheben,dass sich die Bundesregierung bei der Umsetzung derRichtlinie weitestgehend an den Vorgaben aus Brüsselorientiert hat und nicht über die Anforderungen der EU-Richtlinie hinausgegangen ist. So ist gewährleistet, dasskein unnötiger bürokratischer Aufwand etabliert wird.Ursprüngliche Überlegungen wie die Einführung einerzentralen Regulierungsbehörde, der Verzicht auf dieWahlfreiheit des Geschäftsmodells oder die Ausdehnungdes Anwendungsbereichs auch auf kleinere Flughäfenund Flugplätze mit weniger als fünf Millionen Fluggast-bewegungen jährlich wären deutlich über die eigentli-chen Anforderungen der EU-Richtlinie hinausgegangenund einer angemessenen und ausbalancierten Umsetzungder Flughafenentgelte sicher nicht dienlich gewesen.

Die wenigen Änderungen, welche die Koalitionsfrak-tionen in der Aussprache noch angeregt haben, sindhauptsächlich redaktionellen Charakters. Einzig die Kor-rektur bezüglich der Antragsfrist für die Genehmigungder Entgeltordnung will ich an dieser Stelle hervorhe-ben. Das Vorziehen der ursprünglich geplanten Frist vonvier auf bis spätestens fünf Monate vor dem Inkrafttretender beabsichtigten Entgeltordnung soll den notwendigenZeitraum der Genehmigungsbehörde für die Durchfüh-rung des erforderlichen Verfahrens erweitern.

Darüber hinaus gilt es, auch die Thematik der unbe-mannten Luftfahrtsysteme, UAS, gesondert zu erwähnen.Da beim Betrieb von mit Kameras bestückten UAS da-tenschutzrechtliche Aspekte berührt sein können, habenwir auf Empfehlung des Bundesbeauftragten für den Da-tenschutz und die Informationssicherheit Peter Schaar si-chergestellt, dass eine Erlaubnis nur erteilt werden darf,wenn im Fall des Aufstiegs von UAS nach § 16 Abs. 1Nr. 7 LuftVO das Recht auf informationelle Selbstbe-stimmung nicht verletzt wird. Auch wenn die Erlaubnis-erteilung bereits nach geltendem Recht gemäß § 16Abs. 4 Satz LuftVO nur möglich ist, wenn die beabsich-tigte Nutzung nicht zu einer Gefahr für die Sicherheit desLuftverkehrs oder die öffentliche Ordnung führen kann,sorgt diese Ergänzung für eine Klarstellung und Rechtssi-cherheit.

Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass wiruns in der parlamentarischen Beratung verantwortungs-bewusst und ergebnisoffen mit dem Gesetzentwurf derBundesregierung auseinandergesetzt und dabei einigekleinere Korrekturen angeregt haben. So konnten wirden angemessenen und ausbalancierten Entwurf desVierzehnten Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsge-setzes noch weiter verbessern, was auch im Ausschussfür Verkehr, Bau und Stadtentwicklung mit geschlosse-ner, fraktionsübergreifender Zustimmung zum Ände-rungsantrag von CDU/CSU und FDP gewürdigt wurde.Nicht nur vor diesem Hintergrund werden wir auchheute in der abschließenden Beratung dem Gesetzent-wurf gemeinsam mit den eingebrachten Änderungen derKoalitionsfraktionen ausdrücklich zustimmen.

Daniela Ludwig (CDU/CSU): Nachdem kurz vorWeihnachten das Gesetz in den Bundestag eingebrachtwurde, sind wir heute hier, um es zu verabschieden. Die14. Änderung des Luftverkehrsgesetzes bringt einiges anNeuem mit. In den Fachausschüssen wurde daran gear-beitet, und wir sind froh und zufrieden, Ihnen heute einGesetz zur Abstimmung geben zu können, das aus unse-rer Sicht abgerundet und ausgewogen ist, um jetzt umge-setzt werden zu können. Zusammen mit dem Ände-rungsantrag – da waren wir uns im Ausschuss weit-gehend einig – kann man diesem Gesetz guten Gewis-sens zustimmen. Viel mussten wir nicht mehr ändern,denn der Entwurf, den uns die Bundesregierung vorge-legt hatte, war schon sehr gut ausgearbeitet.

Zudem kommen wir heute unserer Verpflichtungnach, die Richtlinie 2009/2012/EG des EuropäischenParlaments und des Rates vom 11. März 2009 über Flug-

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hafenentgelte nun endlich umzusetzen. Das wurde auchZeit, wir sind spät dran.

Es herrscht Einhelligkeit, was die Lösung des Haupt-anliegens betrifft, nämlich die Einigung bei den Flugha-fenentgelten. Ein sehr positiver Dialog zwischen den Be-teiligten im Luftverkehr über die angemessene Aus-gestaltung nun auch in Deutschland wird jetzt beendet.Alle beteiligten Akteure, die Flughafengesellschaften,die deutsche Luftverkehrsindustrie und die Airlines se-hen ihre Interessen ausreichend berücksichtigt und sindmit der vorliegenden Lösung zufrieden. Dann könnenauch wir zufrieden sein.

Für Flughäfen mit jährlich mehr als 5 Millionen Flug-gastbewegungen werden nun für die Nutzung der Ein-richtungen und Dienstleistungen, die ausschließlich vonFlughafenbetreibern bereitgestellt werden und mit Lan-dung, Start, Beleuchtung und Abstellen von Flugfahr-zeugen sowie mit der Abfertigung von Fluggästen undFracht in Zusammenhang stehen, Entgelte erhoben, diezudem eine Differenzierung nach Lärmschutzgesichts-punkten und nach Schadstoffemissionen vorsehen. Soweit, so gut. Weil aber die Bundesregierung in diesemGesetz auch noch einige andere Punkte regelt, hat esdoch zu kleineren Diskussionen geführt, die sich auch inder Presse wiederfanden. Dabei geht es zum Beispiel umdie von mir schon in der ersten Lesung erwähnten unbe-mannten zivilen Luftfahrzeugsysteme, die jetzt als eineneue Kategorie von Luftfahrzeugen eingeführt werden.Dabei darf man aber nicht denken, dass es diese vorhernoch nicht gegeben hätte. Im Gegenteil. Es gibt auchschon jetzt unbemannte Luftfahrzeugsysteme, die nacheiner entsprechenden Prüfung und Genehmigung startendürfen und ihre Aufgaben erledigen. Mit der aktuellenRegelung werden sie nun als Fahrzeug eingeführt underhalten somit eine viel besser zu kontrollierende Stel-lung in unserem Luftraum.

Uns geht es da in erster Linie um die technischen Vo-raussetzungen und nicht um die Zwecke, zu denen sieeingesetzt werden. Daher sieht das Gesetz auch vor, dassdie Zulassung dieser Geräte in einem gestuften Verfah-ren erfolgen soll. Die nähere Spezifikation und die Fest-legung der erforderlichen technischen Parameter sollendann in einem zweiten Schritt der Verwaltung überlassenwerden.

Zudem wird die Bundesregierung auch zeitnah dieKleine Anfrage der Fraktion der Grünen beantwortenund in einem Bericht darüber Auskunft geben, mit wel-chen Zahlen von Zulassungen wir wohl zu rechnen ha-ben. Man darf nicht vergessen, dass die Bundesländerebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle einnehmen.

Dann wird das Argument der Datensicherheit und desDatenschutzes herangezogen. Der Datenschutzbeauf-tragte hat dazu Stellung genommen. Dies wurde zwar imursprünglichen Gesetzentwurf schon thematisiert, abermit dem nun vorliegenden Änderungsantrag wird esnoch einmal konkretisiert. Die vorgenommene Ergän-zung von § 16 Abs. 4 Satz 1 LuftVO soll sicherstellen,dass eine Erlaubnis für diese Flugobjekte nur dann erteiltwerden darf, wenn im Fall des Aufstiegs nach § 16

Abs. 1 Nr. 7 die Vorschriften betreffend den Datenschutznicht verletzt werden.

Das klingt eigentlich nicht so kompliziert, und ich binsehr zuversichtlich, dass in der Umsetzung auch die da-tenschutztechnische Seite bei der Nutzung dieser Flug-körper und ihrer sicherlich auch sehr nützlichen Arbeiteingehalten werden können. Gleiches gilt ja bereits fürandere Luftfahrzeuge wie Hubschrauber, aus dem eben-falls Foto- oder Filmaufnahmen gemacht werden kön-nen.

Ich weiß auch gar nicht, warum Sie sich so gegendiese Einsätze wehren. Schon in meiner ersten Rede zudiesem Thema bin ich kurz darauf eingegangen: Es gibtso viele Tätigkeitsfelder, in denen solche unbemanntenFlugkörper wunderbar eingesetzt werden können, umMenschen das Leben und Arbeiten zu erleichtern. Un-sere Forscher, Landvermesser, Geologen würden sichereiniges an Zeit und Aufwand einsparen, könnten sie ihreDaten auf diese Weise erlangen. Doch die Einsatzfeldersind eigentlich nicht unser Thema. Auch der Daten-schutz ist Sache des Innenausschusses. Wir kümmernuns hier um die verkehrstechnische Seite.

