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Zeitschrift für Gemeinschaftskunde ISSN 1864-2942 Geschichte und Wirtschaft DEUTSCHLAND & EUROPA Die ersten Nachkriegsjahre – Europa nach 1945 Heft 68 2014

Deutschland und Europa nach 1945

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Page 1: Deutschland und Europa nach 1945

Zeitschrift für Gemeinschaftskunde ISSN 1864-2942

Geschichte und Wirtschaft

DEUTSCHLAND & EUROPA

Die ersten Nachkriegsjahre –Europa nach 1945

Heft 68 – 2014

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Page 2: Deutschland und Europa nach 1945

DEUTSCHLAND & EUROPA

Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte und Wirtschaft

THEMA IM FOLGEHEFT 69 (APRIL 2015)

Bricht Europa auseinander?Reichtum und Armut in Europa

HEFT 68–2014

»Deutschland & Europa« wird von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben.

DIREKTOR DER LANDESZENTRALELothar Frick

REDAKTIONJürgen Kalb, [email protected]

REDAKTIONSASSISTENZSylvia Rösch, [email protected]

BEIRATGünter Gerstberger, Robert Bosch Stiftung GmbH, StuttgartRenzo Costantino, Ministerialrat, Ministerium für Kultus, Jugend und SportProf. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität KonstanzDietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., FilderstadtLothar Schaechterle, Professor am Staatlichen Semi-nar für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen/NeckarDr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und Studien haus WiesneckDr. Georg Weinmann, Studiendirektor, Dietrich- Bonhoeffer-Gymnasium WertheimLothar Frick, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Baden-WürttembergJürgen Kalb, Studiendirektor, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg

ANSCHRIFT DER REDAKTIONStafflenbergstraße 38, 70184 StuttgartTelefon: 0711.16 40 99-45 oder -43; Fax: 0711.16 40 99-77

SATZSchwabenverlag Media der Schwabenverlag AGSenefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-RuitTelefon: 0711.44 06-0, Fax: 0711.44 06-179

DRUCKSüddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm mbH89079 Ulm

Deutschland & Europa erscheint zweimal im Jahr. Preis der Einzelnummer: 3,– EURJahresbezugspreis: 6,– EURAuflage 17.000

Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wie-der. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung.

Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion.

Mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport sowie der Heidehof Stiftung.

Titelseiten der französischen Tagespresse mit Schlagzeilen zur Kapitulation Deutschlands vom 8. Mai 1945:„Deutschland hat kapituliert, ohne Bedingungen, gestern um 2 Uhr 41“„Der Krieg ist zu Ende“ – „Kapitulation. Es gibt keine deutsche Armee mehr“. – „Es ist zu Ende!“ © dpa, picture alliance

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»Die ersten Jahre der Nachkriegszeit. Europa nach 1945.«Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

1. Anfänge europäischer Integration im Zeichen des Kalten Krieges. (Jürgen Kalb) . . . . . . 3

2. Europäische Föderationspläne, intergouvernementale Kooperationen und supranationale Aufbrüche nach 1945 in Westeuropa (Gabriele Clemens) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

3. Westdeutschland und die Bundesrepublik Deutschland nach 1945 – Westintegration als Leitbild (Johannes Gienger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

4. Die Sowjetisierung Osteuropas und Ostdeutschlands (Herbert Kohl) . . . . . . . . . . . . . . . 32

5. Deutschland und Polen: von Hass und Beziehungslosigkeit bis zu den ersten Ansätzen einer Verständigung (Manfred Mack) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

6. »Aus Feinden wurden Freunde«. Deutsch-französische Beziehungen von 1945 bis 1963 (Henri Ménudier) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

7. Großbritannien und Europa: Churchills Europa-Rede und die Nachkriegspolitik des Vereinigten Königreichs (Franz-Josef Brüggemeier) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN

D&E-Autorinnen und Autoren – Heft 68 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

D&E

Inhalt Inhalt

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I n h a l tHeft 68 · 2014

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Page 4: Deutschland und Europa nach 1945

Jürgen Kalb LpB Baden-Württemberg,Chefredakteur von»Deutschland & Europa«

Andreas Stoch, Mitglied des Landtags,Minister für Kultus, Jugend und Sportin Baden-Württemberg

Das Jahr 1945 markiert das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa und erinnert an die Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft. 1985 hatte der damalige Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker in einer Grundsatzrede den 8. Mai 1945 einen »Tag der Befreiung« genannt. Er erfuhr mit dieser Bezeichnung innen- und außenpolitisch viel Zustimmung. Diesen Tag so zu begreifen, bedeutete 1985 dennoch, ein neues Kapitel im Verhältnis zu unse-rer Vergangenheit aufzuschlagen, eine in der Bundesrepublik da-mals durchaus mutige Aussage. Das Deutsche Reich hatte den Zweiten Weltkrieg nicht nur verursacht, sondern auch verloren und lag in Trümmern.Der Historiker Peter von Kielmansegg hat dies unnachsichtig for-muliert: »Es war die Katastrophe, die Deutschland demokratiefä-hig gemacht hat. Es war die Katastrophe, die Deutschland gelehrt hat, sich in die europäische Staatengesellschaft einzufügen. Es war die Katastrophe, die Deutschland gezwungen hat, sich selbst neu zu definieren.« Doch dieses Scheitern war, »nur eine notwen-dige, sie war keine hinreichende Bedingung des Lernens«.Aber auch bei unseren heutigen europäischen Partner bedurfte es eines Umdenkungsprozesses. Soll und kann man die Deut-schen wirklich als gleichberechtigten und friedliebenden Partner akzeptieren? Im Westen beschleunigte der Kalte Krieg, genauer der Systemgegensatz von West und Ost, die Integration der Bun-desrepublik Deutschland. Der an der Sorbonne in Paris lehrende Professor Henri Ménudier bringt es in seinem Beitrag auf den Punkt: »Wie aus Feinden Freunde wurden« Und in Osteuropa und der DDR bedurfte es erst des Zusammen-bruchs der Sowjetunion, des Endes der »Sowjetisierung« und der Maueröffnung, bis es zu einer profunden Partnerschaft in Rah-men der Europäischen Union kam. Wir feiern im Jahre 2014 die fünfundzwanzigste Wiederkehr der Maueröffnung. Historisch gesehen ist es sicher bemerkenswert, wie weit die Integration der neuen Bundesländer und der osteuro-päischen Staaten jetzt bereits vorangeschritten ist.Ein Blick auf die ersten Nachkriegsjahre zeigt mit der Gründung der »Montanunion« Ähnliches. Es waren mutige Schritte von ver-antwortungsbewussten Politikern, die die junge Bundesrepublik bereits sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als souveränen Staat in die supranationale Organisation der EGKS aufgenommen haben. Viele Bürgerinnen und Bürger in Europa be-gleiteten allerdings schon damals den europäischen Integrations-prozess mit Skepsis, weshalb er sich zunächst auf eine wirtschaftli-che Integration konzentrieren musste. Die damit verbundenen Probleme beschäftigen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bis heute.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser,

das Jahr 2014 stand besonders im Zeichen von Gedenken und Er-innern. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs jährte sich in diesem Sommer zum 100. Mal, der Zweite Weltkrieg begann im Septem-ber vor 75 Jahren. Zum Jahresende boten der 25. Jahrestag der ‹Friedlichen Revolution› in der DDR und die Feierlichkeiten zum Fall der Berliner Mauer noch einmal einen positiven Anlass, den Blick zurückzurichten. Im kommenden Jahr wird sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 70. Mal jähren.Die vorliegende Ausgabe von Deutschland & Europa beschäftigt sich mit den Entwicklungen in Europa nach 1945 und den ersten Jahren der Nachkriegszeit. Auch vor dem Hintergrund der aktuel-len Gedenkanlässe bietet das Heft spannende Informationen für Schülerinnen und Schüler und vielfältige Anknüpfungspunkte für den Unterricht. In verschiedenen Beiträgen wird multiperspektivisch dargestellt, wie sich West- und Ost-Europa auf der einen Seite durch den be-ginnenden Kalten Krieg immer stärker auseinander bewegen. Auf der anderen Seite wird gezeigt, wie die Staaten in West- und Ost-Europa nach 1945 immer enger zusammenwachsen - in Westeu-ropa durch eine verstärkte zwischenstaatliche Zusammenarbeit und wirtschaftliche Kooperationen, in Osteuropa durch die «Sow-jetisierung» aller Staaten im Machtbereich der Sowjetunion.Mitten im Zentrum des beginnenden Ost- West-Konflikts liegt Deutschland. Die Beiträge von Johannes Gienger und Herbert Kohl beschäftigen sich speziell mit den Entwicklungen in West- und Ostdeutschland und erläutern unter anderem, wie es zur Tei-lung Deutschlands sowie zur Gründung von BRD und DDR kam.Neben der gesamteuropäischen Perspektive richten die Autoren ihren Blick auch auf einzelne Länder und menschliche Aspekte der Nachkriegszeit: Der Text von Manfred Mack etwa schildert, wie aus «Hass und Beziehungslosigkeit» zwischen Polen und Deut-schen erste Ansätze einer Verständigung erwachsen, Henri Ménu-dier beleuchtet die deutsch-französischen Beziehungen von 1945 bis 1963 und erklärt, wie «aus Feinden Freunde wurden». Durch die Mischung aus detaillierten Fakten und anschaulichen Beschreibungen liefert Deutschland & Europa eine sehr gute Infor-mationsbasis, um Schülerinnen und Schüler die Hintergründe der Entwicklungen nach 1945 zu erläutern. Das Ende des Zweiten Weltkriegs wird auch Thema einer Fachtagung des Stadtmedien-zentrums Stuttgart und der Landeszentrale für politische Bildung sein, die am 21. Mai 2015 in Stuttgart stattfindet und auf die ich Sie gerne hinweisen möchte. Weiter Informationen dazu finden Sie auf Seite 72.

Ich wünsche Ihnen eine erkenntnisreiche und spannende Lektüre.

Lothar FrickDirektor der Landeszentralefür politische Bildungin Baden-Württemberg

Geleitwort des Ministeriums

Vorwortdes Herausgebers

V o r w o r t & G e l e i t w o r t

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EUROPA NACH 1945

1. Anfänge europäischer Integration im Zeichen des Kalten KriegesJÜRGEN KALB

Trotz anhaltend niedriger Wahlbeteili-gung und Zunahme von europaskepti-

schen und rechtspopulistisch-nationalisti-schen Parteien bei den Europawahlen 2014 gilt die europäische Einigung und die Her-ausbildung der Europäischen Union nach wie vor den meisten der rund 500 Millionen EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern als wichtiger Meilenstein in der Entwicklung dieses von Krisen und Kriegen geschüttelten Konti-nents. Das Nobelpreiskomitee in Stockholm hat nicht umsonst im Jahre 2012 der EU des-halb für ihre friedens- und freiheitssichernde Funktion den Friedensnobelpreis vergeben. Allerdings wachsen derzeit die Ansprüche an die EU rasant. In Konkurrenz mit den USA und den asiatischen Großräumen soll die EU die Zukunftsfähigkeit des »alten Konti-nents« ermöglichen, soll neue Wachstums-kraft und Innovationspotenzial generieren, um im globalen ökonomischen, ökologi-schen und sozialen Konkurrenzkampf lang-fristig zu bestehen. Sogar bei den Europa-Enthusiasten droht aktuell Ernüchterung, ja Enttäuschung um sich zu greifen. Der Euro-päische Einigungsprozess befindet sich – mal wieder – in der Krise. Er drohe, so der gerade wiederge-wählte Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz, gar zu scheitern. In die Kritik geraten dabei häufig die Institutionen und komplexen Entscheidungsprozesse innerhalb der Europäi-schen Union, denen nachgesagt wird, nur sehr schwerfällig und überbürokratisch zu agieren. Nicht selten werden die Brüsseler Strukturen gar als »Moloch« denunziert. Übersehen wird dabei häufig, dass insbesondere diese Institutionen historische Ursa-chen haben. Die aktuelle Ausgabe von D&E untersucht deshalb die Entstehungsbedingungen der heutigen EU nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Aus unterschiedlichen nationalen aber auch einer europäischen Perspektive werden die Nachkriegsjahre bis zur Gründung der Europäischen Wirt schafts ge mein schaft (»EWG«) im Jahre 1957 rekonstruiert. Von Anfang an gab es dabei ein Ringen von nationalen Souveränitätsansprüchen, von Ansät-zen gouvernementaler Kooperation und sogar von Bestrebun-gen, neue supranationale Strukturen in Europa zu schaffen.

»Stunde Null« oder »Befreiung vom Faschismus«? Perspektivische Narrationen

Heute wird der militärische Sieg über die nationalsozialistische Herrschaft in großen Teilen von Europa durch die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg fast durchweg als »Befreiung vom Nationalsozialismus« bezeichnet. Allerdings überwogen in der Bundesrepublik Deutschland der un-mittelbaren Nachkriegszeit zunächst überwiegend Begriffe wie »Zusammenbruch« oder »Stunde Null«, die eher auf die materielle Not, die Zerstörungen, die Demontagen, Flucht und Vertreibung sowie den Aspekt des Neuanfangs verwiesen. In der DDR wurde

die Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus in Erin-nerung an den 8. Mai 1945 dagegen von Anfang an als Tag der Be-freiung gefeiert. Die DDR beanspruchte für sich, von Anfang an »antifaschistisch« aufgestellt gewesen zu sein, weswegen sie auch keine Verantwortung für die nationalsozialistischen Gräuel-taten zu übernehmen bereit war. Dies stieß bei vielen Nachbarn Deutschlands auf Unverständnis.Der Wandel im Westen wurde insbesondere durch eine Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes in Europa eingeleitet. Nicht mehr »Kapitulation« und »Niederlage«, son-dern die »Beendigung der Diktatur« wird seither in den Mittel-punkt des Gedenkens gestellt, obwohl von Weizsäcker in seiner Rede durchaus auf die Zwiespältigkeit des Jahrestages hinwies:»Wir Deutschen begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig. […] Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit, so gut wir es können, ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit. […] Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewusst erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unter-schiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft.«

Perspektivische nationale Narrationen und Multiperspektivität

Dies zeigt, dass die Verknüpfung von in der Vergangenheit liegen-den Ereignissen zu einer zusammenhängenden »Erzählung« oder »Narration« stets eine Konstruktion darstellt. Folglich fallen diese Narrationen je nach Standpunkt, Vorgeschichte und Herange-hensweise sehr unterschiedlich aus. Und entsprechend vielfältig sind auch die Versuche, historische Narrative für politische Zwe-

Abb. 1 Befreiung (»Liberation«) von Paris am 25. August 1944 von der deutschen Besatzung: Angehö-rige der Résistance tragen Transparente mit der Aufschrift »Liberation«, »Vives les Allies«, »Vive de Gaulle«. © picture alliance, dpa 3

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cke zu instrumentalisieren. Auslassungen, Fäschungen, Heroisie-rungen oder Dämonisierungen kommen ebenso vor wie perspek-tivische Traditionsbildung. Insbesondere im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der Nationalstaatsbildung und der europäischen Koloni-almächte, legten auch viele »verspätete« Nationen wie etwa das Bismarck-Reich ab 1871 größten Wert darauf, über die Medien, das Militär, den Beamtenapparat und dort vor allem die Schulen und den Geschichtsunterricht, nationale Identitäten zu bilden, ja sie regelrecht zu verordnen. Peter Graf Kielmannsegg hat diese Prozesse treffend als »sehr langwierige Wachstumsprozesse« charakterisiert, woraus er z. B. folgert, dass es trotz eines halben Jahrhunderts europäischer Integrationsgeschichte noch nicht ge-lungen sei, eine »belastbare Identität der Europäer« herauszubil-den, zu dominant werde noch lange Zeit die nationale Identität bleiben. Seine 1996 erschienene Analyse blieb freilich nicht ohne Widerspruch. In D&E Heft 66 (2013) hat z. B. Dieter Fuchs anhand der Auswertung von Eurobarometer-Umfragen zeigen können, dass sich immerhin bei rund der Hälfte der Unionsbürger und Unionsbürgerinnen neben der nationalen inzwischen durchaus auch eine europäische Identität nachweisen lässt. Diese »europä-ische Identät« lässt sich aber heutzutage nicht mehr verordnen. Die EU hatte dies auf ihrem Gipfeltreffen 1973 in Kopenhagen deshalb wohl eher auch als Ziel des Integrationsprozesses ausge-geben (»Dokument über die Europäische Identität«). Zudem wird sie sich über kurz oder lang wohl auch höchstens als Teil einer multiplen Identität, einer Identität also neben der regionalen und nationalen, herausbilden können. Voraussetzung dafür dürfte eine gemeinsame Erfahrung, vor allem aber auch die Kenntnis der jeweils nationalen Narrationen sein. Geschichtsschreibung ist somit nicht starr, sondern formbar. Die Zeit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Holo-caust, aber auch die vielfältigen Formen der Aufarbeitung der Kollaboration mit den Nationalsozialisten bieten dafür besonders anschauliche Beispiele. Dies setzt sich ebenso deutlich in der per-spektivischen Darstellung der Ereignisse der Nachkriegsge-schichte, zumal in der Zeit des sogenannten »Kalten Krieges« fort. Die fortan bipolare Aufteilung in Ost und West prägte in den Folgejahren die Geschichtsschreibung essentiell. Ähnlich prä-gend sind die Wandlungsprozesse im Prozess der Entkolonialisie-rung und nach Ende des Kalten Krieges die Aufarbeitung kommu-nistischer Herrschaft im Osten Europas verlaufen.Die Gefahr, dass staatlicherseits geprägte Geschichtsbilder etab-liert werden, besteht zwar vor allem in nicht-pluralistischen poli-tischen Systemen. Doch auch in Demokratien wird mit Geschichte und ihrer Narration häufig Politik gemacht, häufig allein schon

dadurch, dass im Geschichtsunterricht an den Schulen vorwiegend die jeweilige Natio-nalgeschichte gelehrt und gelernt wird. Nati-onale Narrationen werden durch öffentliche Repräsentanten zudem favorisiert und damit nicht selten zementiert. Allerdings haben es »Meistererzählungen« heute immer schwe-rer, in der Öffentlichkeit unhinterfragt zu be-stehen. Plurale Gesellschaften lassen in der Regel einseitige Perspektiven der Indoktrina-tion nicht mehr zu. Und die Begegnungen in Europa, die mobilen Gesellschaften und Migrationsprozesse for-dern ohnehin Multiperspektivität. Die Bil-dungspläne in einigen EU-Mitgliedstaaten haben daraus bereits ihre Lehren gezogen. Aber noch überwiegt deutlich die jeweils na-tionale Traditionspflege. Projekte wie das deutsch-französische Geschichtsbuch (Klett-Verlag) und die Aufarbeitung der polnisch-deutschen Geschichte in Schulbüchern (Cor-nelsen – Verlag) haben hier Pionierarbeit geleistet.Die aktuelle Ausgabe von D&E knüpft hier an und versucht deshalb, die Nachkriegsge-

schichte des Zweiten Weltkrieges aus verschiedenen Perspekti-ven zu beleuchten. Dies sollte die Leserinnen und Leser in die Lage versetzen, sich von der eigenen nationalen Perspektive mit-tels einer Selbstdistanzierung frei zu machen und in der Konfron-tation mit anderen Perspektiven zu einer selbstständigen Urteils-bildung zu finden. Dies schließt auch die jeweiligen nationalen Diskurse mit ein.Professorin Dr. Gabriele Clemens bezieht in ihrem Beitrag »Euro-päische Föderationspläne, intergouvernementale Kooperationen und sup-ranationale Aufbrüche in Westeuropa« zunächst die europäische Per-spektive, indem sie sowohl zivilgesellschaftliche als auch

Abb. 2 Deutsche Soldaten nach der Kapitulation auf dem Weg in die sowjetische Kriegsgefangenschaft. Foto, Mai 1945 © picture alliance, dpa

Abb. 3 »Der Marshall-Plan«, 1949, Russische Karikatur, Bildbeschriftung: auf dem Gerippe: Krise; auf dem Pferd: Marschallplan; auf der Fahne: nach Westeu-ropa, gefunden im Archiv der Russischen Staatsbibliothek, 1980 © Kukryniksy, dpa, picture alliance

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JÜRG

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Regierungsinitiativen zu einer westeuropäi-schen Integration beschreibt, die schließlich in die »EGKS«, die »Europäische Gemein-schaft für Kohle und Stahl«, kurz »Montan-union«, münden. Diese nur wenige Jahre nach dem Krieg entstandene Institution ver-mochte es, bislang nationale Souveränitäts-rechte im Bereich der kriegswichtigen Kohle- und Stahlproduktion auf eine überstaatliche (»supranationale«) Ebene zu heben und da-mit – auch mit ihrem Institutionengefüge – als Vorbild der heutige Europäischen Union zu gelten. So mutig dieser Schritt aus heuti-ger Sicht auch anmutet, anzumerken ist da-bei auch, dass er deutliche Züge eines Elite-projekts trug. Die Skepsis gegenüber den Deutschen in den Nachbarländern dürfte so kurz nach dem Krieg ein nahezu unüber-windbares Hindernis gewesen sein. Weitergehende Integrationsschritte wie z. B. die geplante Europäische Verteidigungsge-meinschaft (»EVG«) scheiterten dann auch am Widerstand der französischen National-versammlung. Dies galt auch für Pläne für eine »Europäische Politische Gemeinschaft« (»EPG«) der sechs Gründungsstaaten der EGKS. Somit wurden bereits bei der Grün-dung der Montanunion im Jahre 1952 die feh-lende Bürgerbeteiligung, die Schwierigkei-ten beim politischen und militärischen Integrationsprozess sowie die Dominanz des intergouvernementalen Ministerrats bei wei-teren Integrationsschritten offensichtlich. Trotzdem gelang es, mit der Hohen Behörde und einer parlamentarischen Versammlung jene supranationalen Institutionen zu schaffen, die auch heute noch in ihrem Kern prä-gend für die »Europäische Kommission« und das »Europäisches Parlament« als Vorbilder dienen. Das heute viel zitierte »Demo-kratiedefizit« der EU war im Kern in der »Montanunion« angelegt, wenngleich es auch heute nach vielfältigen Prozessen der Vertie-fung und Erweiterung eine ganz andere Qualität bekommen hat.

Kalter Krieg und Marshall-Plan-Hilfen: Katalysatoren der westeuropäischen Einigung

Eine zentrale Rolle für die westeuropäische Integration spielten nach 1945 nicht nur die politischen Umstürze und Gleichschaltun-gen in den von der sowjetischen Armee besetzten Gebieten in Mittel- und Osteuropa, sondern auch die von den USA als Wieder-aufbauprogramm formulierte »Marshall-Plan-Hilfe«. Das »Euro-pean Recovery Program« (»ERP«) war ein Wirtschaftswiederauf-bauprogramm der USA, das nach dem Zweiten Weltkrieg dem an den Folgen des Krieges leidenden Westeuropa zugute kam, prin-zipiell aber auch den osteuropäischen Staaten angeboten wurde. Es bestand, vereinfacht ausgedrückt, aus Krediten, Rohstoffen, Lebensmitteln und Waren, vor allem aus den USA. Das 12,4-Milli-arden-Dollar-Programm wurde am 3. April 1948 vom Kongress der Vereinigten Staaten verabschiedet und noch am selben Tag von US-Präsident Harry S. Truman in Kraft gesetzt. Im gesamten Zeit-raum (1948–1952) leisteten die USA bedürftigen Staaten der »Or-ganisation for European Economic Cooperation« (OEEC) Hilfen im Wert von insgesamt 13,1 Milliarden Dollar. Die Sowjetunion und die osteuropäischen Staaten wurden ebenfalls zu den Beratungen über die Hilfe der USA eingeladen. Sie zogen sich jedoch bald da-raus zurück und verboten den osteuropäischen Staaten, die unter ihrem Einfluss standen, sogar jede Teilnahme, auch der vor 1948 noch demokratisch regierten Tschechoslowakei.

Der Auslöser für die Entscheidung, die europäischen Länder ein-schließlich Deutschland zu unterstützen, war der beginnende Kalte Krieg. Als Reaktion u. a. auf den Bürgerkrieg in Griechen-land verkündete Truman am 12. März 1947 die Truman-Doktrin, nach der die USA alle »freien Völker« im Kampf gegen totalitäre Regierungsformen unterstützen würden. Griechenland war den Beschlüssen der Kriegskonferenzen zufolge britisches Einflussge-biet. Trotzdem unterstützte die Sowjetunion offen die dortigen Kommunisten im Bürgerkrieg. Schon vor der Bekanntgabe des Marshallplanes gab es Pläne zum Wiederaufbau Europas. US-Außenminister James F. Byrnes prä-sentierte in einer Rede in Stuttgart am 6. September 1946 z. B. bereits eine frühe Version des Planes. Die lange Zeit bevorzugte Alternative zum Aufbau Europas durch amerikanische Mittel war jedoch, die dafür notwendigen Mittel als Reparationen von Deutschland zu fordern, ähnlich wie das nach dem Ersten Weltkrieg im Versailler Friedensvertrag nieder-legt worden war. Noch 1944 wurde der vom US-Finanzminister und nach ihm benannte »Morgenthau-Plan« entwickelt. Der Plan sah eine mehrfache Teilung Deutschlands und den systemati-schen Abbau von Industrieanlagen vor, um es Deutschland un-möglich zu machen, jemals erneut für einen Krieg aufzurüsten. Mit den demontierten Anlagen sollten gleichzeitig die im Zweiten Weltkrieg angegriffenen Staaten wieder aufgebaut werden. Einen ähnlichen Weg verfolgte im Übrigen auch der erste Plan des Franzosen Jean Monnet, nach dem Frankreich die Kontrolle über die deutschen Steinkohlenvorkommen im Ruhrgebiet und Saar-land bekommen sollte. Jean Monnet war später einer der aktivs-ten Befürworter der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der EGKS.Auch in der Potsdamer Konferenz im August 1945 wurde neben der Demokratisierung, der Denazifizierung, der Demilitarisie-rung, der Dezentralisierung von Deutschland die Demontage der Industrieanlagen beschlossen. Und noch 1946 einigten sich die vier Besatzungsmächte auf einen strengen Zeitplan für die Dein-

Abb. 4 »Iron Curtain and Marshall Aid« © Leslie Gilbert Illingworth, GB, Juni 1948,

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dustrialisierung Deutschlands. Endgültig und offiziell endete der Abbau von Industrieanlagen aus Deutschland sogar erst 1950. Angesichts der immer stärker zutage tretenden Armut und des Hungers im besetzten Deutschland sowie des öffentlichen Wider-standes gegen die Demontage wurden die ursprünglichen Pläne jedoch wieder aufgegeben. Allerdings setzten sich in der »Direk-tive JCS 1067«, die die Grundlage für die US-Besatzungspolitik bis Juli 1947 in Deutschland bildete, die ursprüngliche Position den-noch fort. Ohnehin waren das Saarland und Oberschlesien, an Bodenschätzen reiche Gebiete, von Deutschland abgetrennt. Und auch das Ruhrgebiet war bis 1947 von verschiedenen Abtren-nungsszenarien bedroht. Der Nahrungsmittelmangel und drohende Hungersnöte in Eu-ropa prägten die Situation allerdings zusehends. Davon blieb die US-amerikanische Öffentlichkeit nicht unbeeindruckt. Besonders schlimm war die Situation in Deutschland, wo jeder Bürger 1946/1947 im Durchschnitt gerade noch unzureichende 1800 Kilo-kalorien pro Tag zu sich nehmen konnte. Der US-Staatssekretär William Clayton berichtete gar, dass »Millionen von Menschen langsam verhungern«. (Fossedal, in: Die Zeit vom 6. November 1946). Ähnlich wichtig für die Verschärfung der Situation war der Mangel an Kohle, der durch den schweren Winter 1946/1947 und die Zer-störung der Transportrouten im Zweiten Weltkrieg noch einmal verschärft worden war. Das humanitäre Ziel, diese Notlage zu be-enden, war sicher ein wesentlicher Grund für den Marshall-Plan. Zudem klagten vor allem die Briten über enorme Besatzungskos-ten für ihre Zone.In einigen Staaten Westeuropas wie Frankreich und Italien unter-stützte die Armut zudem den Wahlerfolg kommunistischer und

sozialistischer Parteien, die zuvor in den Wi-derstandsbewegungen im Zweiten Weltkrieg neues Ansehen erhalten hatten. Und auf deutschem Boden war mit der Sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, eine kommunistische Entwicklung nach sowjeti-schem Vorbild eingeleitet worden, die zu-nächst durchaus auch einige Anhänger im westlichen Deutschland fand. Sozialisie-rungsforderungen waren jedenfalls so popu-lär, dass sie Eingang in einige Landesverfas-sungen und ins Grundgesetz fanden.Der Marshall-Plan sollte dagegen zur Stabili-sierung der marktliberalen und demokrati-schen Kräfte beitragen, zumal in einer Zeit, in der sich zunehmend Tendenzen der Entko-lonialisierung breit machten. Die ehemaligen Welt- und Kolonialmächte (insbesondere Frankreich und Großbritannien) waren ge-rade auf dem besten Weg, ihre globale Prä-senz endgültig zu verlieren. Das Vereinigte Königreich von Großbritannien war nach dem Krieg zudem am Rande der Zahlungsun-fähigkeit und von innenpolitischen Auseinan-dersetzungen geprägt, so dass z. B. der briti-sche Premierminister Winston Churchill von den Konservativen mitten in der Potsdamer Konferenz durch den Labour-Premier Cle-ment Attlee abgelöst wurde. Professor Dr. Franz-Josef Brüggemeier be-schreibt in seinem Beitrag »Großbritannien und Europa. Churchills Europa-Rede und die Nach-kriegspolitik des Vereinigten Königreichs« deut-lich, wie sehr Großbritannien selbst an den internationalen Wandlungsprozessen und innenpolitischen Verwerfungen litt. Die gera-dezu legendäre Europa-Rede des damaligen Oppositionsführers Winston Churchill in Zü-rich forderte im sich abzeichnenden Kalten Krieg deshalb eine rasche Einigung Europas

und vor allem die enge Zusammenarbeit von Frankreich und Westdeutschland. Churchill war sich als genauer Beobachter der Strategie Stalins dabei sicher bewusst, dass dies zunächst nur eine westeuropäische Einigung sein konnte. Schließlich war es Churchill, der zuerst vom »Eisernen Vorhang« gesprochen hatte. Weniger beachtet wird dabei zumeist, dass Churchill beim Ge-danken an eine europäische Einigung keineswegs auch an Groß-britannien gedacht hatte. Er hatte bei seinen visionären Ideen den »Kontinent« im Auge. Für Großbritannien standen das Com-monwealth und die Nähe zu den USA viel deutlicher im Vorder-grund. Und trotzdem: Solch supranationale Gedankenspiele hatte es zu-vor fast nur in sozialistischen Kreisen oder in christlich orientier-ten Zirkeln wie denen des Grafen Coudenhove-Kalergi und seiner Paneuropa-Bewegung gegeben. Sie beflügelten zivilgesellschaft-liche, aber auch gouvernementale europäische Initiativen enorm.Auch Frankreich konnte und wollte sich dem bipolaren Druck auf Dauer nicht widersetzen. Professor Dr. Henri Ménudier be-schreibt den raschen Wandlungsprozess in Frankreich in seinem Beitrag »Aus Feinden wurden Freunde. Deutsch-französische Beziehun-gen von 1945 bis 1963« eindringlich. Eine wesentliche Rolle spielten dabei die Marshall-Plan-Gelder, auch wenn deren ökonomische Effizienz und Effektivität für den Aufbau in Westeuropa in den letzten Jahren immer häufiger hin-terfragt wurden (z. B. Abelshauser). Die EGKS wurde zur ersten supranationalen europäischen Institution. Allerdings verhinderte die französische Nationalversammlung weitergehende Integrati-onsversuche der Regierung Pleven in Form der EVG, der »Europä-ischen Verteidigungsgemeinschaft«.

Abb. 5 »Erfinder der NATO: Truman and Churchill.«, zeitgenössische russische Karikatur, Bildbeschrif-tung: linker Hut: Nato, rechter Hut: Pentagon; auf dem Plakat: »Wir gründen die Nato zum Schutz vor der sowjetischen Bedrohung« © Kukryniksy, picture alliance, gefunden in der Russischen Staatsbibliothek, Moskau 1980

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Den in Washington, USA, regierenden De-mokraten unter Harry Truman war rasch klar geworden, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika nicht mehr wie noch nach dem Ersten Weltkrieg in eine isolatio-nistische Position zurückziehen sollten. In-besondere liberale amerikanische Wirt-schaftskreise und Großindustrielle sowie die Agrarlobby drängten die US-Regierung dazu, mit Europa langfristig einen Absatz-markt für US-amerikanische Waren und Gü-ter aufzubauen, auch um die im Krieg ent-standene enorme Überproduktion des amerikanischen Industrie- und Agrarmark-tes abzubauen. Amerikanische Vorstellun-gen vom liberalen Markt und vom »Segen des freien Unternehmertums« sowie des amerikanischen Führungsstils in Unterneh-men sollten fortan die »freie Welt zu Wohl-stand und Demokratie« führen.So hatte Trumans Eindämmungspolitik (»containment«) gegenüber der kommunisti-schen Herausforderung durch die UdSSR – und ab 1949 auch der späteren Volksrepublik China – stets eine stark ökonomische Dimen-sion. Der bipolare Gegensatz zwischen den beiden Großmächten USA und UdSSR war militärisch, weltanschaulich und ökonomisch fortan der dominante globale Konflikt über mehr als 40 Jahre lang. Ob sich Europa, genauer Westeuropa, hier als weitere Kraft erhalten könnte, blieb zunächst offen. Die europäischen Natio-nalstaaten jeweils allein, so wurde vielen klar, konnte diese Lücke nicht schließen.Teil dieser Strategie war auch die Gründung eines souveränen Westdeutschlands, der Bundesrepublik Deutschland. Johannes Gienger beschreibt in seinem Beitrag: » Westdeutschland und die Bundesrepublik Deutschland nach 1945 – Westintegration als Leitbild« den Weg der drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands zur Bundes-republik Deutschland und die sich in ihr abzeichnenden Dispute über die Zukunft Gesamtdeutschlands. Strittig war z. B., ob die Westorientierung, die die Bundesregierung unter Konrad Ade-nauer, CDU, einschlug, nicht die Chancen auf eine mögliche deut-sche Einigung verbaute, wobei es zu den damaligen unverrückba-ren Positionen aller deutscher Parteien gehörte, dass zu einer deutschen Einigung auch die ehemaligen Ostgebiete zu gehören hätten (vgl. Plakat: »Dreigeteilt- niemals!«).

Die bipolare Welt: der Ost-West-Konflikt

Im Jahr 1945 wurden amerikanische Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen und nur vier Jahre später wurde die erste sowjetische Atombombe gezündet. Die Auseinandersetzun-gen der Alliierten um Deutschland («Die deutsche Frage«), die spektakuläre Berlin-Blockade (1948/49), der kommunistische Staatsstreich in der Tschechoslowakei, der (»erste oder französi-sche«) Indochina-Krieg (1946–1954) sowie der Korea – Krieg (1950–1953) machten deutlich, dass die Welt in einen bipolaren Gegensatz geraten war. Die europäischen Staaten, die viele Jahr-hunderte lang die Weltpolitik maßgeblich bestimmt und nicht wenige Weltregionen »europäisiert« hatten, mussten ihre Posi-tion im System der internationalen Politik neu justieren. Seit 1945 bildeten sie nicht mehr das Gravitationszentrum der Weltpolitik, vielmehr fanden sie sich an den Rändern zweier globaler Macht-systeme wieder, die in einem ideologisch und ökonomisch be-gründeten Systemkonflikt miteinander lagen. Wirkliche Ent-scheidungsfreiheit hatten in zentralen Fragen der internationalen Politik jetzt nur noch die beiden Nuklearmächte USA und Sowjet-union (vgl. Grießinger, 2007).

In den Nachkriegsjahren baute die Sowjetunion ihre Vormacht-stellung gegenüber ihren ost-, mittel- und südosteuropäischen Satellitenstaaten immer weiter aus und gewann mit der 1949 von Mao Zedong gegründeten Volksrepublik China zudem einen mächtigen Bundesgenossen. Darauf reagierten wiederum die USA mit enormen Rüstungsanstrengungen sowie dem Aufbau multi- und bilateraler Militärbündnisse, von denen die 1949 ge-gründete NATO das wichtigste war. Ihre wirtschaftliche Ergän-zung bildete der bereits 1947 verkündete Marshallplan. Dem 1948 unterzeichneten OEEC-Vertrag (auf deutsch: »Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit«), der den ersten Schritt einer amerikanisch-westeuropäischen Wirtschaftskoope-ration bildete, setzte die Sowjetunion ein Jahr später den »Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe« (RGW) entgegen. Im militärischen Bereich war dies der »Warschauer Pakt«, in den die UdSSR ihre Satellitenstaaten zunehmend zwang.In dieser Systemkonkurrenz drängten die USA schließlich auf die rasche Gründung eines westdeutschen Staates, der gemeinsam mit den anderen westeuropäischen Ländern einen ökonomisch-militärischen Beitrag zur »containment policy« gegenüber dem als weltweit expansiv wahrgenommenen Kommunismus leisten sollte. Frankreich, das im Gegensatz dazu nach 1945 zunächst das Wiedererstehen eines deutschen Gesamtstaates um jeden Preis hatte verhindern wollen, sah sich angesichts seiner finanziellen und militärischen Abhängigkeit von den USA Ende der vierziger Jahre nunmehr zu einem abrupten deutschlandpolitischen Kurs-wechsel gezwungen. Statt der bisher angestrebten Politik direk-ter Kontrolle durch Beherrschung entschied es sich nun für eine Politik indirekter Kontrolle durch Zusammenarbeit. Die vom fran-zösischen Außenminister Robert Schuman 1950 initiierte »Mon-tanunion«, die gemeinsame Organisation des Marktes für Kohle und Stahl, stellte den ersten Schritt im Prozess der französischen Umorientierung dar. Der ein Jahr später unterzeichnete »EGKS-Vertrag« (»Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl«) bot einerseits der französischen Stahlindustrie Zugang zu den drin-gend erforderlichen Rohstoffimporten, andererseits erhielt Frankreich die Möglichkeit der indirekten Kontrolle des Ruhrge-biets.Die westdeutsche Bundesregierung trat unter Bundeskanzler Kon-rad Adenauer der Montanunion trotz der französischen Kont-rollabsichten ohne Zögern bei, denn unpopuläre Konzessionen waren der Preis, den die Bundesrepublik für eine Rückkehr in die

Abb. 6 »Political Psychiatry at M. Schumans's« © David Low, Associated Newspaper/ Solo Syndication, London, ursprünglich in: Daily Herald. 13.06.1950

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europäische und die internationale Politik zu bezahlen hatte. Eine weitere demonstrative Konzession an das französische Sicher-heitsbedürfnis machte Adenauer beim Beitritt zum Europarat im gleichen Jahr, an den Frankreich die Bedingung geknüpft hatte, dass gleichzeitig das unabhängige Saarland als assoziiertes Mit-glied aufzunehmen sei. Erst im Jahre 1957 wurde das Saarland Teil der Bundesrepublik Deutschland. Damit hatte der westeuropäi-sche Integrationsprozess eine Dynamik entfaltet, die die USA ent-schieden unterstützten, weil sie sich von ihr mit guten Gründen eine Formierung der ökonomischen Kräfte Westeuropas im Kampf gegen den Kommunismus versprachen (vgl. Grießinger 2007).Die bundesrepublikanische Opposition, vor allem die SPD, sahen darin allerdings eine endgültige Absage an alle Vereinigungssze-narien im Konsens mit der UdSSR. Noch 1952 hatte Stalin in meh-reren Noten an die Westalliierten und die Bundesregierung eine mögliche Vereinigung der BRD und DDR mit freien Wahlen ange-boten, wenn sich dieses vereinte Deutschland militärisch und po-litisch zur Neutralität verpflichtete, einen Weg, den z. B. die Repu-blik Österreich nach 1945 erfolgreich gegangen war. Die deutsche Bundesregierung unter Adenauer traute jedoch Stalin nicht und verfolgte konsequent ihren Weg der Westintegration.

Sowjetisierung von Mittel- und Osteuropa unter Stalin

Herbert Kohl beschreibt in seinem Beitrag: »Die Sowjetisierung in Osteuropa und Ostdeutschland«, wie die UdSSR aus den einst souve-ränen osteuropäischen Staaten, aber auch der Sowjetischen Be-satzungszone in Deutschland (»SBZ«) nach und nach Satelliten-staaten formte und sie militärisch, politisch und ökonomisch in Abhängigkeit trieb. Sogar der bis 1948 noch demokratisch regier-ten Tschechoslowakei verbot Stalin, Marshall-Plan-Gelder anzu-nehmen. Die Niederschlagung der Aufstände von 1953 in der DDR

und 1956 in Ungarn sowie 1968 in der CSSR durch Panzer der UdSSR belegen, mit welch brutaler Härte die Sowjetunion gewillt war, ihren Machtbereich auch militärisch abzusichern. Als Staat, der zahlenmäßig am meisten unter der deutschen Aggression im Zweiten Weltkrieg gelitten hatte, leitete die UdSSR ihren An-spruch ab, nunmehr als neue Weltmacht ihren Einflussbereich imperialistisch auszudehnen und abzusichern.Dabei setzte sie ihre Ansprüche rigoros durch, im Falle Polens an-fänglich sogar mit Unterstützung der Siegermächte USA und Großbritannien. So wurde im Potsdamer Abkommen vom August 1945 u. a. die »Westverschiebung« Polens und die Übergabe Ost-preußens an die Sowjetunion, wenn auch formal als Übergangslö-sung, beschlossen. Die gleichfalls vereinbarten Vertreibungen deutschstämmiger Bewohner in Osteuropa bedeutete gleichzei-tig auch die Ansiedlung von Polnischstämmigen aus Ostpolen in jene Gebiete, die vor dem Zweiten Weltkrieg zu Deutschland ge-hört hatten. Vorher hatten bereits die Nationalsozialisten in Po-len umfangreiche und grausame Umsiedlungen während ihrer Besatzungszeit umgesetzt. Polen war nun zwar wieder eine »selbstständige Republik«, politisch, militärisch und ökonomisch aber nunmehr deutlich dominiert von der UdSSR und dem dorti-gen Politbüro der KPdSU. Manfred Mack beschreibt in seinem Beitrag »Deutschland und Po-len: von Hass und Beziehungslosigkeit bis zu den ersten Ansätzen einer Verständigung« insbesondere die schwierigen Beziehungen der Re-publik Polen zur Bundesrepublik Deutschland in den ersten Nach-kriegsjahren. Nach den unbeschreiblichen Verwüstungen und Demütigungen Polens, den zahlreichen Umsiedlungen und nicht zuletzt dem Bau deutscher Konzentrations- und Massenvernich-tungslagern auf polnischem Boden verwundert es wenig, wenn der Autor hier bei weiten Teilen der polnischen Bevölkerung von »Hass« redet. Und auch bei vielen deutschen Vertriebenen sah es nicht anders aus. Erst Ende der sechziger bzw. Anfang der siebziger Jahre gelang es dann Bundeskanzler Willy Brandt, SPD, im Rahmen der Ostpolitik erste Annäherungsversuche und einen zaghaften Dialog zu initi-ieren. Willy Brandts Kniefall in Warschau vor einem Denkmal des Warschauer Ghettos wurde deshalb weltweit als symbolische Geste bewundert, in der Bundesrepublik gab es allerdings darü-ber heftige Auseinandersetzungen, die im Zusammenhang mit den Ostverträgen lange Zeit vom »Ausverkauf deutscher Interes-sen« sprachen. Die in Manfred Macks Beitrag belegten Dispute um das im Bau befindliche Zentrum der »Stiftung Flucht, Vertrei-bung, Versöhnung« in Berlin zeigen, dass hier noch längst nicht alle Wunden geheilt sind. Und die erst nach dem Ende des kalten Kriegs 1989 gewonnene Souveränität Polens führte das Land zwar bereits 2004 in die EU, die Aufgabe von Souveränitätsrechten an eine supranationale Organisation fällt heute aber immer noch vielen osteuropäischen Staaten schwer.