Ich sage an dieser Stelle: Ich persönlich habe keineEinwände dagegen, wenn diese Objekte zur Überwa-chung von Gefahrensituationen verwandt werden. Dazuzählt für mich durchaus auch der Nutzen durch die Poli-zei in entsprechenden Situationen. Doch natürlich – ichrechne hier mit Ihrem Einspruch – muss bei solchen Ein-sätzen der Datenschutz gewahrt werden. Das traue ichunseren Behörden durchaus zu.

Kirsten Lühmann (SPD): Die Bundesregierung hateinen Gesetzentwurf zur 14. Änderung des Luftver-kehrsgesetzes vorgelegt. Diesen Entwurf behandeln wirheute abschließend in zweiter und dritter Lesung. Hin-tergrund dieses Gesetzentwurfs ist die Umsetzung derEU-Richtlinie 2009/2012/EG in deutsches Recht. DieRichtlinie ist am 15. März 2009 in Kraft getreten. Mitdieser Richtlinie verpflichtet Europa die Mitgliedstaatenauf gemeinsame Regeln zur Festlegung von Flughafen-entgelten.

Flughafenentgelte sind Entgelte, die Flughafenbetrei-ber für das Starten und Landen, das Abstellen von Luft-fahrzeugen sowie für die Abfertigung von Fluggästenund die Benutzung von Fluggasteinrichtungen erheben.Mit Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs werden Ent-gelte nun auf Flughäfen mit jährlich mehr als 5 Millio-nen Fluggastbewegungen nach klaren gemeinsame Kri-terien festgelegt, und kein Anbieter kann mehr dis-kriminiert werden.

Es wird EU-weit gemeinsame Standards zum zeitli-chen Ablauf, Inhalt und Umfang der Konsultationenzwischen Flughäfen und Fluggesellschaften zu den Ent-gelten geben sowie Regelungen zum weiteren Verfahrenfür den Fall, dass es in den Konsultationen zu keiner Ei-nigung über die Höhe der Entgelte gekommen ist.

Während des vorangegangenen parlamentarischen Ver-fahrens haben wir den vorliegenden Gesetzentwurf ge-prüft und gemeinsam im federführenden Verkehrsaus-

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schuss diskutiert. Die SPD-Bundestagsfraktion ist zu demErgebnis gekommen: Wir begrüßen die Umsetzung derRichtlinie bezüglich der Flughafenentgelte ausdrücklich.Sie ist sinnvoll und wird von uns mitgetragen.

Wir wissen, dass die Verhandlungen im Vorfeld desGesetzentwurfs sehr schwierig waren, da der Flughafen-markt hart umkämpft ist. Den mittelständischen Flugha-fenunternehmen auf der Angebotsseite stehen maßgeb-lich zwei große Luftverkehrsunternehmen in Deutsch-land auf der Nachfrageseite gegenüber. Mit dem Gesetz-entwurf ist es der Bundesregierung jedoch gelungen, dieInteressen beider Seiten sorgfältig und ausgewogen imRahmen der EU-Richtlinie aufeinander abzustimmen.Die Bundesregierung hat sich weitestgehend an den Vor-gaben aus Brüssel orientiert und ist nicht über die Anfor-derungen der EU-Richtlinie hinausgegangen.

Die im Entwurf festgelegte Differenzierung der Ent-gelte nach Lärmschutz- und emissionsabhängigen Krite-rien begrüßen wir. Damit wird es in Zukunft einen finan-ziellen Anreiz geben, statt lauten, klimaschädlichenFlugzeugen leise, emissionsarme Flugzeuge einzusetzen.Bundeseinheitliche Kriterien für die Einführung lärm-abhängiger Start- und Landegebühren – wie es etwa dieFraktion der Grünen gefordert hat – finden wir nicht er-forderlich. Wir wollen keine weitere Regulierung. Es be-darf maßgeschneiderter Lösungen, die auf den jeweili-gen Flughafen zugeschnitten sind. Wir fordern jedoch,die Erfahrungen mit den vorgesehenen Regelungen zurEinbeziehung ökologischer Kriterien nach einem Jahr zuevaluieren.

Außerdem sollen mit diesem Gesetzentwurf die Ver-braucherschutzbestimmungen aus der Verordnung (EG)Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Ra-tes vom 24. September 2008 über gemeinsame Vor-schriften für die Durchführung von Luftverkehrsdienstender Gemeinschaft umgesetzt werden. Mit dieser neuenRegel soll der Preisdschungel im Luftverkehr gelichtetwerden: Das war notwendig und wird in Zukunft trans-parenter geregelt werden. Alle Kunden sollen wissen,wie sich ihr Preis zusammenstellt, kostenpflichtige Zu-satzleistungen müssen als solche kenntlich gemacht wer-den. Das Angebot muss für alle in gleicher Weise zu-gänglich und vergleichbar sein, sowohl für Online-kunden als auch für Kunden, die ihren Flug im Reise-büro buchen.

Zudem sollen unbemenschte Luftfahrtsysteme als ei-gene Kategorie von Luftfahrzeugen und nicht mehr unterdem Sammelbegriff „andere Luftfahrzeuge“ berücksich-tigt werden. In dem vorliegenden Gesetzentwurf zumLuftverkehrsgesetz geht es damit lediglich um die Zulas-sung von unbemenschten Luftfahrtsystemen unter ver-kehrsrechtlichen Gesichtspunkten, nicht um die Frageder möglichen Einsatzzwecke. Mögliche Einsatzzweckevon Drohnen werfen zweifelsfrei erhebliche daten-schutzrechtliche Probleme auf. Diese sind allerdings inden einschlägigen Spezialgesetzen zu lösen.

Wir sind der Ansicht, dass den Bedenken des Bundes-beauftragten für den Datenschutz und die Informations-freiheit hinsichtlich dieser Regelung mit dem Änderungs-antrags der Bundesregierung ausreichend Rechnung

getragen werden. Den Änderungsantrag der Fraktion DieLinke lehnen wir ab.

Wir begrüßen außerdem die Zusage der Bundesregie-rung, bis Ostern einen Bericht zu den aktuellen Zahlenund Verwendungszwecken unbemenschter Flugkörperzur Verfügung zu stellen. Mit diesen Angaben kann derzuständige Innenausschuss über datenschutzrechtlicheAspekte beraten. Bei der Erteilung von Einzelfluggeneh-migungen müssen schon heute datenschutzrechtlicheBestimmungen eingehalten werden. In der jetzigen Pra-xis werden Drohnen auch als kostengünstige Variantezum Schutz von Menschen und wichtigen Sachgüterneingesetzt wie zum Beispiel in der Brandbekämpfung.Den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke, jeglichenEinsatz von Drohnen sofort zu verbieten, halten wir da-her für nicht sachgerecht.

Wir unterstützen den geänderten Entwurf der Bundes-regierung zur 14. Änderung des Luftverkehrsgesetzes.

Herbert Behrens (DIE LINKE): Die Änderung desLuftverkehrsgesetzes ist notwendig, weil die EU-Richt-linie in nationales Recht umgesetzt werden muss. Das istein ganz normaler Vorgang. Aber es soll eine weitereÄnderung ins Gesetz geschrieben werden, die nichtzwingend heute beschlossen werden muss. Drohnen, imGesetzestext beschönigend Unmanned Aircraft Systems,UAS, genannt, sollen nun Teil des regulären Flugver-kehrs werden. Drohnen sind nicht Teil der Flughafenent-gelte-Richtlinie, und die gesetzliche Regelung ist aus-drücklich gedacht als Erweiterung der Möglichkeit,Drohnen zu testen und die (Markt-)Entwicklung zu för-dern.

Die notwendige öffentliche Debatte zu Drohnen hatbisher nicht stattgefunden. Wir haben große Sorge, dassdie Überwachung durch Behörden mit Drohnen zukünf-tig noch leichter wird. Davor schützt auch die Änderungzur Frage Datenschutz nicht, die auf Intervention desBundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar aufgenom-men worden ist. Ist das Luftverkehrsgesetz geändert,sind weitere Regelungen per Verordnung oder in Lan-despolizeigesetzen möglich, ohne dass der Bundestagbeteiligt wird. Wir wollen über die Einführung vonDrohnen ins Luftverkehrsgesetz erst dann entscheiden,wenn die Bundesregierung dem Verkehrs- und Innenaus-schuss den angekündigten Bericht geliefert hat. Wir kau-fen keine Katze im Sack.

Mit diesem Gesetzentwurf sollen drei wesentlicheNeuregelungen vorgenommen werden:

Geregelt wird die Festlegung von Flughafenentgelten,also den Gebühren vor allem für die Starts und Landun-gen von Flugzeugen. Die Regelungen zur Umsetzungdieses Teils der Richtlinie scheinen recht klar und unpro-blematisch zu sein.

Dann soll die Möglichkeit eingeführt werden, Air-lines aus bestimmten Drittstaaten die Einfluggenehmi-gung zu entziehen, wenn diese gegen die Vorgaben derEU zur Terrorvorsorge verstoßen. Wir sind zwar gegensolche Listen, wollen das Fass aber an dieser Stelle nichtaufmachen.

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Stattdessen will ich auf den wichtigsten Punkt in die-sem Gesetz zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes hin-weisen, der dort eigentlich gar nicht zwingend geregeltwerden muss: Die Regelung zu Drohnen bis 150 Kilo-gramm. Derzeit gibt es keine klaren technischen Anfor-derungen an diese Systeme. Dafür soll nun die gesetzli-che Grundlage geschaffen werden. Einsätze von Drohnenbedürfen bislang und auch zukünftig einer Genehmigung.Das Problem ist, dass der Bundestag mit der Entschei-dung heute die Katze im Sack kaufen würde, alle weite-ren Regelungen per Verordnung auf dem Verordnungs-wege oder in Landespolizeigesetzen getroffen werden.Eingesetzt werden Drohnen bereits zur Überwachungbei Demonstrationen; auch bei den Olympischen Spielenin London ist das geplant.

Wegen der Unklarheiten zur Frage der Drohnen gabes ein Gespräch mit Verkehrs- und Innenpolitikerinnenund -politikern in Anwesenheit von Vertretern des Bun-desministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.Erreicht wurde dabei letztlich, dass das Ministerium denÄnderungsvorschlag des Bundesdatenschutzbeauftrag-ten ins Gesetz aufgenommen hat. Damit wird deutlichgemacht, dass der Datenschutz explizit berücksichtigtwerden muss. Dem stimmen wir zu. Das reicht uns den-noch nicht aus, weil wir große Sorgen haben, dass dieÜberwachung mit Drohnen, so wie es der Gesetzentwurfja auch anspricht, zur Strafverfolgung und zu Kontroll-zwecken zukünftig noch leichter wird. Diesbezüglichwird auf die Landespolizeigesetze verwiesen. Das ist zu-treffend; aber wie man am Beispiel der Funkzellenüber-wachung in Dresden sieht, ist dem Vollzug Tür und Torgeöffnet. Deswegen wollen wir mit unserem Änderungs-antrag in diesem Gesetz zum jetzigen Zeitpunkt alle Be-stimmungen zum Thema Drohnen streichen. Die Regie-rung soll die Aufnahme von Drohnen zu einem späterenZeitpunkt erneut vorlegen, wenn die vielen Unklarhei-ten, die vom Ministerium in der Gesetzesbegründungselber angeführt werden, beseitigt sind.

Zwar werden schon heute Drohnen eingesetzt – unddies ohne klare technische Vorgaben. Dieser Missstandrechtfertigt angesichts der derzeit und noch auf Jahrehinaus absehbar geringen Anzahl eingesetzter Drohnennicht die jetzige grundsätzliche Einführung ins Gesetz.Für das von der Bundesregierung vorgesehene Zweistu-fenmodell mit gesetzlicher Grundlage sofort und Detail-regelung in ein paar Jahren gibt es keine Notwendigkeit.Vielmehr ist die Bundesregierung aufgefordert, zunächstdie offenen Fragen zu klären und die Einführung vonDrohnen ins Luftverkehrsgesetz gesondert vorzulegen.

Die Erforschung von Drohneneinsätzen ist aber seitlangem insbesondere ein Bestandteil der deutschen Si-cherheitsforschungsprogramme. Dabei ist es unendlichschwierig, die realen Ausgaben und Projekte festzustel-len. Es handelt sich jedoch um zig Millionen für ver-schiedene Programme und Projekte. Der Markt der Si-cherheitstechnologien und der Sicherheitsforschung istseit vielen Jahren für die Bundesregierungen der Wachs-tumsmarkt. Sein Umfang wird auf viele Milliarden Eurogeschätzt, und die Bundesregierung arbeitet intensiv da-ran, eine führende Rolle in Europa zu erlangen bzw. zuerhalten. Dabei werden in den Programmen systematisch

die Grenzen zwischen polizeilichen, militärischen undkatastrophenschützerischen Projekten verwischt, denndie erforschten Techniken und Instrumente sind klas-sisch mehrfachnutzbare Techniken.

Wir haben große Sorge, dass die Überwachung durchdie Behörden mit Drohnen zukünftig noch leichter wird.Wir fordern noch einmal dazu auf, unserer Forderungnach einer Änderung des Gesetzentwurfs nachzukom-men.

Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wirberaten heute abschließend über den Gesetzentwurf derBundesregierung zur vierzehnten Änderung des Luftver-kehrsgesetzes, der sich auf Flughäfen mit jährlich mehrals 5 Millionen Flugbewegungen bezieht.

Damit kommen wir unserer schon seit längerem aus-stehenden Verpflichtung nach, die EU-Entgeltrichtlinie innationales Recht umzusetzen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen begrüßt, dass mit diesem Gesetzentwurf nacheinem langwierigen Diskussionsprozess zwischen denFlughafenbetreibern und den Fluggesellschaften ein trag-fähiger Kompromiss für die Erhebung von Flughafenent-gelten gefunden wurde.

Allerdings gibt es aus unserer Sicht insbesondere beider lange angemahnten Einführung lärm- und emissions-abhängiger Start- und Landegebühren noch Nachbesse-rungsbedarf. Denn der Gesetzentwurf schreibt zwar dieEinführung differenzierter Entgelte zwingend vor, legtaber weder einen Maßstab dafür fest noch konkreteLärm- und Schadstoffminderungsziele, die damit er-reicht werden sollen. Somit bleibt es dem Ermessen derjeweiligen Flughäfen überlassen, welche Differenzie-rung der Lärm- und Schadstoffkategorien sie vornehmenund ob beispielsweise besonders laute Maschinen mithohem Schadstoffausstoß wirklich empfindlich höhereGebühren entrichten müssen und somit die angestrebteLenkungswirkung erreicht wird. Um zu überprüfen, obdie mit dem aktuellen Gesetzentwurf verabschiedetenVorgaben ausreichen, haben wir uns gemeinsam mit denKolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion im Ver-kehrsausschuss des Bundestages dafür eingesetzt, dassdie Bundesregierung in etwa einem Jahr eine Evaluationder Entgeltrichtlinie vornimmt. Damit soll die Wirksam-keit der jetzigen Gesetzesvorgaben überprüft werden.

Neben der Umsetzung der EU-Entgeltrichtlinie um-fasst der Gesetzentwurf der Koalition auch die Auf-nahme einer neuen Luftfahrzeugkategorie in den Rege-lungsrahmen des Luftverkehrsgesetzes. Diese betrifft diesogenannten unbemannten Flugsysteme, die besser be-kannt sind als Drohnen. Drohnen stellen potenziell eineerhebliche Gefährdung des Datenschutzes der Bürgerin-nen und Bürger dar. Denn sie sind in der Lage, zu filmenund Daten zu erheben und dies zumeist völlig unbe-merkt, oft sogar aus nächster Nähe und mit völlig neuenEinblicksmöglichkeiten. Deshalb haben wir uns mit allerDeutlichkeit dafür eingesetzt, dass die Erlaubnisertei-lung nach der Luftverkehrs-Ordnung, LuftVO, bei Droh-nen explizit auch die Prüfung der Wahrung des Grund-rechts auf informationelle Selbstbestimmung beinhaltet.Damit wurde der Forderung des Bundesdatenschutz-

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beauftragten entsprochen. Dies bedeutet einen erstenwichtigen Schritt in Sachen präventiver Datenschutz.

Die Aufnahme von Drohnen als Luftverkehrsfahr-zeuge in das Luftverkehrsgesetz bereits zum jetzigenZeitpunkt erscheint uns angesichts der offenbar nach wievor bestehenden technischen Herausforderungen bei derGewährleistung vergleichbarer Sicherheit fragwürdig.Zudem bestehen zahlreiche noch offene tatsächliche Fra-gen hinsichtlich Technik, Verbreitung, Ausrüstung,Flughöhen und Einsatzgebieten, die für die Bewertungder Datenschutzrisiken maßgeblich sind. Deshalb kön-nen wir das Anliegen der Bundesregierung, die Entwick-lung der Drohnen „dynamisieren“ zu wollen, mangelsInformationen nur begrenzt nachvollziehen. Ein beson-derer Eilbedarf ist aus unserer Sicht ebenfalls nicht zuerkennen.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Bundesre-gierung die Chance versäumt hat, mit der aktuellen Luft-verkehrsnovelle endlich wirksame gesetzliche Regelun-gen zum besseren Schutz für die vom FluglärmBetroffenen zu schaffen. Weder wird der rechtliche An-spruch auf aktiven Schallschutz im Luftverkehrsgesetzgeregelt, noch wird die Deutsche Flugsicherung dazu ver-pflichtet, bei der Erarbeitung von An- und Abflugverfah-ren dem Lärmschutz der Bevölkerung Vorrang vor denbetriebswirtschaftlichen Interessen der Luftfahrtbranchezu geben. Und auch verbindliche Lärmgrenzwerte wer-den wieder nicht festgelegt.

Jan Mücke, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis-ter für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Auch, wennman in den letzten Wochen den Eindruck bekommenkonnte, es gehe hier um die Zulassung von unbemanntenLuftfahrzeugen, sogenannten Drohnen, ist festzustellen:

Ein zentraler Bestandteil des vorliegenden 14. Änd-LuftVG ist die Umsetzung der EU-Richtlinie zu denFlughafenentgelten vom März 2009.

Kurzer Exkurs: Eine Zulassung sogenannter Drohnenfindet hier nicht statt. Es wird vielmehr die Ermächti-gungsgrundlage geschaffen, damit die technischen,rechtlichen und sonstigen Rahmenbedingungen erarbei-tet und definiert werden können, um irgendwann in derZukunft eventuell solche UAS zulassen zu können. Dazusage ich später noch ein paar Sätze.