Erste Schritte zur westeuropäischen Einigung

Insgesamt standen die ersten westeuropäischen Integrations-schritte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich unter dem Druck des Kalten Krieges, seinen politischen, militärischen, öko-nomischen und ideologischen Gegensätzen. Ohne diesen Druck von außen sind die trotz allem schnellen Integrationsschritte kaum zu erklären. Die neu entstandenen Institutionen spiegeln aber bis heute das Dilemma der europäischen Einigung wider: Es geschah weitgehend als Eliteprojekt ohne Bürgerbeteiligung. Erst mit den Direktwahlen zum Europäischen Parlament und der Stär-kung der Rechte des EPs im Lissabonner Vertrag wurde hier eini-ges nachgeholt. Trotz der zunehmenden Spannung mit der Russi-schen Konföderation ist eine starke Bedrohung von außen derzeit nicht auszumachen. Integration und fortschreitende Vergemeinschaftung kann heutzutage deshalb nur über einen langwierigen Überzeugungsprozess und zivilgesellschaftlicher Partizipation erfogen.

Abb. 7 »Träumerei von Robert Schuman« © Felix Mussil, Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 22.6.1950, www.cvce.eu

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Literaturhinweise

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Dokument-Archiv – Quellen zur Deutschen Geschichte: www.documentar-chiv.de

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»Europeana«: Portal der EU zur europäischen Geschichte und Kultur. Euro-peana vernetzt zahlreiche europäische Archivanbieter. www.europeana.eu/portal/

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»Hamburg Wissen Digital«: Umfangreiches Archiv historischer Quellen. www.hamburgwissen-digital.de/themen/geschichte.html

»LeMO«: Lebendiges Museum Online ist das Online-Portal zur deutschen Geschichte des Deutschen Historisches Museums in Berlin. www.dhm.de/lemo

»Stiftung Haus der Geschichte« (mit Suchfunktion in den Archiven): www.hdg.de/stiftung/

»Universum«: Archiv der Justus-Liebig-Universität in Gießen zur Europäi-schen Einigung. www.uni-giessen.de/cms/kultur/universum/geschichte/pha-enomen-europa

Abb. 8 »Having Trouble with the Cold War Team« © John Collins, 1952, McCord Museum Kanada

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EUROPA NACH 1945

2. Europäische Föderationspläne, intergou-vernementale Kooperationen und suprana-tionale Aufbrüche nach 1945 in Westeuropa

GABRIELE CLEMENS

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges schlossen sich bereits einzelne Wider-

standsgruppen zu größeren Organisationen zusammen, aus denen sich eine länderüber-greifende, zivilgesellschaftliche Europabe-wegung entwickelte. Dazu entstanden neue private Einigungsinitiativen, die europäische Föderationspläne entwarfen, zumeist mit dem Anspruch eines Dritte-Kraft- Konzepts, d. h. dem Ziel einer Einigung Gesamteuropas jenseits des antagonistischen Gegensatzes der Weltmächte USA und Sowjetunion, also jenseits des schon bald ausbrechenden Ost-West-Konflikts. Mit dem Brüsseler Pakt und dem Europarat enstanden Ende der 1940er Jahre in Westeuropa erste in ter gou ver-nementale Kooperationen, d. h. zwischen-staatliche Vereinbarungen zwischen Regie-rungen souveräner Staaten. Ganz neu kamen ab den 1950er-Jahren supranationale Zusam-menschlüsse und Institutionen hinzu, bei denen die beteiligten Staaten einen Teil ihrer Souveränität an übergeordnete Institutio-nen delegierten. EGKS (Montanunion), EWG und Euratom gelten heute als Vorläufer der Europäischen Union mit derzeit 28 Mitgliedstaaten und einer Bevölkerung von mehr als 500 Millionen Menschen.

Europäische Föderationspläne

In der unmittelbaren Nachkriegszeit, als sich in Europa das Sys-tem der souveränen Nationalstaaten wieder etabliert hatte, wa-ren es vor allem die privaten Europaverbände, die, anknüpfend an das Gedankengut der westeuropäischen Widerstandsbewegun-gen, die Forderung nach einem Zusammenschluss der europäi-schen Staaten und Völker zu einem übergeordneten Bund erho-ben. Dabei gab es zwischen den einzelnen, sich zum Teil aus der Widerstandsbewegung rekrutierenden Europagruppen unter-schiedliche Auffassungen über den Weg zur europäischen Eini-gung. Die beiden bedeutendsten Organisationen waren der 1946 gegründete Dachverband der Föderalistengruppen, die »Union Européenne des Fédéralistes« (UEF), und das britische »United Europe Movement« (UEM).Die in der UEF zusammengeschlossenen Föderalistengruppen for-derten die sofortige Souveränitätsabgabe der Nationalstaaten an eine europäische Föderation und setzten sich für einen Zusam-menschluss Gesamteuropas als »Dritte Kraft« zwischen den anta-gonistischen Weltmächten ein. Ihre programmatische Grundlage bildete das auf einer Konferenz im schweizerischen Hertenstein im September 1946 verabschiedete Grundsatzprogramm (Hertenstei-ner Programm), dessen Kern aus dem Dritte-Kraft-Konzept be-stand. Bis zum Sommer 1947 hielt die UEF am Dritte-Kraft-Konzept als unmittelbar anzustrebendem Ziel fest. Erst als sich im Zuge der

Verhandlungen um den Marshallplan andeutete, dass eine Zusam-menarbeit mit den Staaten Osteuropas in weite Ferne rückte, sprach sie sich dafür aus, mit der Einigung Europas zunächst im Westen zu beginnen. Die UEF war zahlenmäßig die stärkste Orga-nisation innerhalb der Europabewegung: nach drei Jahren kontinu-ierlichen Aufschwungs verzeichnete sie über 40 angeschlossene Einzelverbände mit über 100.000 zahlenden Mitgliedern.Ein sich vom Programm der UEF, wenn auch nur graduell, unter-scheidendes Einigungskonzept verfolgte eine Gruppe einigungs-williger Europäer, die sich um den ehemaligen britischen Premier-minister Winston Churchill und seinen Schwiegersohn Duncan Sandys sammelte. Ausgangspunkt dieser Einigungsinitiative, die 1947 in der Bildung des UEM mündete, war die Rede Churchills an der Züricher Universität am 19. September 1946, in der dieser die Schaffung einer Art Vereinigter Staaten von Europa gefordert hatte. Im Unterschied zur UEF lehnte das UEM die sofortige Ab-gabe nationalstaatlicher Souveränitätsrechte an einen europäi-schen Bundesstaat ab und plädierte für einen allmählichen Zu-sammenschluss der europäischen Staaten in Form einer zunächst nur zwischenstaatlichen Kooperation. Vertreter des UEM setzten, im Gegensatz zum Dritte-Kraft-Konzept eines neutralen Gesamt-europas, von Anfang an nur auf die Integration des westlichen Europas als einzig realistische Möglichkeit. Als Endziel aber streb-ten beide Europaverbände die Einigung Gesamteuropas als ers-ten Schritt zu einer Weltföderation an. Das UEM verfolgte nicht den Aufbau einer Massenorganisation, sondern organisierte die Zusammenfassung führender Persön-lichkeiten des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Le-bens in kleineren Zirkeln, die ihrerseits den Europagedanken pro-pagieren und auf diese Weise das allmähliche Zusammenwachsen

Abb. 1 »Jugend ruft Europa«. Anhänger des Europa-Gedankens jubeln Anfang der 50er Jahre den Teil-nehmern einer Europa-Kundgebung zu, die die deutsch-französische Grenze überqueren. © dpa, picture alliance

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Europas herbeiführen sollten. Auch in Frank-reich, Belgien und Luxemburg bildeten sich, zum Teil mit Unterstützung des britischen UEM, ähnliche Komitees führender Persön-lichkeiten, die für eine Kooperation der euro-päischen Staaten eintraten, vorrangig das Ziel einer wirtschaftlichen Einigung Europas verfolgten und sich vor allem auf die Eini-gung der westeuropäischen Staaten konzent-rierten. Neben UEF und UEM waren in den Jahren 1947/48 noch verschiedene weitere Verbände entstanden, die sich für eine Einigung Euro-pas engagierten, darunter das von Vertretern sozialistischer Parteien gegründete »Mouve-ment Socialiste pour les Etats-Unis d’Europe« (MSEUE), die aus katholischen Führungskräf-ten zusammengesetzte »Nouvelles Equipes Internationales« (NEI) und die aus einem Zu-sammenschluss von Parlamentariern hervor-gegangene »Europäische Parlamentarier-Union« (EPU). Nach dem auf Initiative des UEM einberufenen Haager Kongress 1948 schlossen sich all diese in der Nachkriegszeit entstandenen Europaverbände zu einer über-geordneten Organisation zusammen, die sich den Namen »Europäische Bewegung« gab. Von der auf privaten Initiativen beruhen-den europäischen Einigungsbewegung gin-gen keine unmittelbaren Schritte zur Errich-tung europäischer Institutionen nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Ihre Bedeutung lag vor allem darin, dass sie das Denken und Han-deln einer Reihe von Politikern der Nachkriegszeit beeinflusste, die zum Teil, wie beispielsweise Robert Schuman, Konrad Ade-nauer, Paul-Henri Spaak und Alcide De Gasperi, selbst der Euro-pabewegung angehörten.

Intergouvernementale Kooperationen

Am Beginn des europäischen Integrationsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg stehen drei Organisationen, deren Entstehung unterschiedlichen Motiven entsprang und die sich in ihrer Zielset-zung, ihrem Zuständigkeitsbereich und partiell in Bezug auf ihre Mitglieder unterscheiden: OEEC, Brüsseler Pakt, Europarat. Ge-meinsam ist diesen drei europäischen Zusammenschlüssen, dass sie auf dem Prinzip der Intergouvernementalität beruhen und da-mit die Souveränität der Mitgliedstaaten nicht beschränken.

Wirtschaftliche Kooperation: Vom Marshallplan zur OEEC

Das Angebot der amerikanischen Regierung, den wirtschaftli-chen und politischen Wiederaufbau der europäischen Staaten mittels finanzieller Hilfen zu unterstützen (Marshallplan), war verbunden mit der Forderung nach einer engeren Zusammenar-beit der europäischen Staaten. Die bislang im Rahmen der Hilfs-programme UNRRA und GARIOA an einzelne europäische Staaten geflossenen Gelder hatten nicht zu einer Verbesserung der Situa-tion in Europa geführt. Vielmehr schien Europa 1947 auf eine wirt-schaftliche Krise ungeheuren Ausmaßes zuzusteuern, welche die USA in Mitleidenschaft ziehen und dem befürchteten sowjeti-schen Expansionsstreben zugute kommen konnte. Von einer en-gen wirtschaftlichen Zusammenarbeit der europäischen Staaten versprachen sich die USA eine wirtschaftliche und politische Sta-bilisierung des Kontinents und damit die Eindämmung des sowje-tischen Expansionismus (Containment-Politik), den Wiederauf-bau Europas als Handelspartner und Absatzmarkt für die

amerikanische Überproduktion und zugleich die Lösung des Deutschlandproblems. Der von den USA gewünschte wirtschaftli-che und politische Wiederaufbau Westdeutschlands ließ sich durch die Verzahnung mit einem gesamteuropäischen Wieder-aufbau leichter gegen den Widerstand Frankreichs, das ein Wie-dererstarken Deutschlands fürchtete, durchsetzen.Mit dem Marshallplan, der ursprünglich als ein gesamteuropäi-sches Unterstützungsprogramm konzipiert war, wurde der Pro-zess der Westintegration eingeleitet, der zugleich den Abschied vom Dritte-Kraft-Konzept bedeutete. Nachdem die Sowjetunion und die mittel- und osteuropäischen Staaten ihre Teilnahme am »European Recovery Propram« (ERP) abgesagt hatten, versam-melten sich am 12. Juli 1947 in Paris die Vertreter von 16 europäi-schen Staaten sowie die Oberbefehlshaber der drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands, um ein auf vier Jahre begrenztes gemeinsames Wiederaufbauprogramm zu erarbeiten, welches die Grundlage für die vorgesehenen amerikanischen Hilfeleistun-gen bilden sollte. Unterschiedlich reagierten die Staaten auf den amerikanischen Wunsch nach Bildung einer dauerhaften gemein-samen europäischen Organisation und Errichtung einer Zoll-union. Während Frankreich die amerikanischen Vorstellungen zur engen Zusammenarbeit der Europäer und Errichtung dauerhafter Institutionen begrüßte, da es nach dem Scheitern seiner bisheri-gen, auf Dominanz gegenüber Deutschland sowie territorialen Abtretungen und Zerstückelung Deutschlands zielenden Politik nun alternativ auf eine enge Einbindung Deutschlands in ein inte-griertes Europa setzte, lehnte die britische Regierung solche weit-reichenden Eingriffe in die nationalstaatliche Souveränität ab. Großbritannien, das als Siegermacht aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen war und aufgrund seiner weltweiten Verantwor-tung an der Spitze des Commonwealth eine globale Machtrolle innehatte, war nicht geneigt, sich über eine lockere Kooperation und einzelne praktische Maßnahmen der Zusammenarbeit hinaus enger an die westeuropäischen Staaten zu binden, empfand sogar die Eingliederung in die Reihe der Marshall-Plan-Empfängerlän-der als demütigend. Trotz des amerikanischen Drängens, ent-scheidende Schritte zur Handelsliberalisierung durch die Bildung einer Zollunion einzuleiten und eine machtvolle, supranationale Planungsbehörde zu errichten, gelang am Ende nur eine beschei-

Abb. 2 Unterzeichnung des OEEC-Vertrages. Blick in den Raum im französischen Außenministerium in Paris während der Unterzeichnung. Am 16. April 1948 unterzeichneten 16 europäische Staaten sowie die Oberbefehlshaber der drei westlichen Besatzungszonen den Vertrag über die europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC=Organization for European Economic Cooperation). Die Organisation wurde zur Durchführung und Unterstützung des Marshall-Planes geschaffen. 1960 wird die OECD die Nachfolgeor-ganisation. © dpa, picture alliance

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dene Form der Zusammenar-beit. Gegen den Widerstand Großbritanniens und auch der skandinavischen Länder war eine von Frankreich und zunächst auch den Benelux-Staaten favorisierte Zollunion nicht durchsetzbar. Ebenso lehnten Großbritannien, Ir-land, die skandinavischen Staaten und die Schweiz die von den USA und Frankreich gewünschte starke, über er-hebliche Machtbefugnisse verfügende gemeinsame Pla-nungsbehörde ab. Stattdes-sen einigte man sich auf die Errichtung einer nur mit weni-gen Kompetenzen ausgestat-teten, überwiegend beratend tätigen und auf einstimmiger Beschlussfassung basieren-den Gemeinschaftsorganisa-tion: die »Organisation for European Economic Coope-ration« (OEEC). Die OEEC mit Sitz in Paris besaß entspre-chend den Wünschen der Teil-nehmerstaaten nur eine schwache Exekutive. Obers-tes Beschlussorgan der OEEC war der Rat, in dem jeder Mit-gliedstaat über eine Stimme verfügte. Beschlüsse konnten nur einstimmig gefasst werden, wodurch Entscheidungen immer vom Konsens aller beteiligten Staaten abhängig waren. Erfolgreich hatten die OEEC-Mitgliedstaaten somit ihre jeweilige nationale Verfügungs gewalt über die eigene Volkswirtschaft si-chergestellt und Eingriffe in nationale Souveränitätsrechte weit-gehend abgewehrt. Angesichts dessen ist es fraglich, ob der Mar-shallplan als ‚Initialzündung‘ oder ‚Geburtshelfer‘ (Beate Neuss) für den europäischen Integrationsprozess bezeichnet werden kann. Nach Ansicht des britischen Historikers Alan S. Milward hatten die Verhandlungen um das ERP gerade gezeigt, dass die europäischen Regierungen die amerikanischen Vorstellungen von wirtschaftlicher Integration und supranationalen Institutio-nen ablehnten und stattdessen die nationalstaatliche Souveräni-tät verteidigten Doch etablierte sich durch die vereinbarte Kooperation zugleich eine Routine der Zusammenarbeit und Vertrauensbildung, deren Bedeutung für die künftige europäische Zusammenarbeit nicht zu unterschätzen war. Zudem erzielte die OEEC beachtliche Er-folge bei dem schrittweisen Abbau von Handelsrestriktionen so-wie der Erleichterung des innereuropäischen Zahlungsverkehrs und stellte damit eine Weiche auf dem Weg zur wirtschaftlichen Integration Europas.

Sicherheitspolitische Kooperation: Vom Dünkirchener Vertrag zum Brüsseler Pakt

Auch auf sicherheitspolitischem Gebiet wurde mit dem 1947 zwi-schen Frankreich und Großbritannien geschlossenen Dünkirche-ner Vertrag, der sich 1948 zum Brüsseler Pakt erweiterte, eine in-tergouvernementale Zusammenarbeit europäischer Staaten eingeleitet. Der am 4. März 1947 in Dünkirchen unterzeichnete Vertrag sah eine automatische Beistandsverpflichtung im Falle einer deutschen Aggression sowie gemeinsames Handeln bei Nichterfüllung der Deutschland auferlegten ökonomischen Ver-pflichtungen vor. Er bildete die Grundlage für den ein Jahr später

unter Einbeziehung der Benelux-Staaten geschlossenen Brüsseler Vertrag. Obwohl im Zeichen der sich verschärfenden Ost-West-Auseinandersetzung gegründet, enthielt dieser Vertrag keine antisowjetische Spitze, sondern benannte, wie bereits der Dün-kirchener Vertrag, Deutschland als einen möglichen Aggressor. Das am 17. März 1948 für die Dauer von 50 Jahren geschlossene Bündnis sah eine automatische Beistandspflicht im Falle eines bewaffneten Angriffs in Europa sowie Maßnahmen zur Verhinde-rung einer erneuten deutschen Aggression vor. Zudem verpflich-teten sich die fünf Staaten im Vertrag auf eine Intensivierung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zusammenarbeit. Ein aus den Außenministern der fünf Staaten bestehender Konsulta-tivrat wurde eingesetzt, welcher mindestens viermal im Jahr zu-sammentreten sollte, um über die weitere Zusammenarbeit zu beraten. Eine aus diplomatischen Vertretern der fünf Mächte zu-sammengesetzte ständige Organisation in London sollte mindes-tens einmal im Monat zusammentreten. Zudem wurden für ein-zelne Aufgaben verschiedene Ausschüsse, darunter ein Militärausschuss, eingesetzt, die dem Konsultativrat Berichte vorzulegen hatten. Der Brüsseler Pakt entwickelte keine großen Aktivitäten auf den im Vertrag vorgesehenen Gebieten: Die Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet war sehr vage und unverbindlich formuliert, und die sicherheitspolitischen Auf-gaben wurden weitgehend von der ein Jahr später, am 4. April 1949, gegründeten NATO übernommen. Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemein-schaft (EVG) im Jahre 1954 erweiterte sich der Brüsseler Pakt un-ter Hinzuziehung der Staaten Italien und Bundesrepublik Deutschland zur Westeuropäischen Union (WEU).

Kooperation zur politischen Einigung: Der Europarat

Die Initiative zur Bildung des Europarates ging von der europäi-schen Einigungsbewegung aus. Auf einem von ihr veranstalteten

Abb. 3 Paul Reynaud, französischer Politiker, bei einer Rede in der beratenden Versammlung des Europarats im Jahre 1953. Der Europarat (englisch Council of Europe, französisch Conseil de l’Europe) wurde am 5. Mai 1949 durch den Vertrag von Lon-don gegründet und umfasst heute 47 Staaten, somit 820 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Er ist als eine europäische inter-nationale Organisation ein Forum für Debatten über allgemeine europäische Fragen. Seine Satzung sieht eine allgemeine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts vor. © akg images

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europäischen Kongress in Den Haag im Mai 1948 wurde eine Re-solution verabschiedet, welche die Einberufung einer von den na-tionalen Parlamenten zu beschickenden »Europäischen Ver-sammlung« forderte. Diese sollte Pläne für ein allmähliches Zusammenwachsen Europas auf wirtschaftlichem und politi-schem Gebiet erarbeiten und allgemein den europäischen Eini-gungsgedanken beleben. Aufgegriffen wurde dieser Vorschlag vom französischen Außenminister Georges Bidault, der ihn am 20. Juli 1948 auf die Tagesordnung des Konsultativrates des Brüs-seler Paktes brachte. Nach Bidaults Vorstellungen sollte diese einzuberufende Versammlung zunächst nur einen beratenden Charakter haben, sich dann aber zum Kern einer föderativen Or-ganisation weiterentwickeln und über eigene Entscheidungsvoll-machten verfügen. Der französische Vorschlag stieß auf den ent-schiedenen Widerstand des britischen Außenministers Bevin, welcher lediglich eine Zusammenarbeit der europäischen Staaten auf lockerer, intergouvernementaler Ebene anstrebte und allen supranationalen Bestrebungen eine Absage erteilte. Stattdessen schlug Bevin die Bildung eines »Europarates« vor, welcher sich aus führenden Ministern der fünf Brüsseler-Pakt-Staaten zusammen-setzen und einmal im Jahr zusammentreten sollte, um über wei-tere Kooperationsschritte zu beraten. Die britischen Einwände gegen die Schaffung einer Europäischen Versammlung führten schließlich zu einer Kompromisslösung, welche beide Vorschläge miteinander verband. Am 5. Mai 1949 wurde der aus einem Minis-terkomitee und einer Beratenden Versammlung (ab 1974: Parla-mentarische Versammlung) bestehende intergouvernementale Europarat mit Sitz in Straßburg von zehn europäischen Staaten gebildet. Außer den fünf Brüsseler Pakt-Staaten unterzeichneten Italien, Irland und die skandinavischen Staaten die Satzung des Europarates. Als Aufgabe des Europarates legte der Artikel 1 der Satzung fest, »eine engere Verbindung zwischen seinen Mitglie-dern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen und ihren wirt-schaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern.« Zu diesem Zweck sollten in den Organen des Rates Fragen von gemeinsa-mem Interesse beraten, Abkommen geschlossen und es sollte gemeinschaftlich auf den Gebieten Wirtschaft, Sozialpolitik, Kul-tur, Wissenschaft, Gesetzgebung und Verwaltung gehandelt wer-den. Ausdrücklich ausgeschlossen wurde eine Zuständigkeit des Europarates in Fragen der nationalen Verteidigung. Wichtigstes Organ im Europarat war das Ministerkomitee, dem die jeweiligen Außenminister der Mitgliedstaaten angehörten und in dem jedes Mitglied über eine Stimme verfügte. Alle wichti-gen Beschlüsse im Ministerkomitee mussten einstimmig gefasst werden, und diese einstimmig gefassten Beschlüsse gingen le-diglich in Form von Empfehlungen an die Regierungen der Mit-gliedstaaten. Der Europarat konnte somit keine die Mitgliedstaa-ten bindenden Beschlüsse fassen. Die Beratende Versammlung sollte aus Vertretern eines jeden Mitgliedstaates bestehen, die nach einem von jeder Regierung selbst gewählten Verfahren ernannt wurden. Die Aufgabe der jährlich einmal für die Dauer von höchstens einem Monat zusam-mentretenden Versammlung beschränkte sich darauf, die in ihr Aufgabengebiet fallenden Fragen zu erörtern und dem Minister-komitee die mit einer Zweidrittelmehrheit gefassten Beschlüsse in Form von Empfehlungen vorzulegen. In den ersten Sitzungsperioden der Beratenden Versammlung un-terbreiteten die dort versammelten Delegierten verschiedene Vorschläge zur Weiterentwicklung der Struktur des Europarates und Stärkung seiner Kompetenzen, doch scheiterten all diese Re-formansätze am Veto der britischen Regierung. Der Europarat blieb somit, von kleineren Änderungen abgesehen, in seiner 1949 geschaffenen intergouvernementalen Struktur bestehen. Ent-täuscht über die mangelnden Entwicklungsmöglichkeiten dieser Organisation erklärte der Präsident der Beratenden Versamm-lung, der Belgier Paul-Henri Spaak, am 11. Dezember 1951 seinen Rücktritt.

Der Aufbruch zum supranationalen Europa: EGKS, EWG und Euratom

Die Verhandlungen um OEEC und Europarat hatten gezeigt, dass Großbritannien und Frankreich unterschiedliche Europakonzepte verfolgten, die aus ihrer jeweiligen Situation in der Nachkriegs-zeit und dem damit verbundenen Interesse an einer europäischen Einigung resultierten. Während Frankreich die Bildung einer star-ken supranationalen Organisation anstrebte, um dauerhaft Si-cherheit vor Deutschland zu erlangen und den unkontrollierten wirtschaftlichen und politischen Wiederaufstieg des östlichen Nachbarn zu verhindern, lag aus britischer Sicht eine allzu enge Verbindung mit den westeuropäischen Staaten des Kontinents, die 1940 beim Ansturm der deutschen Truppen zusammengebro-chen, besiegt und besetzt worden waren und deren wirtschaft-lich-politische Zukunft auch Ende der 1940er Jahre noch ungesi-chert war, nicht im Interesse des eigenen Landes. Da Großbritannien sich durch seine enge Verbindung mit den USA sowie seine Rolle im Commonwealth als globaler Akteur mit welt-weiten Interessen und Verbindungen verstand, sollte sich eine Zusammenarbeit mit den Staaten des Kontinents nur in einem lockeren, den jeweiligen Erfordernissen entsprechenden Rahmen bewegen. Das intergouvernementale Integrationskonzept ent-sprach somit den britischen Interessen. Für Frankreich und die ebenfalls eine supranationale Organisa-tion befürwortende USA zeichnete sich deshalb zusehends die Alternative ab, ohne Großbritannien den Einigungsprozess fort-zuführen. Während sich die Truman-Administration 1949 für die weitere europäische Einigung ohne Großbritannien entschied und Frankreich mit Nachdruck aufforderte, Schritte zur Schaf-fung eines supranationalen Europas zu ergreifen, zögerte die französische Regierung zunächst noch.Erst die Absicht der Amerikaner und Briten, auf der bevorstehen-den Außenministerkonferenz vom 11. bis 13. Mai 1950 die bisheri-gen Produktionsbeschränkungen für die deutsche Stahlindustrie aufzuheben und über eine Revision des Besatzungsstatuts zu dis-kutieren, ließ Frankreich handeln. Die Gefahr eines wirtschaftli-chen Wiederaufstiegs Westdeutschlands zum Nachteil der fran-zösischen Industrie zeichnete sich bereits deutlich ab. Der für die Modernisierung der französischen Industrie verantwortliche Pla-nungskommissar Jean Monnet skizzierte in einem dramatischen

Abb. 4 »Marianne und Michel mit Kohle und Stahl«»Ist der Mai nicht wunderbar?Selbst das erbverfeindete Paarträumt vom klingenden Genussbei dem ersten Schmusekuss!“ © Klaus Pielert, 1952, Stiftung Haus der Geschichte, Bonn

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Appell an den französischen Ministerpräsi-denten Bidault und Außenminister Schuman die Folgen eines ungehinderten deutschen wirtschaftlichen Wiederaufstiegs für die französische Wirtschaft. Um diese Gefahr zu bannen, schlug Monnet die Errichtung einer gemeinsamen Hohen Behörde vor, der die gesamte deutsche und französische Kohle- und Stahlproduktion un-terstellt werden sollte. Kohle war der wich-tigste Energieträger und notwendig für die Stahlproduktion; der befürchtete Kohleman-gel drohte die Krise in der französischen Stahlindustrie zu verschärfen und damit den gesamten französischen Modernisierungs-plan für die Wirtschaft zu gefährden. Der französische Außenminister Robert Schuman griff den Vorschlag Monnets auf und präsen-tierte ihn auf einer Pressekonferenz am 9. Mai 1950 der Öffentlichkeit (Schuman-Plan). In seiner Rede bezeichnete Schuman die Errichtung einer gemeinsamen Obersten Aufsichtsbehörde (Haute Autorité) für die Kohle- und Stahlproduktion, deren Entschei-dungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Länder bindend sein sollten, als die erste Etappe der europäischen Föderation. Die Europäische Kohle- und Stahlgemeinschaft sollte es den teilnehmen-den Ländern ermöglichen, die notwendigen Grundstoffe für die industrielle Produktion zu gleichen Bedingungen zu beziehen, um zur Hebung des Lebensstandards und Frie-denssicherung beizutragen. Hinter dieser Formulierung stand der Wunsch, der franzö-sischen Stahlindustrie dauerhaft den Zugang zur hochwertigen deutschen Ruhrkohle zu den gleichen Bedingungen wie der deut-schen Stahlindustrie zu sichern und so den deutschen Wettbewerbsvorteil auszuglei-chen. Zugleich hob Schuman hervor, dass durch die Zusammenfassung der Schwerin-dustrien jeglicher Krieg zwischen Deutsch-land und Frankreich in Zukunft unmöglich sei und der jahrhundertealte Gegensatz zwi-schen diesen beiden Staaten ausgelöscht werde. Die Rede Schumans bildete den Auftakt zu Verhandlungen über eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die am 20. Juni 1950 zwischen den sechs Staaten Frankreich, Deutsch-land, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg begannen. Die deutsche Bundesregierung unter Konrad Adenauer erblickte in der Teilnahme an einer europäischen Kohle- und Stahlgemein-schaft die Chance, das Internationale Ruhrstatut abzuschaffen, die Aufhebung des Besatzungsstatuts zu forcieren und die Bun-desrepublik in die Souveränität und Gleichberechtigung zu füh-ren; Italien versprach sich davon ebenfalls die Eingliederung in die internationale Gemeinschaft und die Lösung seiner drängen-den wirtschaftlichen Probleme. Aus politischen wie wirtschaftli-chen Gründen signalisierten auch die Benelux-Staaten ihre Zu-stimmung zur Teilnahme. Der befürchtete Kohlemangel in Europa wie auch die sich abzeichnende Globalisierung auf dem Energie-sektor machten die gemeinsame Suche nach Lösungen des Ener-gieproblems notwendig. Nach fast einjähriger Verhandlungsdauer über Struktur und Ziele der EGKS, in die auch die USA mehrfach informell wie direkt ein-griffen, wurde am 18. April 1951 in Paris der auf 50 Jahre verein-barte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl unterzeichnet, der nach der Ratifizierung in den sechs Staaten am 23. Juli 1952 in Kraft trat. Mit der EGKS, die ei-

nen gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl sowie Eisenerz und Schrott zwischen den beteiligten Staaten schuf, war die erste su-pranationale Organisation in Europa entstanden. Kern dieser supranationalen Gemeinschaft war die aus neun un-abhängigen, nicht weisungsgebundenen Mitgliedern zusammen-gesetzte und mit großen Machtbefugnissen im Kohle- und Stahl-bereich ausgestattete Hohe Behörde, deren Entscheidungen für die beteiligten Staaten bindend waren. Aus Furcht vor einer zu großen Machtstellung dieses Organs hatten vor allem die Bene-lux-Staaten in den Verhandlungen darauf gedrängt, der Hohen Behörde gegenüber verschiedene Kontroll- und Berufungsinstan-zen einzubauen. So wurden als weitere Gemeinschaftsorgane hin-zugefügt: ein Besonderer Ministerrat (Rat), der der Hohen Be-hörde in bestimmten Fällen Anweisungen erteilen konnte und dessen Zustimmung bei Maßnahmen der Behörde, die Auswir-kungen auf andere Wirtschaftsbereiche haben konnten, erforder-lich war; eine mit nur sehr begrenzten Befugnissen ausgestattete und überwiegend beratend tätige Gemeinsame Versammlung (Versammlung) und ein aus sieben Richtern bestehender Ge-richtshof, der die Funktionen eines Verfassungsgerichts, Verwal-tungsgerichts sowie einer Entscheidungs- und Schlichtungsins-tanz für Rechtsstreitigkeiten vereinte. Zudem wurde bei der Hohen Behörde ein aus Vertretern der Erzeuger- und Arbeitneh-merorganisationen sowie der Verbraucher und Händler beste-

Abb. 5 Plakat aus dem Jahre 1952: Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), so die offizielle Bezeichnung der Montanunion, trat 1952 in Kraft und lief 2002 aus. Sie war die Vorläuferin der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, »EWG«. Die drei Europäischen Gemeinschaften EGKS, EWG und Euratom bildeten die Grundlage der heutigen Europäischen Union (EU). © picture-alliance

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hender Beratender Ausschuss gebildet, dessen Mitglieder vom Rat ernannt werden soll-ten. Nach Jean Monnets Vorstel-lungen sollten weitere Berei-che der Wirtschaft nach dem Modell der EGKS integriert werden, um allmählich zu ei-ner gesamtwirtschaftlichen Integration und schließlich zu einer europäischen Föde-ration zu gelangen. Doch führte die sich nach Ausbruch des Korea-Kriegs (25. Juni 1950) abzeichnende Wieder-bewaffnung Deutschlands dazu, dass der Integrations-prozess sich als nächstes auf den Verteidigungssektor ver-lagerte. Die Notwendigkeit, das vor allem für Frankreich schwerwiegende Problem ei-ner deutschen Wiederbe-waffnung zu lösen, brachte den Plan zur Errichtung einer supranationalen Europäi-schen Verteidigungsgemein-schaft (EVG) hervor, welcher vom französischen Minister-präsidenten René Pleven am 24. Oktober 1950 vorgestellt wurde (Pleven-Plan) und der die Schaffung einer europäischen Ar-mee unter Einbeziehung westdeutscher Truppen vorsah. Die fol-genden Verhandlungen zwischen den sechs EGKS-Staaten sowie der sich über zwei Jahre hinziehende Ratifizierungsprozess des Vertrages in Frankreich zeigten, wie schwer sich die europäischen Staaten mit der Abgabe von Souveränitätsrechten auf sicherheits-politischem Gebiet taten. Frankreichs Weigerung, den EVG- Ver-trag zu ratifizieren, führte im August 1954 zum Scheitern der EVG und des damit verbundenen Entwurfs zur Errichtung einer Euro-päischen Politischen Gemeinschaft (EPG).Nach dem Scheitern der EVG richteten sich die Einigungsbemü-hungen wieder auf den Bereich der Wirtschaft. Unterschiedliche Auffassungen bestanden zwischen den sechs EGKS-Staaten über die Methoden der weiteren Integration: Während Frankreich auf der einen Seite eine Ausdehnung des mit der EGKS begonnenen Vergemeinschaftungsprozesses auf weitere Wirtschaftssektoren, vor allem auf den Atomenergiesektor, favorisierte (sektorale Inte-gration), plädierten auf der anderen Seite die Niederlande für eine umfassende Integration der Wirtschaften der Mitgliedstaa-ten in einem Gemeinsamen Markt (horizontale Integration oder Gesamtintegration). In der Bundesrepublik stießen weder der Ge-meinsame Markt noch die Atomenergiebehörde auf große Reso-nanz; der deutsche Wirtschaftsminister Ludwig Erhard bevor-zugte die Bildung einer umfassenden Freihandelszone und lehnte eine auf die sechs Staaten begrenzte Zollunion ab. Es war nicht zuletzt dem Geschick des zum Verhandlungsführer berufenen Belgiers Paul-Henri Spaak zu verdanken, dass die Beratungen über die weiteren Integrationsschritte nicht in einer Sackgasse mündeten, sondern für alle sechs Staaten tragbare Kompromiss-lösungen gefunden wurden. Auch weltpolitische Ereignisse wie der Ungarn-Aufstand und vor allem das gescheiterte Suez-Aben-teuer 1956 trugen zu größerer Kompromissbereitschaft der betei-ligten Staaten bei und halfen insbesondere, die deutsch-französi-schen Divergenzen über das weitere Vorgehen zu überwinden. Ebenso schalteten sich die USA, wie bereits bei der EGKS, in die Verhandlungen ein, übten Druck auf die Bundesrepublik in der Frage der gemeinsamen Atomenergiebehörde aus und sicherten

so das Zustandekommen der Verträge. Nach schwierigen Ver-handlungen wurden am 25. März 1957 die Römischen Verträge unterzeichnet, welche die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG/Euratom) schufen. Nach der Ratifizierung in den sechs Staaten traten sie zum 1. Januar 1958 in Kraft. Da eine Einigung in der Frage des Sit-zes der beiden Gemeinschaften nicht erzielt werden konnte, wurde zunächst Brüssel zum provisorischen Gemeinschaftssitz bestimmt.Der EWG-Vertrag sah die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes innerhalb von 12 bis 15 Jahren vor, der in drei Stufen von je vier Jahren verwirklicht werden sollte. Kern des Gemeinsamen Mark-tes, in den auch die Landwirtschaft einbezogen werden sollte, bildete die Zollunion, die die Abschaffung der Ein- und Ausfuhr-zölle zwischen den sechs beteiligten Staaten sowie der mengen-mäßigen Beschränkungen bei der Ein- und Ausfuhr von Waren beinhaltete. Auch alle sonstigen, den freien Warenverkehr beein-trächtigenden Maßnahmen sollten beseitigt und ein gemeinsa-mer Außenzoll gegenüber Drittstaaten errichtet werden. Ferner sah der EWG-Vertrag neben dem freien Warenverkehr den unge-hinderten Austausch von Dienstleistungen, den freien Personen- und Kapitalverkehr (vier Freiheiten) sowie eine schrittweise Annä-herung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten vor. Weitere Bestimmungen betrafen die Koordinierung der Verkehrs-, Kon-junktur-, Wirtschafts-, Währungs- und Außenhandelspolitik, die Angleichung der Sozialpolitik sowie die Außenbeziehungen der Gemeinschaft. Die mit den Römischen Verträgen gegründete EWG war eine sup-ranationale Gemeinschaft, deren Aufbau sich analog zu den Or-ganen der Kohle- und Stahlgemeinschaft gestaltete: ein Rat der nationalen Minister (Rat) wurde geschaffen sowie eine aus neun unabhängigen Personen bestehende Kommission, deren Mitglie-der von den Regierungen der Mitgliedstaaten im Einvernehmen ernannt werden sollten; die Versammlung und der Gerichtshof der EGKS sollten zugleich auch für die EWG und Euratom zu-ständig sein. Im Gegensatz zur EGKS waren aber bei der EWG die intergouvernementalen zu Lasten der supranationalen Ele-

Abb. 6 Der belgische Außenminister Paul van Zeeland, der luxemburgische Außenminister Joseph Bech, der belgische Minis-ter Joseph Meurice, der italienische Außenminister Graf Carlo Sforza, der französische Außenminister Robert Schuman, der deutsche Außenminister und Bundeskanzler Konrad Adenauer und der niederländische Außenminister Dirk Stikker am 18.04.1951 in Paris kurz nach der Unterzeichnung des Schuman-Plans. Der von Schuman ausgearbeitete Plan sah vor, die Kohle- und Stahlproduktion in Europa einer Hohen Behörde zu unterstellen. Die zu errichtende »Gemeinschaft für Kohle und Stahl« sollte allen europäischen Ländern offen stehen. Vor allem für die Bundesrepublik Deutschland, die als eigenständiges Land eintrat, war dies ein großer Schritt in die Souveränität und Gleichberechtigung. © dpa, picture alliance, 1951

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mente gestärkt. Insbeson-dere Frankreich hatte in den Verhandlungen auf einen größeren Einfluss der Mit-gliedstaaten im Gemein-schaftssystem gedrängt. Der aus Vertretern der Mitglied-staaten bestehende Rat, der während der Übergangszeit einstimmig, danach aber in der Regel mit Mehrheit ent-scheiden sollte, traf alle wich-tigen Entscheidungen. Die Aufgabe der für die Dauer von vier Jahren ernannten EWG-Kommission bestand vor-rangig darin, die Entschei-dungen des Ministerrates umzusetzen und auf die Ein-haltung der Vertragsbestim-mungen zu achten (Hüterin der Verträge). Ein alleiniges Entscheidungsrecht besaß die Kommission nur in weni-gen, im Vertrag genau festge-legten Fällen; sie konnte aber gegenüber dem Rat Empfeh-lungen aussprechen und Stel-lungnahmen abgeben. Darü-ber hinaus besaß die Kommission das Initiativ-recht, wodurch sie die Mög-lichkeit erhielt, den weiteren Integrationsprozess voranzutreiben. Anders als die EWG, die sich durch den zügigen Zollabbau und die Steigerung des innereuropäischen Handels rasch zu einer Erfolgs-geschichte entwickelte, erfüllten sich die anfänglich in die Euro-päische Atomgemeinschaft gesetzten Hoffnungen nicht. Weder erlangte die Kernenergie den hohen Stellenwert unter den Ener-gieträgern, den man ihr in der Euphorie der 1950er Jahre zuge-schrieben hatte, noch gingen von der Atomgemeinschaft wesent-liche Impulse für den weiteren Integrationsprozess aus. Die sechs Mitgliedstaaten waren in den Folgejahren vielmehr daran interes-siert, die gemeinsame Entwicklung und Erforschung der Kern-energie zum Ausbau der jeweiligen nationalen Atomindustrie zu nutzen. Insbesondere Frankreich sah in der Europäischen Atom-gemeinschaft nur ein Vehikel für den Aufbau einer eigenen, in na-tionaler Verantwortung bleibenden Atomstreitmacht. 1967 fusionierten die Organe (Rat, Hohe Behörde, Kommission) von EGKS, EWG und Euratom, nicht aber die in Paris und Rom un-terzeichneten Verträge. Weiterhin existierten drei Europäische Gemeinschaften (EG), die mit dem Vertrag von Maastricht in der ersten Säule der EU aufgingen.

Literaturhinweise

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Schwabe, Klaus (Hrsg.) (1988): Die Anfänge des Schuman-Plans 1950/51. Bei-träge des Kolloquiums in Aachen, 28.–30. Mai 1986, Baden-Baden

Trausch, Gilbert (Hrsg.) (1983): Die Europäische Integration vom Schuman-Plan bis zu den Verträgen von Rom, Baden-Baden

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Abb. 7 Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25.3.1957. Am Tisch die in Rom versammelten Regierungschefs von Bel-gien, Frankreich, Italien, Luxemburg, der Niederlande und der Bundesrepublik Deutschland; (V. l., P. H. Spaak, J. S. Snoy, C. Pineau, M. Faure, K. Adenauer, der EWG-Kommissionspräsident W. Hallstein sowie A. Segni, u. a.) © dpa, picture alliance

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MATERIALIEN

M 1 Das Hertensteiner Programm der europäischen Föderalisten, 21. Sep-tember 1946

1. Eine auf föderativer Grundlage errichtete europäische Gemeinschaft ist ein not-wendiger und wesentlicher Bestandteil jeder wirklichen Weltunion.

2. Entsprechend den föderalistischen Grund-sätzen, die den demokratischen Aufbau von unten nach oben verlangen, soll die europäische Völkergemeinschaft die Strei-tigkeiten, die zwischen ihren Mitgliedern entstehen könnten, selbst schlichten.

3. Die Europäische Union fügt sich in die Or-ganisation der Vereinten Nationen ein und bildet eine regionale Körperschaft im Sinne des Art. 52 der Charta.

4. Die Mitglieder der Europäischen Union übertragen einen Teil ihrer wirtschaftli-chen, politischen und militärischen Sou-veränitätsrechte an die von ihnen gebil-dete Föderation.

5. Die Europäische Union steht allen Völkern europäischer Wesensart, die ihre Grund-gesetze anerkennen, zum Beitritt offen.

6. Die Europäische Union setzt die Rechte und Pflichten ihrer Bürger in der Erklä-rung der Europäischen Bürgerrechte fest.

7. Diese Erklärung beruht auf der Achtung vor dem Menschen in seiner Verantwortung gegenüber den verschiedenen Gemein-schaften, denen er angehört.

8. Die Europäische Union sorgt für den planmäßigen Wiederauf-bau und für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusam-menarbeit sowie dafür, dass der technische Fortschritt nur im Dienste der Menschheit verwendet wird.

9. Die Europäische Union richtet sich gegen niemand und ver-zichtet auf jede Machtpolitik, lehnt es aber auch ab, Werkzeug irgendeiner fremden Macht zu sein. (…)

11. Nur die Europäische Union wird in der Lage sein, die Unver-sehrtheit des Gebiets und die Bewahrung der Eigenheit aller ihrer Völker, großer wie kleiner, zu sichern.

12. Durch den Beweis, dass es seine Schicksalsfragen im Geiste des Föderalismus selbst lösen kann, soll Europa seinen Beitrag zum Wiederaufbau und zu einem Weltbund der Völker leisten.

© in: Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (Hrsg.) (1962): Europa. Dokumente zur Frage der Europäischen Einigung, hrsg. vom (Dokumente und Be-richte; Bd. 17), Bd. 1, München, S. 116.

M 2 Das »Monnet-Memorandum«, 3. Mai 1950 – Teil III

Die Wiederaufrichtung Frankreichs wird nicht mehr weitergehen, wenn die Frage der industriellen Produktion Deutschlands und seiner Konkurrenzkapazität nicht schnell eine Regelung findet. Die Grundlage für die Überlegenheit, die die französischen Indus-triellen traditionsgemäß Deutschland zubilligen, liegt darin, dass es Stahl zu einem Preis produziert, mit dem Frankreich nicht kon-kurrieren kann. Daraus schließen sie, dass die gesamte französi-sche Produktion darunter leiden muss. Schon verlangt Deutsch-land, seine Produktion von 11 auf 14 Millionen Tonnen zu erhöhen. Wir werden diese Forderung ablehnen, aber die Amerikaner wer-den darauf bestehen. Dann werden wir Vorbehalte machen, und schließlich werden wir nachgeben. Zur gleichen Zeit stagniert die französische Produktion; sie geht sogar zurück.

Es genügt, diese Tatsachen aufzuzählen. Man kann dann darauf verzichten, mit vielen Details ihre Folgen zu beschreiben: Deutschland in der Expansion, deutsches Exportdumping; der Ruf nach Schutz für die französischen Industriellen; Stopp oder Ver-schleierung der Liberalisierung des Handels; erneute Schaffung von Kartellen wie in der Vorkriegszeit; eventuell Ausrichtung der deutschen Expansion nach Osten als Vorstufe für politische Über-einkommen, Frankreich fällt in den Schlendrian einer begrenzten und geschützten Produktion zurück. Die Entscheidungen, die diese Lage herbeiführen werden, werden auf der Londoner Konfe-renz unter amerikanischem Druck in Angriff genommen, viel-leicht sogar schon beschlossen. Nun wünschen sich die USA über-haupt nicht, dass sich die Dinge so entwickeln. Sie werden eine andere Lösung akzeptieren, wenn sie dynamisch und konstruktiv ist, besonders dann, wenn sie von Frankreich ausgeht. Mit der [von uns] vorgeschlagenen Lösung verschwindet die Frage der Herrschaft der deutschen Industrie, deren Existenz in Europa eine Furcht verursachen würde, die Grund ständiger Unruhe wäre, schließlich die Vereinigung Europas verhindert und Deutschland erneut in den Abgrund stürzt. Diese Lösung schafft im Gegensatz dazu für die Industrie sowohl in Deutschland als auch in Frank-reich Bedingungen gemeinsamer Expansion in der Konkurrenz, wobei jede Form von Beherrschung fortfällt. Vom französischen Standpunkt aus bringt eine solche Lösung die nationale Industrie in die gleiche Ausgangsstellung wie die deut-sche, beseitigt das Exportdumping, das die deutsche Stahlindus-trie sonst verfolgen würde, lässt die französische Stahlindustrie an der europäischen Expansion teilnehmen, ohne Furcht vor Dumping, ohne Versuchung, Kartelle zu bilden. Die Furcht bei den Industriellen, die der Malthusianismus nach sich ziehen würde, der Stopp der ‚Liberalisierungen‘ und schließlich die Rückkehr zum Schlendrian der Vergangenheit – alles das wird beseitigt sein. Das größte Hindernis für den Fortgang des industriellen Fortschritts in Frankreich wäre aus dem Wege geräumt.

© in: Ziebura, Gilbert (1997): Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe, Stuttgart, S. 498–504.

M 2 Jean Monnet, Leiter der französischen Schuman-Plan-Delegation (Mitte), bei einer Besprechung mit Bundeskanzler Konrad Adenauer im Palais Schaumburg, Bonn. Links: Staatssekretär Walter Hallstein. Monnet war französischer Unternehmer und der Wegbereiter der europäischen Eini-gungsbestrebungen, ohne je Politiker im Sinne eines gewählten Mandatsträgers gewesen zu sein. Bekannt wurde er als der politische Architekt, der die Pläne zum Zusammenschluss der westeuropä-ischen Schwerindustrie verwirklichte. Seine Einigungskonzeption folgte dabei den Grundsätzen des politischen Funktionalismus und dem Spill-over-Effekt, wonach »sektorale Integration zu einer Verflechtung immer weiterer Sektoren und schließlich zum Endstadium einer allgemeinpolitischen Föderation« führen sollte. © akg images, 5.4.1951

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Page 20: Deutschland und Europa nach 1945

M 3 Erklärung der französischen Regierung über eine gemeinsame deutsch-französische Schwerindustrie, 9. Mai 1950 (»Schuman-Plan«)

Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferi-sche Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerlässlich für die Aufrechterhal-tung friedlicher Beziehungen. Frankreich, das sich seit mehr als zwanzig Jahren zum Vorkämpfer eines vereinten Europa macht, hat immer als wesentliches Ziel gehabt, dem Frieden zu dienen. Europa ist nicht zustande gekommen, wir haben den Krieg ge-habt.Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: es wird durch kon-krete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird. Das begonnene Werk muss in ers-ter Linie Deutschland und Frankreich erfassen.Zu diesem Zweck schlägt die französische Regierung vor, in einem begrenzten, doch entscheidenden Punkt sofort zur Tat zu schrei-ten. Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohlen- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame Oberste Aufsichtsbehörde (»Haute Autorité«) zu stellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Län-dern zum Beitritt offensteht.Die Zusammenlegung der Kohlen- und Stahlproduktion wird so-fort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftli-che Entwicklung sichern – die erste Etappe der europäischen Fö-deration – und die Bestimmung jener Gebiete ändern, die lange Zeit der Herstellung von Waffen gewidmet waren, deren sicherste Opfer sie gewesen sind. Die Solidarität der Produktion, die so ge-schaffen wird, wird bekunden, dass jeder Krieg zwischen Frank-reich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist. Die Schaffung dieser mächtigen Produktionsge-meinschaft, die allen Ländern offensteht, die daran teilnehmen wollen, mit dem Zweck allen Ländern, die sie umfasst, die not-wendigen Grundstoffe für ihre industrielle Produktion zu glei-chen Bedingungen zu liefern, wird die realen Fundamente zu ihrer wirtschaftlichen Vereinigung legen. Diese Produktion wird der gesamten Welt ohne Unterschied und Ausnahme zur Verfügung

gestellt werden, um zur Hebung des Lebensstan-dards und zur Förderung der Werke des Frie-dens beizutra-gen. Europa wird dann mit ver-mehrten Mitteln die Verwirkli-chung einer sei-ner wesentlichs-ten Aufgaben verfolgen kön-nen: die Ent-wicklung des af-rikanischen Erdteils.

So wird einfach und rasch die Zusammenfassung der Interessen verwirklicht, die für die Schaffung einer Wirtschaftsgemeinschaft unerlässlich ist, und das Ferment einer weiteren und tieferen Ge-meinschaft den Ländern eingeflößt, die lange Zeit durch blutige Fehden getrennt waren. Durch die Zusammenlegung der Grund-industrien und die Errichtung einer neuen Obersten Behörde, de-ren Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Länder bindend sein werden, wird dieser Vor-schlag den ersten Grundstein einer europäischen Föderation bil-den, die zur Bewahrung des Friedens unerlässlich ist.Um die Verwirklichung der so umrissenen Ziele zu betreiben, ist die französische Regierung bereit, Verhandlungen auf den folgen-den Grundlagen aufzunehmen: Die der gemeinsamen Obersten Behörde übertragene Aufgabe wird sein, in kürzester Frist sicher-zustellen: (1) die Modernisierung der Produktion und die Verbes-serung der Qualität, (2) die Lieferung von Stahl und Kohle auf dem französischen und deutschen Markt, sowie auf dem aller beteilig-ten Länder zu den gleichen Bedingungen, (3) die Entwicklung der gemeinsamen Ausfuhr nach den anderen Ländern, den Ausgleich im Fortschritt der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft dieser Industrien.Um diese Ziele zu erreichen, müssen in Anbetracht der sehr ver-schiedenen Produktionsbedingungen, in denen sich die beteilig-ten Länder tatsächlich befinden, vorübergehend gewisse Vorkeh-rungen getroffen werden, und zwar: die Anwendung eines Produktions- und Investitionsplanes, die Einrichtung von Preis-ausgleichsmechanismen und die Bildung eines Konvertierbar-keits-Fonds, der die Rationalisierung der Produktion erleichtert. Die Ein- und Ausfuhr von Kohle und Stahl zwischen den Teilneh-merländern wird sofort von aller Zollpflicht befreit und darf nicht nach verschiedenen Frachttarifen behandelt werden. Nach und nach werden sich so die Bedingungen herausbilden, die dann von

M 5 Zeitgenössische Grafik zum Schuman-Plan und der Montanunion. © dpa, picture alliance

M 4 Der Schuman-Plan © Karikatur von Klaus

Pielert, 1950, Stiftung Haus der Geschichte, Bonn

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selbst die rationellste Verteilung der Produktion auf dem höchs-ten Leistungsniveau gewährleisten. […]Die gemeinsame Oberste Behörde, die mit der Funktion der gan-zen Verwaltung betraut ist, wird sich aus unabhängigen Persön-lichkeiten zusammensetzen, die auf paritätischer Grundlage von den Regierungen ernannt werden. Durch ein gemeinsames Ab-kommen wird von den Regierungen ein Präsident gewählt, des-sen Entscheidungen in Frankreich, in Deutschland und den ande-ren Teilnehmerländern bindend sind. […]

© in:: Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (Hrsg.) (1962): Europa. Dokumente zur Frage der Europäischen Einigung, Dokumente und Berichte; Bd. 17, Bd. 2, München S. 680–682.

M 7 Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidi-gungsgemeinschaft, EVG, (an der Ablehnung durch die französische Nationalversammlung 1954 gescheitert)

(…) Kapitel I. Die Europäische VerteidigungsgemeinschaftArtikel 1. Durch diesen Vertrag begründen die Hohen Vertrag-schließenden Teile unter sich eine EUROPÄISCHE VERTEIDI-GUNGSGEMEINSCHAFT. Diese ist ihrem Wesen nach überstaat-lich; sie hat gemeinsame Organe, gemeinsame Streitkräfte und einen gemeinsamen Haushalt.Artikel 2. § 1 Die Gemeinschaft dient ausschließlich der Verteidi-gung. § 2 Sie gewährleistet daher nach Maßgabe dieses Vertrages die Sicherheit der Mitgliedstaaten gegen jede Aggression. Hierzu beteiligt sie sich im Rahmen des Nordatlantikpaktes an der west-lichen Verteidigung und verwirklicht die Verschmelzung der Ver-teidigungsstreitkräfte der Mitgliedstaaten sowie den zweckmäßi-gen und wirtschaftlichen Einsatz ihrer Hilfsquellen. § 3 Jede bewaffnete Aggression gegen irgendeinen der Mitgliedstaaten in Europa oder gegen die Europäischen Verteidigungsstreitkräfte wird als ein Angriff gegen alle Mitgliedstaaten angesehen. […]Die Gemeinschaft wird durch ihre Organe im Rahmen ihrer Be-fugnisse vertreten.Artikel 8. § 1 Die Organe der Gemeinschaft sind:– Der Ministerrat, nachstehend »Der Rat« genannt;– Die Gemeinsame Versammlung, nachstehend »Die Versamm-

lung« genannt;– Das Kommissariat der Europäischen Verteidigungsgemein-

schaft, nachstehend »Das Kommissariat« genannt– Der Gerichtshof. (…)

© Bundesgesetzblatt Teil II 1954 S. 343ff. www.europarl.europa.eu/brussels/website/media/Basis/Geschichte/EGKSbisEWG/Pdf/EVG-Vertrag.pdf

M 9 Schlusskommuniqué der Konferenz von Messina zur Vorbereitung von EWG und Euratom, 3. Juni 1955

Sie [die sechs Regierungen] erachten es als notwendig, die Schaf-fung eines vereinigten Europa durch die Weiterentwicklung ge-meinsamer Institutionen, durch die schrittweise Fusion der natio-nalen Wirtschaften, durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und durch die schrittweise Harmonisierung ihrer Sozial-politik fortzusetzen. Eine derartige Politik erscheint ihnen uner-lässlich, um Europa den Platz zu erhalten, den es in der Welt ein-nimmt, um ihm seinen Einfluß und seine Ausstrahlungskraft zurückzugeben und um den Lebensstandard seiner Bevölkerung stetig zu heben. Zu diesen Zwecken haben sich die sechs Minister über die folgenden Ziele geeinigt: 1. Die Steigerung des Warenaustausches und der Freizügigkeit der Personen verlangen den gemeinsamen Ausbau großer Verkehrs-wege. Zu diesem Zweck soll eine gemeinsame Prüfung von Ent-wicklungsplänen vorgenommen werden, die ein europäisches Verkehrsnetz von Kanälen, Autostraßen und elektrifizierten Ei-senbahnlinien und die Standardisierung der Ausrüstung zum Ziele haben. Ebenso soll die bessere Koordinierung des Luftverkehrs geprüft werden.2. Reichlichere und billigere Energie ist ein fundamentales Ele-ment des wirtschaftlichen Fortschritts. Deshalb muss alles getan werden, um den Austausch von Gas und elektrischem Strom zu fördern, der geeignet ist, die Rentabilität der Investierungen zu erhöhen und die Preise für die Versorgung zu senken. Es soll un-tersucht werden, mit welchen Methoden die Entwicklung der Energieerzeugung und des Energieverbrauchs unter gemeinsa-men Gesichtspunkten koordiniert und die allgemeinen Richtli-nien einer gemeinsamen Politik festgelegt werden können. (Da-bei wird die Entschließung berücksichtigt, die der Besondere Rat der Montanunion am 12./13. Oktober 1953 gefasst hat.)3. Die Entwicklung der Atomenergie zu friedlichen Zwecken eröff-net binnen kurzem die Aussicht auf eine neue industrielle Revolu-tion von ungleich größerem Ausmaß als jene der letzten hundert Jahre. Die sechs Signatarstaaten erachten es als notwendig, die Frage einer gemeinsamen Organisation zu untersuchen, die mit der Verantwortung und den Mitteln für die Gewährleistung der friedlichen Entwicklung der Atomenergie auszustatten wäre, […]Die sechs Regierungen stellen fest, dass das Ziel ihres Vorgehens auf wirtschaftspolitischem Gebiet in der Bildung eines von allen Zollschranken und mengenmäßigen Beschränkungen freien ge-meinsamen europäischen Marktes besteht. Sie sind der Ansicht, dass dieser Markt schrittweise geschaffen werden muss. […]

© in Brunn, Gerhard (2004): Die Europäische Einigung von 1945 bis heute (bpb-Schriften-reihe; Bd. 472), Bonn, S. 347f.

M 6 Der Schuman-Plan: aus französischer und deutscher Sicht. © Karikatur von Klaus Pielert, 1950, Stiftung Haus der Geschichte, Bonn

M 8 »Marianne sieht die deutsche Gefahr schon wieder riesengroß« © Karikatur von Helmut Beyer aus dem Jahre 1952

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Page 22: Deutschland und Europa nach 1945

EUROPA NACH 1945

3. Westdeutschland und die Bundes-republik Deutschland nach 1945 – Westintegration als Leitbild

JOHANNES GIENGER

Die Ereignisse der Jahre von 1945 bis 1957 – vom Ende des Zweiten Weltkrie-

ges bis zur Gründung der »Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft« (EWG) – waren prägend für die historische Entwicklung Europas und der entstehenden Bundesre-publik Deutschland bis heute. War dieser Weg so eindeutig, wie er heute vielen er-scheinen mag? Gab es Alternativen? Die historische Forschung diskutiert darüber bis heute. Umfangreiche digitale und mul-timediale Archive ermöglichen dem heuti-gen Beobachter eine besondere Möglich-keit zur Urteilsbildung.

Die Bilanz der Niederlage 1945

Am 9. Mai 1945 tritt die bedingungslose Kapi-tulation der deutschen Wehrmacht in Kraft. Deutschland ist den Siegermächten ausgelie-fert. Das ganze Grauen – die Hinterlassen-schaft des NS-Regimes – wird den traumati-sierten Deutschen erst allmählich bewusst oder von Siegern bewusst gemacht: • über 60 Millionen Tote, davon allein 20 Mil-

lionen russische Soldaten und Zivilisten,• rund 6 Millionen Juden und 500 000 Sinti und Roma ermordet

von Erschießungskommandos oder vergast in den Vernich-tungslagern des NS-Regimes,

• rund 100 000 ermordete geistig und körperlich Behinderte, • zehntausende hingerichtete Widerstandskämpfer, Oppositio-

nelle sowie Kriegsdeserteure,• deutsche Groß- und Industriestädte in Ruinen, • weitgehend zerstörte Infrastrukturen,• millionenfache Flüchtlings- und Vertreibungsströme,• Obdachlosigkeit und Hunger in Deutschland.

Die »Stunde Null«?

Das Dritte Reich hatte aufgehört zu bestehen und Deutschland stand vor dem moralischen, politischen und wirtschaftlichen Ruin. Das Bild von der »Stunde Null«, von einem vollständigen Neuanfang, wurde zur Beschreibung der Situation immer wieder beschworen, wird aber dem Geschehen nicht gerecht: weder der Tatsache, dass sich die während des NS-Regimes unterdrückten demokratischen Kräfte aus der inneren Immigration oder dem Widerstand zur Übernahme von Verantwortung zurückmeldeten, noch dem Umstand, dass das industrielle Potential – wenn auch durch die zerstörte Infrastruktur gelähmt –– doch nicht vollstän-dig zerstört war. Die Frage war viel mehr, welche Perspektiven die Siegermächte dem geschlagenen Deutschland und damit letzt-lich Europa erlauben würden.

Anfänge der Besatzungspolitik

Die anfänglichen Perspektiven waren in der Tat düster. Die vom US-Präsidenten Harry S. Truman genehmigte Direktive JCS 1067 stellte fest, dass Deutschland nicht besetzt wurde »zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als besiegter Feindstaat«. Es müsse den Deutschen klargemacht werden – so der Wortlaut – »dass Deutschlands rücksichtslose Kriegsführung und der fanatische Widerstand der Nazis die deutsche Wirtschaft zerstört und Chaos und Leiden unvermeidlich gemacht haben …«. Und Leiden war kennzeichnend für die Jahre bis 1947 und teilweise auch lange da-nach. Das Durchschnittsgewicht eines männlichen Erwachsenen beispielsweise lag 1946 in der amerikanisch besetzten Zone (ABZ) bei 51 Kilo und sank weiter ab. Die Hälfte aller Wohnungen in den Großstädten war zerstört, und bis Ende 1946 strömten 5,6 Millio-nen Flüchtlinge in die westlichen Zonen und verschlimmerten die Wohnungsnot. Am Ende sollten es zwischen 12–15 Millionen Men-schen sein, die vor dem Kommunismus flohen oder nach den Be-schlüssen der Konferenzen der Alliierten aus den osteuropäischen bzw. ostdeutschen Gebieten vertrieben wurden (Görtemaker, S. 30).

Besatzungszonen der Alliierten

Anfangs herrschte Einigkeit unter den Siegern über die vier gro-ßen Ds (Potsdamer Beschlüsse) sowie die Vertreibungen der Deutschen, und die USA, Großbritannien und die Sowjetunion setzten diese Beschlüsse der Kriegskonferenzen in Teheran

Abb. 1 Zerstörte Stuttgarter Innenstadt, Marktplatz mit altem Rathaus, 1.4.1946 © Landesmedienzentrum Baden-Württemberg

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Page 23: Deutschland und Europa nach 1945

(28.11.–1.12.1943) und Jalta (9.–11.2.1945) in ihren Besatzungszo-nen in Deutschland und in Berlin auch rigoros durch. Frankreich, das mit einem vor der Wehrmacht 1940 nach England geflüchte-ten kleinen Expeditionsheer zum Sieg über den gemeinsamen Feind Hitler-Deutschland beigetragen hatte, beanspruchte schließlich zudem einen Anteil an dem besetzten Gebiet und be-zog 1945 seine Zone, die aus der amerikanischen und britischen Zone herausgeschnitten wurde. Damit waren Deutschland und Berlin in vier Besatzungszonen aufgeteilt Ostpreußen und die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie russisch besetzt und vorläu-fig bis zu einem offiziellen Friedensvertrag unter polnische bzw. sowjetische Verwaltung gestellt. Ein Alliierter Kontrollrat, beste-hend aus den Vertretern der vier Siegermächte, sollte Deutsch-land vorläufig verwalten und nur einstimmige Beschlüsse fassen.

Konferenz von Potsdam: gemeinsame Beschlüsse und unterschiedliche Auslegung

Laut Vereinbarungen der Potsdamer Konferenz (17.7.–2.8.1945) war Deutschland noch als eine (zumindest wirtschaftliche) Ein-heit zu behandeln, und die vier Prinzipien der Konferenz – Dena-zifizierung, Dezentralisation, Demilitarisierung, Demokratisie-rung – wurden von den Siegern vertraglich besiegelt. Mit der Unterschrift unter den Vertrag begannen die Mächte allerdings auch den Vertrag unterschiedlich auszulegen. Obgleich sich die Siegermächte hinsichtlich der Entmilitarisie-rung Deutschlands einig waren, liefen die Maßnahmen und Vor-stellungen im Rahmen der Entnazifizierung, Dezentralisierung und Demokratisierung doch sehr bald auseinander. Während die Sowjets in ihrer Zone durch Enteignung des Groß-grundbesitzes und Teilen der Industrie offiziell vor allem be-zweckten, Nazis aus ihren Machtpositionen zu verdrängen, damit aber gleichzeitig gezielt die Weichen für den Aufbau einer »Volks-

demokratie« sowjetischer Prägung stellten, ging es den Briten, Franzosen und Amerikanern bei der Entnazifizierung insbeson-dere um die Demokratisierung und Umerziehung der Deutschen im westlich-demokratischen Sinne. Vor allem die Amerikaner be-mühten sich in ihrer Zone um eine breite »geistige« Erneuerung des deutschen Volkes. Sie beriefen deshalb in ihrer Zone 545 Spruchkammern mit 22.000 politisch unbescholten geltenden Mitgliedern. Diese Spruchkammern sollten mit Hilfe von Frage-bögen die Bevölkerung nach Hauptschuldigen, Belasteten, Min-derbelasteten, Mitläufern und Entlasteten durchforsten und ge-gebenenfalls Betroffene mit Geld- und Haftstrafen sowie Berufsverboten belegen. Nach offiziellen Angaben verloren da-durch 373.762 Personen für kürzere oder längere Zeit ihren Ar-beitsplatz. Im Auftrag des Alliierten Kontrollrats wurde zudem ein internationales Militärtribunal begründet, das im November 1945 in Nürnberg das Verfahren gegen 24 »Hauptkriegsverbrecher« er-öffnete. Das Gericht verurteilte 12 Angeklagte zum Tode und ver-hängte sieben langjährige Freiheitsstrafen. Bis 1949 folgten wei-tere 12 Gerichtverfahren in Nürnberg sowie einige Zehntausend Verfahren im In- und Ausland. Im westlichen Teil Deutschlands wurden 5025 Personen verurteilt, 806 Todesurteile ausgespro-chen und 486 vollstreckt (Görtemaker, S. 27).

Entnazifizierung: nicht bewältigte Vergangenheit

Trotz aller Bemühungen der Umerziehung im Rahmen der Entna-zifizierung blieb und bleibt der Rechtsextremismus bzw. Rechtspopulismus bis heute eine beunruhigende politische Strö-mung in Deutschland und Europa. Auch heute wird noch kontro-vers diskutiert, ob nicht ehemalige »rehabilitierte« Nationalsozia-listen wie z. B. der Jurist Hans Globke, der 1935 bei der Formulierung der Nürnberger Rassengesetze mitgewirkt hatte

Abb. 2 Landkarte des Deutschen Reichs in den Grenzen von 1937 mit der Aufteilung in Besatzungszonen nach der Berliner Erklärung vom 7.6.1945. © akg images

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und unter Adenauer als Chef des Kanzleram-tes tätig war, Neigungen zu Nationalismus und Rassismus begünstigt hatten und eine Kontinuitätsbrücke zu den späteren rechts-extremistischen Bewegungen darstellt.

Deutschland im Zentrum des Ost-West-Konflikts

Während das Ziel der Entnazifizierung noch als verbindendes Element einer nach der end-gültigen Niederlage Hitler-Deutschlands zu-nehmend brüchigen Waffenbrüderschaft verstanden werden kann, gilt dies für die Wiederbelebung des deutschen politischen Lebens nach 1945 schon nicht mehr. Der bald immer deutlicher hervortretende Ost-West-Konflikt dominierte das politische, wirt-schaftliche und gesellschaftliche Geschehen. George F. Kennan, Gesandter an der ameri-kanischen Botschaft in Moskau, erklärte be-reits 1945 dass: »die Idee, Deutschland gemein-sam mit den Russen regieren zu wollen, ein Wahn ist. (…) Wir haben keine andere Wahl als den Teil von Deutschland, den Teil, für den wir und die Bri-ten die Verantwortung übernommen haben, zu ei-ner Form von Unabhängigkeit zu führen. Die so befriedigend, so gesichert, so überlegen ist, dass der Osten sie nicht gefährden kann …« (Görtemaker, S. 35).Ähnlich argumentiert Kennan 1946 in dem oft zitierten »Long Te-legram« an die Truman-Administration. Damit hatte Kennan die Analyse geliefert, die sich westliche Politiker vor dem Hintergrund der sowjetischen Expansion in Mittelosteuropa, kommunistisch inspirierter Destabilisierungsversuche in Griechenland und in der Türkei, später im Januar 1947 manipulierter Wahlen in Polen, rela-tiv zügig zu eigen machten. Der britische Außenminister Ernest Bevin bekundete dieselbe Überzeugung in einer Kabinettsvor-lage vom 3. Mai 1946, und Winston Churchill, Oppositionsführer im britischen Unterhaus, brachte es bereits am 5. März 1946 in Fulton, Missouri, überdeutlich auf den Punkt: »Wir müssen den Tat-sachen ins Auge sehen, dass so, wie die Dinge gegenwärtig stehen, zwei Deutschlands im Entstehen sind: das eine mehr oder weniger organisiert nach dem russischen Modell bzw. im russischen Interesse, das andere nach dem der westlichen Demokratie (…). «Der amerikanische Außenminister Byrnes verkündete in seiner Stuttgarter Rede am 6. September 1946, dass die USA ihre Trup-pen so lange in Europa belassen würden wie andere Mächte auch. Und da sind die Truppen auch heute noch, d. h. die Rede Byrnes markiert einen Wendepunkt in der Weltgeschichte: die USA sind seitdem eine Weltmacht in der Rolle eines »Weltpolizisten«, wie Kritiker sagen, – wenngleich auch diese Rolle nach dem Ende des vergleichsweise übersichtlichen bipolaren Kalten Krieg immer komplexer wird.

Truman-Doktrin und Marshall-Plan

Der US-Präsident Harry Truman verkündete am 12. März 1947 die nach ihm benannte sog. Truman-Doktrin und versprach darin al-len »freien Völkern«, die vom Kommunismus bedroht würden, Un-terstützung und meinten damit ganz offensichtlich auch die Be-förderung der eigenen US-amerikanischen Interessen. Unterfüttert wurden diese Ankündigungen durch den Marshall-Plan im Juni 1947 (Europäisches Wirtschaftsaufbauprogramm/ERP- European Recovery Program), der bis 1952 13,5 Milliarden Dollar Hilfsgelder nach Europa spülte und die mittel- und westeu-ropäischen Staaten stabilisieren und gegenüber kommunisti-scher Propaganda und Einflussnahme resistent machen sollte.

Mit der Truman-Doktrin und dem Marshall-Plan sollte nicht nur der Westen gegen kommunistische Einflussnahme abgedichtet, sondern auch der Rahmen gesteckt werden, innerhalb dessen sich die westdeutsche und die westeuropäische Politik zu bewe-gen hatten. Die Sowjets reagierten auf die amerikanische Politik des »containment« (Eindämmungspolitik) – später aggressiver als »roll-back« bezeichnet – mit der Gründung der Kominform (Kommunistisches Informationsbüro) im September 1947, das die kommunistischen Parteien Europas unter der ideologischen und politischen Vormundschaft Moskaus verband. Aus sowjetischer Sicht verkündete Andreij Shdanow, Sekretär der Leningrader KP-dSU und engster Mitarbeiter Stalins, die sog. »Zwei-Lager-Theo-rie« mit dem »imperialistischen und antidemokratischen« Lager unter Führung der USA einerseits und dem »anti-imperialistischen und demokratischen Lager« unter der Führung Moskaus anderer-seits. Die Annahme von Marshall-Plan-Geldern, die auch den ost-europäischen Staaten angeboten wurden, wusste Stalin zu unter-binden.

Formierung der Lager

Die Ost-West-Lager formierten sich und schufen zur Absicherung ihrer Interessenssphären politische, militärische und wirtschaftli-che Organisationen: die OEEC (Organisation of European Econo-mic Cooperation) u. a. zur Verwaltung der Marshall-Plan-Mittel, den Brüsseler Pakt 1948 (Großbritannien, Frankreich, Benelux) und die NATO 1949 (9 westeuropäische Länder, Kanada und USA) einerseits und den Rat der gegenseitigen Wirtschaftshilfe (RGW/COMECON mit Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Tschecho-slowakei, Albanien und die SU) sowie 1955 das militärische Bünd-nis »Warschauer Pakt« andererseits. 1949 zündeten auch die Sowjets ihre erste Atombombe und das später so genannte »Gleichgewicht des Schreckens« sorgt bis heute für eine latente Furcht in der Welt, zumal dieses vermeintli-che Gleichgewicht durch weitere Atommächte und die damit ver-bundene Weiterverbreitung von Atomwaffen (Proliferation) in ei-ner längst nicht mehr bipolaren Welt heutzutage leicht kippen könnte.

Abb. 3 Marshall-Plan, Werbe-Plakat der Economic Cooperation Act-Zentrale in Washington aus dem Jahre 1948. Am 5.6.1947 schlug US-Außenminister George C. Marshall einen Plan zum Wiederaufbau Europas vor. Ab 1948 wurde der Marshall-Plan im Rahmen des Europäischen Wiederaufbauprogramms ERP verwirklicht. Die Sowjetunion verhinderte, dass sich die Staaten in ihrem Einflussbereich daran betei-ligten. © akg images

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Page 25: Deutschland und Europa nach 1945

Wiederbelebung des politischen Lebens in den Zonen

Ein Eigengewicht der west-deutschen Politik gab es zu-nächst kaum und konnte auch nur ganz allmählich in Einklang mit den Interessen der Siegermächte erarbeitet werden. Immerhin kam der deutschen Politik vor allem im Westen zugute, dass den Westmächten vor dem Hin-tergrund des Kalten Krieges, und insbesondere des Korea-krieges daran gelegen sein musste, ein starkes Deutsch-land als Machtfaktor gegen den Ostblock zu entwickeln. Dasselbe galt umgekehrt für die Deutschen in der SBZ, die ihrerseits von den Sowjets gegen die Westzonen »in Stellung« gebracht werden sollten. Nachdem Hitler-Deutschland keine Gefahr mehr darstellte und aus der Sicht der USA, Großbritanniens und Frankreichs der neue viel gefährlichere Feind im Osten in Form der Sowjetunion ausgemacht wurde, galt es, das politische und wirtschaftliche Leben in den Westzonen in ihrem Sinne in Gang zu setzen. Auch in der »Ostzone«, der SBZ (Sowjetische Besatzungszone) wurden wirtschaftliche und politi-sche Weichen gestellt, wenn auch unter ganz anderen politischen Vorgaben: Einzelne Maßnahmen: • Zulassung der demokratischen Parteien CDU, SPD, DVP (FDP),

KPD im Westen,• Gründung der KPD, der Liberal-Demokratischen Partei (LDPD),

der SPD, der CDU – noch 1945 – in der SBZ, – Gründung eines antifaschistischen Blocks der Parteien im Osten im Jahre 1945–1946: Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED in der SBZ,

• Landtagswahlen 1946 und 1947 in Ost und West. – Errichtung eines politisch mitwirkenden »Länderrats« mit ernannten Minis-terpräsidenten aus Bayern, Württemberg-Baden und Groß-Hes-sen in der amerikanischen Zone, eines beratenden »Zonenbei-rats« aus ernannten Vertreter der demokratischen Parteien, der Gewerkschaften und der Wirtschaft in der britischen Zone,

• Am 1. Januar 1947 Zusammenlegung der britischen und der ame-rikanischen Zone zur Bizone, der dann auf Drängen der USA die französische Zone angeschlossen wurde.

Teilung Deutschlands 1949 in BRD und DDR

Nach dem wiederholtem Scheitern der Außenministerkonferen-zen der Siegermächte zur Frage der deutschen Einheit 1946 und 1947 und der Verkündigung der Truman-Doktrin war der Weg der Teilung Deutschlands vorgezeichnet. Insbesondere die West-mächte ergriffen im Rahmen der Eskalation des Kalten Krieges schließlich Zug um Zug Maßnahmen zur Konsolidierung ihre Machtbereiche in Deutschland. Aus der Retroperspektive ergibt sich die deutsche Teilung als logische Konsequenz des Kalten Krieges. Die Zeitgenossen mögen das anders wahrgenommen haben. Meist agierten die Westmächte – und die Sowjetunion re-agierte:

– So gab es eine Währungsreform in den drei Westzonen mit Wir-kung zum 20. Juni 1948, d. h. die Ablösung der völlig zerrütteten Währung der Reichsmark durch die D-Mark in den Westzonen und Westberlin

– gefolgt von einer Währungsreform in der SBZ. – Bereits ab Februar 1948 (23.2.–2.6.1948) tagte die Sechs-Mächte-

Konferenz (USA, F, GB, und BeNeLux) der Botschafter in London und empfahl nach längeren Debatten und trotz der Bedenken Frankreichs die Gründung eines Weststaates in den drei Zonen der Westmächte. Die Regierungen der Westmächte schlossen sich den Empfehlungen an und übergaben den deutschen Län-derchefs die »Frankfurter Dokumente« am 1. Juli 1948 mit ein-deutigen Erwartungen und klaren Aufträgen: Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung bis spätesten 1. September 1948 mit dem Ziel der Gründung eines Weststaates auf der Basis einer föderalistisch strukturierten parlamentarischen Demo-kratie immer noch »unter Aufsicht« der Siegermächte, gebun-den an ein »Besatzungsstatut«.

– Der parlamentarische Rat – proportional zusammengesetzt aus den seit 1947 bestehenden Landtagen der drei Westzonen – dis-kutierte das Bonner Grundgesetz, das am 23. Mai 1949 als Pro-visorium verabschiedet wurde und erst mit einer zukünftigen Wiedervereinigung seine endgültige Form annehmen sollte.

– Die sowjetische Militäradministration (SMAD) zog nach und ver-anlasste die Gründung der Deutschen Demokratischen Repub-lik im Oktober 1949 und die zügige Umwandlung der SED zu ei-ner marxistisch-leninistischen Kaderpartei. Vorausgegangen waren der Austritt der SU aus dem Alliierten Kontrollrat, eine Währungsreform im Osten und der erfolglose Versuch mittels einer Blockade von Westberlin (24.6.1948 bis 12.5.1949), West-berlin aus dem Machtbereich der Westmächte herauszubre-chen. Die Luftbrücke zur Versorgung Westberlins signalisierte den Westberlinern und den Deutschen, dass nur die West-mächte unter Führung der USA gerade bei akuter Kriegsgefahr die Sicherheit eines westdeutschen Staates gewährleisten könne.

Abb. 4 Wahlplakate der CDU und SPD anlässlich des Bundestagswahlkampf 1949 © Konrad-Adenauer-Stiftung, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

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Alternativen der Deutschlandpolitik

Die in den Jahren nach 1945 konkurrierenden Optionen der Deutschlandpolitik lassen sich an drei dominierenden politischen Persön-lichkeiten festmachen: Jakob Kaiser, Kurt Schumacher und Konrad Adenauer. Jakob Kaiser, Mitbegründer und führender Kopf der CDU in der Britischen Besatzungs-zone (BBZ), vertrat einen »christlichen Sozia-lismus« mit Teilverstaatlichung der Wirt-schaft insbesondere der Grundstoffindu-strien wie Kohle und Stahl und dem Konzept eines geeinten neutralen Deutschland, das als »Brücke« zwischen Ost und West wirken könnte. Seine Vorstellungen waren nicht weit entfernt von der Stalinnote von 1952. Wenn die Vorstellungen eines Jakob Kaisers nicht in das globale machtpolitische Gefüge der Zeit passten, so galt das für die Bestre-bungen des SPD-Vorsitzenden der drei West-zonen Kurt Schumacher umso mehr. Zwar fand Schumachers Überzeugung, dass die großen Konzerne wie Krupp oder IG-Farben mit Hitler paktiert und damit den Faschismus und den Zweiten Weltkrieg mit verursacht hätten, durchaus breitere Akzeptanz, allerdings gingen seine Forderungen nach Sozialisierung von Tei-len der Wirtschaft deutlich weiter als die 1947 im Ahlener Pro-gramm der CDU vorgeschlagenen Maßnahmen, die Jakob Kaiser geprägt hatte, zur Kontrolle der Schlüsselindustrien. Zwar stie-ßen seine frühe Zustimmung zur Westintegration, zur pluralisti-schen Demokratie sowie seine harsche Ablehnung der SED und des »Schmusekurses« der Ost-SPD unter Otto Grotewohl gegen-über den Sowjets gerade bei den Westmächten auf äußerst posi-tive Resonanz, seine deutliche Kritik am amerikanischen Kapita-lismus und sein Bestehen auf einem eigenen europäischen Weg des »demokratischen Sozialismus« in scharfer Abgrenzung von den USA sowie seine strikte Ablehnung der Wiederbewaffnung konnten jedoch seitens der Westmächte letztlich keine Unter-stützung erwarten. Kaiser und Schumacher waren beide geprägt durch ihre Zeit im Widerstand gegen Hitler und neigten auch da-durch zur moralischen Bevormundung. Konrad Adenauer, seit März 1946 Vorsitzender der CDU in der BBZ, und Vorsitzender der Gesamtpartei 1950 bis 1966, erhielt deutlich größere Unterstützung von den Westmächten. Auch in-nerparteilich und bei den Wahlen setzte er sich mit seiner »Politik der Stärke« bei unzweideutiger Westorientierung und Beibehal-tung marktwirtschaftlicher Prinzipien als deutsche politische Führungsfigur bei den Alliierten und in den westdeutschen Wah-len knapp durch. Nach seiner Wahl zum Kanzler 1949 und späte-ren deutlichen Wahlerfolgen 1953 und 1957 blieb er unangefoch-ten die westdeutsche Leitfigur mit klaren Prinzipien: durch Westintegration und Wiederbewaffnung mehr Sicherheit und staatliche Souveränität in einem integrierten Europa und aus ei-nem starken Bündnis heraus die deutsche Wiedervereinigung. Und genügend Anknüpfungspunkte für seine »Politik der Stärke« gab es allemal.Vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts (1949 Machtübernahme der Kommunisten unter Mao Tse Tung in China, Beginn des Koreakrieges 1950) forderten die USA dringend die Wiederbewaffnung Deutschlands, und die Außenminister der drei Westmächte vereinbarten am 19.9.1950 – ganz im Sinne Ade-nauers – die Aufstellung einer europäische Armee (»Europäische Verteidigungsgemeinschaft«, EVG), die möglichst bald einer eu-ropäischen Regierung unterstellt sein sollte. Diese scheiterte al-lerdings am Widerstand der französischen Nationalversamm-lung.

Während die westeuropäische Gründung der »Gemeinschaft für Kohle und Stahl« (»Montan-Union« 18.04.1951) zur Verzahnung der europäischen Stahl- und Kohleindustrie noch breite Unter-stützung in der Öffentlichkeit in Deutschland und Frankreich fand, trafen schließlich die Pläne Adenauers zur Wiederbewaff-nung der Bundesrepublik im Rahmen der NATO nach dem Schei-tern der EVG so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweilig auf heftigen Widerstand der Deutschen, zumal – so die Befürchtung Kurt Schumachers – die Wiederbewaffnung den Gegensatz der Blöcke verstärke und die Wiedervereinigung blockiere.

»Stalin-Note« – verpasste Chance?