Die EU-Entgeltrichtlinie verpflichtet die Mitglied-staaten auf gemeinsame Regeln zur Festlegung vonFlughafenentgelten für Flughäfen mit jährlich mehr als5 Millionen Fluggastbewegungen. Damit wird ein wich-tiger Schritt im Bereich Luftverkehr getan im Hinblickauf eine EU-weite Harmonisierung der Grundlagen fürdie Berechnung von Flughafenentgelten.

Wie immer, wenn es ums Geld geht, prallen hier dieunterschiedlichsten Interessen aufeinander, gestaltet sichdie Abstimmung besonders schwierig. Hier sind insbe-sondere die divergierenden Interessen zwischen Flugha-fenbetreibern und Luftfahrtunternehmen einerseits sowieden Ländern als zuständige Genehmigungsbehörden an-dererseits zu nennen.

Mit dem vorliegenden Entwurf ist es gelungen, diesenEinzelinteressen weitestgehend gerecht zu werden.

So werden die allgemeinen Grundsätze der Entgelter-hebung wie Transparenz und Diskriminierungsfreiheitunmittelbar im LuftVG verankert (§ 19 b neu).

Für Flughäfen mit mehr als 5 Millionen Fluggastbe-wegungen jährlich gelten dabei entsprechend der Richt-linie Sonderbestimmungen:

So wird für derartige Flughäfen die Durchführung ei-nes obligatorischen Konsultationsverfahrens zwischenFlughafenunternehmen und -nutzern eingeführt. Diesdient einer verbesserten Transparenz des Verfahrens,was ein Leitgedanke der Richtlinie ist.

Zudem werden die für die Genehmigung der Entgelt-ordnungen zuständigen Landesbehörden verpflichtet, zuprüfen, ob eine „Orientierung an einer effizienten Leis-tungserstellung erkennbar“ ist.

Bei einvernehmlicher Regelung der Entgelte zwi-schen Flughafenbetreibern und -nutzern kann die Geneh-migungsbehörde jedoch von der Prüfung der Effizienz-orientierung absehen. Durch diese privilegierendeRegelung soll ein Anreiz für eine einvernehmliche Erar-beitung der Entgeltordnung zwischen Flughafenbetrei-bern und -nutzern geschaffen werden.

Ziel der Bundesregierung bei der Umsetzung derRichtlinie war es, sich so nah wie möglich an den Vorga-ben der Richtlinie zu orientieren (sogenannte Eins-zu-eins-Umsetzung); insbesondere sollte die nach geltenderRechtslage bestehende – und bewährte – Zuständigkeitder Landesluftfahrtbehörden als Genehmigungsbehör-den für Flughafenentgelte erhalten bleiben.

Gleiches galt für die Bundesregierung auch im Hin-blick auf die Beibehaltung der Wahlfreiheit des Ge-schäftsmodells des Flughafenunternehmens („Single-Till“ oder „Dual-Till“) sowie der Möglichkeit einer Vor-finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen am Flugha-fen.

Dass hierdurch keine „unkontrollierbaren Ausbaufan-tasien“ der Flughafenbetreiber ausgelöst werden, ist zumeinen durch das zitierte Konsultationsverfahren mitmöglichst konsensualer Festlegung der Entgelte gewähr-leistet und zum anderen dadurch, dass die Vorfinanzie-rung nur für Investitionsmaßnahmen in Betracht kom-men kann, die nach den gesetzlichen Regelungen als„entgeltrelevant“ für die Berechnung der Entgelte in-frage kommen.

Wichtige Neuerung in Bezug auf die alte Regelung istkünftig das sogenannte Konsensprinzip, das für Flughä-fen mit jährlich mehr als 5 Millionen Fluggastbewegun-gen gilt. Das Genehmigungsverfahren wird nunmehr umRegelungen ergänzt, die auch die Genehmigung einervom Flughafen und seinen Nutzern abgeschlossenenEntgeltvereinbarung zulassen.

Ein weiterer wichtiger Punkt, der im Gesetzentwurfhervorzuheben ist, sind die bereits eingangs erwähntenunbemannten Luftfahrtsysteme, UAS, die als eine neueKategorie von Luftfahrzeugen eingefügt werden.

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Wir kennen solche unbemannten Luftfahrtsystemevor allem im militärischen Bereich unter dem Stichwort„Drohne“. Mittlerweile bieten sich aber auch verstärktzivile Einsatzmöglichkeiten an, wie im Rahmen der Um-welt- und Verkehrsüberwachung, Geländeaufnahmen beiBauvorhaben oder dem Schutz von Pipelines.

Bislang kennt aber das Luftverkehrsgesetz diese Ge-räte nicht. Allenfalls für Flugmodelle und unbemannteBallone finden sich im Luftrecht Regelungen für die un-bemannte Luftfahrt.

Die unbemannte Luftfahrt hat aber gerade in den letz-ten Jahren eine dynamische technische Entwicklung er-fahren. Es erscheint in naher Zukunft nicht mehr ausge-schlossen, dass bemannte und unbemannte Luftfahrt-geräte gleichberechtigt am Luftverkehr teilnehmen. Die-ser Realität muss sich auch das Luftrecht stellen; es gilt,die technische und betriebliche Sicherheit dieser Gerätezu regeln.

Dies bedeutet keineswegs eine pauschale Zulassungdieser Geräte. Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt gar nichtvertretbar. Weder auf nationaler noch auf internationalerEbene haben wir nämlich ausreichende Erkenntnisse,um solche Anforderungen an die Betriebssicherheit defi-nieren zu können. Insbesondere im Bereich der Notlan-deverfahren, der Anforderungen an die Sicherheit undStabilität der Funkverbindungen und an die erforderlicheSensorik fehlen uns die notwendigen Erkenntnisse.

Wir gehen aber davon aus, dass wir im Hinblick aufdas rasche Voranschreiten der Technik in diesem Sektorund die Zunahme möglicher Einsatzbereiche für dieseunbemannten Luftfahrzeugsysteme schon bald Genaue-res wissen werden. Wie bei allen anderen Luftfahrzeu-gen auch sollen daher dann diese Anforderungen vomBundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung durch Verordnung festgelegt werden. Dieses Ver-fahren stellt eine relativ flexible und schnelle Möglich-keit dar, mit der Entwicklung Schritt halten zu können.

Für die Praxis – das möchte ich an dieser Stelle be-sonders betonen – hat das vorliegende Gesetz keine un-mittelbaren Konsequenzen: Die derzeit geltenden, sehrrestriktiven Regelungen der Luftverkehrs-Ordnung, dieden Betrieb und den Einsatz dieser Geräte in nur einge-schränktem Umfang zulassen, werden in keiner Weiseangetastet.

Es muss sich keiner sorgen, dass mit diesem Gesetzder Betrieb von Drohnen über Deutschland generell frei-gegeben wird. Das Interesse der Bundesregierung gehtauch keinesfalls dahin, Deutschland mittels Drohnen zuüberwachen und Personen zu beobachten. Es ist viel-mehr Interesse der Bundesregierung, sicherzustellen,dass diese Geräte von ihrer technischen Ausstattung hersicher gestaltet und sicher betrieben werden. Es solldurch sie keiner zu Schaden kommen. Daher sollenkünftig auch nur Leute diese Geräte steuern können, diebestimmten persönlichen Anforderungen entsprechen.

Ich verstehe die Sorgen hinsichtlich eines möglichenund unkontrollierten Einsatzes dieser Systeme sehr gut.Deshalb habe ich den Vorschlag des Bundesbeauftragtenfür den Datenschutz sehr begrüßt, durch eine ausdrückli-

che Ergänzung in der Luftverkehrs-Ordnung deutlich zumachen, dass beim Einsatz dieser Geräte insbesonderedie Belange des Datenschutzes zu wahren sind. Ichdenke, mit dieser Regelung wird den Belangen des Da-tenschutzes in besonderer Weise Rechnung getragen.

Anlage 13

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzeszur Änderung des Telemediengesetzes (Tages-ordnungspunkt 19)

Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Die SPD erfreutuns heute mit einem Gesetzentwurf zur Änderung desgeltenden Telemediengesetzes. Mir wurde dieses Gesetzam Mittwoch, dem 25. Januar 2011, zugeleitet, aber dieOnlineausgabe der Bild-Zeitung titelte bereits am23. Januar „SPD will Cookies verbieten“. Sie behauptetin ihrem Gesetzentwurf, Deutschland habe eine Normder europäischen E-Privacy-Richtlinie nicht umgesetzt.Fraglich ist jedoch, ob die Problembeschreibung im Ent-wurf und die darin abgeleitete Lösung überhaupt so zu-trifft? Ich glaube, hier muss etwas Klarheit in die gewor-fenen Nebelkerzen gebracht werden.

Erstens. Es gibt bereits eine Regelung zu den Cookiesin Deutschland. Der § 13 TMG regelt die Pflichten einesDiensteanbieters gegenüber seinen Nutzern. Nun fordertdie SPD eine Einwilligung für sämtliche Cookies, ent-sprechend der angeführten EU-Richtlinie. Aber ist dasnotwendig? Die Richtlinie fordert die Einwilligung für„die Zwecke der Verarbeitung“. „Verarbeitung“ ist imeuropäischen Recht ein Rechtsbegriff, der auf die Nut-zung personenbezogener Daten abstellt. Verarbeiten dieCookies die erhobenen Daten nicht personenbezogen,bedarf es keiner Einwilligung.