Der Widerstand gegen Adenauer wuchs weiter, als Stalin mit wie-derholten Noten (z. B. 9.4.1952) mit der deutschen Widervereini-gung unter demokratischen Vorzeichen lockte unter der Bedin-gung des Verzichts Gesamtsdeutschlands auf die vorgesehene Wiederbewaffnung. Der damalige Streitfall lässt sich heute nicht mehr klären. Immer-hin wäre das Opfer der Westmächte größer gewesen als das Sta-lins. Nüchtern betrachtet gab es vor dem Hintergrund des Kalten Krieges aus der Sicht der Westmächte keinen vernünftigen Grund, das industrielle und militärische Potential der Bundesrepublik zu neutralisieren anstatt es im Ost-West-Konflikt für sich einzuset-zen. Ob die Sowjetunion tatsächlich bereit gewesen wäre, die DDR und damit ein sicheres Pfand für ein unsicheres neutrales Deutschland aufzugeben, bleibt ebenso fraglich. Publizisten wie Paul Sethe, damals Mitherausgeber der FAZ, oder der Historiker Rolf Steininger kritisieren allerdings die Haltung Adenauers und sprechen von einer »verpassten Chance«. Sie – ähnlich wie Kurt Schumacher, SPD, 1952 und danach – machen Adenauer den Vor-wurf, die Ernsthaftigkeit der Stalin-Noten nicht überprüft zu ha-ben. Die deutsche Einheit von 1989/90 entlastet Adenauer in die-ser Argumentationskette nicht, zumal sie durch einen historischen Zufall möglich wurde und kein planbares und geplantes Ergebnis der Politik Adenauers sein konnte. Trotz der sowjetischen »Störmanöver« (Adenauer) wurde am 26.5.1952 in Bonn und ein Tag später in Paris der »Deutschland-vertrag« (»Generalvertrag«) unterzeichnet. Artikel 7 bestimmte als gemeinsames Ziel der Westmächte und der Bundesrepublik ein »wiedervereinigtes Deutschland«, eine demokratische Verfas-sung und die Integration Deutschlands in die europäische Ge-

Abb. 5 Plakat aus der DDR, 19.3. 1952, zum Angebot Stalins über einen Friedensvertrag mit Deutsch-land © Bundesarchiv Koblenz

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meinschaft. Die Frage der Ostgrenzen sollte in einem späteren Friedensvertrag geregelt werden. Adenauer wähnte sich am Ziel, aus einer »Politik der Stärke« her-aus mehr Souveränität erreicht zu haben. Adenauer pochte auf das Alleinvertretungsrecht der Bundesrepublik (»Hallstein-Dokt-rin«), die allein durch demokratische Wahlen legitimiert sei und der gleichsam selbstverständlich das »nicht-staatliche Gebilde DDR« eines Tages zufallen würde. Als allerdings am 30.8.1954 der EVG-Vertrag und damit das ge-samte Vertragspaket von der französischen Nationalversamm-lung mit Rücksicht auf nationale französische Interessen abge-lehnt wurden, war dies ein Schock nicht nur für Adenauer und die ganze Europa-Bewegung, sondern bremste die europäische Inte-gration dauerhaft.

Westintegration der BRD

Immerhin wurde für den gescheiterten EVG-Vertrag mit dem Bei-tritt zur NATO ein Ersatz gefunden, und das Ziel der Souveränität wurde mit dem revidierten Deutschlandvertrag auch weitgehend erreicht. Der Deutschlandvertrag war Teil der Pariser Verträge, die 1955 nach der Ratifizierung in Kraft traten:– Beitritt zur NATO und Gründung der Bundeswehr,– Beitritt zur WEU (erweiterter Brüsseler Pakt) verbunden mit Ver-

zicht auf Atomwaffen,– Saarstatut (Internationalisierung der Saar mit Referendum der

Bevölkerung im Saargebiet;1957 Entscheid für Deutschland statt Frankreich),

– Deutschlandvertrag (Souveränität minus), der das Besatzungs-statut ablöste, Botschafter statt Hoher Kommissare vorsah, Vorbehaltsrechte der westlichen Alliierten alle Fragen Gesamt-deutschland und den Viermächtestatus Berlins betreffend be-nannte, Anwesenheit alliierter Schutztruppen auf deutschem Boden sicherte.

Adenauers Botschaft, »Wir sitzen nun im stärksten Bündnis der Geschichte. Es wird uns die Wiedervereinigung bringen.«, stimmte nur für den ersten Teil der Aussage. Tatsächlich führte die fortschreitenden Westintegration seit 1948 zur fortschreiten-den Abgrenzung der SBZ, zur Gründung der DDR 1949, zum Bei-tritt der DDR zum RGW und 1955 zum Beitritt der DDR zum War-schauer Pakt. Mit dem Bau der Berliner Mauer ab 13.8.1961 war die Teilung einen weiteren großen Schritt vorangegangen. In der Frage der europäischen Integration gab es dank Adenauer deutliche Fortschritte, wenngleich die Hoffnungen auf ein »Ver-eintes Europa« nach der Ablehnung des EVG-Vertrages durch die französische Nationalversammlung von der Realität eingeholt wurden. Immerhin gründeten Frankreich, Deutschland, Italien und die drei Benelux-Länder die »Europäische Wirtschaftsge-meinschaft« (EWG), einem »Gemeinsamen Markt« mit dem etap-penweisen geplanten Abbau der Handels- und Zollschranken. Am 23.5.1957 unterzeichneten die sechs Partnerländer in Rom die Verträge zum »Gemeinsamen Markt« sowie zu einer »Atomge-meinschaft« für die friedliche Nutzung der Atomenergie (EURA-TOM). Die »Römischen Verträge« bleiben ein Meilenstein der eu-ropäischen Integration.

Literaturhinweise

Hacke, Christian (1993): Weltmacht wider Willen, Die Außenpolitik der Bun-desrepublik Deutschland, Frankfurt a. M./Berlin

Winkler, Heinrich August (2000): Der lange Weg nach West, Deutsche Geschichte II, Vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung, München-

Hillgruber, Andreas (1979): Europa in der Weltpolitik der Nachkriegszeit 1945–1963, München Wien.

Görtemaker, Manfred (1999): Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Von der Gründung bis zur Gegenwart, München.

Schwarz, Hans-Peter (2008): Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, Köln u. München.

Steininger, Rolf (1985): Eine Chance zur Wiedervereinigung? Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Darstellung und Dokumentation auf der Grundlage unveröffentlichter britischer und amerikanischer Akten, Bonn.

Herbert, Ulrich (2014): Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, Mün-chen.

Gasteyger, Curt (2006): Europa zwischen Spaltung und Eignung, Darstellung und Dokumentation 1945–2005, Bonn.

Internethinweise

www.60maldeutschland.de (Filmclips und Kommentare, 1949–2010)

Histoclips, lingua-video (SESAM) – Kurze Filmclips zu vielen Ereignissen der deutschen Geschichte

Film-Material: Die Welt im Kalten Krieg, Teil I, 1945–1961, rbv-medien (SESAM)

Abb. 6 Wahlplakat der CDU zur Bundestagswahl 1957, bei der sie die absolute Mehrheit der Stimmen erreichte. © akg images

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MATERIALIEN

M 1 Telegramm des britischen Premier-ministers Churchill an USA-Präsident Truman, 12. Mai 1945

Die Lage in Europa beunruhigt mich zutiefst. […] Die Zeitungen sind voll von Nachrichten über den massiven Abzug der amerikani-schen Armeen aus Europa hinaus. Auch un-sere Armeen dürften auf Grund früherer Be-schlüsse wesentlich reduziert werden. Die kanadische Armee zieht bestimmt ab. Die Franzosen sind schwach und schwer zu be-handeln. Es liegt offen zutage, dass unsere bewaffnete Macht auf dem europäischen Kontinent binnen kurzem dahinschwinden wird und dort nur noch bescheidene Kräfte zur Niederhaltung Deutschlands verbleiben. […] Ich habe mich stets um die Freundschaft der Russen bemüht; aber ihre falsche Ausle-gung der Jalta-Beschlüsse, ihre Haltung ge-gen Polen, ihr überwältigender Einfluss auf dem Balkan bis hinunter nach Griechenland, die uns von ihnen in Wien bereiteten Schwie-rigkeiten, die Verkoppelung ihrer Macht mit der Besetzung und Kontrolle so ungeheurer und weiter Gebiete, die von ihnen inspirierte, kommunistische Taktik in so vielen an-deren Ländern und vor allem ihre Fähigkeit, lange Zeit große Ar-meen im Felde stehen zu lassen, beunruhigen mich ebenso sehr wie Sie. (…) 3. Ein eiserner Vorhang ist vor ihrer Front niederge-gangen. Was dahinter vorgeht, wissen wir nicht. Es ist kaum zu bezweifeln, dass der gesamte Raum östlich der Linie Lübeck-Triest-Korfu schon binnen kurzem völlig in ihrer Hand sein wird. Zu all dem kommen noch die weiten Gebiete, die die amerikani-schen Armeen zwischen Eisenach und der Elbe erobert haben, die aber, wie ich annehmen muss, nach der Räumung durch Ihre Truppen in ein paar Wochen gleichfalls der russischen Macht-sphäre einverleibt sein werden.

© nach: Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke (Hrsg.), Weltkriege und Revolutionen 1914–1945, Geschichte in Quellen, S. 574f.

M 2 Amtliche Verlautbarung über die Konferenz der Alliier-ten (USA, UdSSR, GB) in Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945.

Am 17. Juli 1945 trafen sich der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Harry S. Truman, der Vorsitzende des Rates der Volkskommis-sare der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Generalissimus J. W. Stalin, und der Premierminister Großbritanniens, Winston S. Churchill sowie Herr Clement R. Attlee[…] Deutschland: Alliierte Armeen führen die Besetzung von ganz Deutschland durch und das deutsche Volk fängt an, die furchtba-ren Verbrechen zu büßen, die unter der Leitung derer, welche es zur Zeit ihrer Erfolge offen gebilligt hat und denen es blind ge-horcht hat, begangen wurden. Auf der Konferenz wurde eine Übereinkunft erzielt über die politischen und wirtschaftlichen Grundsätze der gleichgeschalteten Politik der Alliierten in Bezug auf das besiegte Deutschland in der Periode der alliierten Kont-rolle. […]Politische Grundsätze: Entsprechend der Übereinkunft über das Kontrollsystem in Deutschland wird die höchste Regierungsgewalt in Deutschland durch die Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika, des Vereinigten Königreichs, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Französischen Republik nach den Weisungen ihrer entsprechenden Regierungen

ausgeübt, und zwar von jedem in seiner Besatzungszone, sowie ge-meinsam in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Kontrollrates in den Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen. Soweit dieses praktisch durchführbar ist, muss die Behandlung der deutschen Bevölkerung in ganz Deutschland gleich sein. Die Ziele der Besetzung Deutschlands, durch welche der Kont-rollrat sich leiten lassen soll, sind: – Völlige Abrüstung und Entmilitarisierung Deutschlands und die

Ausschaltung der gesamten deutschen Industrie, welche für eine Kriegsproduktion benutzt werden kann oder deren Über-wachung. […]

– Die Nationalsozialistische Partei mit ihren angeschlossenen Gliederungen und Unterorganisationen ist zu vernichten; […]

– Die endgültige Umgestaltung des deutschen politischen Lebens auf demokratischer Grundlage und eine eventuelle friedliche Mitarbeit Deutschlands am internationalen Leben sind vorzu-bereiten. […]

– Kriegsverbrecher und alle diejenigen, die an der Planung oder Verwirklichung nazistischer Maßnahmen, die Gräuel oder Kriegs-verbrechen nach sich zogen als Ergebnis hatten, teilgenommen haben, sind zu verhaften und dem Gericht zu übergeben. […]

– In ganz Deutschland sind alle demokratischen politischen Par-teien zu erlauben und zu fördern […]

– Bis auf Weiteres wird keine zentrale deutsche Regierung errich-tet werden. Jedoch werden einige wichtige zentrale deutsche Verwaltungsabteilungen errichtet werden, an deren Spitze Staatssekretäre stehen, und zwar auf den Gebieten des Finanz-wesens, des Außenhandels und der Industrie. Diese Abteilungen werden unter der Leitung des Kontrollrates tätig sein. […]

– Während der Besatzungszeit ist Deutschland als eine wirt-schaftliche Einheit zu betrachten. […]

Reparationen aus Deutschland: In Übereinstimmung mit der Entscheidung der Krimkonferenz, wonach Deutschland gezwun-gen werden soll, in größtmöglichem Ausmaß für die Verluste und die Leiden, die es den Vereinten Nationen verursacht hat, und wo-für das deutsche Volk der Verantwortung nicht entgehen kann, Ausgleich zu schaffen, wurde folgende Übereinkunft über Repa-rationen erreicht: 1. Die Reparationsansprüche der UdSSR sollen durch Entnah-

men aus der von der UdSSR besetzten Zone in Deutschland und durch angemessene deutsche Auslandsguthaben befrie-digt werden.

M 3 Potsdamer Konferenz, Schloss Cecilienhof in Potsdam, 17. Juli – 2. August 1945. Die drei Alliierten fassten Beschlüsse über die Behandlung des besiegten und besetzten Deutschland. – von links: der britische Premier Winston Churchill, US-Präsident Harry S. Truman und der sowjetische Staats- und Parteichef Josef Stalin. © akg images

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2. Die UdSSR wird die Repa-rationsansprüche Polens aus ihrem eigenen Anteil an den Reparationen be-friedigen. […]

4. In Ergänzung der Repara-tionen, die die UdSSR aus ihrer eigenen Besatzungs-zone erhält, wird die UdSSR zusätzlich aus den westlichen Zonen erhal-ten: […]

Ordnungsgemäße Überfüh-rung deutscher Bevölke-rungsanteileDie Konferenz erzielte fol-gendes Abkommen über die Ausweisung Deutscher aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn: Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Ge-sichtspunkten beraten und erkennen an, dass die Über-führung der deutschen Be-völkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Un-garn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchge-führt werden muss. Sie stim-men darin überein, dass jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ord-nungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll. […]Die Häupter der drei Regie-rungen stimmen darin über-ein, dass bis zur endgültigen Festlegung der Westgrenze Polens die früher deutschen Gebiete östlich der Linie, die von der Ostsee unmittelbar westlich von Swinemünde und von dort die Oder ent-lang bis zur Einmündung der westlichen Neiße und der westlichen Neiße entlang bis zur tschechoslowakischen Grenze verläuft, einschließlich des Teiles Ostpreußens, der nicht unter die Verwaltung der Union der Sozialistischen Sowjetrepub-liken gestellt wird und einschließlich des Gebiets der früheren Freien Stadt Danzig, unter die Verwaltung des polnischen Staates kommen und in dieser Hinsicht nicht als Teil der sowjetischen Be-satzungszone in Deutschland betrachtet werden sollen.

© nach: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland. Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 13–20, zitiert nach Wanda Kampmann und Berthold Wiegand (Hrsg.)(1980):Politik und Gesellschaft, Grundlage und Probleme der modernen Welt, Frankfurt/M.

M 4 Memoiren des us-amerikanischen Diplomaten George F. Kennan zur Situation im Sommer 1945

»Die Idee, Deutschland gemeinsam mit den Russen regieren zu wollen, ist ein Wahn. Ein ebensolcher Wahn ist es, zu glauben, die Russen und wir könnten uns eines schönen Tages höflich zurück-

ziehen und aus dem Vakuum werde ein gesundes und friedliches, stabiles und freundliches Deutschland steigen. Wir haben keine andere Wahl, als unseren Teil von Deutschland – den Teil, für den wir und die Briten die Verantwortung haben – zu einer Form von Unabhängigkeit zu führen, die so befriedigend, so gesichert, so überlegen ist, dass der Osten sie nicht gefährden kann. Das ist eine gewaltige Aufgabe für Amerikaner. Aber sie lässt sich nicht umgehen; und hierüber, nicht über undurchführ-bare Pläne für eine gemeinsame Militärregierung, sollten wir uns Gedanken machen. Zugegeben, dass das Zerstückelung bedeu-tet. Aber die Zerstückelung ist bereits Tatsache, wegen der Oder-Neiße-Linie. Ob das Stück Sowjetzone wieder mit Deutschland verbunden wird oder nicht, ist jetzt nicht wichtig. Besser ein zer-stückeltes Deutschland, von dem wenigstens der westliche Teil als Prellblock für die Kräfte des Totalitarismus wirkt, als ein ge-eintes Deutschland, das diese Kräfte wieder bis an die Nordsee vorlässt.

© Kennan, George F. (1982): Memoiren eines Diplomaten, München, S. 264

M 5 Flucht, Vertreibungen und Umsiedlungsprozesse infolge des Krieges (1945–1950) © AFDEC, Èditions Nathan, 2014, Paris, in: Klett (Hrsg.)(2006): Deutsch-französisches Geschichtsbuch. Geschichte. Europa und die

Welt seit 1945. Stuttgart/ Leipzig 2006, S. 13E

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M 6 Rede des amerikanischen Präsiden-ten Truman vor beiden Häusern des Kongresses, 12. März 1947

Es ist eines der Hauptziele der Außenpolitik der Vereinigten Staaten, Bedingungen zu schaffen, die es uns und anderen Nationen ermöglichen, eine Lebensform zu gestalten, die frei ist von Zwang. Hauptsächlich um die-sen Punkt ging es in dem Krieg gegen Deutschland und Japan. Unser Sieg wurde über Länder errungen, die versuchten, ande-ren Nationen ihren Willen und ihre Lebens-form aufzuzwingen. […] In jüngster Zeit wur-den den Völkern einer Anzahl von Staaten gegen ihren Willen totalitäre Regierungsfor-men aufgezwungen. Die Regierung der Verei-nigten Staaten hat immer wieder gegen den Zwang und die Einschüchterungen in Polen, Rumänien und Bulgarien protestiert, die eine Verletzung der Vereinbarungen von Jalta dar-stellen. (…) Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Weltgeschichte muss fast jede Nation zwischen alternativen Lebensformen wählen. Nur zu oft ist diese Wahl nicht frei. Die eine Lebensform gründet sich auf den Willen der Mehrheit und ist gekennzeichnet durch freie Institutionen, repräsentative Regierungs-form, freie Wahlen, Garantien für die persön-liche Freiheit, Rede- und Religionsfreiheit und Freiheit von politischer Unterdrückung. Die andere Lebensform gründet sich auf den Willen einer Minderheit, den diese der Mehr-heit gewaltsam aufzwingt. Sie stützt sich auf Terror und Unterdrückung, auf die Zensur von Presse und Rundfunk, auf manipulierte Wahlen und auf den Entzug der persönlichen Freiheiten. Ich glaube, es muss die Politik der Vereinigten Staaten sein, freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck wider-setzen. Ich glaube, wir müssen allen freien Völkern helfen, damit sie ihre Geschicke auf ihre eigene Weise selbst bestimmen kön-nen. Unter einem solchen Beistand verstehe ich vor allem wirt-schaftliche und finanzielle Hilfe, die die Grundlage für wirtschaft-liche Stabilität und geordnete politische Verhältnisse bildet. […] Die freien Völker der Welt rechnen auf unsere Unterstützung in ihrem Kampf um die Freiheit. Wenn wir in unserer Führungsrolle zaudern, gefährden wir den Frieden der Welt – und wir schaden mit Sicherheit der Wohlfahrt unserer eigenen Nation.

© nach: Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke (Hrsg.): Die Welt seit 1945, a. a. O., S. 576

M 7 Die NATO: North Atlantic Treaty Organization (1949)

Der Nordatlantik-Pakt wurde am 4. April 1949 in Washington von 12 Mächten (Belgien, Kanada, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Is-land, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal, Vereinigte Staaten) unterzeichnet. Griechenland und die Türkei traten dem Pakt am 18. Februar 1952, die Bundesrepublik Deutschland am 9. Mai 1955 bei. Präambel: Die vertragschließenden Parteien erklären von neuem ihren Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Ver-einten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und allen Regierungen in Frieden zu leben. Sie sind entschlossen, die Frei-heit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker zu si-chern, die sich auf die Grundsätze der Demokratie, der individuel-len Freiheit und der Herrschaft des Rechts begründet. Im Streben nach Förderung der Stabilität und Wohlfahrt im Gebiete des nörd-

lichen Atlantik haben sie deshalb beschlossen, ihre Bemühungen mit dem Ziel der kollektiven Verteidigung zur Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinigen und einigen sich da-her auf den folgenden nordatlantischen Vertrag. Artikel 5: Die vertragschließenden Parteien sind sich darüber ei-nig, dass ein bewaffneter Angriff auf eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle betrach-tet werden soll, und demzufolge haben sie sich dahin geeinigt, dass jede von ihnen im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs in Ausübung des Rechts auf Selbstverteidigung einzelner oder mehrerer Staaten, wie es durch Artikel 51 der Satzung der Verein-ten Nationen anerkannt wird, der Partei oder den Parteien, die derart angegriffen werden, beistehen wird, indem sie unverzüg-lich, einzeln oder in Übereinstimmung mit anderen Teilnehmern, diejenigen Maßnahmen ergreift, die sie für notwendig hält – ein-schließlich der Anwendung von Waffengewalt –, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und aufrecht-zuerhalten. (…)

© nach: W. Lautemann/M. Schlenke (Hrsg.), Die Welt seit 1945, a. a. O., S. 464f. k

M 9 Besatzungsstatut zur Abgrenzung der Befugnisse und Verantwortlichkeiten zwischen der zukünftigen deut-schen Regierung und der Alliierten Kontrollbehörde vom 10. Mai 1949

In Ausübung der obersten Gewalt, welche die Regierungen Frank-reichs, der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs beibehalten, proklamieren wir, […] hiermit gemeinsam das fol-gende Besatzungsstatut: […] 2. Um sicherzustellen, dass die Grundziele der Besetzung erreicht werden, bleiben auf folgenden Gebieten Befugnisse ausdrücklich vorbehalten, einschließlich

M 8 NATO-Gründung am 4 April 1949 in Washington: North Atlantic Treaty Organization (NATO). Bereits mit dem Brüsseler Vertrag vom 17. März 1948 schlossen sich die westeuropäischen Länder Frankreich, das Vereinigte Königreich von Großbritannien, die Niederlande, Belgien und Luxem-burg zu einem Bündnis für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit sowie zur kol-lektiven Selbstverteidigung zusammen. Dieses Bündnis war ursprünglich noch als Versicherung gegen eine eventuelle erneute deutsche Aggression vorgesehen. Mit der Berlin-Blockade und dem Februarumsturz in der Tschechoslowakei 1948 rückte eine mögliche kommunistische Bedrohung durch den von der Sowjetunion angeführten Ostblock ins Blickfeld. © dpa, picture alliance

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Page 31: Deutschland und Europa nach 1945

des Rechts, Auskünfte und Statistiken, welche die Besatzungsbe-hörden benötigen, anzufordern und nachzuprüfen: a) Die Abrüs-tung und Entmilitarisierung, einschließlich der damit zusammen-hängenden Gebiete der wissenschaftlichen Forschung, die Verbote und Beschränkung der Industrie und die zivile Luftfahrt; b) die Kontrollen hinsichtlich der Ruhr, die Restitutionen, die Re-parationen, die Dekartellisierung, die Entflechtung, die Handels-diskriminierungen, die ausländischen Interessen in Deutschland und die Ansprüche gegen Deutschland; c) auswärtige Angelegen-heiten, einschließlich internationaler Abkommen, die von Deutschland oder für Deutschland abgeschlossenen werden; d) kriegsversprengte Personen (displaced persons) und Zulassung von Flüchtlingen; e) Schutz, Ansehen und Sicherheit der alliierten Streitkräfte, Angehörigen, Angestellten und Vertreter, deren Vor-rechte, sowie die Deckung der Kosten der Besatzung und ihrer anderen Anforderungen; f) die Beachtung des Grundgesetzes und der Länderverfassungen; g) die Kontrolle über den Außen-handel und Devisenverkehr; […] Dem Parlamentarischen Rat in Bonn mit einer Note übermittelt am 10. April 1949.

© Amtsblatt der Alliierten Hohen Kommission in Deutschland, Nr. 1, S. 13ff.

M 10 Regierungserklärung des Bundeskanzlers Konrad Ade-nauer, CDU, vom 20. September 1949

Ich habe eben gesagt, wir wünschen möglichst bald in die Euro-päische Union aufgenommen zu werden. Wir werden gerne und freudig an dem großen Ziel dieser Union mitarbeiten. Ich weise darauf hin, dass wir in unserer Bonner Verfassung im Artikel 24 für den Bund die Möglichkeit vorgesehen haben, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen und sich zur Wahrung des Friedens im System gegenseitiger kollektiver Si-cherheit einzuordnen. Es heißt dann in diesem Artikel weiter: »Der Bund wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.« Ich glaube, dass unser Grundgesetz damit die fortschrittlichste aller Verfassungen ist. Wir sind entschlossen, alles zu tun, was in unserer Kraft steht, um den in diesem Artikel vorgezeichneten Weg zur Sicherung des Friedens in Europa und in der Welt zu ge-hen. Wenn ich vom Frieden in der Welt und in Europa spreche, dann, meine Damen und Herren, muss ich auf die Teilung Deutschlands zurückkommen. Die Teilung Deutschlands wird ei-nes Tages – das ist unsere feste Überzeugung – wieder verschwin-den. (…) Diese Teilung Deutschlands ist durch Spannungen her-beigeführt worden, die zwischen den Siegermächten entstanden sind. Auch diese Spannungen werden vorübergehen. Wir hoffen, dass dann der Wiedervereinigung mit unseren Brüdern und Schwestern in der Ostzone und in Berlin nichts mehr im Wege steht. […]

© nach: Die großen Regierungserklärungen von Adenauer bis Schmidt. Eingeleitet und kommen-tiert von Klaus von Beyme, (1979): München/Wien, S. 53–73

M 11 Rede von Kurt Schumacher über die Sozial-demokratie im Kampf um Deutschland und Europa (Hamburg, 21.–25. Mai 1950):

Verehrte Gäste, liebe Genossinnen und Genossen!(…) Die (deutsche) Einheit aber, Genossinnen und Genossen, ist etwas, das weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinausgeht; es umfasst die sowjetische Besatzungszone, Berlin, die Gebiete östlich der Oder und Neiße und das Saargebiet. (Beifall.) […]Hier möchte ich eine grundsätzliche Bemerkung machen. Die heutige Zerreißung Deutschlands ist nicht nur eine nationale Schwächung der Deutschen. Die Illusion, dass ein geteiltes Deutschland ein leicht beherrschbares und ungefährliches

Deutschland sei, geht allmählich auch bei den Opportunitätspo-litikern und bei den Alliierten zurück. Ein geteiltes Deutschland ist doch ein geteiltes Europa und eine geteilte Welt, mit all den wunden Stellen und Krankheitsherden, die eine solche Zerrei-ßung mit sich bringt. Die Teilung Deutschlands ist ein Unglück für Europa und die Welt, und die Einheit Deutschlands ist die Aufgabe der Demokratie in Europa und der Welt. (Starker Beifall.) Ohne die berechtigten Ansprüche der Alliierten und der überfallenen und ausgeplünderten Völker Europas auch nur mit einem Wort be-streiten zu wollen, müssen wir sagen, jetzt kommt allmählich die Erkenntnis zustande: Eine bloße antideutsche Politik ist eine anti-europäische Politik. (Sehr gut.) […] Die Zugehörigkeit zu Europa steht für die große Mehrzahl der Deutschen, außer den Kommu-nisten und extremen Nationalisten, außerhalb jeder Diskussion. […] Ja, wir bejahen diesen Staat, in dem wir jetzt leben, als Aus-gangspunkt einer höheren nationalen Einheit, und wir bejahen diese höhere nationale Einheit als Ausgangspunkt für eine noch höhere internationale Verbindung. (Beifall.) […] Nun sagen unsere Kritiker, die Sozialdemokratie sei negativ. Jawohl, die Sozialde-mokratie hat »Nein« gesagt, aber immer war es zu gleicher Zeit ein realistisches, positives, durchdachtes »Ja«. Sie hat Nein ge-sagt zur Oder-Neiße-Linie. (Beifall.) […] Und die Sozialdemokratie hat Nein gesagt zu dem Ersatz-Europa von Straßburg, unter den Modalitäten der Heranziehung des Saargebietes. Sie sagte damit Nein zu allen konservativ-, klerikal-, kapitalistisch-kartellisti-schen Versuchen, ein Europa zu schaffen, das aus seiner kapitalis-tischen Struktur und seinem Mangel an Demokratismus und sozi-aler Potenz ein leichtes Opfer des östlichen Ansturms wäre.

© nach: www.endstation-rechts.de/news/kategorie/politik/artikel/die-spd-deutsch-land-und-europa-auszuege-aus-einer-rede-kurt-schumachers.html

M 12 Der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher am Rednerpult während einer Großkundgebung. Zwischen den Weltkriegen war Schumacher als Redakteur tätig und vertrat die SPD im württembergischen Landtag sowie im Reichstag. Politisch verfolgt saß er zwischen 1933 und Kriegs-ende fast ununterbrochen in Konzentrationslagern. Im Mai 1946 wurde er von den SPD-Mitgliedern der drei Westzonen zum ersten Vorsitzenden gewählt. Unermüdlich griff er die Adenauer-Regierung an. Zu seinen Hauptkritikpunkten zählten die Demontagen, das Saarproblem, der Ein-tritt in den Europarat, die Bildung der Montanunion sowie – in beson-ders scharfen Debatten – die Wehrfrage. Er verstarb am 20. August 1952 in Bonn an den Folgen einer akuten Kreislaufstörung © dpa, picture alliance, Aufnahme um 1948

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M 13 Bericht des US-Verteidigungsministers Johnson an den Nationalen Sicherheitsrat. Washington, 8.6.1950, Streng geheim!

[…] Am 2. Mai 1950 gaben die Vereinigten Stabschefs die folgende Stellungnahme zur Deutschlandpolitik ab:»Die vereinigten Stabschefs sind der festen Überzeugung, dass aus militärischer Sicht die angemessene und frühe Wiederbewaff-nung Westdeutschlands von grundlegender Bedeutung für die Verteidigung Westeuropas gegen die UdSSR ist. Um sicherzustel-len, dass die Arbeitskraft und die Rohstoffe des deutschen Volkes eine Quelle der konstruktiven Stärke für die freie Welt werden, anstatt wiederum zu einer Bedrohung – allein oder gar gemein-sam mit der UdSSR-, sollte die gegenwärtige Politik der Abrüs-tung und Entmilitarisierung im Hinblick auf Westdeutschland geändert werden. Den Westdeutschen sollte so schnell wie mög-lich die (…) Gelegenheit gegeben werden, sich an regionalen Ver-einbarungen Westeuropas und der Nord-Atlantik-Staaten zu be-teiligen.

© nach: Erst-Otto Czempiel, Carl-Christoph Schweitzer (1989): Weltpolitik der USA nach 1945. Einführung und Dokumente. Bonn. S. 115

M 14 Zweite Note der sowjetischen Regierung an die West-mächte über den Friedensvertrag mit Deutschland vom 9. April 1952

Im Zusammenhang mit der Note der Regierung der Vereinigten Staaten vom 25. März dieses Jahres erachtet es die Sowjetregie-rung für notwendig, folgendes zu erklären: In ihrer Note vom 10. März 1952 hat die Sowjetregierung der Regierung der Verei-nigten Staaten sowie den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs vorgeschlagen, unverzüglich die Frage eines Frie-densvertrages mit Deutschland zu erörtern, um in unmittelbarer Zukunft einen vereinbarten Entwurf für einen Friedensvertrag vorzubereiten. Zur Erleichterung der Vorbereitung des Friedens-vertrages hat die Sowjetregierung einen Entwurf der Grundlagen des Friedensvertrages mit Deutschland unterbreitet und ihr Ein-verständnis erklärt, auch beliebige andere Vorschläge zu erör-tern. Die Sowjetregierung hat dabei den Vorschlag gemacht, dass der Friedensvertrag unter unmittelbarer Beteiligung Deutsch-lands, vertreten durch eine gesamtdeutsche Regierung, ausgear-beitet werden soll. In der Note vom 10. März wurde weiterhin vor-gesehen, dass die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich, die Besatzungsfunktionen in Deutschland ausüben, die Frage der Voraussetzungen für die möglichst baldige Bildung einer gesamtdeutschen, dem Willen des deutschen Volkes Ausdruck verleihenden Regierung prüfen sollen. […] In Übereinstimmung hiermit erachtet es die Sowjetre-gierung für notwendig, dass die Regierungen der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs ohne Verzug die Frage der Durchführung freier gesamtdeutscher Wah-len erörtern, wie sie dies bereits früher vorgeschlagen hat. Die Anerkennung der Notwendigkeit der Durchführung freier ge-samtdeutscher Wahlen durch die Regierungen der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs schafft durchaus die Möglichkeit, diese Wahlen in unmittelbarer Zukunft durchzuführen. […] »Deutschland verpflichtet sich, keinerlei Koa-litionen oder Militärbündnisse einzugehen, die sich gegen ir-gendeinen Staat richten, der mit seinen Streitkräften am Kriege gegen Deutschland teilgenommen hat.« Die Sowjetregierung ist der Ansicht, dass ein solcher Vorschlag den Interessen der Mächte, die Besatzungsfunktionen in Deutschland ausüben, sowie auch der Nachbarstaaten und gleichermaßen den Interessen Deutsch-lands selber als eines friedliebenden und demokratischen Staates entspricht. Ein solcher Vorschlag enthält keine unzulässige Be-schränkung der souveränen Rechte des deutschen Staates. Die-ser Vorschlag schließt jedoch auch eine Einbeziehung Deutsch-

lands in eine gegen irgendeinen friedliebenden Staat gerichtete Mächtegruppierung aus.In dem sowjetischen Entwurf eines Friedensvertrages mit Deutschland heißt es: »Es wird Deutschland gestattet sein, eigene nationale Streit-kräfte (Land-, Luft- und Seestreitkräfte) zu besitzen, die für die Verteidi-gung des Landes notwendig sind.« […] Was die Grenzen Deutschlands betrifft, so hält die Sowjetregierung die entsprechenden Beschlüsse der Potsdamer Konferenz, die von der Regierung der Vereinigten Staaten ebenso wie von den Regierungen der Sowjetunion und Großbritannien angenommen wurden und denen Frankreich sich anschloss, für vollauf ausreichend und für endgültig. […]

© nach: Europa-Archiv, 1952, 1, S. 4866f., www.hdg.de/lemo/html/dokumente/JahreDesAufbausInOstUndWest_schreibenZweiteStalinNote/

M 16 Adenauers Rede vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU in Siegen, 16. März 1952

Es gibt drei Möglichkeiten für Deutschland: Den Anschluss an den Westen, Anschluss an den Osten und Neutralisierung. Die Neut-ralisierung aber bedeutet für uns die Erklärung zum Niemands-land. Damit würden wir zum Objekt und wären kein Subjekt mehr. Ein Zusammenschluss mit dem Osten aber kommt für uns wegen der völligen Verschiedenheit der Weltanschauungen nicht in Frage […] Die Sowjetnote schlägt vor, dass eine gesamtdeutsche Regierung geschaffen wird. Eine gesamtdeutsche Regierung kann aber nur geschaffen werden auf Grund gesamtdeutscher

M 15 DDR-Plakat zur Stalin-Note 1952: Der sowjetische Staats- und Partei-chef Stalin hatte den West-Alliierten und der Bundesrepublik Deutsch-land 1952 angeboten, die deutsche Einigung zu ermöglichen, wenn Gesamtdeutschland auf eine Wiederbewaffnung verzichten und politi-sche Neutralität im Ost-West-Konflikt akzeptieren würde. © Bundesarchiv Koblenz

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und freier Wahlen! Morgen wird die UNO-Kommission, die die Vo-raussetzungen für die Abhaltung freier Wahlen bei uns und in der Sowjetzone prüfen soll, in Bonn eintreffen. Ich habe den dringen-den Wunsch, dass die Sowjetregierung gefragt wird: »Wirst du bereit sein, die UNO-Kommission in der Sowjetzone und in Berlin zuzulassen?« Aus der Antwort hierauf wird man seine Schlüsse zie-hen können […] Und nun lassen Sie mich noch ein Wort zu dieser Sowjetnote sagen: Im Grunde genommen bringt sie wenig Neues. Abgesehen von einem starken nationalistischen Einschlag will sie die Neutralisierung Deutschlands und sie will den Fortschritt in der Schaffung der europäischen Verteidigungsgemeinschaft und in der Integrität von Europa verhindern. Es soll sich aber kein Deutscher dadurch täuschen lassen, dass die Sowjetregierung ei-nem Gesamtdeutschland eine eigene Wehrmacht zubilligen wird. Seit 1940 ist die Entwicklung in der Waffentechnik so ungeheuer fortgeschritten, dass Deutschland gar nicht in der Lage ist, die Einheiten einer Wehrmacht mit modernen Waffen auszustatten. Es ist dazu nicht in der Lage, weil ihm die nötigen Fabrikations- und Forschungsstätten fehlen und weil es auch nicht die erforder-lichen Geldmittel aufbringen kann. Es gehören ungeheure Sum-men dazu, auch nur einige Divisionen auszurüsten, Mittel, an die wir gar nicht denken können, und deshalb ist dieser Teil der sow-jetrussischen Note weiter nichts als Papier und sonst gar nichts! […] Wir wollen, dass der Westen so stark wird, dass er mit der So-wjetregierung in ein vernünftiges Gespräch kommen kann, und ich bin fest davon überzeugt, dass diese letzte sowjetrussische Note ein Beweis hierfür ist. Wenn wir so fortfahren, wenn der Westen unter Einbeziehung der Vereinigten Staaten so stark ist, wie er stark sein muss, wenn er stärker ist, als die Sowjetregie-rung, dann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die Sowjetregie-rung ihre Ohren öffnen wird. Das Ziel eines vernünftigen Ge-sprächs zwischen Westen und Osten aber wird sein: Sicherung des Friedens in Europa, Aufhören von unsinnigen Rüstungen, Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit und eine Neuord-nung im Osten.

© nach: Siegener Zeitung, 17. März 1952. www.konrad-adenauer.de/dokumente/reden/rede-eak

M 17 Gustav Heinemann, SPD, über Wiederbewaffnung und Westintegration

Vor allem ist es objektiv widersinnig, die deutsche Einheit durch Eingliederung Westdeutschlands in den Westblock zu suchen. Westdeutsche Aufrüstung wird den Eisernen Vorhang dichter schließen. Die Deutschen in der Sowjetzone haben Kriegs- und Rüstungsdienst für die Sowjetunion als Antwort auf unsere Einglie-derung in den Westblock zu erwarten. Ein Keil wird den anderen treiben, mit dem Ergebnis, dass eine friedliche Widervereinigung Deutschlands immer aussichtsloser wird. Und auf der anderen Seite sollten uns die heute schon unausgesetzt vorgetragenen Be-sorgnisse der Westmächte, sonderlich Frankreichs, gegenüber einer zu stark werdenden westdeutschen Bundesrepublik endlich darüber belehren, dass diese Partner kein Interesse daran haben, mit uns den Weg zu einem Deutschland zu suchen und zu gehen, welches auch den deutschen Osten umfassen wird. Auch die Spal-tung Deutschlands ist eine Lösung der Deutschlandfrage. Sie ist es für alle diejenigen, welche bei einer Wiedervereinigung Deutschlands ihre gegenwärtigen Positionen in Frage gestellt se-hen oder gar von vornherein verloren geben müssen. Wenn wir uns die Befürworter der kleineuropäisch-westdeutschen Lösung dar-aufhin ansehen, so wird manches sehr nachdenklich machen. Da-rüber werden auch keine Deklarationen hinwegführen, die etwa jetzt im Zusammenhang mit einer Eingliederung der Bundesrepu-blik abgegeben werden. Wir stehen hier vor einer bündigen Alter-native: Die Einheit Deutschlands wird nur dann wieder zustande kommen, wenn sich West- und Ostdeutschland nicht in den Block-bildungen der Weltmächte verlieren.

Das andere Argument lautet: Deutschland kann nicht neutral bleiben, sonst wird es ein Opfer des Bolschewismus. Mit diesem Argument soll abgefangen werden, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands uns in militärischer Hinsicht zwangsläufig in eine Mittelstellung zwischen Ost und West bringen wird. (…) Wenn Westdeutschland nicht aufrüstet, entsteht noch lange kein neut-ralisiertes Deutschland. Wohl aber werden alle die Gefahren ver-mieden, welche mit westdeutscher Aufrüstung verbunden sind. Auch eine gesamtdeutsche Regierung bedeutet noch keine Neut-ralisierung. Deutschland könnte auch unter einer gesamtdeut-schen Regierung zunächst noch ein besetztes Land sein, so wie Österreich unter einer gesamtösterreichischen Regierung immer noch ein besetztes Land ist. (…) Erst wenn Deutschland von allen Besatzungsmächten geräumt wird, entsteht die Frage seines Schutzes gegen eine Antastung seiner Ordnung oder seines Ge-bietes. Es muss schon eine große Entspannung des Weltkonflik-tes eingetreten sein, ehe die vier Besatzungsmächte sich über eine gemeinsame Räumung Deutschlands verständigen. Dann aber sieht ohnehin alles nicht mehr so beängstigend aus wie heute. (…)

© nach: S Heinemann, G. W., Verfehlte Deutschlandpolitik. Irreführung und Selbsttäu-schung. Artikel und Reden. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1969, S. 25ff.; zit. nach: Wilmes, H., Mate-rialien zum Kursunterricht Geschichte, 2. Aufl. Köln 1999, S. 340f

M 18 Der Bundestagsabgeordnete Dr. Gustav Heinemann sprach am 19. April 1958 in Frankfurt am Main auf einer Kundgebung der SPD. Rund 4000 Menschen nahmen an der Veranstaltung teil, die unter dem Motto »Atomrüstung ist ein tödliches Experiment« stand. Gustav Heinemann war 1949–1950 Bundesinnenminister, CDU, 1952 Mitbegründer der GVP (Gesamtdeutsche Partei). 1957 erfolgte sein Übertritt zur SPD, 1969–1974 war Heinemann erster Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, den die SPD nach 1949 stellte. © dpa, picture alliance

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EUROPA NACH 1945

4. Die Sowjetisierung Osteuropas und Ostdeutschlands

HERBERT KOHL

Als Lenin und die Bolschewiki 1917 die Macht übernahmen, waren sie davon überzeugt, dass

der im russischen Zarenreich eingetretene revolu-tionäre Prozess auf die anderen europäischen Staaten übergreifen und anschließend die ganze Welt erfassen würde. Die 1920er Jahre zeigten je-doch, dass die Idee einer proletarischen Weltrevo-lution eine Illusion bleiben sollte. Mehr noch: Das Gegenteil der von den Bolschewiki verkündeten Vision trat ein. Zunehmend setzten sich in den west- und mitteleuropäischen Staaten antikom-munistische, rechtsgerichtete Regierungen mit autoritären und faschistischen Ideologien durch. Stalin, der die Parole vom »Sozialismus in einem Land« ausgegeben hatte, ging daher in den dreißi-ger Jahren zu einer Außenpolitik der »kollektiven Sicherheit« über und schuf ein Netz von Verträgen, das die Sowjetunion aus der lange geübten Isola-tion holen sollte. Auch der von vielen Zeitgenossen als kaum begreiflich empfundene deutsch-sowje-tische Nichtangriffspakt des Jahres 1939, der zur Aufteilung Polens und anderer osteuropäischer Gebiete unter den beiden Diktatoren führte, ist in diese pragmatisch orientierte Strategie der Frie-denssicherung einzuordnen. Der Zweite Weltkrieg, von Hitler als Vernichtungskrieg gegen den Bol-schewismus geplant, gab der Sowjetunion als Sie-germacht die Möglichkeit, ihr politisches System in ganz Ost- und Südosteuropa zu verbreiten und zur Super-macht aufzusteigen.

USA und UdSSR: Von der Kooperation zur Konfrontation

Im März 1946 sprach Winston Churchill, der im Jahr zuvor als Pre-mierminister die britischen Unterhauswahlen verloren hatte, in seiner berühmt gewordenen Fultoner Rede in den USA zum ersten Mal öffentlich vom »eisernen Vorhang«, der über dem europäi-schen Kontinent zwischen Ostsee und Adria niedergegangen sei. Aus den Staaten der ehemaligen Anti-Hitler-Koalition, den USA, Großbritannien und der UdSSR waren Gegner geworden, die nun – jeder auf seine Weise – versuchten, ihren Einfluss in den neu entstehenden Machtblöcken zu sichern. Russland, so Churchill in seiner Rede, wolle zwar nicht den Krieg, aber die Ausdehnung sei-ner Macht und die Verbreitung seiner Doktrin. Bereits kurz nach Kriegsende prägte man für diesen Zustand den Begriff des »Kal-ten Krieges«. Dabei waren nicht nur innereuropäische, sondern auch globale Kräfte wirksam. Als die Sowjetunion versuchte, ih-ren Einfluss auf Persien, die Türkei und Griechenland auszudeh-nen und Forderungen nach Stützpunkten im ehemals italienisch beherrschten Libyen erhob, antwortete Washington mit der »Containment«-Politik (Eindämmungspolitik), auch bekannt als Truman-Doktrin. Harry S. Truman hatte nach dem Tod Roosevelts 1945 die US-Präsidentschaft übernommen. Im Gegenzug formu-lierte Andrei Shdanow, ein ranghoher KPdSU-Funktionär, die »Zwei-Lager-Theorie«, nach der sich nun auf der Welt zwei feindli-che Lager unversöhnlich gegenüberstünden, das »imperialisti-sche und antidemokratische« unter Vorherrschaft der USA und das »antiimperialistische und demokratische« unter Führung der Sowjetunion.

Abb. 2 Potsdamer Konferenz der drei Siegermächte des Zweiten Weltkrieges vom 17.7. bis 2.8.1945. Winston Churchill (GB), George Truman (USA, Präsident F. D. Roosevelt war kurz zuvor gestorben) und Stalin (UdSSR) vor dem Schloss Cecilienhof, dem Konferenzgebäude in Potsdam. Aufnahme Ende Juli 1945. Später wird Churchill wegen der Wahlen in GB durch Clement Attlee (Labour-Party) ersetzt. © dpa, picture alliance

Abb. 1 »Entwurf für ein Siegerdenkmal«. Karikatur in der Schweizer Illustrier-ten vom 11.4.1945. Auf dem »Pferd« links Stalin, rechts F. D. Roosevelt und Chur-chill. Die Schlange trägt die Gesichtszüge von Adolf Hitler. Die Konferenz der drei Alliierten von Jalta lag gerade erst zwei Monate zurück und die Potsdamer Kon-ferenz fand von Juli bis August 1945 statt. © René Gilsi, Kantonsbibliothek Vadiana, St. Gallen, ProLitteris, ursprünglich:

Schweizer Illustrierte, 1945

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In aller Deutlichkeit zeigte sich die globale Dimension des Ost-West-Konflikts in der von Moskau unterstützten kommunistischen Macht-übernahme in China im Jahr 1949 und im 1950 beginnen-den Koreakrieg. Auch in der Wirtschaftspolitik taten sich Gräben auf. Die Sowjetunion trat dem nach der Konferenz von Bretton Woods im Juli 1944 gegründeten Internatio-nalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank nicht bei, ebenso verweigerte sie 1947 den im Welthandelsabkom-men GATT (General Agree-ment on Tariffs and Trade) getroffenen Absprachen ihre Zustimmung. Im selben Jahr untersagte sie ihren neuen Verbündeten in Osteuropa, vor allem Polen und der Tschechoslowakei, Gelder aus dem Marshall-Plan, einem groß angelegten US-Hilfspro-gramm zum Wiederaufbau Europas, anzunehmen. Neben den machtpolitischen, gab es für diesen Schritt auch wirt-schaftliche Erwägungen: Sta-lin wollte die vollständige Bindung Europas an den Dollarraum und die USA als Wirtschaftsmacht verhindern. Damit war der Umbau des sowjetischen Machtbereichs zu einem eigenen Wirtschafts-raum vorprogrammiert.

Schauplatz Osteuropa: Die Anfänge der Sowjetisierung

Als sich die »Großen Drei« Roosevelt, Churchill und Stalin zum ersten Mal im Rahmen der Anti-Hitler-Koalition im November 1943 auf der Konferenz von Teheran trafen, gelang es dem sowje-tischen Diktator, den weiteren Kriegsverlauf zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Er konnte den Plan der Westalliierten, in Südost-europa eine zweite Front zu errichten, abwenden. Stattdessen entschied man sich auf angloamerikanischer Seite für eine Front in Westeuropa. So erfolgte im Jahr 1944 der Angriff auf Frankreich über die Normandie. Auf der letzten Kriegskonferenz in Potsdam legte man in einer bereits von gegenseitigem Misstrauen gepräg-ten Atmosphäre einen gemeinsamen Plan für die weitere Behand-lung des Hauptgegners Deutschland fest. Zentral waren die »vier Ds«: Demilitarisierung, Denazifizierung, Dezentralisierung und Demokratisierung. Doch das in Potsdam beschlossene Programm war ein brüchiger Kompromiss.Die Westalliierten hatten allen Grund, Stalin zu misstrauen. Die Sowjetunion hatte beim Vormarsch der Roten Armee bereits Tat-sachen geschaffen, die den eigenen politischen Einfluss in den »befreiten« Gebieten dauerhaft sichern sollten. Sowjetische Truppen standen nicht nur in Ost- und Mitteldeutschland, son-dern auch in Polen, Ungarn, dem Osten Österreichs sowie weiten Teilen des Balkans. Lediglich die Tschechoslowakei war größten-teils unbesetzt geblieben. Bereits im Juli 1944 hatte Stalin bei der Befreiung Ostpolens das sogenannte Lubliner Komitee (»Komi-tee der nationalen Befreiung«) unter dem Kommunisten Bole-slaw Bierut als neue Regierung Polens anerkannt und damit der von den Westalliierten unterstützten polnischen Exilregierung in London die Zusammenarbeit verweigert. Die Kommunisten wa-

ren in Polen wie auch in den anderen osteuropäischen Staaten eine kleine Minderheit, die ihren Einfluss durch die sowjetische Protektion entscheidend ausweiten konnte. Im Januar 1945 er-klärte sich das Lubliner Komitee in Warschau zur provisorischen Regierung, die von Moskau auch sogleich anerkannt wurde. In Ländern wie Ungarn oder Rumänien ging die sowjetische Füh-rung wesentlich härter vor, da diese als Bündnispartner Hitlers am Krieg gegen die UdSSR beteiligt gewesen waren und von Sta-lin im Gegensatz zu Polen als Feindstaaten betrachtet wurden. Diese Maßnahmen riefen in vielen betroffenen Ländern be-trächtlichen Widerstand hervor, vor allem in Polen. Die polnische Untergrundarmee, die den deutschen Besatzungstruppen im Warschauer Aufstand vom Sommer 1944 einen erbitterten Kampf geliefert hatte, wandte sich nun gegen die neuen Machthaber. Die etwa 100.000 Mitglieder der sogenannten Heimatarmee kämpften bis Ende der 1940er Jahre gegen die Sowjetarmee, am Ende jedoch erfolglos. Ähnlich erbitterte Kämpfe gab es im balti-schen Raum. Ziel der dort agierenden Milizen war es, die durch den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 verloren gegangene Unabhängig-keit wiederzuerlangen, doch auch diese Versuche blieben ver-geblich.

Methoden der Sowjetisierung

In ihrem 2013 auf deutsch erschienenen Buch »Der eiserne Vor-hang« beschreibt die amerikanische Historikerin Anne Apple-baum vier Schlüsselelemente, die von der UdSSR in die von der Roten Armee besetzten Gebiete »importiert« wurden:1. In Zusammenarbeit mit der jeweiligen kommunistischen Par-

tei baute der sowjetische Geheimdienst NKWD eine Geheim-polizei nach eigenem Vorbild auf, die – häufig nach vorher er-stellten Listen – die politischen Feinde durch Verhaftung, Deportation oder Ermordung ausschaltete. Angehörige dieser Geheimpolizeien übernahmen das Innenministerium und oft auch das Verteidigungsministerium, also die Schaltstellen der staatlich legitimierten Gewalt.

Abb. 3 Die Sowjetunion und die europäischen »Volksdemokratien« © 1992 by Hachette Livre, Paris Karte: Rudolf Hungreder, Leinfelden, In: Das europäische Geschichtsbuch. Von den Anfängen bis ins 21. Jahr-

hundert. Eine europäische Initiative von Frédéric Delouche. Lizenzausgabe bei bpb , Bonn 2013

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2. In allen besetzten Ländern übergaben die Sowjets einheimi-schen Kommunisten die Kontrolle über die Rundfunkanstal-ten. Zwar konnten in den meisten osteuropäischen Staaten noch einige Zeit nach der Besetzung durch die Rote Armee nichtkommunistische Zeitungen erscheinen, doch mit dem Radio beherrschten die Kommunisten ein Instrument der Massenbeeinflussung, das in den dreißiger Jahren zu einem neuen Leitmedium aufgestiegen war.

3. Gemeinsam behinderten sowjetische und einheimische Kom-munisten die Arbeit unabhängiger Organisationen. Ihr beson-deres Augenmerk galt dabei politischen und kirchlichen Ju-gendorganisationen, die wie die politischen Parteien und unabhängigen Gewerkschaften streng kontrolliert und an-schließend verboten wurden. Vielerorts wurden antifaschisti-sche Gruppen, die schon gegen die deutschen Besatzer ge-kämpft hatten, auf diese Weise zum Objekt einer doppelten Verfolgung.

4. In vielen von der Roten Armee besetzten Ländern führten die sowjetischen Behörden ethnische Säuberungen durch, oft in Zusammenarbeit mit den lokalen kommunistischen Organi-sationen. Millionen von Deutschen, Polen, Ukrainern und Un-garn mussten ihre oft seit Jahrhunderten angestammten Wohnsitze verlassen und unter unwürdigen Bedingungen den Weg in ein ungewisses neues Leben in hunderten Kilometern Entfernung antreten. Am tiefgreifendsten war der Bevölke-rungstransfer, der aus der in Jalta Anfang 1945 beschlossenen Westverschiebung Polens resultierte: Über sieben Millionen Deutsche wurden aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße nach Westen zwangsumgesiedelt. Gleichzeitig wurden etwa 1,5 Millionen Polen aus dem von Stalin annektierten Ost-polen gegen ihren Willen in den Westen Polens umgesiedelt, zwei Drittel davon in die ehemals deutschen Gebiete (Snyder, Bloodlands, S 329/ Applebaum, Der Eiserne Vorhang, S. 168).

Teilweise ließen die sowjetischen Besatzer am Anfang noch freie Wahlen zu. Als klar wurde, dass auf diesem Weg die Macht nicht zu gewinnen war, ging man andere Wege. In der Tschechoslowa-kei, wo die KP 1946 nur ein Drittel der Stimmen gewonnen hatte, zeichnete sich für die 1948 anstehenden Wahlen sogar noch ein wesentlich schlechteres Ergebnis ab. Um ihre Macht nicht zu ver-lieren, inszenierte die dortige KP 1948 in Prag einen Staatsstreich. Im nicht sowjetisch besetzten Jugoslawien gewannen die Kom-munisten im November 1945 die Wahlen unter ihrem charismati-schen Führer Josip Broz, genannt Tito, die allgemeinen Wahlen auf insgesamt sehr zweifelhafte Weise: In den Wahllokalen waren jeweils zwei Urnen aufgestellt, eine für die von den Kommunisten beherrschte Volksfront und eine für die oppositionellen Parteien.

Da diese jedoch zur Wahl nicht zugelassen waren, errang die Volksfront rund neunzig rund Prozent der Stimmen.

Was waren Stalins Motive?

Auch wenn die Kommunistischen Parteien in keinem europäischen Land über freie Wahlen an die Macht kamen, konnten sie ihre bei Kriegsende noch geringe Unterstützung (in Polen 30.000 Mitglieder bei 35 Millionen Ein-wohnern) doch deutlich vergrößern. Die in weiten Bevölkerungskreisen verbreitete Mei-nung, eine bis 1945 dagewesene Allianz aus Faschismus und Kapitalismus habe den euro-päischen Kontinent und das eigene Land in den Abgrund gestürzt, bildete einen idealen Nährboden für Forderungen nach Zwangs-enteignungen von Wirtschaftsunternehmen und Großgrundbesitzern. Nach Berichten westlicher Diplomaten, die ihm begegnet waren, besaß Stalin keinerlei

Verständnis für die westliche Form der Demokratie. Für ihn lag die »wahre« Demokratie in der Herrschaft der Werktätigen, also der Arbeiter und Bauern, ganz im Sinne des orthodoxen Marxismus-Leninismus. Auf diese Weise entstand ein neues, in den meisten Ländern als Volksdemokratie bezeichnetes Politik- und Wirt-schaftsmodell. Als Ende der vierziger Jahre deutlich wurde, dass sich diese nun »sozialistisch« gewordenen Staaten mehr und mehr zu Abbildern des sowjetischen Stalinismus entwickelten, schlug das Pendel in die andere Richtung aus und es kam zu teilweise erdbebenartigen Aufständen gegen die als sowjetische Marionetten betrachteten Machthaber, so 1953 in der DDR und

Abb. 4 1. Mai-Parade 1949 nach dem kommunistischen Staatsstreich in der CSR 1948 © akg images

Abb. 5 »Westalliierte im Stalin-Theater« © Nebelspalter, Schweiz 1948

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1956 in Ungarn und Polen. In Rumänien, Bulgarien, der CSR und Albanien blieb es da-gegen ruhig, auch in Jugosla-wien, das sich unter Tito seit 1948 aus dem sowjetischen Machtbereich gelöst hatte und später zu einer wichtigen Kraft in der Bewegung der blockfreien Staaten wurde. Stalins Motive für die Umge-staltung Osteuropas waren in erster Linie nicht ideologi-scher, sondern macht- und geopolitischer Natur. In ei-nem Gespräch mit einem amerikanischen Regierungs-beamten sagte er im Mai 1945, Polen sei für Russland »von lebenswichtigem Inter-esse«, um es vor künftigen Invasionen zu schützen. Sta-lin dachte dabei an eine »geo-strategische Magistrale«, also eine Art Sicherheitslinie zwischen West- und Osteu-ropa. So entstand, was die Diktion des Kalten Krieges die »Satel-litenstaaten« Moskaus und die spätere Geschichtsschrei-bung den cordon sanitaire der Sowjetunion nannte. Nicht vergessen sollte man in diesem Zusammenhang, dass die Wehrmacht auf ihrem Rückzug an der Ostfront verwüstete Landschaften zurückgelassen hatte – eine Tatsache, die in der westlichen Geschichtsschreibung bisher kaum Beachtung gefunden hat. Zerstört wurden nach den Akten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse beispielsweise 70.000 Dörfer und Siedlungen, 32.000 Industrieunternehmen, 65.000 Ki-lometer Eisenbahnlinien und 10.000 Kilometer Hochspannungs-leitungen. Neben den ungeheuren Menschenverlusten, allein rund 20 Millionen Tote auf dem Boden der UdSSR, waren dies Kriegsfolgen, die Stalin dazu veranlassten, in den neuen Einfluss-gebieten Objekte für den eigenen wirtschaftlichen Nutzen zu se-hen, zumal in etlichen osteuropäischen Ländern die Wirtschafts-leistung vor dem Krieg höher gewesen war als in der Sowjetunion.Jugoslawien, Finnland und Österreich spiel-ten in den geostrategischen Überlegungen Stalins keine zentrale Rolle, letzteres auch weil der österreichische Sozialistenführer und Präsident Karl Renner das Vertrauen Sta-lins genoss (Stöver, Der Kalte Krieg, S. 50). Im Falle Österreichs führte dies 1955 zum Staats-vertrag mit den vormaligen Besatzungs-mächten und zur anschließenden Erklärung der »immerwährenden Neutralität« Öster-reichs, was den Abzug der alliierten Besat-zungstruppen zur Folge hatte.Großes Aufsehen erregte Stalin mit seiner an die drei Westalliierten gerichteten Note vom März 1952, in der er vorschlug, alle Besat-zungstruppen zurückzuziehen und Deutsch-land als »einheitlichen Staat« wiederherzu-stellen (sog. »Stalinnote«). Es sollte eine eigene Armee bekommen, politisch neutral und damit blockfrei werden. Bundeskanzler Adenauer und die Westalliierten sahen darin allerdings nur ein politisches Störmanöver

der Sowjetunion mit dem Ziel, die geplante Wiederaufrüstung Westdeutschlands und seine Integration in ein westliches Militär-bündnis zu torpedieren, was zur Zurückweisung der Note führte. Bis auf den heutigen Tag diskutieren Historiker und Publizisten kontrovers über die Stalinnote. Die Mehrheit geht davon aus, dass Stalins Offerte von taktischen Motiven geleitet und im Grunde nicht ernst gemeint war. Andere Historiker sahen darin dagegen ein ernsthaftes Angebot und eine frühe Möglichkeit zur deut-schen Wiedervereinigung, so etwa Wilfried Loth, der die DDR deshalb als Stalins »ungeliebtes Kind« bezeichnet hat.

Abb. 6 Karikatur aus Großbritannien zu Stalins Salami-Taktik © Leslie Gilbert Illingworth, GB, Juni 1947, www.llgc.org.uk/illingworth/index_s.htm

Abb. 7 Während einer Demonstration für politische Reformen in Ungarn. Am 23. Oktober 1956 wurde das Stalin-Denkmal am Hosöktere in Budapest gestürzt und über drei Kilometer ins Stadtzentrum geschleift. © E. Smashing, 31.10.1956, akg images

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Die DDR – ein Sonderfall?

Auch für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) gelten im We-sentlichen die bereits beschriebenen »Schlüsselelemente« der Sowjetisierung:– die enge Zusammenarbeit der sowjetischen Militäradministra-

tion (SMAD) mit den Männern der »Gruppe Ulbricht«, die den Kern der früh wieder gegründeten KPD bildeten

– der Zusammenschluss der Parteien im von der KPD dominierten Antifaschistischen Block im Juli 1945

– der von der KPD erzwungene Zusammenschluss von KPD und SPD zur SED im April 1946, wobei die SMAD eine zentrale Rolle spielte

– großflächige Demontagen (ca. 30 Prozent der Industriekapazi-tät) und Überführung von über 200 Unternehmen in sowjeti-sche Aktiengesellschaften (SAG)

– Reformen wie die Bodenreform mit der Enteignung des Groß-grundbesitzes der »Kriegsverbrecher und Faschisten« über 100 ha;

– auch die großen Industriebetriebe wurden verstaatlicht und in VEB (Volkseigene Betriebe) umgewandelt; tatsächlich hatte ein großer Teil der Unternehmer und Großgrundbesitzer (»Junker«) mit den Nationalsozialisten kooperiert; Ende 1946 waren nur noch 40 Prozent der Produktion in privater Hand

– gesellschaftspolitische und kulturelle Reformen, die der Mas-senmobilisierung dienen sollten, etwa der Gründung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) im Februar 1946;

– SED-Kulturpolitik: prominente Künstler wie Anna Seghers und Bertolt Brecht ließen sich nach der Rückkehr aus dem Exil in der SBZ nieder und stellten (zunächst) sich in den Dienst der SED-Kulturpolitik

– eine rigorose Entnazifizierung, die einer politischen Säuberung gleichkam: bis Ende 1946 waren 390.000 ehemalige NSDAP-Mit-glieder entlassen bzw. nicht wieder eingestellt worden

Diese und weitere Maßnahmen führten über die von der SED initi-ierte Volkskongressbewegung am 7. Oktober zur Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Nachdem die SED ihre Macht gesichert hatte, setzte allerdings rasch eine weitere Ver-schärfung des politischen Kurses ein, die zur Übernahme ver-schiedener Elemente des Sowjetsystems Stalinscher Prägung führte, etwa der Personenkult, eine doktrinäre Ideologie, der Aufbau der SED zu einer »Partei neuen Typs«, der konsequente Einsatz der Justiz als Mittel der politischen Repression, die Fünf-jahrespläne, die Kollektivierung der Landwirtschaft und anderes. So gesehen beschreibt der in der historischen Forschung noch relativ junge Begriff der »Sowjetisierung« einen zweistufigen Pro-zess: In der unmittelbaren Nachkriegszeit sicherte sich die Sowje-tunion zunächst die politische Hegemonie über die ihr zugefalle-nen Staaten. In der zweiten Phase ab etwa 1948 gingen die neuen Machthaber in den sozialistischen Staaten daran, die Verhältnisse im Innern nach sowjetischem Vorbild umzugestalten. Anne Ap-plebaum beispielsweise verwendet für diese zweite Phase den Begriff des Hochstalinismus. Ob man bei diesen Veränderungen von einer durchgängigen »Stalinisierung« nach einheitlichem Muster sprechen kann, ist jedoch fraglich. In Polen beispielsweise blieb der Einfluss der katholischen Kirche ungebrochen, auch fand dort im Agrarwesen keine Kollektivierung statt.Die Frage, ob sich die Umgestaltung Ostdeutschlands (im Westen damals noch häufig als »Mitteldeutschland« bezeichnet) in we-sentlichen Punkten von der Sowjetisierung in anderen osteuropä-ischen Staaten unterschied, lässt sich mit einem eingeschränkten Ja beantworten. Mit der bedingungslosen Kapitulation vom 8.Mai 1945 war auch in der SBZ jegliche Staatlichkeit zusammengebro-chen. Die Sowjetische Militäradministration (SMAD) war das zen-trale Machtorgan, das eine weitreichende Besatzungspolitik im Abb. 5 »Tarantel«. Satirische Monatsschrift der DDR. DDR-kritisches Satire-

magazin. Von 1950–1962 erschienen 124 kostenlose Ausgaben, die in West-Berlin gedruckt und in die DDR geschmuggelt wurden, wo deren Besitz und Vertrieb unter Strafe stand, Heft 13, Oktober 1951. © akg images1

Abb. 6 Zeichnung von Leo Haas. »Wärmster Mantel gegen den kältesten Krieg«. Ein junger Soldat in Uniform und eine junge Frau unter einem großen Mantel. Über ihnen schweben zwei alte Männer mit Säcken (Aufschrift: Mar-shall-Plan, Atlantik-Pakt), aus denen sie Schnee über die beiden schütten. Entste-hung vermutlich vor 1950 © akg images

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Sinne Moskaus betreiben konnte, obwohl sie keinesfalls allmächtig war. So konnte sie z. B. auf die Entscheidungen der 1946 gewählten Landtage nicht direkt Einfluss nehmen, hatte aber über die engen Kontakte zur SED Mög-lichkeiten zur politischen Lenkung. Inwieweit die SED-Führung in diesen Umgestaltungs-prozessen eigene Handlungsspielräume be-saß oder die sowjetischen Vorgaben mehr oder weniger willenlos befolgte, ist bis heute schwer zu beurteilen und wird in der For-schung kontrovers diskutiert. Der Begriff Kommunismus wurde im Gegensatz zu ande-ren osteuropäischen Staaten, in denen es kommunistische Parteien gab, von der SED gemieden, möglicherweise als Reaktion auf den rigorosen Antikommunismus der NS-Propaganda. Auch ließ man andere Parteien wie die CDU oder LDPD bestehen, doch blie-ben diese »Blockparteien« in der 1949 ge-gründeten Nationalen Front politisch unbe-deutend. Ihre Aufgabe war es laut späterer DDR-Verfassung, die Arbeit der SED zu unter-stützen. Da viele Mitglieder dieser Blockpar-teien, teilweise auch ihr Führungspersonal, nach dem Mauerfall in westdeutsche Par-teien eintraten und politisch aktiv blieben, wurde die Rolle der Blockparteien nach 1989 zum Gegenstand politischer Kontroversen. Da die SBZ an der Nahtstelle des sich entwi-ckelnden Ost-West-Konflikts lag, musste ihr in militärischer Hin-sicht das besondere Augenmerk der sowjetischen Führung gel-ten. Die Präsenz der Roten Armee war außerhalb der UdSSR nirgendwo so hoch wie in der SBZ und der späteren DDR (400–500.000 Soldaten gegenüber z. B. maximal 50.000 in Polen). Wie wichtig dies war, zeigte die Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953, der das SED-Regime an den Rand des Umstur-zes gebracht hatte. Innerhalb eines Tages traten Hunderttau-sende von Arbeitern in den Streik, zahlreiche Betriebe wurden besetzt, Büros der SED und der Staatssicherheit (Stasi) gestürmt. Die Verhängung des Ausnahmezustands und der Aufmarsch sow-jetischer Panzer führten zur Niederschlagung des Aufstands. Hinzu kam als Besonderheit der ostdeutsch-sowjetischen Bezie-hungen, dass die nach 1945 in der SBZ hergestellten wirtschaftli-chen Verflechtungen mit der sowjetischen Hegemonialmacht bei keinem anderen osteuropäischen Staat so intensiv waren wie bei der DDR. Die DDR blieb wirtschaftlich – und dies nicht nur auf-grund der fehlenden Rohstoffvorkommen – wesentlich stärker von der Sowjetunion abhängig als die anderen sogenannten »re-alsozialistischen« Staaten innerhalb des Warschauer Pakts (Mili-tärbündnis) und des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW bzw. Comecon, Wirtschaftsbündnis).

Fazit

Was hier als planvolles Vorgehen der Sowjetunion und mehr oder minder linearer Prozess dargestellt wurde, gibt keine Antwort auf die Frage nach der Schuld an der Entstehung der bipolaren Welt-ordnung nach 1945. In der Ära des Kalten Krieges herrschten im Westen klare Vorstellungen vom aggressiven und annexionisti-schen Charakter der Sowjetunion, bis hin zu überspitzten Formu-lierungen wie der vom »Reich des Bösen« (US-Präsident Reagan, 1983) Einzelne Historiker wie John Applebaum Williams vertraten in der Beurteilung der sowjetischen Machtpolitik eine revisionistische Linie: Die Politik der Sowjetisierung sei lediglich eine Reaktion auf die ökonomisch-kapitalistische Expansion der Vereinigten Staa-ten gewesen, Urheber der globalen Polarisierung seien also die

USA gewesen. Neuere Forschungen, etwa von Donal O›Sullivan oder Gerhard Wettig, sprechen für die Zeit nach 1945 von einer »Strategie der vorsichtigen Expansion« und von Vorstellungen ei-nes »nationalen Wegs zum Sozialismus«, die Stalin angeblich zu Beginn hegte. Dennoch wird man bei aller Differenzierung nicht an der Feststellung vorbeikommen, dass die UdSSR spätestens ab 1947 »mit großer Entschlossenheit auf das Ziel der totalen Einver-leibung der ost-, mittelost- und südosteuropäischen Staatenwelt hingearbeitet hat« (S. Creuzberger/ M. Görtemaker)

Literaturhinweise

Applebaum, Anne (2013): Der eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuro-pas 1944–1956. Lizenzausgabe bpb 2014

Dülffer, Jost (2004): Europa im Ost-West-Konflikt 1945–1990. Oldenbourg Verlag. München

Jarausch, Konrad/ Siegrist, Hannes (Hrsg.), (1997): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945–1990. Campus Verlag. Frankfurt a. M.

O›Sullivan, Donal (2004): Stalins »Cordon sanitaire«. Die sowjetische Osteu-ropapolitik und die Reaktionen des Westens 1939–1949. Schöningh Verlag. Paderborn

Snyder, Timothy (2013): Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv). München

Steininger, Rolf (2003): Der Kalte Krieg. Fischer Taschenbuch Verlag. Frank-furt a. M.

Stöver, Bernd (2007): Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters. Verlag C. H. Beck. München

Internethinweise

www.bpb.de/izpb/10323/der-beginn-der-bipolaritaet?p=0

www.bpb.de/izpb/181036/kalter-krieg-von-1945-bis-1989

www.bpb.de/izpb/48499/geschichte-der-ddr

Abb. 7 Arbeiteraufstand in der DDR am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin am Potsdamer Platz: Gegen Mittag rollten russische Panzer. Die Demonstranten antworteten mit Steinwürfen. © akg images

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MATERIALIEN

M 1 Rede des amerikanischen Präsidenten Truman vor bei-den Häusern des Kongresses, 12. März 1947

Es ist eines der Hauptziele der Außenpolitik der Vereinigten Staa-ten, Bedingungen zu schaffen, die es uns und anderen Nationen ermöglichen, eine Lebensform zu gestalten, die frei ist von Zwang. Hauptsächlich um diesen Punkt ging es in dem Krieg gegen Deutschland und Japan. Unser Sieg wurde über Länder errungen, die versuchten, anderen Nationen ihren Willen und ihre Lebens-form aufzuzwingen. […] In jüngster Zeit wurden den Völkern einer Anzahl von Staaten ge-gen ihren Willen totalitäre Regierungsformen aufgezwungen. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat immer wieder gegen den Zwang und die Einschüchterungen in Polen, Rumänien und Bul-garien protestiert, die eine Verletzung der Vereinbarungen von Jalta darstellen. Ich muss auch erwähnen, dass in einer Anzahl von anderen Ländern ähnliche Entwicklungen vor sich gehen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Weltgeschichte muss fast jede Nation zwischen alternativen Lebenformen wählen. Nur zu oft ist diese Wahl nicht frei. Die eine Lebensform gründet sich auf den Willen der Mehrheit und ist gekennzeichnet durch freie Institutionen, repräsentative Regierungsform, freie Wahlen, Garantien für die persönliche Frei-heit, Rede- und Religionsfreiheit und Freiheit von politischer Un-terdrückung. Die andere Lebensform gründet sich auf den Willen einer Minder-heit, den diese der Mehrheit gewaltsam aufzwingt. Sie stützt sich auf Terror und Unterdrückung, auf die Zensur von Presse und Rundfunk, auf manipulierte Wahlen und auf den Entzug der per-sönlichen Freiheiten. Ich glaube, es muss die Politik der Vereinigten Staaten sein, freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck wider-setzen. Ich glaube, wir müssen allen freien Völkern helfen, damit sie ihre Geschicke auf ihre eigene Weise selbst bestimmen kön-nen. Unter einem solchen Beistand verstehe ich vor allem wirt-schaftliche und finanzielle Hilfe, die die Grundlage für wirtschaft-liche Stabilität und geordnete politische Verhältnisse bildet. […] Die freien Völker der Welt rechnen auf unsere Unterstützung in ihrem Kampf um die Freiheit. Wenn wir in unserer Führungsrolle zaudern, gefährden wir den Frieden der Welt – und wir schaden mit Sicherheit der Wohlfahrt unserer eigenen Nation.

© zit. nach: Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke (Hrsg.), Die Welt seit 1945. München bsv, S. 576f.

M 4 Rede Shdanows auf der Konferenz der kommunistischen Parteien Europas, 22. September 1947

Das durch den Zweiten Weltkrieg veränderte Kräfteverhältnis zwischen der Welt des Kapitalismus und der Welt des Sozialismus hat die Bedeutung der Außenpolitik des Sowjetstaates noch er-höht und die Maßstäbe seiner außenpolitischen Aktivität erwei-tert. Die Aufgabe der Sicherung eines gerechten demokratischen Friedens fasste alle Kräfte des antiimperialistischen und antifa-schistischen Lagers zusammen. Auf dieser Grundlage wuchs und erstarkte die freundschaftliche Zusammenarbeit der UdSSR und der demokratischen Länder in allen Fragen der Außenpolitik. Diese Länder und vor allem die Länder der neuen Demokratie, Ju-goslawien, Polen, die Tschechoslowakei und Albanien, die eine große Rolle in dem Befreiungskrieg gegen den Faschismus ge-spielt haben sowie Bulgarien, Rumänien, Ungarn und zum Teil auch Finnland, die sich der antifaschistischen Front in der Nach-kriegsperiode angeschlossen haben, erwiesen sich als standhafte Kämpfer für den Frieden, für die Demokratie und für ihre Freiheit und Unabhängigkeit gegen alle Versuche der USA und Englands, ihre Entwicklung zurückzudrehen und sie erneut unter das impe-rialistische Joch zu zwingen. […] Bereits während des Zweiten Weltkrieges wuchs in England und in den USA ständig die Aktivitäten der reaktionären Kräfte, die da-nach strebten, das gemeinsame Vorgehen der alliierten Mächte zu hintertreiben, den Krieg in die Länge zu ziehen, die UdSSR aus-bluten zu lassen und die faschistischen Aggressoren vor einer vollständigen Zerschmetterung zu retten. Die Sabotierung der zweiten Front durch die angelsächsischen Imperialisten mit Chur-chill an der Spitze spiegelte klar diese Tendenz wider, die im Grunde genommen eine Fortsetzung der »München-Politik« unter neuen, veränderten Verhältnissen darstellte. Aber solange der Krieg andauerte, wagten die reaktionären Kreise Englands und

M 3 »Bitte, hier einsteigen!« © E. H. Shepard, 18.6.1947, Punch, GB

M 2 »Stalin genießt Trumans Thesen in seiner Pfeife« © US-amerikanische Karika-tur, 1947, Autor unbekannt, zit. nach http://blog.teachingamericanhistory.org/category/primary-source-documents/page/8/

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der USA nicht, der Sowjet-union und den demokrati-schen Ländern mit offenem Visier entgegenzutreten, weil sie sich wohl bewusst waren, dass die Sympathien der Volksmassen in der ganzen Welt ungeteilt auf der Seite der Sowjetunion und der de-mokratischen Länder waren. […] Bereits im Laufe der Bespre-chungen auf der Berliner Konferenz der drei Mächte im Juli 1945 zeigten die anglo-amerikanischen Imperialis-ten, daß sie nicht gewillt wa-ren, die legitimen Interessen der Sowjetunion und der de-mokratischen Länder zu be-rücksichtigen.

© zit. nach: Wolfgang Lautemann/Man-fred Schlenke (Hrsg.), Die Welt seit 1945, a. a. O., S. 156f.

M 5 Antikommunistisches Flugblatt zu einem Referendum in Polen

Im Jahr 1946 fand in Polen ein Referendum, also eine Volksab-stimmung statt, in dem der pol-nischen Bevölkerung drei Fragen vorgelegt wurden. Die Ergebnisse wurde anschließend zugunsten der kommunistischen Regierung gefälscht. Im Vorfeld kursierten Flugblätter wie dieses:Polen!Wollt ihr die weitere Okkupa-tion Polens?Wollt ihr die sowjetische Ar-mee in den Grenzen Polens?Wollt ihr, dass Sowjetruss-land uns unsere Lebensmit-tel, unser Vermögen weg-nimmt und damit bei uns Hunger und Teuerung ver-breitet?Wollt ihr, dass die polnische Intelligenz durch Juden ersetzt wird?Wollt ihr, dass der polnische Arbeiter der Sklave der sowjetisch-kommunistisch-jüdischen Machthaber wird?Wollt ihr, dass der polnische Bauer keine eigene Meinung über die Politik hat, sich keine eigenen Gedanken macht, dass seine Söhne die Gefängnisse in Sibirien füllen?Wollt ihr, dass in nächster Zukunft Kolchosen gebildet werden?Wollt ihr Armut und Unterdrückung, die in Sowjetrussland herr-schen?Wollt ihr, dass das polnische Volk den Verkauf von Wilno, Lwów, Borysław und Pinsk an die Sowjets bestätigt?Wollt ihr die Verkäufer, die Renegaten in Person von Bierut, Osóbki, Oymi[e]rski, Minc, ermuntern zum weiteren Verkauf ganz Polens?Wollt ihr, dass in der polnischen Armee Sowjets und der NKWD sind?Dann stimmt in allen Fragen mit »ja«.

Wenn ihr jedoch eine rechtmäßige Regierung, hervorgegangen aus dem Willen des polnischen Volkes, wollt, wenn ihr die Rene-gaten wissen lassen wollt, dass wir ihrer Politik nicht zustimmen, dass wir sie nicht anerkennen, weil wir sie nicht gewählt haben und sie von Stalin bestimmt wurden, dann antworten wir auf die ersten beiden Fragen mit »nein«, auf die dritte mit »ja«, denn die Westgrenze ist gerecht, und mit einer Zustimmung geben wir die Ostgrenze nicht auf, verzichten nicht auf Wilno, Lwów, Borysław und Pinsk.

© Flugblatt, vervielfältigt und verbreitet in der Wojewodschaft Lublin vor dem Referendum vom Juni 1946. Wojewodschaftsarchiv Lublin, Bestand: Nach der Befreiung herausgege-bene Flugblätter, Signatur 122, Blatt 26, vgl.: /www.herder-institut.de/no_cache/besta-ende-digitale-angebote/e-publikationen/dokumente-und-materialien/themenmodule/quelle/400/details.html (Abruf: 22.7.2014)

M 6 »Werktag zweier Welten« DDR-Plakat aus dem Jahre 1947 © Bundesarchiv Koblenz

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M 8 Elke Kimmel (2005): Der Marshall-Plan aus ostdeutscher Perspektive

In der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR folgte die Bewertung des Marshallplans dem von Moskau diktierten Schema: Er treibe die Spaltung Deutschlands voran und mache den Westen zum Opfer des amerikanischen Imperialismus. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass sich die wirtschaftli-che Situation im Osten Deutschlands durch diesen Schritt ver-schlechtern würde. Allerdings würde die sowjetische Besatzungs-zone (SBZ) durch eine engere Bindung an die Sowjetunion, die »innere Krisen« nicht kenne, diesen Rückschlag auffangen kön-nen. Man bedauerte, dass die Geduld in den westlichen Zonen nicht ausgereicht habe, um den Aufbau in der sowjetischen Be-satzungszone abzuwarten. Wenn dieser abgeschlossen worden wäre, hätte man dem Westen gerne helfen können. Die erzwun-gene einstimmige Ablehnung des Marshallplans durch die osteu-ropäischen Staaten wurde in der ostdeutschen Propaganda als Bestätigung dafür aufgefasst, dass der Plan keine andere Haltung verdient habe. Zitiert wurde auch die Kritik Molotows an der feh-lenden Genauigkeit des Angebots. Tatsächlich schreckte man bei der Verurteilung des Marshallplans auch vor antisemitischen Anspielungen nicht zurück: Dessen geistige Väter seien in der »Finanzplutokratie der Wallstreet« zu suchen. In der ostdeutschen Argumentation war auch die Teilung Deutschlands vor allem aus den wirtschaftlichen Eigeninteressen der USA zu verstehen: Man wolle die westdeutsche Grundstoffin-dustrie für den eigenen Markt ausnutzen. Das Potsdamer Abkom-men habe Deutschland vor eben jener Ausbeutung schützen sol-len; allerdings sei der sowjetische Einspruch übergangen worden. Zudem benötige die USA Westdeutschland als Aufmarschgebiet für die eigenen Truppen. Auf die fortgesetzten Demontagen in

der sowjetischen Besatzungszone nahmen die Propagandisten ebenso wenig Bezug wie auf die fortdauernde Existenz der »Sow-jetischen Aktiengesellschaften« (SAG) in der DDR.

© Elke Kimmel (2005): Der Marshallplan aus ostdeutscher Perspektive, www.bpb.de/ge-schichte/deutsche-geschichte/marshallplan/40077/ostdeutsche-perspektive

M 9 Die Historikerin Anne Applebaum über die Verbreitung kommunistischen Gedankenguts über den Rundfunk in der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ):

Der vielleicht bekannteste Versuch, den Zuhörern den Kommu-nismus schmackhaft zu machen, war Markus Wolfs1 Sendung »Sie fragen – Wir antworten«. Mehrere Monate lang beantwortete Wolf ab 1945 Briefe der Hörer im Radio². Obwohl die Fragen eine gewaltige Zahl von Themen betrafen und oft Sachantworten er-forderten (»Was soll aus dem Berliner Zoo werden«?), gab er den Antworten meist eine ideologische Tendenz, wie er es in der Kom-intern-Schule in Ufa gelernt hatte. In der Sendung vom 7. Juni re-agierte er zum Beispiel begeistert auf einen Hörer, der schrieb, wie beeindruckt er von Tatkraft und Geist der Roten Armee sei, besonders weil ihm immer beigebracht worden sei, Leistungen würden in der UdSSR nicht gewürdigt. Wolf erklärte, alle, die das Märchen von der Gleichmacherei in der UdSSR glaubten, seien Goebbels› Propaganda aufgesessen, und lobte das Sowjetsys-tem, das die Kreativität des Arbeiters fördere. […] Wolf lobte den Kommunismus selten direkt, und er bediente sich nicht aus dem marxistischen Vokabular. Fast immer aber lobte er die Rote Armee oder das Sowjetsystem, die er positiv mit ihren deutschen Entsprechungen verglich. Und seine Antworten auf die Hörerfragen enthielten das explizite Versprechen, das Leben, das unter den Nazis und in den letzten Kriegstagen unerträglich ge-wesen sei, werde sich nun rasch verbessern.Andere Sendungen verfolgten eine ähnliche Methode. Ende 1945 besuchte ein Reporter Sachsen, um die Lage der dortigen Jugend zu untersuchen und fand viele ermutigende Entwicklungen. Meh-rere frühere Hitlerjungen sagten ihm, sie freuten sich, ihre Führer nicht mehr grüßen zu müssen. Alle äußerten sich dankbar dafür, dass der Krieg zu Ende war. Die Schulen waren noch nicht wieder offen, und es gab viele Härten, aber der Reporter sagte »eine freie und schöne Zukunft für unsere Jugend« voraus. Das Wort »Kom-munismus« kam nicht vor. Ein anderer Reporter besuchte Sach-senhausen und gab eine erschütternde Schilderung der letzten Tage des Lagers. Obwohl der Roten Armee am Schluss ausführlich gedankt wurde, war auch an dieser Sendung nichts besonders Ideologisches. Mit der Zeit aber änderte sich der Ton. Nach den Berliner Kommu-nalwahlen 1946 – die den Kommunisten den ersten schweren Schlag versetzten – wurde die Propaganda offensiver, die kom-munistischen Sympathien der Sprecher deutlicher. Dieser Wandel wurde von den Hörern sofort bemerkt und spiegelte sich in den Briefen wider. 1947 schrieb ein Hörer, das »liebe Radio« werde all-mählich langweilig, und die Abendsendungen fingen an, sich zu wiederholen. Ein anderer beschwerte sich über die Schärfe der Sprache, man könnte meinen, Radio Moskau zu hören.