Zweitens. Auch die von der SPD angeführte EU-Richtlinie lässt unter Erwägungsgrund 66 dem Nutzerdie Möglichkeit, die Handhabung von Cookies über denInternetbrowser zu steuern.

Drittens. Die Bundesregierung hat übrigens die gel-tende Fassung des TMG als Umsetzung der E-Privacy-Richtlinie nach Brüssel gemeldet. Von der EU-Kommis-sion kam dazu bisher kein Widerspruch.

Viertens. Die Rechtslage ist also nicht so klar, wievon der SPD behauptet.

Fünftens. Wir müssen uns aber fragen, ob eine solcheRegelung auch wirtschaftlich sinnvoll ist? Ein Einwilli-gungsvorbehalt für sämtliche Cookies, auch solche diekeine personenbezogenen Daten verarbeiten, würde er-folgreiche Geschäftsmodelle im Internet zumindest ge-fährden.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass die meisten An-gebote im Internet für uns als Verbraucher umsonst sind,frei von Kosten sind sie natürlich nicht. Viele Anbieterfinanzieren sich über Werbung. Werbung funktioniert imInternet anders als in den Printmedien oder im Fernse-hen. Im Internet lohnt sich Werbung nur nutzerbezogen.

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Und ein Cookie ist das Instrument für dieses Geschäfts-modell. Natürlich muss es Regeln für den Einsatz vonCookies geben. Sie dürfen keine personenbezogenenDaten sammeln und weitermelden. Es gibt bereits um-fassende Bemühungen in der Werbe- und Internetbran-che zur Selbstregulierung und der Herstellung vonTransparenz. Die Branche ist in enger Abstimmung mitden Datenschutzbeauftragten und lässt ihre Werkzeugedort regelmäßig zertifizieren.

Das Risiko, wenn wir in Deutschland alle Cookies un-ter Einwilligungsvorbehalt stellen, sehe ich darin, dasswir mit unseren Ansprüchen die Branche strangulierenund die internetorientierte Werbewirtschaft abwandert.Dann findet die Entwicklung von Geschäftsmodellen imInternet außerhalb Deutschlands oder Europas statt. „In-ternet made in Germany“ zeichnet sich bereits durchhohe Standards bei Datenschutz und Sicherheit aus.

Der Nutzer muss informiert sein, was auf seinemRechner los ist. Er muss mit wenig Aufwand erfahrenkönnen, welche Cookies gespeichert sind und wie er siewieder löschen kann. Das ist über die Browsereinstellun-gen möglich.

Ich bin daher skeptisch, ob dieses Gesetz notwendigist, aber wir haben sicher noch genug Gelegenheit zurDiskussion im Ausschuss. Ich freue mich darauf.

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Dass die SPD mitdem vorgelegten Gesetzentwurf die Europäische Kom-mission besänftigen will, weil angeblich die neueste No-vellierung der E-Privacy-Richtlinie noch nicht in natio-nales Recht umgesetzt sei, erstaunt mich schon.Vielmehr hätte die SPD Europa und Deutschland ge-dient, wenn sie zu Zeiten der rot-grünen Bundesregie-rung die EU-Stabilitätskriterien nicht aufgeweichthätte – mit dem ganzen Schlamassel als Ergebnis, mitdem wir uns heute herumschlagen müssen. Bei der achso bedeutenden E-Privacy-Richtlinie dagegen steht dieSPD in vorauseilendem Gehorsam in Habtachtstellung.Da sieht man mal wieder, wie die Sozialdemokraten ihreSchwerpunkte setzen.

Nun aber zur Sache: In ihrem Gesetzentwurf behaup-tet die SPD, dass die im Dezember 2009 in Kraft getre-tene Änderungsrichtlinie der Richtlinie über die Verar-beitung personenbezogener Daten und den Schutz derPrivatsphäre im Bereich der elektronischen Kommuni-kation, der sogenannten E-Privacy-Richtlinie, im derzeitgeltenden Telemediengesetz nicht angemessen umge-setzt sei. Das Setzen von sogenannten Cookies, also In-formationen, die bei der Nutzung von Telemedien aufdem Rechner des Nutzers gespeichert und von Drittenabgerufen werden, sei „in der Regel“ unter einen Einwil-ligungsvorbehalt des Nutzers zu stellen.

Es trifft einfach nicht zu, dass dies im geltenden Tele-mediengesetz nicht geregelt ist. Auch wenn das deutscheGesetz richtigerweise keine explizite Regelung im Wort-laut des in der Cookie-Frage entscheidenden Art. 5Abs. 3 der novellierten E-Privacy-Richtlinie enthält, isterstens die Unterrichtung und zweitens die Einwilligungdes Nutzers über die Erhebung und Verwendung perso-

nenbezogener Daten im Telemediengesetz bereits gere-gelt. Ich zitiere in der Frage der Unterrichtung § 13Abs. 1 TMG:

Der Diensteanbieter hat den Nutzer zu Beginn desNutzungsvorgangs über Art, Umfang und Zweckeder Erhebung und Verwendung personenbezogenerDaten … in allgemein verständlicher Form zu un-terrichten, sofern eine solche Unterrichtung nichtbereits erfolgt ist. Bei einem automatisierten Ver-fahren, das eine spätere Identifizierung des Nutzersermöglicht und eine Erhebung oder Verwendungpersonenbezogener Daten vorbereitet, ist der Nut-zer zu Beginn dieses Verfahrens zu unterrichten.Der Inhalt der Unterrichtung muss für den Nutzerjederzeit abrufbar sein.

Darüber hinaus verlangt das TMG bei der Verwen-dung von Nutzungsdaten über die bloße Inanspruch-nahme hinaus immer die Einwilligung, wie sie in Art. 5Abs. 3 der E-Privacy-Richtlinie gefordert wird. Das istin den §§ 12 und 15 des TMG schon heute geregelt. In§ 12 Abs. 1 TMG heißt es:

Der Diensteanbieter darf personenbezogene Datenzur Bereitstellung von Telemedien nur erheben undverwenden, soweit dieses Gesetz oder eine andereRechtsvorschrift, die sich ausdrücklich auf Teleme-dien bezieht, es erlaubt oder der Nutzer eingewilligthat.

Weiter heißt es in Absatz 2:

Der Diensteanbieter darf für die Bereitstellung vonTelemedien erhobene personenbezogene Daten fürandere Zwecke nur verwenden, soweit dieses Ge-setz oder eine andere Rechtsvorschrift, die sich aus-drücklich auf Telemedien bezieht, es erlaubt oderder Nutzer eingewilligt hat.

§ 12 stellt also klar, dass personenbezogene Daten imZusammenhang mit der Bereitstellung von Telemedienohne Einwilligung nur verarbeitet werden dürfen, wennder Gesetzgeber das ausdrücklich erlaubt. Eine solchegesetzliche Regelung enthält § 15 TMG, der regelt, dassNutzerdaten bei Inanspruchnahme von Telemedien ohneEinwilligung nur verarbeitet werden dürfen, wenn dasfür diesen Zweck erforderlich ist. Ich zitiere:

Der Diensteanbieter darf personenbezogene Dateneines Nutzers nur erheben und verwenden, soweitdies erforderlich ist, um die Inanspruchnahme vonTelemedien zu ermöglichen und abzurechnen (Nut-zungsdaten).

Für die Speicherung und den Abruf von Informatio-nen wie zum Beispiel durch Cookies bedeutet das, dasssolche Verfahren in Deutschland ohne Einwilligung desNutzers nur zulässig sind, wenn dies aus technischenGründen für die Inanspruchnahme erforderlich ist. ImÜbrigen dürfen solche Verfahren ohne Einwilligung desNutzers nicht verwendet werden. Wer dagegen im Sinnedes § 16 TMG ordnungswidrig handelt, kann mit einerGeldbuße von bis zu 50 000 Euro belegt werden.

Im Übrigen darf ich die Genossen der SPD daraufhinweisen, dass die Bundesregierung, konkret das zu-

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ständige Bundeswirtschaftsministerium, dieses Instru-mentarium der Europäischen Kommission als Umset-zung des Art. 5 Abs. 3 der E-Privacy-Richtlinie in allerAusführlichkeit vorgestellt hat. Dabei hat die EU-Kom-mission unseren nationalen Regelungen inhaltlich undformell nicht widersprochen.