1 Markus Wolf (1923–2006) hatte als Kommunist während des Dritten Reiches im Exil in Moskau gelebt. Später wurde er als Chef der Auslands-spionage einer der höchsten Funktionäre im Ministerium für Staatssicher-heit der DDR (Stasi)2 Der »Berliner Rundfunk« sendete aus den weitgehend unzerstörten Ein-richtungen des alten »Reichsrundfunks« im Ostsektor Berlins

© Anne Applebaum (2014): Der eiserne Vorhang. Bonn, S. 221ff.; Siedler Verlag, Random House Verlagsgruppe

M 7 »Ami, go home!« DDR-Kritik am Marshall-Plan, 1947 © Bundesarchiv Koblenz

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M 10 Matthias Helle: Nachkriegsjahre in der Provinz

In seiner 2008 erschienenen Dissertation »Nachkriegsjahre in der Pro-vinz« untersucht Matthias Helle die Vorgänge im brandenburgischen Landkreis Zauch-Belzig zwischen 1945 und 1952. Er beschreibt dort das politische Wirken der SMAD, das repräsentativ für das Vorgehen der sow-jetischen Besatzungsmacht gewesen sein dürfte:Die Bilanz der Sowjetischen Militäradministration ist zwiespältig. Sie bildete […] faktisch die erste zentrale Regierungsinstitution im östlichen Nachkriegsdeutschland, ermöglichte schon früh Parteigründungen sowie die Wahlen von 1946, die trotz Ein-schränkungen der Bevölkerung die Chance zur politischen Wil-lensäußerung gaben. Die Sowjets waren indes (Mit-)initiatoren der radikalen gesellschaftlich-politischen Transformation in der SBZ, wie sie auch die (Mit-)Verantwortung für die Aufrichtung ei-ner stalinistisch-kommunistischen Diktatur im östlichen Deutsch-land trugen. Die Organe der Militärverwaltung unterstützten das Wiederingangsetzen des Wirtschaftslebens Ostdeutschlands und die Sicherung eines Mindestlebensstandards für die deut-sche Bevölkerung. Sie sorgten ebenso im Bunde mit der KPD/SED für den rigorosen Umsturz der ökonomischen Besitzverhältnisse in der SBZ. Und SMAD-Offiziere überwachten die Reparations-leistungen, mit denen die unermesslichen Kriegsschäden in der Sowjetunion wiedergutgemacht werden sollten, die indes zu ei-ner regelrechten wirtschaftlichen Ausplünderung Ostdeutsch-lands ausuferten. […] Die KPD/SED genoss bei der Besatzungs-macht eine Sonderstellung, waren doch die politischen Offiziere der Sowjetarmee allesamt KPdSU-Mitglieder, und die deutschen Kommunisten Brüder im (politisch-ideologischen) Geiste. An-fänglich bemühte sich die Kreiskommandantur zwar, allen Par-teien gegenüber eine scheinbare Gleichbehandlung an den Tag zu legen. […] Doch die Maskerade fiel sehr schnell. […] In den letzten Monaten des Jahres 1945 verzögerten die Kommandanturoffi-ziere mit bürokratischen Mitteln den Aufbau des liberaldemokra-tischen Kreisverbandes Zauch-Belzig. Während der Vereinigungs-kampagne von KPD und SPD scheute die Kreiskommandantur nicht davor zurück, massiven Druck auf die Fusionsgegner in den Reihen der Sozialdemokraten, aber auch Kommunisten, auszu-üben. Und nach den Kommunalwahlen 1946 versagte ihre politi-sche Abteilung verschiedenen Bürgermeisterkandidaten von CDU und LDP in Zauch-Belzig die für den Amtsantritt notwendige Be-stätigung. An deren Stelle kamen dann in der Regel SED-Leute auf die Bürgermeisterposten, obwohl die Einheitspartei in den be-treffenden Orten die Kommunalwahl nicht gewonnen hatte.

© Matthias Helle (2008): Nachkriegsjahre in der Provinz. Der brandenburgische Kreis Zauch-Belzig 1945–1952. Berlin, S. 242 und S. 250ff.

M 11 Anne Applebaum: Der eiserne Vorhang

Bis 1989 erschien die sowjetische Vorherrschaft über Osteuropa als ein ausgezeichnetes Vorbild für Möchtegerndiktatoren. Aber der Totalitarismus funktionierte in Osteuropa nie so, wie er sollte, und auch sonst nirgends. Keinem der stalinistischen Regime ge-lang es je, alle Menschen einer Gehirnwäsche zu unterziehen und damit für immer jede Opposition zu vernichten, und das gilt auch für Stalins Schüler oder Breschnews Freunde in Asien, Afrika oder Lateinamerika.Doch solche Regime können und konnten enormen Schaden an-richten. In ihrem Machtstreben attackierten die Sowjets, ihre ost-europäischen Gefolgsleute und ihre Nachahmer nicht nur politi-sche Gegner, sondern auch Bauern, Priester, Lehrer, Händler, Journalisten, Schriftsteller, kleine Geschäftsleute, Studenten und Künstler und dazu die Institutionen, die Menschen über Jahrhun-derte aufgebaut und gepflegt hatten. Sie beschädigten, unter-gruben und vernichteten manchmal Kirchen, Zeitungen, Litera-tur- und Bildungsvereine, Firmen und Läden, Börsen, Banken, Sportvereine und Universitäten. Ihr Erfolg offenbart eine un-

schöne Wahrheit über die menschliche Natur: Wenn genügend Menschen ausreichend entschlossen sind und über ein entspre-chendes Maß an Ressourcen und Gewalt verfügen, können sie uralte und scheinbar dauerhafte politische, religiöse, Rechts- und Bildungseinrichtungen zerstören, und das manchmal für immer. Und wenn die Zivilgesellschaft in so unterschiedlichen, so alten und kulturell so reichen Nationen wie denen Osteuropas so stark zerstört werden konnte, dann kann sie anderswo ähnlich zerstört werden. Die Geschichte der Nachkriegsstalinisierung beweist zu-mindest, wie zerbrechlich die Zivilisation tatsächlich sein kann.

© Anne Applebaum, a. a. O., S. 531f.

M 12 »Die Sowjetunion wünscht in ihren Nachbarstaaten Regierungen, die ihr freundschaftlich gesinnt sind!« © Nebelspalter, Schweiz April 1946

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EUROPA NACH 1945

5. Deutschland und Polen: von Hass und Beziehungslosigkeit bis zu den ersten Ansätzen einer Verständigung

MANFRED MACK

Der polnische Schriftsteller Leon Krucz-kowski schrieb im Jahre 1949: »Eines der

größten Verbrechen des Hitlerfaschismus, welches keineswegs geringer einzuschätzen ist als die phy-sische Vernichtung von Millionen von Menschen, bestand darin, dass viele europäische Völker und darunter besonders die Polen für eine längere Zeit die Überzeugung gewinnen mussten, die Deut-schen seien Verbrecher – alle Deutschen, die ge-samte deutsche Nation.« Kruczkowski war alles andere als ein Deutschenhasser. Er gehörte zu den wenigen Stimmen in Polen, die trotz allem, was geschehen war, ver-suchten, die Deutschen zu verstehen. Im selben Jahr hatte er ein Theaterstück ge-schrieben mit dem Titel »Die Deutschen sind auch Menschen«. Auf Druck der kom-munistischen Zensur musste er allerdings den Titel ändern. Der Politologe Dieter Bin-gen erinnert zurecht daran (Bingen 2005), dass es heute kaum noch vorstellbar ist, vor welch schier unüberwindlichen Barrie-ren Deutsche und Polen nach 1945 standen, als es darum ging, die Vergangenheit hin-ter sich zu lassen und auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs einen Neuanfang zu wagen. Fast sechs Millionen Polen, darunter drei Millionen polnischer Juden, starben in diesem Krieg, und die Mehrheit von ihnen starb nicht als Kombattanten bzw. Soldaten, sondern als Zivi-listen. 1,55 Millionen Polen verloren allein in dem von den Deutschen eingerichteten »Generalgouvernement« ihr Leben, 250.000 in den ins Deutsche Reich eingegliederten Gebieten. Ingsesamt haben rund 171 von 1000 Polen diesen Krieg nicht überlebt. Kein anderes Volk hatte prozentual gesehen höhere Menschenverluste.

»Deutschenfeindlichkeit« als Lernziel in Polen nach 1945

Deshalb nimmt es nicht Wunder, dass nach dem Krieg das Sprich-wort des polnischen Barockdichters Waclaw Potocki »Solange die Welt besteht, wird der Deutsche dem Polen kein Bruder sein« überaus populär war. Das Wort »Deutsche« schrieb man entge-gen der polnischen Orthographie mit einem kleinen »d«, im Schulunterricht war »Deutschenfeindlichkeit« (»antynie-mieckosc«) ein eigenständiges Lernziel. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten Stimmen, wie die des Publizisten Jan Osmanczyk, der sich Gedanken darüber machte, ob es nicht im Interesse Polens sein könnte, trotz der schlimmen Erfahrungen einen neuen »modus vivendi« mit den Deutschen zu finden, keine Chance hatte, Gehör zu finden und erbittert be-kämpft wurde.

Polen »Sieger des Krieges, aber Verlierer des Friedens«

Um die damalige Situation in Polen zu verstehen, muss man sich das Paradox vor Augen halten, dass Polen, das das erste Opfer des nationalsozialistischen Krieges war, 1945 zwar zu den Siegern des Krieges gehörte, aber zu den Verlierern des Friedens. In Deutsch-land hat schon 1947 der Publizist Eugen Kogon auf diese »tragi-sche Zwangslage« hingewiesen und Polen »einen Siegerstaat

Abb. 1 Straßenszene in Warschau unter deutscher Besatzung am 17. Oktober 1939. Am 1. September 1939 hatte der deutsche Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg ausgelöst. © dpa, picture alliance

Abb. 2 Anzahl der Opfer im Zweiten Weltkrieg. Zahlen nach: Borodziej (2000), S. 102–105

Anzahl der Opfer des Zweiten Weltkriegs

Länder Pro 1000 Einwohner Gesamtzahl

Polen 171 6 028 000

Sowjetunion 124 20 000 000

Jugoslawien 108 1 706 000

Deutsches Reich 84 7 260 000

Griechenland 35 558 000

Niederlande 22 200 000

Tschechoslowakei 21 360 000

Frankreich 13 653 000

Großbritannien 8 375 000

USA 1,4 405 000

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ohne Sieg« genannt und daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass Polen sichere Garantien bräuchte, dass ihm nicht »ein natio-nalistisches Deutschland voll von Dünkel gegenüber Polen, in den Rücken fällt«. (zitiert nach Kochanowski (2013), S. 151). Nur wenige wollten damals diese Botschaft hören, und es sollte bis zum War-schauer Vertrag von 1970 dauern, bis Polen von der Bundesrepub-lik Deutschland diese Garantien bekam. Das Dilemma Polens nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat der polnische Historiker Jerzy Holzer sehr eindrücklich beschrieben: »Das Land stellt sich doch eine Frage, vor die sich kein anderes Land der damaligen siegreichen Koalition gestellt sieht. Bedeutet der 8. Mai für uns, die Polen, einen Tag des verdienten Sieges oder der unverdienten Niederlage? Mit dieser Frage stellen wir uns praktisch außerhalb der Selbstzufriedenheit Europas, außerhalb seines Bildes über das 20. Jahrhundert.«

Polen als Satelittenstaat der Sowjetunion

Polen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem »Satelliten-staat« der Sowjetunion, das kommunistische System wurde Polen aufgezwungen. Die Mehrheit der Polen machte dafür nicht nur die

Sowjetunion und Stalin, sondern auch den »Verrat der westlichen Alliierten in Jalta« verantwortlich, als die durch den Hitler-Stalin-Pakt des Jahres 1939 in einem Geheimbündnis beschlossene »Westverschiebung Polens« nachträglich sanktioniert wurde. Dass die Nachkriegsordnung Europas gemäß dem Potsdamer Ab-kommen dennoch zähneknirschend akzeptiert wurde, hatte in erster Linie mit den Erfahrungen mit den Deutschen während des Zweiten Weltkriegs zu tun. Der Historiker Hans-Jürgen Bömelburg schreibt dazu treffend: »Zugleich lieferte die stets mit den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs in Verbindung gebrachte »deutsche Bedrohung« das wohl stärkste Legitimations- und Integrationsargument der volkspolnischen Herrschaftsstrukturen: Mit Erfolg wurde suggeriert, dass sich dergleichen nicht wiederholen könne, solange die Sowjetunion die Sicherheit Polens garantiere. Schließlich eignete sich die Berufung auf die Verluste und Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs als Alibi für die sozialistische Mangelwirtschaft.« (Kochanowski (2013), S. 117). Noch pointierter formuliert dies der polnische Politologe Piotr Buras: »In den vierziger und fünfziger Jahren konnte es den Anschein ha-ben, als sei die Feindschaft gegenüber den Deutschen gleichbedeutend mit der polnischen Staatsräson.« (Kochanowski (2013), S. 181).

Abb. 3 Zu den Folgen des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Polen gehörten von Anfang an Zwangsumsiedlungen. Polen wurden ins »Generalgouvernement« abgeschoben, als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich oder – im Einflussbereich der Sowjetunion – nach Sibirien deportiert. Deutsche wurden als Folge des Hitler-Stalin-Paktes aus dem Baltikum und aus Südosteuropa in Gebiete umgesiedelt, aus denen zuvor Polen vertrieben worden waren. Die Brutalität, mit der Polen zerschlagen und geknechtet worden war, kehrte sich am Ende des Krieges gegen die Urheber. Die auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 beschlossene ›Westverschiebung‹ Polens bedeutete für Millionen Deutsche in Ostpreußen, Pommern und Schlesien, dass sie ihre Heimat verlassen mussten. Über 1,5 Millionen Polen mussten ihrerseits ihre Hei-mat in Ostpolen verlassen und wurden in ehemals von Deutschen bewohnten Gebieten angesiedelt. Bei Evakuierung, Flucht und Vertreibung verloren nach Schätzungen zwischen 400 000 bis zwei Millionen Menschen ihr Leben. Bis heute belastet dieses Thema die deutsch-polnischen Beziehungen. © Kneip/Mack: Polnische Geschichte und deutsch-polnische Beziehungen, 2007, Cornelsen, Berlin, S. 91

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Reaktionen in West- und Ostdeutschland

Wie ging man in Deutschland West und Deutschland Ost nach 1945 mit den Erfahrungen des Krieges um? Der deutsche Histori-ker Burkhard Olschowsky schreibt hierzu: »Den polnischen Leidenserfahrungen und ihren Kompensationsbedürfnissen standen die deutschen Kriegserfahrungen unvereinbar gegenüber. Während die Polen den Kriegsbeginn und das rassistische Besatzungsregime erinnerten, standen für die Deutschen vor allem die Erlebnisse der letzten Kriegsmonate und die Schrecken der Nachkriegsjahre im Vordergrund. An dieser Erfahrung trugen die über zwölf Millionen deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen schwerer und länger als ihre Landsleute, hatten sie doch neben ihrem Besitz auch ihre Heimat und damit einen wichtigen Teil ihrer Identität verloren. Sie fanden sich nach dem Krieg in fremden Gegenden wieder, in denen die Einheimischen oft abweisend reagierten und die Versorgungslage schwierig war.« (Kochanowski (2013), S. 167). Ähnlich charakterisiert Dieter Bingen die damalige Situation: »Zweifellos prägten Massenvertreibungen bzw. Zwangsaussiedlung aus den polnisch verwalteten deutschen Ostprovinzen und der Territorialverlust, der nach dem Potsdamer Protokoll zugunsten Polens erfolgt war, die westdeutsche Haltung und Politik gegenüber Polen weitaus stärker als das Eingeständnis eigener Schuld. Nach dem Potsdamer Abkommen ließ sich keine repräsentative deutsche Gruppe ermitteln, welche die Gebiete jenseits von Oder und Neiße völlig verloren glaubte. Dazu kam in den ersten Jahren der jungen Bundesrepublik eine breite antikommunistische und antisowjetische Grundstimmung, die auf das kommunistisch gewordene Polen abfärbte.« (Bingen, 2005). Auch in der sowjetischen Besatzungszone waren selbst 2005 die Kommunisten in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht bereit, sich mit dem Verlust der östlichen Provinzen abzufinden: »Um das Negativimage der ‚Russenpartei’ bei den anfänglich freien Wahlen loszuwerden und mit Rücksicht auf die eigene Basis lehnte die SED in den ersten Nachkriegsjahren die Oder-Neiße-Grenze ab. Emotionale Beweggründe wie beim Parteivorsitzenden Wilhelm Pieck, der aus dem östlichen, jenseits der Oder gelegenen Teil Gubens stammte, spielten ebenfalls eine Rolle. Zur großen Irritation der polnischen Regierung ließ Moskau die ostdeutschen Kommunisten in den ersten beiden Nachkriegsjahren gewähren. Erst die Verschärfung des Kalten Krieges und die sich abzeichnende Spaltung Deutschlands führten seit der Jahreswende 1947/48 zu einer Kehrtwendung. Die Sowjetunion als Garant der polnischen Westgrenze zwang nun die SED und die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) zur Zusammenarbeit. Die politische und

wirtschaftliche Festigung der DDR, wie sie Moskau nun konsequenter verfolgte, sollte nicht zuletzt mit Hilfe der schlesischen Steinkohle gelingen. Die polnische Regierung verlangte als Gegenleistung die Anerkennung ihrer Westgrenze. Am 6. Juli 1950 unterzeichneten die Ministerpräsidenten Otto Grotewohl und Józef Cyrankiewicz den Görlitzer Vertrag, der die Oder-Neiße-Linie als „Friedens- und Freundschaftsgrenze“ bezeichnete. Dieses Einvernehmen wurde jedoch von der Bevölkerung beider Länder fünf Jahre nach Kriegsende noch längst nicht akzeptiert, die Abneigung und ein tiefes Misstrauen gegenüber den Deutschen blieben« (Kochanowski (20013), S. 167f.)

Gegenmaßnahmen zur antipolnischen Stimmung in der Bevölkerung

Um den antipolnischen Stimmungen in der Bevölkerung zu begegnen, wurde schon im August 1948 die »Hellmuth-von-Gerlach-Ge-sellschaft für kulturelle, wirtschaftliche und politische Beziehungen mit dem neuen Po-len« begründet. Nach der Unterzeichnung des Görlitzer Vertrages wuchs die Mitglieder-

zahl auf 60.000 an. Zu den Mitgliedern gehörten auch zahlreiche »Vertriebene und Flüchtlinge«, die man in der DDR »Umsiedler« nannte. Als das Regime merkte, dass die von oben beschlossene »sozialistische Freundschaft« weder bei den Vertriebenen noch bei der einheimischen Bevölkerung auf Begeisterung stieß, löste man die Gesellschaft im Zuge der zunehmenden Stalinisierung 1953 kurzerhand auf und dekretierte die Eingliederung der »Um-siedler« als abgeschlossen. Wer die »Oder-Neiße-Friedensgrenze« fortan kritisierte, wurde als »Feind des Friedens« und als Faschist kriminalisiert. Wie im Westen, so dauerte es auch im Osten bis zum Beginn der 1960er Jahre, bis sich unabhängig von der staatli-chen Politik kirchliche Kreise mit neuen authentischen Initiativen zur deutsch-polnischen Verständigung zu Wort meldeten.

Abb. 4 Ein auch in den westlichen Besatzungszonen verbreitetes Plakat machte die Bevölkerung auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen Vertreibung, Diktatur und Beschlüssen der Alliierten auf-merksam. © Druckerei Hempel, Köln, Haus der Geschichte, Bonn

Abb. 5 Plakat aus der Bundesrepublik – 1950-er Jahre © Pommersche Landsmannschaft (Hrsg.), Landesgruppe Niedersachsen, Haus der

Geschichte, Bonn

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In der westlichen Bundesre-publik gab es keine politische Partei, die sich in den 1950er Jahren mit dem Verlust der ehemaligen deutschen Ost-provinzen abgefunden hätte. Die Parole »Dreigeteilt nie-mals« einigte alle gesell-schaftlichen und politischen Strömungen. Als Reaktion auf den Görlitzer Vertrag von 1950 erklärte die Bundesre-gierung am 9. Juni 1950 alle Grenzvereinbarungen der »Sowjetzone« für »null und nichtig«

Bis heute umstritten: »Charta der deutschen Heimat-vertriebenen«

Ein wichtiges Dokument der damaligen Zeit war die am 5. August 1950 in Stuttgart verabschiedete »Charta der deutschen Heimatvertriebe-nen«. In diesem Dokument verzichteten die Unterzeich-ner feierlich »auf Rache und Vergeltung«. Allerdings ver-zichteten sie auch darauf, die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg offen zu benennen und flüchteten sich in die Formulie-rung »im Gedenken an das unendliche Leid, welches im besonde-ren das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat.« Das Leid der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen wird offen angesprochen, dagegen wird das Leid, das Deutsche über andere Völker gebracht haben, nur euphemistisch angedeutet. Bis heute wird darüber gestritten, ob dies eine mutige Geste war, auf Ver-ständigung angelegt, oder ob es eine selbstgefällige, geschichts-blinde Äußerung war, die nur das eigene Leiden anspricht und das »Recht auf Heimat« proklamiert und die deutsche Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und die Folgen vollkommen beiseite schiebt. In Äußerungen von Politikern und Historikern kommen diese bis heute unterschiedlichen Einschätzungen deutlich zum Ausdruck. Aus Anlass des 50. Jahrestages der Charta lobte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) die »weitreichende Bedeutung« der Charta, »weil sie innenpolitisch radikalen Bestrebungen den Boden entzog und außenpolitisch einen Kurs der europäischen Einigung unter Einbeziehung unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn vorbereitete.“ Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble äußerte sich 27. August 2006 in Stuttgart folgendermaßen: »[Die] Charta war damals und ist heute noch ein beeindruckendes Zeugnis menschlicher Größe und Lernfähigkeit. Nicht Revanchismus, nicht Niedergeschlagenheit bestimmen diese Charta, sondern der Glaube an die Zukunft, Europäertum, christliche Humanität.« (zitiert nach: Wikipedia-Beitrag »Charta der Hei-matvertriebenen«.). Kritisch äußern sich der Wissenschaftler Micha Brumlik und der Publizist Ralph Giordano. Micha Brumlik kritisierte, dass im Satz der Charta, »die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden,« behauptet werde, dass die Hei-matvertriebenen am schwersten betroffen gewesen seien, noch vor den ermordeten Juden, noch vor den Verfolgten in Polen und Russland und noch vor den deutschen Kriegswaisen und -witwen.

Auch Ralph Giordano befand, »die Charta blende die Vorgeschichte der Vertreibung aus und erwähne nur die nach 1945 vertriebenen Deutschen.« Brumlik befand sogar, dass in der Charta »Verleugnung und Verdrän-gung des Nationalsozialismus in geradezu idealtypischer Weise zum Aus-druck kommen«. Dass die Charta in ihrer Eröffnungssequenz scheinbar großzügig auf »Rache und Vergeltung ‚verzichte’, sei eine Ungeheuerlich-keit. Verzichten könne man nämlich nur auf das, was einem rech-tens zustehe. Die Charta postuliere einen grundsätzlichen An-spruch auf Rache und Vergeltung.« Des Weiteren betont Micha Brumlik, »dass etwa ein Drittel der Erstunterzeichner der Charta überzeugte Nationalsozialisten gewesen seien. Bei diesen handele es sich vor allem um Funktionäre, die bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten im so genannten Volkstumskampf tätig gewesen seien. […] Die Charta stelle dagegen noch eine im Geist von […] Selbstmitleid und Geschichtsklitterung getragene, ständestaatliche, völkischpolitische Gründungsurkunde dar, in der nichts weniger als die Absicht beglaubigt wird, die Politik der jungen Bundesrepublik in Geiselhaft zu nehmen.« (zitiert nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Charta_der_deutschen_Heimatvertriebenen).Zur Diskussion um die Verstrickung einiger Unterzeichner der Charta in das nationalsozialistische System gibt es mittlerweile eine sehr ausgewogene Studie: Schwartz, Michael (2013): Funktio-näre mit Vergangenheit.

Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung

Festzuhalten bleibt, dass sich die Deutschen nach 1945 in West und in Ost sehr schwer taten, sich der Verantwortung für die Ver-brechen des Zweiten Weltkriegs zu stellen und die Folgen zu ak-zeptieren und historisch einzuordnen. Im Verhältnis zu Polen war dies besonders deutlich. Im Westen Deutschlands beschäftigte man sich nur mit dem eigenen Leid, und eine fatale Verknüpfung von traditionellen antipolnischen Einstellungen, gepaart mit re-

Abb. 6 Rund 70 000 Heimatvertriebene protestierten am 5. August 1950 vor dem Stuttgarter Neuen Schloss gegen die Abkommen von Jalta und Potsdam wie auch gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch die Regierung der Sowjetzone (DDR). Gleichzeitig wurde die »Charta der Heimatvertriebenen« vor der Öffentlichkeit verkündet. © picture alliance, dpa

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vanchistischen Forderungen und im Zuge des beginnenden Kal-ten Krieges zwischen Ost und West antikommunistischen Positio-nen, führten dazu, dass man Polen häufig als »Vertreiberstaat« brandmarkte, die von den Alliierten beschlossenen Grenzver-schiebungen nicht anerkannte und wahrhaben wollte und sich einer Diskussion über die deutschen Verbrechen gegenüber Polen schlichtweg verweigerte. Die Historikerin Beata Kosmala bilanziert treffend: »Unter dem massiven Einfluss des Bundes der Vertriebenen (BdV) blieb das westdeutsche Polenbild in den ersten Jahren von der Ablehnung der Oder-Neiße-Grenze, die stets als Unrecht bezeichnet wurde, geprägt. Polen wurde, wenn überhaupt, als »Vertreiberstaat« und kommunistisches Land wahrgenommen. In dieser Atmosphäre überdauerten antipolnische Klischees und Vorurteile in Politik und Gesellschaft. Sie waren nicht nur Produkte des Kalten Krieges, sondern enthielten Elemente eines negativen Polenbildes, das sich im Kaiserreich ( 1871–1918) entwickelt hatte, in der Weimarer Republik (1919–1933) fortdauerte und durch die nationalsozialistische Propaganda seit März 1939 und besonders seit dem Überfall auf Polen im September 1939 hasserfüllt aufgeladen wurde. Den Deutschen war jahrelang eingebläut, dass es eine ‚rassische’ und zivilisatorische Kluft zwischen Polen und Deutschen gebe. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg diente die Redewendung ‚polnische Wirtschaft’ in gehässiger Weise als Erklärung für eine wirtschaftliche und angeblich zivilisatorische Rückständigkeit Polens.« (Kochanowski (2013), S. 153)

»Zwangsverordnete Freundschaft« der DDR zu Polen

In der DDR kann man die Situation am besten mit der Formulierung »Zwangsverordnete Freundschaft« charakterisieren. Eine Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen fand ebenso wenig statt wie eine Beschäftigung mit dem Schicksal der Flücht-linge und Vertriebenen. Man flüchtete sich – ideolo-gisch verbrämt – in die angebliche Partnerschaft mit dem »neuen sozialistischen Polen“» Die historische Verantwortung für die deutschen Verbrechen schob man auf den »Nachfolgestaat des Dritten Reiches, die revanchistische Bundesrepublik« ab.

Neue Ostpolitik bis zum Kniefall Willy Brandts

Geändert hat sich diese Situation erst zu Beginn der 1960er Jahre. Die ersten Anstöße kamen nicht von der Politik, sondern von gesellschaftlichen, vor-nehmlich kirchlichen Initiativen und in Westdeutsch-land auch aus der Wirtschaft. Das erste Dokument eines »ostpolitischen Umdenkens« markiert das Tü-binger Memorandum protestantischer Intellektuel-ler vom 24. Februar 1962, in dem die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze postuliert wurde. Auf Initia-tive von Berthold von Beitz wurde am 7. März 1963 ein deutsch-polnischer Handelsvertrag unterzeichnet. Im Oktober 1965 wurde in Berlin die Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) veröffent-licht mit dem Titel »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östli-chen Nachbarn«. Das nächste, eminent wichtige Dokument war der Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder vom 18. November 1965 mit dem zentra-len Satz »Wir vergeben und bitten um Vergebung«. Die Antwort der deutschen Bischöfe war eher zurück-haltend. Für die polnische Seite, die wegen ihres Brie-fes von den polnischen Kommunisten hart kritisiert wurde und die auch in der polnischen Gesellschaft

damals kaum auf Verständnis traf, war die Antwort schlicht ent-täuschend. Erst das Memorandum des »Bensberger Kreises« von prominenten Katholiken aus dem Jahre 1968 ging deutlich über die Antwort der deutschen Bischöfe hinaus. Als Initiative von Pro-testanten aus der DDR wurde 1958 die zunächst gesamtdeutsch konzipierte »Aktion Sühnezeichen« begründet. Wichtige Impulse kamen auch aus dem Bereich der Kultur. Stell-vertretend für viele andere Initiativen seien nur die Bemühungen des Übersetzer Karl Dedecius genannt, der durch seine Antholo-gien mit Übersetzungen polnischer Autoren (»Leuchtende Grä-ber. Verse gefallener polnischer Dichter« und »Lektion der Stille«) Grundlagen für eine deutsch-polnische Verständigung schuf. All diese Initiativen waren die Basis für ein Umdenken auch in der Politik, das zur neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition führte und im Dezember 1970 in die Unterzeichnung des War-schauer Vertrages mündete. Legendär war dabei der symbolische Kniefall des Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Denkmal der Helden des Warschauer Ghettoaufstands. Willy Brandt erhielt nicht zuletzt wegen seiner Verdienst um die West-Ost-Aussöh-nung 1972 den Friedneensnobelpreis.

Abb. 7 »Deutschland, Deutschland über alles«, Karikatur von Jan Lenica aus Polen im Jahre 1951 © VG Bild-Kunst, Bonn 2014

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Page 49: Deutschland und Europa nach 1945

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Internethinweise

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Charta der Vertriebenen. www.deutscheundpolen.de/themen/thema_jsp/key=charta_der_heimatvertriebenen.html

Deutsche und polnische Pioniere der deutsch-polischen Verständi-gung http://potsdamer-konferenz.de/verstaendigung/pioniere.php

www.deutschlandfunk.de/erika-steinbach-diskussion-um-vertreibun-gen-ein-heilsamer.868.de.html?dram:article_id=124273

Görlitzer Vertrag, www.deutscheundpolen.de/themen/thema_jsp/key=goerlitzer_vertrag.html

Themenheft Stern (2005): Kriegsende – besiegt, befreit, besetzt. Deutsch-land 1945–48, www.stern.de/politik/geschichte/kriegsende-besiegt-befreit-besetzt-deutschland-1945–48–537265.html

Zwangsumsiedlungen nach dem 2. Weltkrieg http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/Filter/Zwangsumsiedlung-nach-2WK/484

Rutowska, Maria; Mazur, Zbigniew; Orlowski, Hubert: Geschichte und Erin-nerung. Zwangsaussiedlung und Flucht. 1939–1945–1949.

Stiftung Flucht, Vertreibung und Versöhnung www.sfvv.de

www.iz.poznan.pl/news/98_Biuletyn%2020%20internet%20bez%20vacat%C3%B3w.pdf

www.vertreibungszentrum.de/

www.zentrum-gegen-vertreibungen.de/index1.html

www.zeitgeschichte-online.de/thema/online-ressourcen-zur-debatte-um-das-zentrum-gegen-vetreibungen-und-zum-diskurs-zum-thema-der

Abb. 8 Historische Szene: Bundeskanzler Willy Brandt kniete am 7. Dezember 1970 vor dem Mahnmal im einstigen jüdi-schen Ghetto in Warschau, das den Protestierenden des Ghetto-Aufstandes vom April 1943 gewidmet ist. Brandt eroberte mit seinem »Kniefall« die Herzen der intellektuellen Polen und legte damit den Grundstein für die deutsch-polnische Aussöhnung. Durch seine Geste war es ihm gelungen, Vertrauen in einem Land zu erwecken, in dem die Deutschen während des Zweiten Weltkrieges sechs Millionen Einwohner, über die Hälfte davon Juden, ausgelöscht hatten. Am selben Tag, der als Wendepunkt im deutsch-polnischen Verhältnis gilt, unterzeichnete Willy Brandt den Warschauer Vertrag, in dem sich die Bundesrepublik Deutschland und Polen zum Gewaltverzicht bekannten. © dpa, picture alliance

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MATERIALIEN

M 1 Jerzy Holzer: »Sieg und Niederlage. Der polnische achte Mai.«

Für die einen ist es ein Tag des Sieges, des Tri-umphes der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Demokratie. Für die anderen, die Deut-schen, ein Tag der Erinnerung an Irrwege, auf die sie falsche Propheten führten, Propagan-disten von Hass und Verbrechen. Es war also ein Tag der Niederlage und gleichzeitig ein Tag der Befreiung von bösen Mächten. Aus diesem mehr oder weniger einheitlichen eu-ropäischen Chor fällt Polen heraus. Das Land stellt sich doch eine Frage, vor die sich kein anderes Land der damaligen siegreichen Ko-alition gestellt sieht: Bedeutet der 8. Mai für uns, die Polen, ein Tag des verdienten Sieges oder der unverdienten Niederlage? Mit dieser Frage stellen wir uns praktisch außerhalb der Selbstzufriedenheit Europas, außerhalb sei-nes Bildes über das 20. Jahrhundert. […] In der Geschichte des II. Weltkrieges kann man bezüglich Polens tatsächlich eine sehr weitgehende Besonderheit entdecken. Kein anderes gegen Deutschland oder seine Verbün-deten kämpfendes Land befand sich zu Beginn des Krieges unter einer doppelten Besetzung: durch Deutschland und UdSSR (dem späteren Teilnehmer an der siegreichen Koalition). Kein anderes gegen Deutschland kämpfendes Land war zum Ende des Krieges von einer so starken sowjetischen Unterdrückung betroffen: Seine Regierung, die die Bevölkerung Polens durch die Kriegs-jahre führte, verlor die Macht und ihr wurde von einer ausländi-schen Macht ein neues Regierungssystem mitsamt den dazuge-hörigen Personen aufgezwungen. So betrachtet, kommt man eher zu der Antwort, dass das Ende des Krieges für uns eine Nie-derlage und kein Sieg war. […]. Zwei Umstände waren dafür ent-scheidend, dass die Beendigung des Krieges mit Hoffnung ver-bunden war. Der erste war die Erschöpfung nach sechs Jahren Krieg. Besonders stark betraf das die aus Warschau vertriebenen und in ihrer großen Mehrheit jeglicher Wohnmöglichkeit beraub-ten Menschen. Der zweite Umstand war die Verzweiflung über die westlichen Verbündeten nach den Beschlüssen von Jalta, die die Änderung der östlichen Grenzen akzeptierten sowie schwiegen, als durch Schaffung von Fakten das kommunistische System ge-festigt wurde. In ihrer großen Mehrheit wollten die Polen ihre Hoffnung nicht an einen neuen großen Konflikt knüpfen, wie den eines III. Weltkrieges. Man verknüpfte so das persönliche wie auch das nationale Schicksal mit den entstandenen Realitäten. Man glaubte, dass die Chance zum Wiederaufbau des Landes wie auch wenigstens einer teilweisen Selbstständigkeit bestehe. Man wartete – wie es in Jalta verabredet worden war – auf die Bildung der Regierung der Nationalen Einheit, die Garant dieser Selbst-ständigkeit sein sollte. […]Für die Polen aus den östlichen Teilen der II. Republik bedeuten weder die Ereignisse von 1944–45 noch die Beendigung des Krie-ges die Rückkehr zu einem normalen persönlichen Leben. Im Ge-genteil: Diese einige Millionen starke Menschengruppe war in den vorhergehenden Monaten erneuten Repressionen ausge-setzt, die deutlich stärker als in Polen westlich des Bug und der San waren. In ihrer übergroßen Mehrheit sahen sie ihre unsichere Zukunft in einer faktischen Zwangsumsiedlung, die die Aufgabe ihrer Häuser und der Heimat bedeutete. Schon Ende 1944 begann die Organisierung dieser Umsiedlungen. […] Das Ende des Krie-ges eröffnete eine schmerzhafte Perspektive, aber doch eine, die Hoffnung für die Zukunft geben konnte: Man bekam die Chance auf eine Wohnung und für ein friedliches Leben in den Westgebie-ten, die Polen angeschlossen worden waren. […] Eine andere

Gruppe bestand aus Polen, die das Ende des Krieges in Deutsch-land erlebten: ehemalige Häftlinge aus Konzentrationslagern, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Nur ein Teil von ihnen be-fand sich auf bereits von der Koalitionsarmee eingenommenen Gebieten, im Westen oder Osten Deutschlands; einige von ihnen wurden erst mit der Kapitulation des Reiches frei. Für alle bedeu-tete jedoch der 8. Mai der symbolische Augenblick der Freiheit. Viele kehrten zurück, weil sie durch das Ende des Krieges eine Chance zur Rückkehr zu ihren Familien sahen, in ihr Land, zur Ar-beit oder Forschung. Viele andere blieben im Westen und wählten das Los eines Emigranten, oft als Heimatlose. […] Das besiegte Deutschland war der ewige Feind Polens. Die Russen oder auch die Rote Armee waren Verbündete, slawische Brüder, im letztlich siegreichen Kampfe. In den Reihen der polnischen Armee im Wes-ten bekamen die negativen Elemente mit dem Ende des Krieges ein bedeutenderes Gewicht. Die amerikanischen und britischen Verbündeten hatten sie enttäuscht. Die polnischen Soldaten mussten eine Entscheidung fällen: Sollten sie zu ihren Familien und Freunden zurückkehren, aber in ein Land, in dem die Wirk-lichkeit weit davon entfernt war, wie man sie sich während des Krieges erhoffte? Oder sollte man in der Emigration bleiben? Be-sonders schwierig war die Entscheidung für die Soldaten, die in den Jahren 1939–41 deportiert wurden und diese Zeit in Lagern verlebten, bis sie die UdSSR mit der Anders-Armee verlassen konnten. Es war für sie auch deshalb so schwierig, weil es für de-ren Mehrheit kein Zurück mehr in die Heimat gab, da sie von Po-len abgetrennt worden war. […] Es gibt also nicht die eine, ge-meinsame polnische Antwort auf den 8. Mai 1945 und die darauf folgenden Tage und Monate, ob das Ende des Krieges eine polni-sche Niederlage oder einen polnischen Sieg bedeutet. Heute fällt uns die gemeinsame Antwort leichter. Aber einfach ist sie nicht. Im Mai 1945 endete ein Krieg, in dem das polnische Volk vor einer drohenden physischen Ausrottung oder einem Leben als Sklaven stand. Die bekannt gewordenen Pläne der Nationalsozialisten versichern, dass diese Befürchtungen keine Übertreibung waren. Unter diesem Aspekt war das Ende des Krieges ein Sieg. Trotz der ungeheuren Verluste ging Polen aus dem Krieg verkleinert hervor, mit neuen, ihm aufgezwungenen Grenzen, die perspektivisch den Verlust der Heimat und eines bedeutenden Teils des Hab und Gu-tes von Millionen Menschen bedeuteten. Vor allem aber bedeu-tete dies, vom Kreml abhängig zu sein.

© aus: Tygodnik Powszechny Nr. 19 (2013) v. 8. Mai 2005, S. 11–12. www.polen-news.de/puw/puw74-01.html. Übers. von Wulf Schade

M 2 Deutsches Konzentrations- und NS- Massenvernichtungslager in Auschwitz (Oswiecim) auf polni-schem Boden. Überlebende Häftlinge am Lagerzaun nach der Befreiung vom nationalsozialisti-schen Terrorregime durch sowjetische Truppen am 26.1.1945. – Januar 1945. © dpa, picture -alliance

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M 3 Jan Osmanczyk: Anlie-gen der Polen (1946)

»Fünfzehn Monate nach Be-endigung des verbrecheri-schen deutschen Krieges ist klar, dass sich der Hass und die Verachtung für das deut-sche Volk in der Welt nicht werden halten können. Un-ausweichlich nähern wir uns dem Tag, an dem man das deutsche Volk, inmitten rau-schender, edler, rührender Bekundungen, wie ein verirr-tes Schäflein in die Weltvöl-kerfamilie wiederaufnehmen wird. […] Machen wir uns nichts vor, Brüder Polens: das viele Dutzend Millionen Men-schen zählende deutsche Volk mitten in Europa wird nicht für alle Ewigkeit oder auch nur für zwanzig Jahre wie eine Leprakolonie behan-delt werden, von der sich die Welt mit Abscheu abwendet. Zu viele Interessen treffen in diesem Teil Europas aufein-ander, um einen solchen Zustand auch nur ein paar Jahre lang aufrecht zu erhalten. Dort wo es Interessen gibt, entsteht auch sehr schnell der Wille zur Zusammenarbeit. […] Der künftige Stre-semann wird keine deutsche Minderheit, keine deutsche Indust-rie mehr in Polen haben, die er der Welt jeden Tag von neuem als eine historische Tatsache würde präsentieren können. Wir sind keine siamesischen Zwillinge mehr. Eine Amputation hat stattge-funden, deren Anblick schmerzhaft gewesen ist für die Welt im Augenblick der Operation, der Aussiedlung der Deutschen aus Polen, aber später nicht mehr […]. Wenn Deutschland stark sein will, dann muss es normal sein. Jede deutsche Regierung muss sich also darum bemühen, dass alle Deutschen genug zu essen und Wohnraum haben. Notwendigerweise wird sie sich also for-ciert darum bemühen, dass die deutschen Aussiedler auf dem Ge-biet des Vierten Reiches Wurzeln schlagen. Wenn wir dreißig Jahre lang mit den Deutschen im Frieden durchhalten, dann wird den Deutschen nichts anderes übrig bleiben, als sich mit der Grenze an Oder und Neiße ein für allemal zu versöhnen.«

© Jan Osmanczyk: Anliegen der Polen,aus: www.nibis.de/nli1/rechtsx/nlpb/pdf/Europa/Nach-barn/polen.pdf

M 4 Brief polnischer Bischöfe, 1965: »Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung«

Den Hirtenbrief richteten die polnischen Bischöfe am 18. November 1965, also mitten im Kalten Krieg und im Vorfeld der 1000-Jahrfeier Polens 1966 (aufgrund des christlichen Hintergrundes der Taufe von Mieszko I. 966 für die kommunistischen Machthaber ein höchst problematisches Ju-biläum), »an ihre deutschen Brüder in Christi Hirtenamt«. Der Brief ist im Original auf Deutsch verfasst.Nach alledem, was in der Vergangenheit geschehen ist – leider erst in der allerneuesten Vergangenheit –, ist es nicht zu verwun-dern, dass das ganze polnische Volk unter dem schweren Druck eines elementaren Sicherheitsbedürfnisses steht und seinen nächsten Nachbarn im Westen immer noch mit Misstrauen be-trachtet. Diese geistige Haltung ist sozusagen unser Generations-problem, das, Gott gebe es, bei gutem Willen schwinden wird und schwinden muss. […] Die Belastung der beiderseitigen Verhält-

nisse ist immer noch groß und wird vermehrt durch das so ge-nannte »heiße Eisen« dieser Nachbarschaft; die polnische West-grenze an Oder und Neiße ist, wie wir wohl verstehen, für Deutschland eine äußerst bittere Frucht des letzten Massenver-nichtungskrieges – zusammen mit dem Leid der Millionen von Flüchtlingen und vertriebenen Deutschen (auf interalliierten Befehl der Siegermächte – Potsdam 1945! – geschehen).Ein großer Teil der Bevölkerung hatte diese Gebiete aus Furcht vor der russischen Front verlassen und war nach dem Westen ge-flüchtet. Für unser Vaterland, das aus dem Massenmorden nicht als Siegerstaat, sondern bis zum Äußersten geschwächt hervor-ging, ist es eine Existenzfrage (keine Frage »größeren Lebensrau-mes«); es sei denn, dass man ein über 30 Millionen-Volk in den engen Korridor eines »Generalgouvernements« von 1939 bis 1945 hineinpressen wollte – ohne Westgebiete; aber auch ohne Ostge-biete, aus denen seit 1945 Millionen von polnischen Menschen in die „Potsdamer Westgebiete“ hinüberströmen mussten. […]Seid uns wegen dieser Aufzählung dessen, was […] geschehen ist, liebe deutsche Brüder, nicht gram. Es soll weniger eine Anklage als vielmehr eine eigene Rechtfertigung sein! […]Und trotz alledem, trotz dieser fast hoffnungslos mit Vergangen-heit belasteten Lage, gerade aus dieser Lage heraus, Hochwür-dige Brüder, rufen wir Ihnen zu: versuchen wir zu vergessen! Keine Polemik, kein weiterer kalter Krieg, aber den Anfang eines Dia-logs. […] Wenn echter guter Wille beiderseits besteht – und das ist wohl nicht zu bezweifeln –, dann muss ja ein ernster Dialog gelingen und mit der Zeit gute Früchte bringen – trotz allem, trotz heißer Eisen. […] In diesem allerchristlichsten und zugleich sehr menschlichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen hin in den Bänken des zu Ende gehenden Konzils, gewähren Vergebung und bitten um Vergebung. Und wenn Sie, deutsche Bischöfe und Konzilsväter, unsere ausgestreckten Hände brüderlich erfassen, dann erst können wir wohl mit ruhigem Gewissen in Polen auf ganz christliche Art das Millennium feiern.