Was die SPD in ihrem Gesetzentwurf nun fordert, isteine Vorschrift, die jedwede Verwendung von Informa-tionen unabhängig von ihrer Personenbezogenheit – alsovon personenbezogenen Daten, die Rückschluss auf einekonkrete natürliche Person geben können – unter denEinwilligungsvorbehalt des Nutzers stellen würde. Da-mit wäre aber die Reichweite der Richtlinie viel zu weitinterpretiert. Denn damit würden die Sozialdemokratenfunktionierende Geschäftsmodelle der gesamten Inter-netwirtschaft ohne Not beeinträchtigen, schlimmsten-falls von vorneherein vereiteln. Besonders betroffen wä-ren die meist werbefinanzierten Onlineangebote derZeitungs- und Zeitschriftenverlage. Das sollten wir alsWirtschaftspolitiker hier schon mal ansprechen. Geradedie Verlage müssen heute bei der Pluralisierung der Me-dienangebote in nicht wenigen Fällen ums Überlebenkämpfen. Wollen Sie denen denn endgültig den Todes-stoß versetzen, verehrte Kollegen der SPD? Gerade Siesind doch mit Ihrer Medienholding in Form der Deut-schen Druck- und Verlagsgesellschaft an zig Verlagenund damit Regionalzeitungen beteiligt. Ich nenne hiernur mal die Westfälische Rundschau, den Nordbayeri-schen Kurier, die Hannoversche Allgemeine oder dieFrankfurter Rundschau. Wollen Sie Ihren eigenen Leu-ten ihr Geschäftsmodell kaputtmachen? Ich glaube, wohlkaum.

Die EU-Kommission plant, per Verordnung ein EU-weit geltendes Instrumentarium für den Datenschutz inder gesamten EU durchzusetzen. Die zuständige EU-Kommissarin Reding hat dazu jetzt einen über hundertSeiten starken Entwurf vorgelegt, der nach meiner Ein-schätzung viel Zündstoff in sich birgt. Da sollten wir ge-nau hinsehen. Denn was da aus Brüssel kommt, soll un-mittelbar geltendes Recht werden. Jetzt in einemSchnellschuss und in vorauseilendem Gehorsam eineEU-Richtlinie zu weit auszulegen, sich damit selbst Fes-seln anzulegen und unsere Wirtschaft unnötig zu gefähr-den, ist nicht nur überflüssig, sondern schlicht schädlich.Daher werden wir den Gesetzentwurf klar ablehnen.

Gerold Reichenbach (SPD): Wir haben heute einenGesetzentwurf zur Umsetzung der E-Privacy-Richtlinie,der sogenannten Cookie-Richtlinie vorgelegt. Worumgeht es in dieser Richtlinie? Es geht darum, dass Cookieszum Ausspähen von Surfverhalten nur dann auf der Fest-platte des Nutzers gespeichert werden dürfen, wenn die-ser aufgrund vorheriger, für den durchschnittlichen Nut-zer verständlicher Information bewusst eingewilligt hat.Cookies sind kleine Textdateien, die auf dem Endgerätdes Nutzers gespeichert werden. Man unterscheidet da-bei Erstanbieter- und Drittanbieter-Cookies. Erstanbie-ter-Cookies werden von der besuchten Webseite gesetzt.Drittanbieter-Cookies werden von einer fremden Seitegesetzt. Während ein Teil dieser Cookies unproblema-tisch ist und teilweise sogar notwendig, um eine Web-

seite aufzubauen oder den Dienst vollständig nutzen zukönnen, werden mit sogenannten Tracking-Cookies In-formationen über das Surfverhalten des Nutzers gesam-melt.

Ich bin mir sicher, dass nicht vielen Nutzern bewusstist, dass es durch die Verwendung von Cookies möglichist, detaillierte Nutzerprofile über sie anzulegen oderfestzustellen, welche weiteren Cookies bei ihm auf denRechner geschrieben werden. Wer weiß denn schon, wieviele Cookies schon beim bloßen Aufrufen einer be-stimmten Webseite auf seinem Rechner gespeichert wer-den?

Geht man zum Beispiel auf die Seite der SPD-Bun-destagfraktion, werden genau null Cookies gesetzt. Dasgleiche bei der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Besuchtman die Seite der Bundestagsfraktion Die Linke, werdenimmerhin zwei Cookies gesetzt, und auf der Seite derBundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen dreiCookies. Und geht man auf die Seite der so Pro-Daten-schutz eingestellten FDP-Bundestagsfraktion, werdensogar sieben Cookies gesetzt, drei von Erstanbietern undvier von Drittanbietern. Im kommerziellen Bereich wer-den beispielsweise auf der Seite von Zalando 53 Cookiesgesetzt, 9 von Erstanbietern und 44 von Drittanbietern,sobald man nur die Seite besucht. Das müssen nicht allesCookies sein, die der Ausspähung und Protokollierungdes Nutzerverhaltens dienen, aber niemand wird davoninformiert oder gefragt, ob er eine solche Dokumenta-tion und Weiternutzung der Daten zulassen will. Grund-sätzlich sind die meisten Browser so eingestellt, dass siedas Setzen dieser Cookies zulassen und eine differen-zierte Deaktivierung dieser Funktion, etwa nach Zweckder Cookies, nicht zulassen.

Das ist der Grund, warum wir heute den Gesetzent-wurf zur Änderung des Telemediengesetzes vorlegen.Die bisherigen Regelungen im Telemediengesetz sindentgegen der Auffassung der Bundesregierung unzurei-chend. Nach der sogenannten E-Privacy-Richtlinie sinddie Mitgliedstaaten verpflichtet, bis spätestens 31. Mai2011 Regelungen zu erlassen, die Anbietern von Tele-mediendiensten das Speichern von Cookies auf denComputern der Nutzer in der Regel nur erlaubt, wennder Nutzer aufgrund vorheriger umfassender Informa-tion eingewilligt hat. 31. Mai 2011 – nicht 2012! Seitcirca neun Monaten hält die Bundesregierung den Inter-netnutzern im Europäischen Recht vorgesehene Verbrau-cher- und Datenschutzrechte vor.

Einwilligung ist dabei das Stichwort. Die bisherigenRegelungen im Telemediengesetz sehen eine daten-schutzrechtlich schwache Kombination aus Unterrich-tungspflichten des Diensteanbieters und einer Wider-spruchsmöglichkeit für den Nutzer vor. Der Nutzer mussso jedes Mal seine Browsereinstellungen ändern, um zuverhindern, dass er in seinem Surfverhalten ausgespähtwird. Dieses Prinzip nennt sich Opt-out und ist nicht das,was von der Richtlinie vorgesehen ist. Haben Sie schoneinmal versucht, zu surfen, wenn Sie in ihrem Browserdie Einstellung „Cookies akzeptieren“ deaktivieren? Dasmacht nach zwei Minuten keinen Spaß mehr. Die Richt-linie sieht nun ausdrücklich eine Einwilligung vor – und

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keine nur für hoch informierte Menschen mit Computer-spezialwissen mögliche „Auswilligung“.

Information, Aufklärung und Einwilligungsvorbehaltsind wichtige Voraussetzungen für selbstbestimmtesSurfen im Netz. Ich möchte noch einmal darauf hinwei-sen, dass es dabei nicht darum geht, für jeden einzelnenCookie eine Einwilligung zu fordern. Die Einwilligungkann im Rahmen eines zusammenhängenden, abge-grenzten Datenverarbeitungsprozesses für mehrereCookies eines Anbieters gemeinsam erteilt werden. DieEinwilligung muss aber auf einer informierten und frei-willigen Basis gegeben werden. Das Argument der man-gelnden Praktikabilität zieht dabei nicht. Die Europäi-schen Datenschutzbeauftragten haben eine Reihe vonVorschlägen gemacht, wie sich das Recht der Verbrau-cher auf bewusste Einwilligung praktikabel umsetzenlässt, ohne dass ständig irgendein Informations- und Ein-willigungsfenster aufpoppt.

Man kann sich nicht ernsthaft auf den Standpunktstellen, die Richtlinie sei nicht umzusetzen, weil entwe-der die bisherigen Regelungen im Telemediengesetz aus-reichend seien oder sich die Umsetzung angesichts deranstehenden Datenschutzreform auf EU-Ebene erledigthabe. Fakt ist, egal in welcher Rechtsform der Daten-schutz demnächst auf europäischer Ebene geregelt wer-den wird: Zurzeit gibt es erst einen Entwurf. Bis der Ent-wurf bindendes Recht wird, kann noch viel Zeitvergehen. Fakt ist: Der Umsetzungsbedarf besteht jetzt.Darum gab es einen entsprechenden Vorstoß des Bun-desrates, wie die E-Privacy-Richtlinie im Telemedienge-setz umgesetzt werden könnte. Die Bundesregierung hataber sowohl in ihrer Stellungnahme auf den Entwurf desBundesrates als auch in ihrer Antwort auf eine KleineAnfrage der SPD-Bundestagsfraktion darauf bestanden,im Rahmen der Telekommunikationsnovelle eigene Vor-schläge zu unterbreiten, wie eine vernünftige Regelungim Telemediengesetz aussehen könnte. Passiert istnichts. Die europäische Union hat deshalb bereits dieEinleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegenDeutschland angekündigt.

Darum haben wir heute in Übereinstimmung mit derFormulierung des Bundesrates einen Gesetzentwurf vor-gelegt, der die weitgehend technikneutrale Regelung derRichtlinie aufgreift. Wir fordern Sie auf, die Richtlinieendlich umzusetzen und nicht weiter die völlig aberwit-zige Auffassung zu vertreten, dass der Nutzer dem Set-zen von Ausspäh-Cookies alleine dadurch zustimme,dass er seinen Browser nicht selbst umkonfiguriert habe,was ja auch gar nicht differenziert geht.

Wir appellieren an die Koalitionsfraktionen: Enthal-ten Sie den deutschen Bürgern nicht weiter unter unhalt-baren Begründungen die Verbraucher und Datenschutz-rechte vor, die die europäische Richtlinie vorsieht.

Claudia Bögel (FDP): Der vorliegende Entwurf sollnach dem Willen der SPD die Cookie-Regelung umset-zen. Mir drängt sich die Frage auf, warum sich die Kol-legen so viel Mühe und Arbeit machen; denn der Vor-wurf, das Telemediengesetz setze die europäischenAnforderungen zu Cookies nicht um, ist schlicht nicht

zutreffend. Im Gegenteil: Diese Anforderungen sind be-reits zu 100 Prozent im Telemediengesetz enthalten undmüssen nicht durch den uns vorliegenden Gesetzentwurfder SPD-Fraktion umgesetzt werden. Vielen Dank fürdas Angebot, aber es kommt zu spät.

Bereits seit 2002 regelt Art. 5 Abs. 3 der europäischenRichtlinie 2002/58/EG über den Datenschutz in den elek-tronischen Kommunikationsdiensten die Verwendungvon Cookies und stellt diese unter besondere Anforde-rungen.

Cookies, die über die Inanspruchnahme eines Diens-tes hinausgehende Zwecke, zum Beispiel Werbung, ver-folgen, bedürfen aufgrund der Neuregelung der Vor-schrift 2009 nunmehr der Einwilligung. Das TMG erfülltaufgrund der bestehenden Regelungen die europäischenAnforderungen.

Dabei enthält das TMG keine explizite Regelung imWortlaut von Art. 5 Abs. 3 E-Privacy-Richtlinie. Dievon Art. 5 Abs. 3 geforderte Unterrichtung des Nutzersist in § 13 Abs. 1 TMG geregelt. Danach ist der Nutzerbei einem automatisierten Verfahren, das darauf ausge-richtet ist, eine spätere Identifizierung des Nutzers zu er-möglichen sowie eine Erhebung bzw. Verwendung per-sonenbezogener Daten vorzubereiten, zu Beginn diesesVerfahrens umfassend, das heißt über Art, Umfang undZweck der Erhebung und Verwendung personenbezoge-ner Daten sowie über die Verarbeitung seiner Daten inDrittstaaten außerhalb der EU, in allgemein verständli-cher Form zu unterrichten. Darüber hinaus verlangt dasTMG bei der Verwendung von Nutzungsdaten über diebloße Inanspruchnahme hinaus immer die Einwilligung.

Das vorhandene TMG-Instrumentarium wurde aufEU-Ebene als Umsetzung von Art. 5 Abs. 3 E-Privacy-Richtlinie dargestellt. Die Europäische Kommission wi-dersprach dem nicht.

Die Forderung nach einer Vorschrift, die jedwedeVerwendung von Informationen unabhängig von ihrerPersonenbezogenheit unter den Einwilligungsvorbehaltstellt, halte ich persönlich für überzogen, und sie würdenach meiner Auffassung funktionierende Geschäftsmo-delle der gesamten Internetwirtschaft ohne Not erheblichbeeinträchtigen, wenn nicht sogar vereiteln. Im besonde-ren Maße würde dies die werbefinanzierten Onlineange-bote der Zeitungs- und Zeitschriftenverlage treffen.Meine Fraktion unterstützt daher die Vorgehensweise, esbei den bestehenden Regelungen zur Umsetzung vonArt. 5 Abs. 3 der Richtlinie zu belassen, und lehnt denEntwurf eines Gesetzes zur Änderung des Telemedien-gesetzes der SPD-Fraktion ab.

Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Die Linke be-grüßt den Vorstoß der SPD-Fraktion, endlich eine Rege-lung zur Verwendung von sogenannten Cookies im Tele-mediengesetz aufzunehmen. Die Verwendung vonCookies ist in vielen Fällen unbestritten sinnvoll. In denletzten Jahren hat aber vor allem die Nutzung vonCookies zum Aufzeichnen von Nutzerverhalten massivzugenommen. Dazu werden Cookies angelegt, die ihrenDienst bis zu 30 oder mehr Jahre lang tun sollen und In-

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formationen über besuchte Webseiten speichern. Geradedie Werbewirtschaft versucht auf diesem Weg immerausgefeiltere Profile von Nutzerinnen und Nutzern zu er-stellen, um zielgerichtet Werbung platzieren zu können.Dabei wird zwar betont, dass die Daten ausschließlichanonym erhoben und verarbeitet werden, in der Praxislassen sich aber aus den Nutzungsprofilen durchaus In-formationen über Personen ableiten, die sich dahinterverbergen.

Die Praxis im Umgang mit Cookies widerspricht demGrundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Die-ses sieht vor, dass Personen jederzeit wissen könnenmüssen, wer welche Daten und Informationen über siezu welchem Zweck besitzt und/oder verarbeitet. DieSpeicherung und Verarbeitung personenbezogener Datenist daher grundsätzlich an eine Einwilligung des Betrof-fenen gebunden. Bei Cookies ist dies regelmäßig nichtder Fall. Cookies werden von Webseitenbetreibern oft-mals ohne vorherige Einwilligung platziert und ausge-wertet. Hier besteht also Handlungsbedarf. Nicht um denEinsatz von Cookies zu verbieten, sondern um Nutzerin-nen und Nutzer über diesen zu informieren und ihneneine tatsächliche Wahlmöglichkeit zu bieten. BisherigeOpt-out-Modelle im Umgang mit Cookies haben sich alsnicht praxistauglich erwiesen. Informationen über denEinsatz von Cookies, deren Funktionsweise und die Artund Dauer der Datenspeicherung und Übermittlung fin-den sich heute oftmals nur auf Umwegen und verstecktin den AGB oder im Impressum.

Der Vorschlag der SPD-Fraktion fußt auf einem Ge-setzentwurf, der Mitte 2011 durch den Bundesrat be-schlossen wurde. In der Begründung wird zu Recht da-rauf hingewiesen, dass eine solche Regelung schondurch EU-Vorgaben im letzten Jahr hätte umgesetzt wer-den müssen. Bisher ist aber nichts passiert, die Bundes-regierung hat nichts vorgelegt. Auf Kritik stößt die ge-plante Regelung vor allem bei der Werbewirtschaft – daswird niemanden verwundern. Hier wird eingewendet,dass es technische Probleme bei der Umsetzung einesOpt-in-Modells, also einer echten Einwilligung auf Ba-sis von ausreichend Informationen, gäbe. Diese Kritikhat vor kurzem die Artikel-29-Gruppe, also die Arbeits-gruppe der europäischen Datenschutzbeauftragten, auf-gegriffen und auch einige Vorschläge zur technischenUmsetzung gemacht.

Der Vorwurf, dass für Onlinewerbung eine unange-messen hohe Zahl von Einwilligungen in die Verwen-dung der jeweiligen Cookies nötig wäre, läuft ins Leere.Tatsache ist doch, dass der Markt der Onlinewerbungvon einer überschaubaren Zahl großer Werbenetzwerkebeherrscht und betrieben wird. Dort wären Einwilligun-gen also nur ein paar Mal zu erteilen oder eben nicht undvor allem nicht auf jeder einzelnen Website, die Wer-bung enthält. Auch bei der grafischen Umsetzung gibt esBeispiele, die zeigen, wie es gehen kann. Der Daten-schutzbeauftragte Großbritanniens macht es auf seinereigenen Website vor. Beim erstmaligen Besuch der Seitewird im Kopf der Seite darauf hingewiesen, dass Teileder angebotenen Dienste nur durch das Einwilligen in ei-nen Cookie-Einsatz nutzbar sind. Dort wird auf weitere

Informationen zu Cookies hingewiesen und es kann indie Nutzung mit einem Klick eingewilligt werden.

An der technischen Umsetzung eines datenschutzkon-formen Einsatzes von Cookies sollten also keine Zweifelbestehen. Die Linke möchte die größtmögliche Freiheitder Nutzerinnen und Nutzer und den Schutz der informa-tionellen Selbstbestimmung stärken und wird daher denGesetzentwurf der SPD-Fraktion wohlwollend beglei-ten.

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Der mit nur einem Paragrafen etwas knapp gehal-tene Gesetzentwurf der Kolleginnen und Kollegen derSPD-Fraktion führt mitten hinein in das Herz der De-batte um den Internetdatenschutz. Dabei geht es bei-spielsweise um die Probleme der Profilbildung und desBehavioral Targeting. Und um es gleich vorweg zu sa-gen: Der Gesetzentwurf wirft die schwierige Frage auf,ob für die Bürgerinnen und Bürger und den Schutz ihrerDaten mit derlei chirurgischen Eingriffen tatsächlich et-was gewonnen werden kann.

Bevor ich dazu einige Punkte erläutere, möchte ichzunächst zum Handeln, oder sollte ich besser sagen, zumNicht-Handeln der Bundesregierung in diesem Bereichetwas erläutern: Die schwarz-gelbe Koalition muss imBereich des Datenschutzes endlich tätig werden. Inso-weit der Entwurf der SPD hier einen Anstoß geben will,geht er in die richtige Richtung. Denn die Bundesregie-rung verweigert seit über zwei Jahren hartnäckig jegli-che Verantwortung für einen zeitgemäßen Schutz derBürgerinnen und Bürger und dem Ausverkauf ihrer Da-ten und Grundrechte.