© nach: Bonn – Warschau. 1945–1991. Die deutsch-polnischen Beziehungen. Analyse und Dokumentation. Hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen, Mieczysław Tomala. Köln: Verlag Wissen-schaft und Politik 1992, S. 135–142. www.poleninderschule.de/assets/polen-in-der-schule/downloads/arbeitsblaetter/g-kniefallbrandt-03-AB1.pdf

M 5 »Versöhnung vor Rechtsanspruch!« Aufruf zur Versöhnung. Evangelische und katholische Theologiestudenten demons-trierten 1966 am Rande einer Kundgebung von Vertriebenen. © KNA-Bild Frankfurt/Main

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M 7 Philipp Ther: »Evakuierung, Flucht und Vertreibung«

»Auch die Geschichtswissenschaft steht vor neuen Aufgaben. Die erste ist eine stärkere Differenzierung zwischen Flucht und Ver-treibung. Letzterer Terminus ist in den vergangenen Jahren zu ei-nem Sammelbegriff für alle Arten von Opferschicksalen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges mutiert. Die Evakuierung durch die Nationalsozialisten wird darunter ebenso subsumiert wie die Flucht vor der Roten Armee, die Vertreibung zwischen Kriegsende und dem Potsdamer Abkommen und die vertraglich sanktionierte Zwangsaussiedlung nach dem August 1945. Diese Gleichsetzerei ist schon deshalb fragwürdig, weil sich hinter Flucht und Vertrei-bung verschiedene Schicksale verbergen. Die Nationalsozialisten befahlen die Evakuierung in vielen Gebieten zu spät, um die deut-sche Zivilbevölkerung zum Durchhalten gegen die heranrückende Rote Armee zu zwingen. Doch wer rechtzeitig den Weg in den Westen fand, wie zahlreiche Parteibonzen und Angehörige der gesellschaftlichen Eliten, kam oft glimpflich davon. Hingegen flo-hen die Menschen vor der Roten Armee im Hochwinter, was die meisten Opfer kostete. Schlimm erging es auch den Opfern der sogenannten »wilden Vertreibung« im Frühjahr 1945, denn an ih-nen entlud sich der aufgestaute Hass gegen die ehemaligen Be-satzer. Im Vergleich dazu war die vertraglich geregelte Vertrei-bung nach dem Potsdamer Abkommen stärker durchorganisiert, vor allem nach zusätzlichen Verträgen zwischen den Siegermäch-ten und den beteiligten Staaten Ostmitteleuropas Anfang 1946.

© aus: Philipp Ther: Der Diskurs um die Vertreibung und die Falle der Erinnerung. In: Tho-mas Strobel, Robert Maier

M 8 Arnulf Baring: »Evakuierung, Flucht und Vertreibung«, 9.2.2006

»Je weniger man Genaues über das geplante »Zentrum gegen Ver-treibungen« weiß, desto heftiger kann man streiten. Seit Jahren melden sich aufgeregte Stimmen zu Wort, die Schlimmes be-fürchten, falls ein solches Zentrum errichtet werden sollte. Soll es um ein Mahnmal, eine Gedenkstätte, ein Museum oder um ein Forschungszentrum gehen? Darf es, ja muss es in Berlin errichtet werden? Oder wäre ein Ort im Ausland, etwa in Polen, besser? Breslau wurde genannt. Aber es geht ja nicht nur um das deutsch-polnische Geschehen, um die Untaten beider Seiten. Es geht um das ganze, grausame 20. Jahrhundert. Soll man vielleicht dezent-ral an verschiedenen Orten, in verschiedenen Ländern der Ver-treibungen gedenken? Darf ein solches Vorhaben überhaupt al-lein vom deutschen »Bund der Vertriebenen« verwirklicht werden, unter dem Einfluss seiner Vorsitzenden Erika Steinbach? Oder sollte man seine Hoffnungen auf das »Europäische Netzwerk Er-innerung und Solidarität« mit seinem Sitz in Warschau setzen? Fragen über Fragen. Hinter [den kritischen Fragen zum Projekt Zent-rum gegen Vertreibungen] stand häufig die Befürchtung linker Kreise, die Veranstalter wollten einseitig nur das Leid darstellen, das Deutsche am Kriegsende erlitten hätten, ohne im Zusam-menhang daran zu erinnern, dass dieses Leid seine Ursache im von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg gehabt habe.Mit Hohn und Spott wurde immer wieder das doch verständliche, berechtigte Anliegen lächerlich gemacht, der zwei Millionen deutscher Frauen, Kinder und Greise zu gedenken, die in der Schlussphase des Weltkriegs elend zu Tode gekommen sind. Ach-selzuckend vergisst oder verdrängt man gern das Leiden jener 14 Millionen Landsleute, die aus ihrer Heimat vertrieben, millionen-fach vergewaltigt und verschleppt worden sind. Ich habe diese Gefühllosigkeit, diese Hartherzigkeit immer unbe-greiflich gefunden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer in der weiten Welt uns die Trauer über ermordete Juden, Polen, Russen, Roma, Sinti und andere glaubt, wenn wir uns gleichzeitig emotionslos den Schmerz um die eigenen Toten verbieten. Ich habe den Verdacht immer geradezu als infam empfunden, es gehe den Befürwortern des Zentrums um eine Relativierung, ja gar Leugnung der historischen Zusammenhänge, in deren Folge es zur Massenaustreibung der Deutschen kam. Denn von Anfang an stand ja fest, dass es nicht um ein Zentrum gegen Vertreibung, also einen ausschließlich auf Deutsche bezogenen Erinnerungs-ort gehen solle, sondern um ein »Zentrum gegen Vertreibungen«, um den breit angelegten Versuch also, das vergangene Jahrhun-dert als das Jahrhundert der Vertreibungen vor Augen zu führen. Die Ausstellung der Stiftung »Zentrum gegen Vertreibungen« steht denn auch unter der Überschrift: »Das Jahrhundert der Ver-treibungen. Flucht und Vertreibung in Europa im 20. Jahrhun-dert«.

© www.deutschlandradiokultur.de/vertreibungen-im-20-jahrhundert-wie-sollen-wir-gedenken.1005.de.html?dram:article_id=157879

M 9 Stefan Dietrich: »Besinnungsprozesse kann man nicht beschleunigen. Sie müssen reifen.« 9.2.2008

Vom Auschwitz-Prozess, in dem der Holocaust erstmals in seiner ganzen Unfassbarkeit zur Sprache kam, bis zur Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas in der Mitte der Hauptstadt vergingen vierzig Jahre. Hat das zu lang gedauert? Am Ergebnis gemessen, nicht. Unabhängig davon, wie gelungen man es findet, war es eine unerhörte Tat, dem vereinigten Deutsch-land eine ewige Erinnerung an seinen tiefen Fall ins demokrati-sche Herz einzupflanzen. Einen so revolutionären Besinnungs-prozess kann man nur reifen lassen, nicht beschleunigen. Unangebracht ist aus dem gleichen Grund die Ungeduld, mit der bisweilen von Polen gefordert wird, sich ebenso schonungslos

M 6 Vertreibungsbefehl der polnischen Regierung für Bad Salzbrunn (Nieder-schlesien) vom 14.7.1945. © dpa, picture -alliance

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den dunklen Seiten seiner Geschichte zu stel-len. Es geschieht, aber bis das, worüber sich Wissenschaftler schon längst nicht mehr streiten, zum geistigen Gemeingut wird, ver-geht einige Zeit.Unterdessen stellte der Holocaust in seiner Monstrosität manches in den Schatten, was zwar auch erforscht, aber weit weniger im Bewusstsein der Deutschen präsent ist: den Vernichtungskrieg im Osten, den Bomben-terror der Alliierten, die Zerstückelung Deutschlands und das Schicksal der Vertrie-benen. Der oft unverständlichen Feindselig-keit, die Deutschland in den vergangenen Jahren aus Polen entgegenschlug, liegt der unausgesprochene Vorwurf zugrunde, die Deutschen hätten über der Aufarbeitung ih-rer Verbrechen an den Juden vergessen, was sie dem nichtjüdischen Teil der Polen ange-tan haben. Der scheinbar nahtlose Übergang von der Errichtung des Stelenwalds zum Pro-jekt »Zentrum gegen Vertreibungen« ließ ei-nen Verdacht keimen, der selbst einen Deutschlandfreund und -kenner wie Wlady-slaw Bartoszewski überwältigte.Das war der Kern des absurden Vorwurfs, die Deutschen wollten ihre Geschichte umschrei-ben und aus Tätern Opfer machen. Wie wenig genügt, um ihn zu zerstreuen, zeigte in dieser Woche die Entkrampfung des Streits über das »sichtbare Zeichen«. Die Bereitschaft der Bundesregie-rung, polnische Erinnerungsorte in Berlin aufzuwerten und sich in Danzig an einem Museum des Zweiten Weltkriegs zu beteiligen, hat die Atmosphäre schlagartig verändert.Zuvor hatte auch Deutschland schwer verständliche Signale nach Polen ausgesandt. Es war unsensibel, die Frage der Rückführung deutscher Kulturgüter aus Polen aufzuwerfen, ohne auch nur in Nebensätzen zu erwähnen, dass man sich der gezielten Vernich-tung polnischer Kulturgüter durch die deutsche Besatzung be-wusst sei. Und es war unklug, in einer Frage, die nur politisch ge-löst werden kann, juristisch und moralisch zu argumentieren. Die Moral hat Deutschland hier nicht auf seiner Seite.Tatsächlich ist in Deutschland aber lange Zeit auch beiseite ge-schoben worden, welches Leid Hitlers Eroberungswahn und die Rache der Unterworfenen über die eigene Bevölkerung gebracht hat. Während des Kalten Kriegs war es nicht opportun, über den Bombenterror gegen die Zivilbevölkerung zu sprechen, in Zeiten der Entspannungspolitik wurden die Vertriebenen unbequem. Selbst eine gewiss entspannungsfreundliche Sozialdemokratin wie Helga Grebing, die Historikerin der deutschen Arbeiterbewe-gung, empörte sich 1987 darüber, dass die Art, wie über das Schicksal der Heimatvertriebenen hinweggegangen werde, der »Unfähigkeit zu trauern« ein weiteres Kapitel hinzufüge.Dennoch wurde dieses Thema weitere anderthalb Jahrzehnte lang mit dem Argument unter der Decke gehalten, es könne zur Auf-rechnung und Relativierung deutscher Schuld missbraucht wer-den. In Wirklichkeit waren es die Vertreter dieser These, die durch einfaches Aufrechnen alle an Deutschen begangenen Verbrechen relativierten. Durchbrochen wurde diese skandalöse Abwehrhal-tung erst durch die Vertriebenenvorsitzende Steinbach und ihre Stiftung »Zentrum gegen Vertreibungen«. Provoziert durch die Reizfigur Steinbach, kam endlich eine Diskussion in Gang.Indessen hat auch Frau Steinbachs Stiftungsinitiative zu sehr den Fokus auf die Vertreibungsverbrechen in Europa und auf die Schicksale ihrer Opfer verengt. Als ob bei solchen Vorgängen nur die Vertriebenen etwas verlören, die anderen aber nicht. Es ist auch mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende nur wenigen be-wusst, dass Hitlers Angriffskrieg nicht nur an Sudetendeutschen oder Ostpreußen vergolten wurde, sondern am deutschen Volk als ganzem. Die Strafe war nur nicht für alle gleich schmerzhaft.

Gerade jene, die sie im Nachhinein sogar als »gerecht« empfin-den, spüren nicht einmal so etwas wie einen Phantomschmerz nach der Abtrennung des deutschen Ostens. Normal ist diese Un-empfindlichkeit nicht. Wenn ein Mensch ein Bein verliert, stirbt das Bein, doch der Leidtragende ist der Mensch.Mit dem deutschen Osten ist ein Stück deutscher Identität und europäischer Kultur untergegangen, auch ein Vorbild dafür, wie die Völker in vornationalistischer Zeit miteinander auskamen. Be-trauern kann das aber nur, wer wenigstens eine Ahnung davon bekommt. Das ist es, was das »sichtbare Zeichen« in Berlin ver-mitteln könnte – und was kein Nachbar fürchten muss.

© Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.02.2008, S. 1

M 11 Der polnische Außenminister Władysław Bartoszewski im Jahre 1995 in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag

»Da man nun über das Schicksal der Aussiedler aus Lemberg und Wilna sprechen darf, ist es auch leichter, die menschliche Dimension des Dramas der Aussiedlungen aus Breslau […] zu erblicken. […] Ich möchte es offen aussprechen, wir beklagen das individuelle Schicksal und die Leiden von unschuldigen Deutschen, die von den Kriegsfolgen betroffen wurden und ihre Heimat verloren haben. […] Als Volk, das vom Krieg besonders heimgesucht wurde, haben wir die Tragödie der Zwangsumsiedlungen kennen gelernt sowie die damit verbundenen Gewalttaten und Verbrechen. Wir erinnern uns daran, dass davon auch unzählige Menschen der deutschen Bevölkerung betroffen waren und dass zu den Tätern auch Polen gehörten. Ich möchte es offen aussprechen, wir beklagen das individuelle Schicksal und die Leiden von unschuldigen Deutschen, die von den Kriegsfolgen betroffen wurden und ihre Heimat verloren haben.

© Wladyslaw Bartoszewski: »Kein Frieden ohne Freiheit«. Betrachtungen eines Zeitzeugen am Ende des Jahrhunderts. Baden-Baden 2000. S. 163–169

M 10 Deutschlandhaus, Berlin. Für die Ausstellungs-, Veranstaltungs- und Büroflächen sowie die Mediathek der »Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung« sind derzeit etwa 3.300 Quadratmeter vorgesehen (2014). www.sfvv.de © Paul Zinken, dpa, picture alliance

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EUROPA NACH 1945

6. »Aus Feinden wurden Freunde«. Deutsch-französische Beziehungen von 1945 bis 1963

HENRI MÉNUDIER

Am 7. Mai 1945 wurde die bedingungslose Kapitulation Deutschlands in Reims und am nächsten Tag in Berlin-

Karlshorst unterzeichnet. Der arrogante und steife Feldmar-schall Wilhelm Keitel ärgerte sich darüber, dass Frankreich, der »Erzfeind«, der in wenigen Wochen im Juni 1940 besiegt wurde, nun mit drei anderen Mächten auf der Siegerseite stand. – Am 22. Januar 1963 unterzeichneten in Paris Staats-präsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Ade-nauer den Vertrag über die deutsch-französische Zusammen-arbeit, kurz Elysée-Vertrag oder Freundschaftsvertrag genannt. Nach diesem feierlichen Akt stand De Gaulle auf, ging zu Adenauer und umarmte ihn freundlich. Der Kanzler und alle anwesenden Persönlichkeiten waren überrascht. Wegen der enormen Belastungen der Jahre 1939 bis 1945 war der Übergang von Krieg zu Frieden, von der Erzfeindschaft zur Freundschaft, nicht selbstverständlich. Spitzenpolitiker, Re-gierungen, viele Verantwortlichen in den verschiedensten Be-reichen, einfache Bürger und zahlreiche Organisationen haben das neue deutsch-französische Verhältnis mitgestal-tet. Nach dem furchtbaren Gegeneinander wurde das Mitein-ander von komplexen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen begleitet. Der internationale Kontext und ganz besonders der Kalte Krieg und seine häufi-gen Krisen haben die Annäherung zwischen den westlichen Völkern gefördert. Der Feind Nummer eins war nicht mehr Deutschland sondern die Sowjetunion.

Die achtzehn Jahre zwischen 1945 und 1963 lassen sich in drei sehr unterschiedlichen Phasen einteilen. – Zwischen 1945 und 1949 bestimmt die Besatzungsmacht Frank-

reich das deutsch-französische Verhältnis. – Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 wer-

den die Grundlagen der Partnerschaft in dem westeuropäischen Kontext gelegt.

– Die Jahre 1958–1963 (Bündnis De Gaulle – Adenauer) zeigen die Grenzen und Widersprüche dieser Annäherung, auch wenn sie vom deutsch-französischen Freundschaftsvertrag gekrönt wer-den.

Nachkriegszeit, 1945–1949: Eine schreckliche Bilanz

Die Bilanz des Zweiten Weltkriegs war katastrophal, wobei Deutschland noch schwerer als Frankreich getroffen wurde. Die Zahl der militärischen und zivilen Toten, der Vermissten, der Ver-letzten, der Witwen und Waisen ging in die Millionen. Im Mai 1945 lebten zwangsweise ca. 1,2 Million Franzosen (Kriegsgefangenen, Fremd- und Zwangsarbeiter, Überlebende der Konzentrationsla-ger, Kollaborateure des Vichy-Regimes von Pétain mit dem III. Reich) in Deutschland, über 1 Million deutscher Soldaten gerieten in französischer Gefangenschaft. Darüber hinaus musste das zer-bombte und zerstückelte Deutschland Millionen von Flüchtlingen, Vertriebenen und »Displaced Persons« aufnehmen. Die moralische

Bilanz wurde noch unerträglicher, als der Umfang der industriellen Vernichtung der Juden wahrgenommen wurde. Die materiellen Kriegszerstörungen (Häuser, gewerbliche Bauten, Verkehrsanla-gen) waren auf beiden Seiten des Rheins erschreckend. Es herrschte überall Hunger, Not und soziale Härte. Nach drei Krie-gen zwischen 1870 und 1945 beherrschten Furcht, Misstrauen und Hass die Beziehungen zwischen beiden Völkern, auch wenn die deutschen und französischen Gegner Hitlers sich früh für eine Ver-ständigung engagierten. So viel Elend schuf eine erste menschli-che Basis für gegenseitige Verständigung und Annäherung.

»Nie wieder ein deutsches Reich«

General Charles de Gaulle und die Résistance hatten sich mit Hilfe der Allierten durchgesetzt. Die geschwächte Siegermacht Frankreich wollte eine harte Deutschlandpolitik verfolgen und wieder eine führende Rolle in der Europa- und Weltpolitik spielen. Sie besaß noch ein großes Kolonialreich und als Gründungsmit-glied der Vereinten Nationen in New York verfügte sie seit 1945

Abb. 1 Befreiung von Paris im Zweiten Weltkrieg 1939–1945. Charles de Gaulle im August 1944 auf den Champs Elysées. © dpa, picture alliance

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(bis heute) über einen perma-nenten Sitz im Sicherheitsrat. Frankreich wurde zwar als Be-satzungsmacht in Jalta (4.–11.2.1945) anerkannt, aber in Potsdam (17.7–2.8.1945) nicht eingeladen. Deswegen er-klärte es sich nicht bereit, alle Entscheidungen mitzu-tragen. Es erhielt die kleinste Besatzungszone im Südwes-ten, das Saargebiet und den kleinsten Sektor im nord-westlichen Teil Berlins. Das Hauptziel der französi-schen Politik war zunächst die Zerstückelung und die politi-sche sowie die wirtschaftliche Schwächung des besiegten Deutschlands, damit es nie wieder zu einer Gefahr würde. Die Anweisung De Gaulles war eindeutig: »Es soll nie wieder ein deutsches Reich geben«. Die In-dustriegebiete im Westen, und besonders das Ruhrge-biet, sollten abgetrennt wer-den. Frankreich hätte zudem am liebsten einen separaten deutschen Staat westlich des Rheins gegründet. Es lehnte deshalb die in Potsdam geplanten Zentralverwaltungen ab, damit keine starke Zentralregierung in Berlin wieder entstehen könne. Insofern war Frankreich mitverantwortlich für die deutsche Tei-lung. Paradoxerweise plädierte das zentralistische Frankreich für eine extreme Föderalisierung Deutschlands. Die französische Be-satzungszone wurde von den anderen Zonen streng abgeschnit-ten. Die Besatzer machten sich zudem unbeliebt, als sie das laïzis-tische Erziehungssystem mit Zentralabitur und Französisch als erster obligatorische Fremdsprache einführen wollten.

Die Saarfrage als Zankapfel

Bis 1956 vergiftete die sogenannte »Saarfrage« buchstäblich das deutsch-französische Verhältnis. Dieses Grenzgebiet wechselte mehrfach seit Ludwig, dem XIV. von Deutschland nach Frankreich und umgekehrt. Die Amerikaner eroberten es 1945 und überga-ben es den Franzosen Anfang 1946. Das klare Ziel Frankreichs war dabei die wirtschaftliche Einverleibung des Saarlands als Vorleis-tung für die Wiedergutmachung. Eine Zollgrenze trennte Ende 1946 das Gebiet von den anderen Teilen der französischen Zone und eine eigene Währung wurde eingeführt. Am 15. Dezember 1947 verabschiedete zudem eine verfassungsgebende Versammlung eine eigene Verfassung für das Saarland. Damit sollte das Saarland unabhängig von Deutsch-land sein. Die wirtschaftliche Eingliederung wurde Anfang 1948 durch die Einführung des Francs und eine Zollunion mit Frank-reich vollzogen. Viele Saarländer freuten sich zunächst, weil ihre Lebensbedingungen besser als jene in anderen Teilen Deutsch-lands waren. Eine scharfe Kritik kam jedoch aus Westdeutsch-land, weil diese Politik das Potsdamer Abkommen verletzte.

Deutsch-französischer Kulturaustausch

Für viele Franzosen waren die älteren Generationen in Deutsch-land vom Nationalsozialismus verdorben. Deswegen sollten ins-besondere aus den jungen Deutschen bis etwa 25 Jahre echte De-

mokraten und Europäer gemacht werden. Mit der Verbreitung der französischen Kultur und der Durchführung von deutsch-franzö-sischen Jugendtreffen ab 1946 glaubte man, dieses Ziel erreichen zu können. Es ging dabei nicht nur um Schüler und Studenten. Gleichzeitig wurden junge Arbeiter, Handwerker und Angestellte angesprochen. Französische Kulturinstitute und wissenschaftliche Anstalten wurden gegründet, großzügig finanziert über die Besatzungskos-ten, die von deutscher Seite bezahlt werden mussten. Diese Poli-tik zeichnete sich durch gegenseitige Toleranz, Vielfalt und Quali-tät aus, so dass man diese als rundum erfolgreich und populär betrachten muss. Viele Westdeutsche nahmen dieses großzügige Kulturangebot gern an, da der Kulturtransfer und die Begegnungen zwischen beiden Ländern praktisch seit Anfang der dreißger Jahre unter-brochen war. Es gab viel nachzuholen. So waren z. B. der Philo-soph Jean-Paul Sartre und der Schriftsteller Albert Camus sehr gefragte Autoren und Vortragsreisende in beiden Ländern.Organisationen der Zivilgesellschaft aus Frankreich und Deutsch-land warben für offenen Gedankenaustausch, nicht nur über die traditionelle elitäre Kultur, sondern über alle aktuellen Probleme der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft. Der Jesuitenpater Jean du Rivau gründete schon im Sommer 1945 das »Bureau de Liaison et de Documentation« (BILD), auf deutsch »Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit« (GÜZ), und veröffentlichte die Zeitschrift »Documents und Dokumente«, die jeweils über das andere Land und das deutsch-französische Ver-hältnis berichtete. BILD bzw. GÜZ und die Zeitschriften existieren heute noch. Es folgte 1948 das »Comité français d’Echanges avec l’Allemagne Nouvelle«, das von dem bekannten Philosophen Em-manuel Mounier gegründet wurde und das den auch in Deutsch-land geachteten Professor Alfred Grosser zum Generalsekretär ernannte. Das deutsch-französische Institut in Ludwigsburg, eine bis heute sehr geschätzte wissenschaftliche Institution, wurde von Fritz Schenk, Carlo Schmid, SPD, und Theodor Heuss, FDP, 1949 gegründet.

Abb. 2 Jubel auf den Straßen in Paris am 24. August 1944. Kurz zuvor waren die alliierten Truppen siegreich in der Nor-mandie gelandet und die deutschen Truppen befanden sich auf dem Rückzug. © dpa, picture alliance

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Die Teilung Deutschlands

Der »Kalte Krieg« zwang Frankreich ab 1947 vollends, sich als Teil des westlichen Lagers zu verstehen. Frankreich brauchte drin-gend die Hilfe der Vereinigten Staaten von Amerika für den Wie-deraufbau seiner Wirtschaft und für den Kolonialkrieg in Indo-china (1946–1954), wo die vietnamesischen Kommunisten für ihre Unabhängigkeit kämpften. Als Gegenleistung forderten die Amerikaner eine konstruktivere französische Deutschlandpolitik. Trotz der Vereinbarungen von Potsdam und gemeinsamer Strukturen (wie z. B. Alliierter Kont-rollrat, Kommandantur für Berlin und Außenministerkonferenz) konnten die vier Besatzungsmächte Deutschland nicht einheitlich behandeln. Die Sowjetische Besatzungszone ging schon früh ih-ren eigenen kommunistischen Weg. Schon am 1. Januar 1947 leg-ten die USA und Großbritannien ihre Zonen zur Bizone zusam-men, erst Anfang April 1949 entstand dann mit französischer Beteiligung die Trizone. Im Prozess zur Gründung der Bundesre-publik Deutschland am 23. Mai 1949 blieb Frankreich eher eine bremsende als eine treibende Kraft. Nach Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 wurden beiden Staaten in ihren jeweiligen Ein-flusssphären integriert. Frankreich verurteilte zwar stets offiziell die deutsche Teilung, andererseits beruhigte diese Entwicklung doch viele in Frank-reich, die nach wie vor Befürchtungen gegenüber einem erstar-kenden Deutschland hegten.

OEEC, Europarat, NATO

Der eiserne Vorhang und die verschiedenen Episoden des Kalten Krieges zwangen die westlichen Akteure zu einer engeren Zusam-menarbeit. Ab 1948 koordinierte die OEEC bzw. OECE (»Organisa-tion européenne de Coopération Economique«, auf deutsch: »Or-ganisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit«, mit Sitz in Paris) die Verteilung der amerikanischen Marshallplan-hilfe; am Anfang sprach sich Frankreich sogar gegen die Beteili-gung der westdeutschen Zonen aus.

Seit 1961 übernahm die OEEC, ein Zusam-menschluss von entwickelten Ländern aus Europa, Nordamerika und Japan, andere Auf-gaben. Als Gegenmaßnahme zur OEEC grün-dete 1949 die Sowjetunion mit osteuropäi-schen Staaten den »Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe« (RGW bzw. Comecon), der 1950 auch die DDR aufnahm. Am 5. Mai 1949 gründeten zehn westeuropäi-sche Staaten (noch ohne die Bundesrepublik, die erst am 23. Mai 1949 gegründet wurde) den »Europarat« mit Sitz in Straßburg. Nach französischen Vorstellungen sollte diese Institution den Kern eines föderalen Europas bilden. Der Plan scheiterte jedoch, weil vor allem Großbritannien nationale Sou-veränitätsrechte nicht aufgeben wollte. Der Schutz von Demokratie und Menschenrechte sowie die Zusammenarbeit im kulturellen Be-reich sind die Hauptanliegen des Europarats. Am 4. April 1949 wurde in Washington der Vertrag zur Gründung der »North Atlantic Treaty Organization« (NATO) unterzeichnet. Nach Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO entstand 1955 dann der Warschauer Pakt (UdSSR und osteuropäische Staaten). OECD, Europarat und NATO bleiben bis heute wichtige internationale Organisationen, während sich der RGW, der Warschauer Pakt und die Sowjetunion nach 1991 auflösten.

Deutsch-französische Zusammenarbeit in Europa: Erfolge und Rückschläge: 1949–1958

Bis 1949 war das deutsch-französische Verhältnis von Frankreich einseitig orientiert. Die Lage änderte sich mit der Gründung der Bundesrepublik und der Wahl des Frankreich wohlgesonnenen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, CDU, ein Kölner, damals 73 Jahre alt. Das Misstrauen der Franzosen blieb und der neue Staat stand unter strenger Aufsicht.

Kontrolle Westdeutschlands, Integration der Bundesrepublik Deutschland nach Europa

Gegründet im Januar 1949 durch die drei Westalliierten sollte das Militärische Sicherheitsamt (Sitz in Bad Ems) sicherstellen, dass keine Kriegsgüter in den westdeutschen Betrieben hergestellt wurden.Auch auf Wunsch Frankreichs entstand am 22. April 1949 eine In-ternationale Ruhrbehörde, um die Produktion und die Verteilung von Kohle und Stahl zu überwachen; gleichzeitig sollte der Wie-deraufstieg der deutschen Wirtschaft gezügelt werden. Erst am 21. September 1949, d. h. nach Gründung der Bundesrepublik, trat das Besatzungsstatut in Kraft, das die innere und äußere Souve-ränität des neuen Staates einschränkte. Eine erste Lockerung ge-schah am 22. November 1949 mit dem Petersberger Abkommen; die drei Hohen Kommissare erlaubten der Bundesrepublik konsu-larische Beziehungen zu westlichen Staaten aufzunehmen und Mitglied in internationalen Organisationen zu werden. Die De-montage industrieller Anlagen, an der Frankreich aktiv beteiligt war, wurde beendet. Überraschenderweise eröffnete das Jahr 1950 neue wirtschaftliche und militärische Perspektiven für Ade-nauers Streben nach Gleichberechtigung. Dabei spielten das Ver-hältnis zu Frankreich und der Aufbau Europas eine entscheidende Rolle.

Abb. 3 General Marie-Pierre König (Mitte), der Militärgouverneur der französischen Zone in Deutsch-land, im französischen Außenministerium Quai D›Orsay in Paris während seiner Ansprache. Am 16. April 1948 hatten 16 (west-)europäische Staaten den Vertrag über die europäische, wirtschaftliche Zusammen-arbeit (OEEC=Organization for European Economic Cooperation) unterzeichnet. Die Organisation wurde zur Durchführung und Unterstützung des Marshall-Plans geschaffen. 1960 wurde die OECD Nachfolgeor-ganisation. © dpa, picture alliance

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Montanunion ab 1950

Wegen erheblicher Divergenzen in der Saarfrage kam das deutsch-französische Verhältnis Anfang 1950 nicht weiter. Wa-shington machte Druck, damit Paris konstruktive Vorschläge un-terbreitete. Die Franzosen mussten einsehen, dass sich die Bun-desrepublik Deutschland bald als wichtiger Wirtschaftspartner des Westens behaupten würde. Deshalb, so die USA, wäre es rat-sam, einen europäischen Rahmen zu schaffen, um die Bundesre-publik zu kontrollieren. Der Befreiungsschlag und die Wende ka-men schließlich vom französischen Außenminister Robert Schuman, 1986 in Clausen, einem Vorort von Luxemburg, gebo-ren, der Vater war aber Lothringer. Er lebte in den drei Ländern, Luxemburg, Deutschland und Frankreich. Er übernahm 1950 die Ideen von Jean Monnet, einem Cognacfabrikanten und internati-onalen Geschäftsmann, der seit dem Ersten Weltkrieg eng mit Frankreich, England und den Vereinten Staaten zusammen arbei-tete. In seiner berühmten Rede vom 9. Mai 1950 machte Schuman drei bahnbrechende Vorschläge:1. Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland müssen sich

zuerst versöhnen und zusammenarbeiten. Die Kohle- und Stahlproduktion beider Länder soll deshalb zusammengelegt werden, damit der Krieg zwischen ihnen unmöglich, ja sogar undenkbar werde. Kohle und Stahl waren zentrale Industrien für die Rüstungswirtschaft.

2. Andere europäischen Länder wurden aufgefordert mitzuwir-ken. Italien und die BeNeLux-Staaten machten mit. Großbri-tannien lehnte dagegen ab.

3. Zum ersten Mal in der Geschichte der internationalen Bezie-hungen sollte eine supranationale Organisation gegründet werden, an die die Teilnehmerstaaten weitgehende Kompe-tenzen in den Bereichen Kohle und Stahl abtreten.

Dieser Ansatz ging insgesamt viel weiter als alle bisherigen tradi-tionellen Kooperationen oder gar die bisherige diplomatische Zu-sammenarbeit. Konrad Adenauer, der schon oft seine Ideen über die Aussöhnung mit Frankreich publik gemacht hatte, war begeis-tert und gab sofort seine Zusage. Der Vertrag zur Gründung der »Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl« (EGKS, mit Sitz in Luxemburg) wurde schließlich am 18. April 1951 in Paris unterschrieben. Er trat am 23. Juli 1952 in Kraft: Erster Präsident der Hohen Behörde wurde der »Inspirator« des Schuman-Planes, Jean Monnet. Robert Schuman betrachtete die EGKS dennoch als erste Etappe. Drei weitere Ziele wurden am 9. Mai angekündigt: (1) die Wirtschaftsgemeinschaft, (2) die poli-tische europäische Föderation und (3) die Entwicklung des afrika-nischen Erdteils. Die EGKS schuf Vertrauen zwischen Frankreich und Deutschland, und machte die alliierten Kontrollrechte an der Ruhr obsolet. Die deutsch-französische Partnerschaft für Europa konnte sich mit einer nahezu gleichberechtigten Bundesrepublik Deutschland dadurch weiter entfalten.

Der Streit um die europäische Armee

Der nächste Schritt der europäischen Einigung, der Aufbau einer geplanten west-europäischen Armee, zeigte die Hartnäckigkeit des deutsch-französischen Gegensatzes. Nach der japanischen Kapitulation 1945 wurde Korea geteilt, der Norden befand sich in der Einflusssphäre der Sowjetunion, der Süden stand unter dem Schutz der Vereinten Staaten. Der militärische Angriff Nordkoreas auf Südkorea am 25. Juni 1950 wurde im Westen allgemein als Versuch der Sowjetunion interpre-tiert, den Verteidigungswillen des Westens zu überprüfen. Die Spannungen um das geteilte Berlin (»Berliner Blockade«) und die Entwicklungen im geteilten Deutschland insgesamt nährten da-mals zudem die Spannungen des Ost-Westverhältnisses, des so-genannten »Kalten Krieges«. Mit dem Koreakrieg (1950–1953)

stellte sich in dramatischer Weise die Frage der Verteidigung der Bundesrepublik. Die Hauptlast der Verteidigung des Westens trugen spätestens seit 1945 die Amerikaner. Viele stellten sich die Frage: In welcher Form sollte sich daran die bisher nicht militarisierte Bundesrepu-blik beteiligen, der es wirtschaftlich immer besser ging? Frankreich war im Krieg gegen den Viêt-minh (1946–1954) von Hô Chi Minh involviert. Fünf Jahre nach der deutschen Kapitulation wollte es andererseits auf keinen Fall die Renaissance einer neuen deutsche Armee unterstützen. Deshalb suchte die französische Regierung wie vor fünf Monate mit dem Schuman-Plan einen Ausweg über die westeuropäische Einigung. Am 24. Oktober 1950 schlug deshalb der französische Regierungschef René Pleven vor, eine gemeinsame europäische Armee aufzubauen. Die sechs EGKS-Staaten unterschrieben folg-lich am 27. Mai 1952 den Vertrag über die »Europäische Verteidi-gungsgemeinschaft«, EVG. Ergänzend wurde eine »Europäische Politische Gemeinschaft«, EPG, in Aussicht gestellt. Nach langwierigen Verhandlungen scheiterten jedoch beide weit-reichenden Integrationsprojekte vor der französischen National-versammlung am 30. August 1954. Für viele überzeugte Europäer stellte dies einen schwarzer Tag dar, von dem Europa sich nie wieder erholt hat. Die militärische Niederlage Frankreichs in Diên Biên Phu (Nordvi-etnam) Anfang Mai 1954 hatte viele Militärs und Politiker frust-riert, die jetzt die Auflösung der französischen Armee in einem europäischen Verband ablehnten. In der EVG hätte Frankreich über nationale Atomwaffen nicht mehr allein verfügen können.

Abb. 4 Jules Moch, der Sprecher der Kommission für auswärtige Angelegenhei-ten der Nationalversammlung, am Rednerpult. Am 29. August 1954 erreichte die Debatte um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Nationalversammlung einen ersten Höhepunkt. In mehrstündigen Reden ver-fochten Gegner wie Befürworter bei der bis in die Nacht dauernden Debatte ihre Standpunkte. Am Abend des 30. August lehnten die Abgeordneten mit 319 gegen 264 Stimmen die Ratifizierung des EVG-Vertrages ab. © dpa, picture alliance

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Pariser Verträge vom 23. Oktober 1954

Erstaunlicherweise wurde unter Druck der Amerikaner und Briten und bei gespannter Ost-West-Lage eine Ersatzlösung innerhalb von nur sieben Wochen gefunden. Nach kurzen Verhandlungen in London fand die Unterzeichnung der Pariser Verträge am 23. Ok-tober 1954 statt. Die Bundesrepublik sah sich dabei als Hauptge-winnerin dieser unerwarteten und raschen Entwicklung.1. Der »Deutschlandvertrag» beendete das Besatzungsregime Westdeutschlands und gewährte der Bundesrepublik eine weit-gehende Souveränität (eine erste Fassung lag schon seit Mai 1952 in Verbindung mit dem EVG-Vertrag vor), wenn auch die Bundes-republik auf die Produktion von Atomwaffen verzichten und Rüs-tungsbeschränkungen und weitere Kontrollen in Kauf nehmen musste. Die Westalliierten behalten zudem ihre Rechte »in Bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes«.2. Die Bundesrepublik wurde Mitglied der neuen »Westeuropäi-schen Union«, WEU, mit Sitz in London (dies bedeutete den Bei-stand im Verteidigungsfall für die EGKS-Staaten und Großbritan-nien). Gleichzeitig geschah der Beitritt zur NATO. Die NATO-Mitglieder verpflichten sich dabei nicht nur zum Beistands-pakt, sondern auch dem Ziel der Wiedervereinigung Deutsch-lands. Wegen der europäischen und atlantischen Integration der Bun-deswehr waren viele in Frankreich beruhigt. Der Verzicht auf ABC-Waffen schloss allerdings die Produktion von taktischen Atom-waffen mit anderen Staaten nicht aus. So gab es 1958 dann auch tatsächlich einen solchen Versuch mit Frankreich und Italien, den aber De Gaulle strikt ablehnte. Taktische Waffen dürfen aber seit-her auf dem Boden der Bundesrepublik gelagert werden. Die Wiederaufrüstung und die Atomdebatte im zivilen wie im mi-litärischen Bereich führten in der Folgezeit auch in der Bundesre-publik zu langen und scharfen Kontroversen. Auch in Frankreich gab es Auseinandersetzungen über den deutschen Militarismus, wenn sie auch nicht mit den innenpolitischen Debatten in Deutschland zu vergleichen sind.

Die Pariser Verträge traten schließlich am 5. Mai 1955 in Kraft und damit war die Bundesrepublik Deutschland sechs Jahre nach ihrer Gründung mit gewissen Einschränkungen (ABC-Waffen und Vier-mächterechte bezüglich Berlin und Deutschland als Ganzes) völ-kerrechtlich – im Westen – wieder gleichberechtigt. Die Hohe Kommission der Alliierten mit ihrem symbolischen Sitz auf dem Petersberg bei Bonn verschwand nun zugunsten der Ver-tretung der West-Alliierten durch ihre diplomatischen Vertreter, ihre Botschafter. Die Pariser Verträge schufen plötzlich auch günstige Bedingungen für die Lösung der Saarfrage und für einen neuen Anlauf der Einigung Europas.

Die Europäisierung der Saarfrage, 1954–1957

Seit 1950 waren das Saarland und die Bundesrepublik assoziierte Mitglieder (ohne Stimmrecht) des Europarats in Straßburg. Die Bundesrepublik lehnte bis 1951 eine Vollmitgliedschaft aus Pro-test gegen die Aufnahme des Saarlandes und wegen möglicher Probleme einer deutschen Einheit ab. Verschiedene Abmachun-gen und Konventionen zwischen Frankreich und dem Saarland verschlechterten weiterhin das deutsch-französische Verhältnis. Frankreich strebte nach wie vor die politische und wirtschaftliche Trennung von der Bundesrepublik an und Bonn wiederholte im-mer wieder, dass dieses Gebiet staatsrechtlich zu Deutschland gehörte. Viele Deutsche betrachteten deshalb die französische Saarpolitik als eine verschleierte Annexion.In enger Zusammenarbeit zwischen Adenauer und dem französi-schen Regierungschef Pierre Mendés France gab es endlich in Pa-ris am 23. Oktober 1954 eine Einigung, die ähnlich wie die Ent-wicklung zur Montanunion und zur – gescheiterten – europäischen

Abb. 6 »Die Spaltung Deutschlands«. – Interpretation des Pariser Abkommens durch die DDR als Besiegelung der Spaltung Deutschlands. Der SED Vorsitzende Walter Ulbricht hat sich auf der 9. Tagung des ZK 1965 dahingehend geäußert. © dpa, picture alliance

Abb. 5 Die Sonderbriefmarke »50 Jahre Pariser Verträge« wurde 2005 in Ber-lin vorgestellt. Von links der französische Ministerpräsident Pierre Mendes-France, der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer, der Außenminister Groß-britanniens, Anthony Eden, und der Außenminister der USA, John Foster Dulles, nach der Unterzeichnung der Verträge. Mit dem Inkrafttreten der Verträge am 5.5.1955 erlangte die Bundesrepublik die weitgehende Souveränität. © Justin Peach, dpa, picture alliance

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Armee (EVG) lief, ein Weg über die westeuro-päische Einigung. Das Saarland sollte innerhalb der WEU euro-päisiert werden, ohne die Währungs- und Zollunion mit Frankreich aufzugeben. War diese Lösung realistisch und lebensfähig? Darüber sollten die Saarländer per Volksab-stimmung entscheiden. Dies geschah am 23. Oktober 1955. Bei einer Wahlbeteiligung von 96,7 % lehnten 67,7 % der Wähler das vorgelegte Statut ab, 32,3 % waren dafür. Der amtierende Minister-Präsi-dent des Saarlandes, Johannes Hoffmann, CVP (für die Europäisierung), trat daraufhin zurück. Nach Neuwahlen eroberte die CDU für viele Jahre dieses Land. Am 27. Oktober 1956 un-terzeichneten Adenauer und der französische Regierungschef Guy Mollet ein Abkommen. Die politische Eingliederung des Saarlandes an die Bundesrepublik erfolgte schon am 1. Januar 1957, die wirtschaftliche Eingliede-rung sollte bis Juli 1959 abgeschlossen wer-den. So war das Saarland das elfte Bundes-land (einschließlich West-Berlin). Das Saarland bildete, obwohl lange Zeit Zankap-fel gewesen, eine neue Brücke zwischen bei-den Ländern.