Sämtliche Versprechen, selbst die, die im Koalitions-vertrag vereinbart wurden, sind bis heute nicht eingelöst –sei es der Beschäftigtendatenschutz, die Stiftung Daten-schutz, die Überarbeitung des Bundesdatenschutzgeset-zes, der Beschäftigtendatenschutz oder die zunächst vomvormaligen Innenminister angekündigte, aber vom jetzi-gen Minister bereits wieder beerdigte Rote-Linie-Ge-setzgebung.

Mussten wir uns noch bis vor kurzem anhören, manwolle diese oder jene Maßnahme mit Blick auf die anste-hende Datenschutzreform in Brüssel nicht vorwegneh-men, heißt es nun, nachdem die Europäische Kommis-sion einen recht ambitionierten Entwurf vorgelegt hat,die Reform aus Brüssel gebe Anlass zu allergrößten Be-denken und der bundesdeutsche Gesetzgeber dürfe sichnicht ausbremsen lassen. Mit dieser anhaltenden Verwei-gerungshaltung untermauert die Bundesregierung einmalmehr ihren Unwillen, hier endlich für die Rechte derBürgerinnen und Bürger einzustehen. Es bleibt offen, obdies allein aus Überzeugung oder aus Unfähigkeit ge-schieht. Gerade der Fall der heute hier zu verhandelndenCookies hinterließ jedenfalls – im Rahmen der Diskus-sion um die Novellierung des Telekommunikationsge-setzes etwa – den Eindruck, man sei schlicht nicht in derLage, eine tragfähige Antwort zu präsentieren.

Die Bundesregierung war sich des Ablaufs der Fristzur Umsetzung der Vorgaben der E-Privacy-Richtlinie

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bewusst. Und auch die schwierigen, mit der Cookie-Pro-blematik verbundenen Rechtsfragen waren hinlänglichbekannt. Gelöst hat die schwarz-gelbe Bundesregierungdiese wichtigen Fragen bis heute nicht, weshalb für dasSetzen von Cookies nach wie vor im Grundsatz die be-stehende Rechtslage im Telemediengesetz gilt, nämlicheine Opt-out-Regelung. Und das ganz im Widerspruchzu der von der E-Privacy-Richtlinie geforderten Opt-in-Lösung.

Wie ich allerdings bereits eingangs betont habe, führtdie Diskussion um eine Cookie-Regelung ins Herz derFragen um den Internetdatenschutz. Und damit sind wirbei der tatsächlich nichttrivialen Frage angelangt, obüberhaupt und, wenn ja, auf welcher Weise es gelingenkann, effektive rechtliche Bindungen für Betreiber be-reits auf der Ebene des mittlerweile recht ausdifferen-zierten Tableaus von Wiedererkennungstechniken anzu-setzen. Hier gilt es zum Beispiel, die hochumstritteneFrage des Personenbezuges von IP-Adressen mit zu be-denken, denn gerade auch für Cookies spielt diese eineRolle.

Hier liegt nun eine Richtlinie, die E-Privacy-Richtli-nie, vor. Auf den ersten Blick scheint sie klare Vorgabenzu machen. Auch vor dem Hintergrund der aktuellen Re-formvorschläge der Europäischen Kommission für einegrundlegende Datenschutzreform dürfen wir eine kriti-sche Prüfung der EU-Vorlagen nicht vernachlässigen.

Die Anforderungen an eine zeitgemäße gesetzlicheRegelung sind vielfältig: Da wären die guten alten Ses-sion-Cookies und die dauerhaften Cookies. Zu ihnen ge-sellen sich heute sogenannte Web Bugs und Flash-Cookies. Zudem gibt es noch anderweitige Auswer-tungsmöglichkeiten – etwa durch Browser-Footprints.Ein präventiv ansetzender Datenschutz müsste bereitshier ansetzen – auch wenn die unterschiedlichen Zweck-setzungen von Cookies Fragen aufwerfen. Dementspre-chend nimmt etwa der SPD-Entwurf, der im Wortlauteine ganz erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Bundesrats-entwurf – BR-Drucksache 156/11 – aufweist, die Ses-sion-Cookies sowie diejenigen Cookies gänzlich vomEinwilligungserfordernis aus, die „unbedingt erforder-lich sind, um einen vom Nutzer ausdrücklich gewünsch-ten elektronischen Informations- oder Kommunikations-dienst zur Verfügung stellen zu können.“

Dieses Vorgehen erscheint zwar zunächst sinnvoll,aber schon hier stellt sich die Frage, ob etwa die vonFacebook im Rahmen von Like-Buttons platzierten datr-Cookies unter eine solche Privilegierung fallen, die nachEinlassung des Konzerns allein zu Sicherheitszweckenunbedingt erforderlich sein sollen.

Ferner unterwirft der Gesetzesvorschlag der SPD un-terschiedslos alle anderen Cookie-Verwendungen demEinwilligungsvorbehalt, ganz gleich, ob diese für eineWebseite nur zu Sicherheitszwecken, für Werbezwecke,allein durch Drittanbieter oder webseitenübergreifendzur Profildatenerstellung gesetzt werden. Auch Lebens-dauer und Inhalt finden insoweit keine Berücksichti-gung. Zugleich bleibt der Einwilligungsbegriff unprä-zise, weil Bezug genommen wird auf die bestehendenTMG-Vorschriften und damit auf die zumindest in der

Literatur vertretene Auslegung, wonach eben auch diekonkludente Einwilligung per Browservoreinstellunggenügen können soll.

Auch der Begründung des Entwurfs der SPD ist zu die-ser Frage leider keine Stellungnahme zu entnehmen. Da-mit weicht der Gesetzentwurf einer der entscheidendenregulatorischen Fragen der Cookie-Problematik schlichtaus und verfehlt damit das Ziel, Rechtssicherheit zu brin-gen. Die entscheidende Frage also bleibt offen: Sollte an-gesichts der in der Praxis auf Webseiten oftmals bis zu20 oder 30 gleichzeitig platzierten Cookies auf die na-hezu unmöglichen Einzeleinwilligungen verzichtet undeine pauschale, letztlich von den Datenschutzeinstellun-gen des Users selbst vorzunehmende Absicherung umge-stellt werden?

Von einer solchen alleinigen Selbstverantwortung derNutzerinnen und Nutzer halten wir, genau wie die Arti-kel-29-Datenschutzgruppe der Datenschutzbehörden derEU-Mitgliedstaaten, nur wenig. Sie wird von der Wirt-schaft gefordert, die, insoweit durchaus nachvollziehbar,die Praktikabilität nicht durch eine Vielzahl von Pop-up-Fenstern mit Einwilligungserfordernissen unterbrechenwill. Hier gilt es zu bedenken, dass noch längst nicht alleBrowser über einfache und verständliche Datenschutz-einstellungen verfügen: So umgehen Flash-Cookies denBrowser vollständig.

Die Medienkompetenz der Bürgerinnen und Bürgerwürde zum gegenwärtigen Zeitpunkt überschätzt, über-ließe man ihnen allein die Last der zu treffenden Schutz-maßnahmen.

Neuere Studien zu den bestehenden technischenSelbstschutzmöglichkeiten kommen zu dem Schluss,dass diese nach wie vor lückenhaft sind. Es stellt sichalso die Frage, wie eine differenzierte gesetzliche Rege-lung ausgestaltet werden müsste. Womöglich müsste sierisikoabgestufte Lösungen anbieten und den Fall derwebseitenübergreifenden Anwendungen zur Profilerstel-lung im Schwerpunkt aufgreifen. Zusätzlich wären füralle Techniken der Wiedererkennung Privacy-by-De-sign-Vorgaben verpflichtend zu machen.

Eine weitere, gegenüber den EU-rechtlichen Vorga-ben sogar missliche Verkürzung enthält der SPD-Ent-wurf schließlich bei den Informationspflichten: Währenddie Richtlinie Einwilligungen nur auf der Grundlage„klarer und umfassender Informationen“ zulassen will,gibt sich der Entwurf mit den weitaus spärlicheren An-forderungen von § 13 Abs. 1 des bestehenden Teleme-diengesetzes zufrieden. Das kann gerade deshalb nichtakzeptiert werden, weil zum einen die Komplexität derProblematik selbst, aber auch die Vielfalt und Undurch-sichtigkeit möglicher Selbstschutzmaßnahmen eher zu-sätzliche Informationen für die Verbraucherinnen undVerbraucher erforderlich machen.

Insgesamt sind diese vagen und unpräzisen Regelun-gen des SPD-Gesetzentwurfs nicht geeignet, die sich imZusammenhang mit der Verwendung von Cookies stel-lenden Fragen zu beantworten.

Facebook und Google veröffentlichten nicht zufälligzeitgleich mit der Vorstellung der EU-Verordnung für

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18706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 155. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2012

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eine Reform des Datenschutzes ihre weitreichenden Um-stellungen in der Datenverarbeitungspraxis. Diese Un-ternehmen, deren Geschäftsmodell maßgeblich vom ma-ximal perfekten Targeting der Nutzerinnen und Nutzerlebt, wollen vor Umsetzung der regulatorischen Anstren-

gungen der EU offenbar vollendete Tatsachen schaffen.Wir sollten ihnen mit umfassenden und differenziertenRegelungsansätzen zeigen, dass wir willens und in derLage sind, verfassungsrechtlich gebotene Vorgaben zuformulieren und auch durchzusetzen.

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