Gemeinsamer Markt und Euratom, 1957

Das Scheitern der EVG und der EPG sperrten zunächst den Weg zu einer weitergehenden politischen und militärischen Integration Westeuropas. Der Erfolg der Montanunion (EGKS) zeigte dage-gen, dass die Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Bereich aus-gebaut werden konnte. Dies war vornehmlich die Entscheidung der Außenminister der sechs EGKS-Staaten in Messina, Sizilien, am 1. und 2. Juni 1955. Frankreich war wegen der EVG isoliert und die europäischen An-stöße kamen deshalb von den Benelux-Staaten und ganz beson-ders vom Sozialisten Paul-Henri Spaak, mehrfacher Außen- und Premier Minister in Belgien. Am 25. März 1957 wurden danach zwei wichtige Verträge in Rom unterzeichnet.1. Der Vertrag über die »Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), mit Sitz in Brüssel. Der erste Präsident der Kommission wurde Professor Dr. Walter Hallstein, Staatssekretär im Bundes-kanzleramt und dann im Auswärtigen Amt.2. Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft, (EURATOM); der Präsident der Euratom-Kommision war der Franzose Louis Ar-mand. EURATOM sollte, besonders auf Wunsch Frankreichs, die Zusammenarbeit im zivilen Bereich entwickeln.Dass gerade ein Deutscher und ein Franzose die neuen Institutio-nen leiteten, zeigte, dass ihre Länder einen großen Einfluss auf der europäischen Ebene ausübten. Die Ernennung Walter Hall-steins war zudem eine Anerkennung der Gleichberechtigung der Bundesrepublik und ihrer verstärkten Rolle in Europa. Die Grund-lagen für eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit im europäischen Rahmen wurden also im Grunde zwischen 1950 und 1957 gelegt.

De Gaulle – Adenauer: 1958–1963

General Charles de Gaulle war ohne Zweifel der französische Staatsmann, der sich am intensivsten militärisch und politisch mit Deutschland beschäftigte. Nach dem Ersten Weltkrieg war er Besatzungsoffizier in Westdeutschland. Da er Deutsch als erste

Fremdsprache gelernt hatte, konnte er Publikationen in deut-scher Sprache und auch solche über Militärfragen lesen. Seine politische Zukunft war lange unsicher. Als Chef der Provisorischen Regierung in Paris (August 1944 – Januar 1946) trat er bald zurück und nach anfänglichen Erfolgen (1947–1953) scheiterte seine Par-tei, »Rassemblement du Peuple Français«, (RPF, »Versammlung des französischen Volkes«). Er zog sich daraufhin in sein Landhaus »La Boisserie« in Colombey-les-deux-Eglises (Département Marne, Ostfrankreich) zurück, um seine Kriegsmemoiren zu schreiben. Seit November 1954 kämpfte die französische Armee gegen die »Bewegung für die Unabhängigkeit Algeriens«. Die schwachen und unstabilen Regierungen der IV. Republik (1946–1958) wurden damit nicht fertig. Wegen Putschdrohungen in Algier, der Haupt-stadt der damaligen französischen Kolonie Algerien, kam De Gaulle am 1. Juni 1958 an die Macht zurück, zunächst als Regie-rungschef und Anfang 1959 als Präsident der Republik (bis zu sei-nem Rücktritt am 28. April 1969). Die von ihm konzipierte neue Verfassung der V. Republik hatte seine Macht erheblich verstärkt.Seit 1945 hatte sich De Gaulle widersprüchlich über Deutschland und Europa geäußert. Er war strikt gegen die Entstehung einer neuen deutschen Macht, aber manchmal erwähnte er die positi-ven Möglichkeiten einer deutsch-französischen Zusammenarbeit in Europa. Seine Abneigung gegen die Supranationalität der EGKS und der EVG waren bekannt. Allerdings verfolgte er mit Wohlwol-len die Politik Adenauers. Bundeskanzler Adenauer stand De Gaulle zunächst sehr reserviert gegenüber, ja war sogar misstrau-isch. Adenauer begrüßte dann aber ausdrücklich die Ernennung des französischen Botschafters in Bonn, Maurice Couve de Mur-ville, zum französischen Außenminister. Maurice Couve de Mur-ville blieb in dieser Funktion bis 1968, eine einmalige Dauer für französische Verhältnisse. Entgegen vieler Befürchtungen blockierte De Gaulle dann die An-fänge der EWG und des Euratoms nicht. Die Überraschung war groß, als das erste Treffen mit Adenauer am 14.–15. September 1958 in dem privaten Landhaus De Gaulles in Colombey-les-deux-

Abb. 7 Bundeskanzler Konrad Adenauer (links) und der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Walter Hallstein, setzten am 25. März 1957 im Konservatoren-Palast auf dem Kapitol in Rom ihre Unterschriften unter die Römischen Verträge. Die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) waren besiegelt. Zunächst nahmen sechs westeuropäische Staaten daran teil. © dpa, picture alliance

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Eglises stattfand. Kein anderer ausländischer Staatsmann hatte je eine solche Einladung erhalten. Diese vertrauliche Unterredung verlief durchwegs positiv. De Gaulle und Adenauer, die schließlich viel Respekt für einander pflegten, entdeckten zunehmend, dass sie persönlich und politisch viele gemeinsamen Vorstellungen hatten. Bereits bei den ersten Treffen, die im Durchschnitt zwei-mal im Jahr stattfanden, unterbreitete De Gaulle Adenauer weit-reichende Vorschläge für eine engere Zusammenarbeit. Adenauer hätte gerne von Anfang an mitgemacht, musste aber aus innenpo-litischen Gründen vorsichtig handeln. Meinungsverschiedenhei-ten über die Führung der NATO (De Gaulle wollte 1958 eine Füh-rungsgruppe Frankreich, Großbritannien und USA, ohne die Bundesrepublik) oder über das Verhältnis der EWG zu Großbritan-nien belasteten zudem die Beziehungen zwischen Paris und Bonn. Zudem lehnte De Gaulle den britischen Vorschlag einer großen europäischen Freihandelszone zunächst ab. Auf der anderen Seite brauchte Adenauer die feste Unterstützung De Gaulles, weil der sowjetische KP-Chef Nikita Chruschtschow nach dem Tode Stalins seit Herbst 1958 das Viermächtestatus Berlins in Frage stellte. De Gaulle wollte auf keinen Fall nachgeben. Die britische Regierung und der neue amerikanische Präsident John F. Kennedy erwogen dagegen Entspannungsvorleistungen trotz des Baus der Berliner Mauer im August 1961 und der Kubakrise im Jahre 1962.

Der »Fouchet-Plan«

Bei einem Gipfeltreffen am 11. Februar 1962 konnte De Gaulle Adenauer und die anderen Regierungschefs der EWG davon über-zeugen, dass ein neuer Anlauf in Richtung politische Union Euro-pas möglich sei. Eine dazu eingerichtete Arbeitsgruppe tagte un-ter dem Vorsitz des französischen Botschafters Christian Fouchet. De Gaulle wollte vor allem eine regelmäßige Zusammenarbeit zwischen den Regierungen. Insbesondere die Benelux-Staaten lehnten allerdings ab, um die Supranationalität der Gemeinschaft nicht zu gefährden. Die Verhandlungen scheiterten schließlich am 17. April 1962. Da der Krieg in Algerien Anfang Juli 1962 endete, konnte und wollte sich De Gaulle nun stärker der europäischen Außenpolitik widmen. Mit der Bundesrepublik wollte er einen Kern bilden, der die Zukunft der EWG bestimmen sollte.

Die Staatsbesuche 1962

Durch die Staatsbesuche im Sommer 1962 wurde das deutsch-französische Verhält-nis gefestigt. Der Besuch Ade-nauers in Frankreich endete symbolisch mit einer deutsch-französischen Truppenparade in Mourmelon und einem Hochamt in der Kathedrale von Reims. Der Gegenbesuch De Gaulles, der mit viel Skep-sis in der deutschen öffentli-chen Meinung anfing, ent-puppte sich gar zu einer von vielen Zeitgenossen beschrie-benen »Triumphreise«. De Gaulle imponierte dem Publi-kum, weil er seine Reden di-rekt auf Deutsch und ohne Notizen sprach. Mit geradezu theatralischen Bewegungen erwähnte er oft »das große

deutsche Volk …, jawohl das große deutsche Volk«. Die Zuhörer waren begeistert. Beide Regierungen wünschten nun eine Vertie-fung und Verankerung der Zusammenarbeit. Adenauer, der Mitte Oktober 1963 zurücktreten musste, wollte seinen designierten Nachfolger, den eher franzosenskeptischen Ludwig Erhard, CDU, damals noch Bundeswirtschaftsminister, in die Pflicht nehmen, damit die Zusammenarbeit mit Paris auch in der Zukunft hohe Pri-orität genießen sollte.

Elysée-Vertrag und Präambel

So entstand am 22. Januar 1963 der Vertrag über die deutsch-fran-zösische Zusammenarbeit. Drei Dokumente spielen dabei eine zentrale Rolle.1. Die gemeinsame Erklärung von Adenauer und De Gaulle erläu-

tert den Geist des Vertrags. Der Aufbau Europas wird zum ge-meinsamen Ziel beider Völker erhoben. Vier Schlüsselworte definieren die Aufgaben der Zukunft: Versöhnung, Zusam-menarbeit, Solidarität und Freundschaft.

2. Der Vertrag selber besteht aus zwei Hauptteilen. Die Organi-sation bestimmt, dass die Staats- und Regierungschefs, die zuständigen Minister und die Hohen Beamten dieser Ministe-rien sich regelmäßig treffen. Das Programm sieht eine enge Zusammenarbeit in drei Bereichen vor: Außenpolitik, Verteidi-gung, Erziehung und Jugend (ein Deutsch-Französisches Ju-gendwerk wurde im Juli 1963 gegründet). Die Zusammenar-beit im wirtschaftlichen Bereich wurde dagegen kaum erwähnt, vor allem um Auseinandersetzungen mit Ludwig Er-hard, einem entschiedenen Befürworters der Marktwirtschaft und Atlantikers, zu vermeiden. Kultureller Austausch wurde auch nicht Teil des Vertrags, vor allem aus Rücksicht auf die Kompetenzen der Bundesländer in Deutschland. In beiden Bereichen werden trotzdem viele Initiativen entwickelt.

3. Die Präambel des Deutschen Bundestags (15. Juni 1963). Zur Verärgerung vieler deutscher Politiker legte De Gaulle am 14. Januar 1963 sein Veto gegen den Beitritt Großbritanniens in die EWG ein. Um den Eindruck zu vermeiden, de Gaulle könnte damit auch Einfluss auf die Prioritäten der deutschen Außenpolitik gewinnen, wurde deshalb eine Präambel zum Vertrag verabschiedet, die nur die Bundesrepublik bindet. Ohne auf die Vertiefung und Weiterentwicklung der deutsch-französischen Versöhnung zu verzichten, unterstrichen die

Abb. 8 Unterzeichnung des Vertrages über die deutsch-französische Zusammenarbeit in Paris, Elysée-Palast, 22. Januar 1963. – Am Tisch von links: der deutsche Außenminister Gerhard Schröder, Bundeskanzler Konrad Adenauer, Staatspräsident Charles de Gaulle und Premierminister Georges Pompidou. © da, picture alliance

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deutschen Parlamentarier, dass die Er-weiterung der EWG, das atlantische Bündnis und die deutsche Einheit durch diesen Freundschaftsvertrag nicht in Frage gestellt würden.

Kritik und Verdienste

Diese Präambel war wie eine Ohrfeige für De Gaulle. Die drei nächsten Jahre mit Bundes-kanzler Ludwig Erhard (1963–1966) waren deshalb sehr schwierig. Interessenkonflikte sowie starke Divergenzen zwischen Deutsch-land und Frankreich wurden deutlich. De Gaulle wurde Opfer der Widersprüche und Inkonsequenzen einer Politik, die ein »Eu-ropa der Staaten« (Oft übersetzt: ein »Europa der Vaterländer«) gegen den Willen der ande-ren Partner durchsetzen wollte. Seine Ableh-nung der Supranationalität und der Erweite-rung der EWG sowie sein Antiamerikanismus irritierten. Insbesondere viele Deutschen fanden De Gaulles Nationalismus unzeitge-mäß und übertrieben. Aber auch für Ade-nauer bedeutete die Präambel eine bittere Niederlage, weil er die Grabenkämpfe in der CDU-CSU zwischen den »Gaullisten« und den US-freundlichen »Atlantiker« nicht überbrücken konnte. Trotz berechtigter Kritik dürfen die Verdienste beider Staatsmän-ner nicht geschmälert werden. Unter schweren inneren und äuße-ren Bedingungen ist es Adenauer gelungen, die Bundesrepublik fest im Westen zu verankern und aus dem manchmal unsicheren Frankreich den wichtigsten Partner zu machen. Weil er in beiden Weltkriegen gegen Deutschland kämpfte, hat De Gaulle der deutsch-französischen Aussöhnung eine nationale Legitimation in Frankreich gegeben, die seither nicht mehr zur Disposition stand. Der deutsch-französische Vertrag war deshalb keinesfalls, wie manchmal behauptet, ein »tot geborenes Kind« oder eine »leere Schale«. Durch die regelmäßigen Treffen und die Institutio-nalisierung der Zusammenarbeit konnten viele Krisen besser be-wältigt und gemeinsame Projekte unternommen werden.Die deutsch-französische Zusammenarbeit hat jedoch nicht erst mit De Gaulle und Adenauer 1958 angefangen, sie geht auch auf das Jahr 1945 und auf die bahnbrechende Rolle von Jean Monnet und Robert Schuman 1950 zurück. Es darf auch nicht vergessen werden, dass zahlreiche Menschen, Organisationen, Verbände und Netzwerke die Verständigung in allen Bereichen beider Län-der mitentwickelt haben. Die erste Städtepartnerschaft (Lud-wigsburg – Montbéliard) wurde bereits 1950 geschlossen. Die Städte- und Gemeindepartnerschaften haben sich in den Jahren Adenauer – De Gaulle schnell entwickelt (1958: 25 Partnerschaf-ten; 1963: 130; 1969: 400).

Literaturhinweise

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De Gaulle, Charles (1971): Memoiren der Hoffnung, Die Wiedergeburt 1958–1962, München, Zürich.

Hudemann, Rainer, Jellonek, Burkhard, u. a., (Hrsg.) (1997): Grenz Fall. Das Saarland zwischen Frankreich und Deutschland, 1945–1960, Sankt-Ingbert.

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Rovan, Joseph(1986): Zwei Völker, eine Zukunft. Deutsche und Franzosen an der Schwelle des 21. Jahrhunderts, München und Zürich.

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Weidenfeld, Ernst (1986): Welches Deutschland soll es sein? Frankreich und die deutsche Einheit seit 1945, München.

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Ziebura, Gilbert (1997): Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, Pfullingen, 1970 und 1997

Internethinweise

Deutschland und Frankreich., APuZ 1–3/2013: www.bpb.de/apuz/152058/deutschland-und-frankreich

DeuFraMat: Deutsch-französische Materialien für den Geschichts- und Geo-graphieunterricht: www.deuframat.de

Geschichte der EU. http://europa.eu/about-eu/eu-history/index_de.htm

Rede de Gaulles an die deutsche Jugend: www.degaulle.lpb-bw.de (mit Video)

Kimmel, Elke (2005): Besatzungspolitische Ausgangssituationen: www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/marshallplan/39984/besatzung?p=all

50 Jahre Elysée-Vertrag: www.deutschland-frankreich.diplo.de

Abb. 9 50-Jahre Elysée-Vertrag: Abgeordnete aus Frankreich und Deutschland nahmen am 22.01.2013 im Bundestag in Berlin an einer gemeinsamen Sitzung des Bundestages und der französischen National-versammlung teil. Am 22.01.1963 wurde der deutsch-französische Freundschaftsvertrag in Paris unter-zeichnet. © Maurizio Gambarini, dpa, picture alliance

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MATERIALIEN

M 1 Joseph Rovan: »Besatzung und Umerziehung in Deutsch-land«

»Nun ist also der Moment des Schweigens gekommen. Die dunkle Stimme schweigt, die seit Jahrhunderten Europa in Atem hält. Furchtbarer als die große Leere des Interregnums im Mittelalter hinterlässt der Sturz des Dritten Reichs das deutsche Volk: stumm, zerrissen, jeder Macht über sich selbst beraubt, fremden Händen ausgeliefert. Europa muss nun weiterleben, während an-stelle seines Herzens ein leerer Raum gähnt, ohne Leben und ohne politischen Willen. Deutschland, aus eigener Schuld, wird uns allen fehlen. Welch ein Absturz! Niemals war es (so) siegreich gewesen wie im Jahre 1940, aber niemals noch ist eine europäi-sche Großmacht so besiegt gewesen wie Deutschland heute«. (S. 84). »Vom subjektiven Standpunkt aus gesehen haben die Fran-zosen durch Deutschland so viel gelitten, das sie ihm gegenüber kaum eine andere Reaktion haben können, als seinen Untergang zu wünschen, um es definitiv vergessen zu können, nicht ohne vorher Rache und die notwendigen Reparationen von ihm erhal-ten zu haben« (S. 85–86).»Die Besetzung Deutschlands ist keine Angelegenheit, die man Verwaltungsleuten und Militärs überlassen sollte, das wäre eine seltsame und gefährliche Abdankung des Bürgergeistes« (S. 86). »Die französische Besatzung muss beispielhaft sein und eine mo-ralische und geistige Spur hinterlassen«. (…) »Es ist infolgedessen für die Lage nötig, für das Leben Frankreichs in Europa, dass die französische Besetzung besser sein soll als die der anderen, ge-wiss nicht im Sinne des materiellen Überflusses – woher sollten wir ihn nehmen – und auch nicht in dem der Demagogik oder ei-ner falschen Verbrüderung, sondern die kenntnisreichste und die menschlichste. Sie kann dann gleichzeitig die härteste sein. Die Deutschen selbst, die diese Stärke respektieren, werden dies leicht akzeptieren« (…) »Die Besetzung ist für die neue Französi-sche Republik eine Gewissensfrage. Sie ist vor den Augen der zu-sehenden Völker das Maß, mit dem unsere Fähigkeit der Erneue-rung gemessen werden wird« (S. 88).»Sollen wir jetzt vielleicht die Vorstellung übernehmen, dass es zwei Rassen in der Welt gibt, diejenige, die für die Rettung der Menschenwürde gekämpft hat, und diejenige, die weil sie sich ge-gen diese Würde erhoben hat, nun von ihr ausgeschlossen und aus ihr ausgestoßen sein soll, so dass die Sieger sie ungestraft erniedrigen dürften?« (S. 89). »Jeder Franzose, der heute für eine Parzelle Deutschlands verantwortlich ist, handelt, richtet, verur-teilt und regiert im Namen Frankreichs. Wie ist sein Geist auf die-ses Amt, auf diese Verantwortung vorbereitet worden?« (S. 90).»Viele Franzosen haben so viel gelitten, dass sie heute zu müde sind, um auf die Schreie der Opfer zu hören. Welch erschrecken-des Zeichen, wenn unser eigenes Leiden uns dem Leiden der an-deren verschließt« (S. 91). »Die Franzosen schulden Deutschland weder Vergessen noch Zärtlichkeit. Sie schulden sich selbst, dass in Deutschland Gerechtigkeit herrscht, eine strenge, unbeug-same Gerechtigkeit. Sie schulden sich selbst, dass ihre Vertreter im besetzten Deutschland jene Prinzipien vertreten und anwen-den, die wir gegen den Faschismusverteidigt haben. Je mehr un-sere Feinde die Züge des menschlichen Gesichts ausgelöscht ha-ben, um so mehr müssen wir diese in ihnen respektieren, ja sogar verschönern. Unsere Prinzipien sind universal« (S. 92).»Das Ziel des Unternehmens, wie wir gesehen haben, umschreibt bereits die Methode: Der Respekt vor der lebendigen Person ist gleichzeitig Doktrin und Handlung« (S. 100). »In diesem Geist wird die Umerziehung Deutschlands eine der vornehmsten Aufgaben des wiederaufgebauten Frankreichs. Wenn der Wahlspruch der Republik nicht mehr die universale Berufung Frankreichs aus-drückt, in wessen Namen hat die ‹Résistance› Widerstand geleis-tet? Die fürchterliche Wunde, die Deutschland, im Herzen Euro-pas, nunmehr aufweist, wird über das Werk der (anderen)

Nationen richten. Das Deutschland von morgen wird das Maß unserer Verdienste sein« (S. 101–102).

Joseph Rovan, 1918 in München geboren, musste 1933 nach Frankreich emig-rieren. Nach Studium, Kriegsdienst auf französischer Seite und Mitarbeit in der Résistance wurde er 1944 verhaftet. Anfang Juli 1944 wurde er mit dem »train de la mort« (ca. 900 Tote von 2400 Transporthäftlingen) in das Kon-zentrationslager Dachau deportiert. Ende April 1945 wurde er von den Ame-rikanern befreit. In den folgenden Jahren war er unter anderem Mitarbeiter in der Französischen Hohen Kommission in Deutschland. Im Herbst 1946 begann er seine Tätigkeit im Dienste des Wiederaufbaus der Volkshochschu-len und der gesamten Erwachsenenbildung in der französischen Zone sowie der deutsch-französischen Jugendtreffen. Von Januar 1948 bis Anfang 1951 leitete er das Amt Volksbildung (»culture populaire«) in der französischen Verwaltung in Deutschland. Er arbeitete als Journalist für französische und deutsche Medien. 1968 wurde er Professor für deutsche Geschichte und Politik an der Sorbonne, Paris, daneben Präsident des »Bureau International de Liaison et de Documentation/ Gesellschaft für deutsch-französische Zusammenarbeit«. Gleich nach der Rückkehr von Dachau veröffentlichte er am 1. Oktober 1945 in der links-katholischen Monatszeitschrift »Esprit« von Emmanuel Mounier einen Beitrag »L’Allemagne de nos mérites« (»Deutsch-land, wie wir es verdienen«). Diese Schrift wurde sehr beachtet, weil sie den Franzosen empfahl, nicht die Fehler des Versailler Vertrags von 1919 zu wie-derholen. Die Prinzipien der Résistance und der Revolution von 1789 sollten den Geist der französischen Besatzungspolitik in Deutschland begleiten.

© Joseph Rovan (1986): Zwei Völker – eine Zukunft. Deutsche und Franzosen an der Schwelle des 21. Jahrhunderts, München, Zürich, Piper, 206 S., darin: S. 83–101: »Deutsch-land, wie wir es verdienen«

M 2 Übersichtskarte über die Zonenabgrenzung nebst Übergangsbahnhöfen, Duisburg (Westring Verlags– und Vertriebsgesellschaft), 20. 11.1945. © akg images

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M 3 Alain Lattard: »Zielkonflikte franzö-sischer Besatzungspolitik in Deutschland«

Die Jahre 1945–1949 werden bei deutsch-fran-zösischen Gedenkfeiern meistens nicht er-wähnt. Diese unmittelbare Nachkriegszeit weckt wohl bei niemandem angenehme Erin-nerungen1. Auf deutscher Seite hat die Prä-senz Frankreichs in Berlin und im Südwesten des Landes ebenso wie seine Beteiligung an der Viermächteverwaltung vor allem den Ein-druck einer harten und eigensinnigen Politik hinterlassen. Weil Paris für immer die deut-sche Gefahr bannen wollte, widersetzte es sich jeder politischen Zentralisierung: Die anfänglichen Forderungen waren für das linksrheinische Gebiet die Schaffung eines Pufferstaates, der politisch, wirtschaftlich und militärisch ganz im Machtbereich Frank-reichs stehen sollte, und für den Rest des Lan-des die Aufgliederung in mehrere Staaten, die in einem möglichst lockeren konföderalen Rahmen zusammengefasst sein sollten. In wirtschaftlicher Hinsicht ging es sowohl um die unmittelbare Be-friedigung der Bedürfnisse des französischen Wiederaufbaus durch Reparationen und die Ausnutzung der Besatzungszone wie um die langfristige Sicherung einer industriellen Vorrangstellung in Europa durch die Angliederung des Saargebiets an die nationale Wirtschaft und die Internationalisierung der Ruhr – womit der französischen Eisen- und Stahlindustrie eine solide Energiebasis auf Kosten ihrer deutschen Konkurrenz gesichert werden sollte.Vom französischen Standpunkt aus betrachtet ist die Bilanz dieser vier Jahre in den Beziehungen mit den Nachbarn jenseits des Rheins genauso wenig erfreulich. Kaum war die französische Be-teiligung an der Besetzung auf der Konferenz von Jalta akzeptiert worden, da gaben die Sowjetunion und dann auch die Angelsach-sen die Idee, Deutschland zu zerstückeln, auf. Obwohl sich Paris dadurch von Anfang an isoliert sah, verfolgte es weiter seine ur-sprünglichen Ziele, in der Überzeugung, die Meinungsverschie-denheiten zwischen den Alliierten ausnutzen und sich als Schieds-richter ins Spiel bringen zu können. Doch musste man von diesen ehrgeizigen Plänen bald Abstriche machen und sich schließlich mit einem einzigen und ganz vorläufigen Erfolg hinsichtlich der Saar begnügen. Die Enttäuschungen in Deutschland brachten Frankreich unter anderem zum Bewusstsein, dass es in einer künf-tigen bipolaren Welt angesichts seiner ökonomischen Schwäche den Rang einer Großmacht nicht mehr beanspruchen könne.Doch die Geschichtsschreibung, die diese Phase der deutsch-französischen Beziehungen der Vergessenheit zu entziehen be-ginnt, bestätigt nicht allein die schlechten Erinnerungen. Sicher, viele Arbeiten machen die Härte des Besatzers deutlich, seine Verständnislosigkeiten, seine Irrtümer und seine Ungerechtigkei-ten, was manchmal zu recht unfreundlichen Beurteilungen führt. Aber die Forschungen zeigen uns auch, dass man das gleichför-mig negative Bild des französischen Wirkens in Deutschland nu-ancieren muss – denn es ist weitaus stärker als das der anderen Alliierten durch Inkohärenzen und Widersprüche gekennzeich-net. Diese sind vor allem aus dem Umstand zu erklären, dass sich Frankreich natürlich vor Kriegsende nicht auf die Besetzung vor-bereiten konnte und danach seine Regierung so sehr von nationa-len Problemen beansprucht wurde, dass sie unfähig war, die Poli-tik der Zone in folgerichtiger Weise zu planen. Abgesehen von den Entscheidungen, die sich direkt aus den feststehenden Prämissen – der Zerstückelung Deutschlands und seiner wirtschaftlichen Ausbeutung – ergaben, hatte die Verwaltung in Baden-Baden demzufolge große Bewegungsfreiheit.

© Lattard, Allain: Zielfonflikte französischer Besatzungspolitik in Deutschland, Viertelsjah-reshefte für Zeitgeschichte, Heft 1, 1991, S. 1–3

M 5 Elke Kimmel (2005): »Besatzungspolitische Ausgangssi-tuationen«, hier: Französische Zone

Wie die Sowjetunion war Frankreich zuvor selbst lange Zeit von deutschen Truppen besetzt gewesen. Frankreich wurde erst mit der Konferenz von Jalta im Februar 1945 in den Kreis der Besat-zungsmächte aufgenommen. An der Potsdamer Konferenz nahm es nicht teil, erklärte sich aber mit den Verhandlungsergebnissen einverstanden. Trotzdem blockierten die Franzosen im Herbst 1945 mit ihrem Veto den Versuch, eine deutsche Zentralverwal-tung aufzubauen. Für die Franzosen war es angesichts der Kriege von 1870/71, des Ersten und Zweiten Weltkriegs von zentraler Be-deutung, ein Wiedererstarken Deutschlands und damit einen neuerlichen Angriff zu verhindern. Um dies zu gewährleisten, for-derten sie die Errichtung eines strikt föderal ausgerichteten Staa-tes sowie die Kontrolle der deutschen Kohle- und Stahlindustrie. Langfristig dachte man in Frankreich an die Abtrennung der links-rheinischen Gebiete von Deutschland und an eine Internationali-sierung des Ruhrgebietes. Das Saargebiet erhielt tatsächlich 1946 einen Sonderstatus und gehörte zunächst zum französischen Zollgebiet. Ab dem 1. April 1948 wurde es – erweitert um Teile des Rheinlands – dem französischen Staatsgebiet zugeschlagen. Fak-tisch die gesamte Schwerindustrie der französischen Zone befand sich in diesem Bereich. Die Entnazifizierungspolitik wurde ver-gleichsweise pragmatisch angegangen. Die Besatzungsmacht beschränkte sich auf die Säuberung der Spitzenpositionen von NS-Funktionären. (…) Die im Rahmen des Potsdamer Abkom-mens vereinbarten Demontagen wurden zügig durchgeführt. Frankreich konnte damit einen Teil der im Krieg erlittenen Ver-luste ausgleichen. Außerdem vermied die französische Besat-zungsmacht besondere Belastungen, wie sie Briten und Amerika-nern entstanden waren, indem sie kaum Flüchtlinge und Vertriebene in ihrer Zone aufnahm. Im Gegensatz zu Großbritan-nien und den USA konnte Frankreich so die Ausgaben für seine Besatzungszone gering halten und verhindern, dass zusätzliche Kosten die durch den Krieg gestörten französischen Staatsfinan-zen belasteten. Insbesondere im Alliierten Kontrollrat erwiesen sich die französischen Positionen als hinderlich, da Frankreich lange Zeit der Bildung zentraler deutscher Verwaltungen vehe-ment widersprach. (…) Erst kurz vor Gründung der Bundesrepub-lik Deutschland, am 8. April 1949 bildete die französische Zone gemeinsam mit der »Bizone« die »Trizone«.

© Kimmel, Elke (2005): Besatzungspolitische Ausgangssituationen: www.bpb.de/ge-schichte/deutsche-geschichte/marshallplan/39984/besatzung?p=all

M 4 Französische Besatzungszone 1945: Plakatanschlag mit Fotos von KZ-Opfern und der Anordnung, dass die Zerstörung des Plakats bei Todesstrafe verboten sei. © akg images

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M 6 Robert Schuman: »Der Schuman-Plan«. Erklärung vom 9.5.1950

Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferi-sche Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerlässlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen. Frankreich, das sich seit mehr als zwan-zig Jahren zum Vorkämpfer eines Vereinten Europas macht, hat immer als wesentliches Ziel gehabt, dem Frieden zu dienen. Eu-ropa ist nicht zustande gekommen, wir haben den Krieg gehabt.Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch kon-krete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird. Das begonnene Werk muss in ers-ter Linie Deutschland und Frankreich erfassen. Zu diesem Zweck schlägt die französische Regierung vor, in einem begrenzten, doch entscheidenden Punkt sofort zur Tat zu schreiten. Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen, in einer Organisation, die den anderen europäi-schen Ländern zum Beitritt offensteht. Die Zusammenlegung der Kohle- une Stahlproduktion wird sofort die Schaffung gemeinsa-mer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern – die erste Etappe der europäischen Föderation – und die Bestimmung jener Gebiete ändern, die lange Zeit der Herstellung von Waffen gewidmet waren, deren sicherste Opfer sie gewesen sind.Die Solidarität der Produktion, die so geschaffen wird, wird be-kunden, dass jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist. Die Schaf-fung dieser mächtigen Produktionsgemeinschaft, die allen Län-dern offensteht, die daran teilnehmen wollen, mit dem Zweck, allen Ländern, die sie umfasst, die notwendigen Grundstoffe für ihre industrielle Produktion zu gleichen Bedingungen zu liefern, wird die realen Fundamente zu ihrer wirtschaftlichen Vereinigung legen. Diese Produktion wird der gesamten Welt ohne Unter-schied und Ausnahme zur Verfügung gestellt werden, um zur He-bung des Lebensstandards und zur Förderung der Werke des Frie-dens beizutragen. Europa wird dann mit vermehrten Mitteln die Verwirklichung einer seiner wesentlichsten Aufgaben verfolgen können: die Entwicklung des afrikanischen Erdteils. So wird ein-fach und rasch die Zusammenfassung der Interessen verwirklicht, die für die Schaffung einer Wirtschaftsgemeinschaft unerlässlich ist und das Ferment einer weiteren und tieferen Gemeinschaft der Länder einschließt, die lange Zeit durch blutige Fehden getrennt waren. Durch die Zusammenlegung der Grundindustrien und die Errichtung einer neuen Hohen Behörde, deren Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Län-der bindend sein werden, wird dieser Vorschlag den ersten Grund-stein einer europäischen Föderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerlässlich ist.Um die Verwirklichung der so umrissenen Ziele zu betreiben, ist die französische Regierung bereit, Verhandlungen auf den folgen-den Grundlagen aufzunehmen. Die der gemeinsamen Hohen Be-hörde übertragene Aufgabe wird sein, in kürzester Frist sicherzu-stellen: die Modernisierung der Produktion und die Verbesserung der Qualität, die Lieferung von Stahl und Kohle auf dem französi-schen und deutschen Markt sowie auf dem aller beteiligten Länder zu den gleichen Bedingungen, die Entwicklung der gemeinsamen Ausfuhr nach den anderen Ländern, den Ausgleich im Fortschritt der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft dieser Industrien. Um diese Ziele zu erreichen, müssen in Anbetracht der sehr verschie-denen Produktionsbedingungen, in denen sich die beteiligten Länder tatsächlich befinden, vorübergehend gewisse Vorkehrun-gen getroffen werden, und zwar: die Anwendung eines Produk-tions- und Investitionsplanes, die Einrichtung von Preisausgleichs-mechanismen und die Bildung eines Konvertierbarkeits-Fonds,

der die Rationalisierung der Produktion erleichtert. Die Ein- und Ausfuhr von Kohle und Stahl zwischen den Teilnehmerländern wird sofort von aller Zollpflicht befreit und darf nicht nach verschiede-nen Frachttarifen behandelt werden. Nach und nach werden sich so die Bedingungen herausbilden, die dann von selbst die ratio-nellste Verteilung der Produktion auf dem höchsten Leistungsni-veau gewährleisten. (…) Die Einrichtung einer Hohen Behörde präjudiziert in keiner Weise die Frage des Eigentums an den Be-trieben. In Erfüllung ihrer Aufgabe wird die gemeinsame Hohe Behörde die Vollmachten berücksichtigen, die der Internationalen Ruhrbehörde übertragen sind, ebenso wie die Verpflichtungen jeder Art, die Deutschland auferlegt sind, so lange diese bestehen.

© Robert Schuman: Für Europa. 2. Aufl., Paris, CH-Chêne-Bourg,1963–2010, S. 145–148, http://europa.eu/about-eu/basic-information/symbols/europe-day/schuman-declara-tion/index_de.htm

M 8 Charles de Gaulle: »Rede an die deutsche Jugend«, Lud-wigsburg 9.9.1962

Sie alle beglückwünsche ich! Ich beglückwünsche Sie zunächst, jung zu sein. Man braucht ja nur die Flamme in ihren Augen zu beobachten, die Kraft ihrer Kundgebungen zu hören, bei einem jeden von Ihnen die persönliche Leidenschaftlichkeit und in ihrer Gruppe den gemeinsamen Aufschwung mitzuerleben, um über-zeugt zu sein, dass diese Begeisterung Sie zu den Meistern des Lebens und der Zukunft auserkoren hat.

M 7 Titelseite einer Broschüre aus Frankfurt/ Main aus dem Jahre 1951. Auf der Grundlage des Schuman-Plans unterzeichneten am 18. April 1951 sechs Mitgliedstaaten den Vertrag zur EGKS, der sogenannten Montan-union. Links: Robert Schuman, rechts: der westdeutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer. © akg images

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Ich beglückwünsche Sie ferner, junge Deut-sche zu sein, dass heißt Kinder eines großen Volkes. Jawohl eines großen Volkes, das manchmal im Laufe seiner Geschichte große Fehler begangen hat. Ein Volk, das aber auch der Welt fruchtbare geistige wissenschaftli-che, künstlerische und philosophische Wel-len beschert hat, das die Welt um zahlreiche Erzeugnisse seiner Erfindungskraft, seiner Technik und seiner Arbeit bereichert hat.; ein Volk, das in seinem friedlichen Werk, wie auch in den Leiden des Krieges, wahre Schätze an Mut, Disziplin und Organisation entfaltet hat. Das französische Volk weiß das voll zu würdigen, da es auch weiß, was es heißt, unternehmens- und schaffensfreudig zu sein, zu geben und zu leiden.Schließlich beglückwünsche ich Sie, die Ju-gend von heute zu sein. Im Augenblick, wo Sie in das Berufsleben treten, beginnt für die Menschheit ein neues Leben. Angetrieben von einer dunklen Kraft, auf Grund eines un-bekannten Gesetzes, unterliegen die materi-ellen Dinge dieses Lebens einer immer ra-scheren Umwandlung. Ihre Generation erlebt es und wird es noch weiter erleben, wie die Gesamtergebnisse der wissenschaftlichen Entdeckungen und der maschinellen Ent-wicklung die physischen Lebensbedingungen der Menschen tief umwälzen. Dieses wunder-bare Gebiet, das ihnen offen steht, soll durch diejenigen, die heute in ihrem Alter stehen, nicht einigen Auserwählten vorbehal-ten bleiben, sondern für alle unsere Mitmenschen erschlossen werden. Sie sollen danach streben, dass der Fortschritt ein ge-meinsames Gut wird, sodass er zur Förderung des Schönen, des Gerechten und des Guten beiträgt, überall und insbesondere in Ländern wie den unseren, welche die Zivilisation ausmachen; so-mit soll den Milliarden der in den Entwicklungsländern Lebenden dazu verholfen werden, Hunger, Not und Unwissenheit zu besie-gen und ihre volle Menschenwürde zu erlangen.Das Leben in dieser Welt birgt jedoch Gefahren. Sie sind umso größer, als der Einsatz stets ethisch und sozial ist. Es geht darum zu wissen, ob im Laufe der Umwälzungen der Mensch zu einem Sklaven in der Kollektivität wird oder nicht; ob es sein Los ist, in dem riesigen Ameisenhaufen angetrieben zu werden oder nicht; oder ob er die materiellen Fortschritte völlig beherrschen kann und will, um damit freier, würdiger und besser zu werden.Darum geht es bei der großen Auseinandersetzung in der Welt, die sie in zwei getrennte Lager aufspaltet und die von den Völkern Deutschlands und Frankreichs erheischt, dass sie ihrem Ideal die Treue halten, es mit ihrer Politik unterstützen und es, gegebenen-falls, verteidigen und ihm kämpfend zum Sieg verhelfen. Diese jetzt ganz natürliche Solidarität müssen wir selbstverständ-lich organisieren. Es ist die Aufgabe der Regierungen. Vor allem müssen wir ihr aber einem lebensfähigen Inhalt geben, und das soll insbesondere das Werk der Jugend sein. Während es die Auf-gabe unserer beiden Staaten bleibt, die wirtschaftliche, politi-sche und kulturelle Zusammenarbeit zu fördern, sollte es ihnen und der französischen Jugend obliegen, alle Kreise bei ihnen und bei uns dazu zu bewegen, einander immer näher zu kommen, sich besser kennen zu lernen und engere Bande zu schließen.Die Zukunft unserer beiden Ländern, der Grundstein auf dem die Einheit Europas gebaut werden kann und muss, und der höchste Trumpf für die Freiheit der Welt bleiben die gegenseitige Achtung, das Vertrauen und die Freundschaft zwischen dem französischen und dem deutschen Volk.

© www.ludwigsburg.de/site/Ludwigsburg-Internet/get/1105080/REDE-de_gaulle.pdf

M 10 Konrad Adenauer, CDU: »Rede zum deutsch-französi-schen Freundschaftsvertrag in Köln am 23.6.1964«

»Dieser deutsch-französische Vertrag ist von der übrigen Welt mit einer gewissen Zurückhaltung begrüßt worden, zuerst in den Ver-einigten Staaten. Die Vereinigten Staaten haben aber den Stand-punkt, den sie zuerst eingenommen haben schon lange aufgege-ben und begrüßen den deutsch-französischen Vertrag als ein Zeichen der Stabilität und des Friedens in Europa. Auch die übri-gen europäischen Länder haben nicht die geringste Veranlas-sung, wegen dieses deutsch-französischen Vertrags irgendein Misstrauen zu hegen. Der deutsch-französische Vertrag enthält Bestimmungen, die geradezu da sind, ein neues Vorwärtsgehen zu ermöglichen. In der Präambel (genauer in der zweiten Schlussbe-stimmung: HM) des deutsch-französischen Vertrags wird aus-drücklich gesagt, dass jedes europäisches Land, das zu dem Kreis des Sechs gehört, von den deutsch-französischen Verhandlungen unterrichtet werden soll. Weiter wird dann gesagt, dass dieser deutsch-französische Freundschaftsvertrag den Weg für eine Ei-nigung Europas ebnen soll, weil ohne eine Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland keine Einigung in Europa geschaffen werden könne. Jeder, der unvoreingenommen die ganze Sachlage übersieht, wird darin zustimmen: Dieses deutsch-französisches Abkommen ist geradezu die Grundlage einer Einigung Europas.«

© nach: Dokumente, Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, Winter 2012, N°4, S. 28 (Verlag Dokumente, Bonn).

M 9 » Händedruck zwischen dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle (l) und Bundesprä-sident Heinrich Lübke, CDU, nach der Rede des französischen Staatsgastes im Schlosshof von Lud-wigsburg am 9.9.1962. De Gaulle und Bundespräsident Heinrich Lübke sprachen dort zu deutschen und französischen Jugendlichen. © dpa, picture alliance

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EUROPA NACH 1945

7. Großbritannien und Europa: Churchills Europa-Rede und die Nachkriegspolitik des Vereinigten Königreichs

FRANZ-JOSEF BRÜGGEMEIER

Am 19. September 1946 hielt der lang-jährige britische Premierminister Win-

ston Churchill in der Universität Zürich eine Rede und formulierte dort Vorschläge, die heute prophetisch erscheinen, damals jedoch großes Erstaunen hervorriefen. Die Völker Europas, so Churchill, müssten die Schrecken des Krieges vergessen, sich stattdessen auf ihr gemeinsames Erbe be-sinnen und ein vereintes Europa schaffen. Daraus könnten eines Tages sogar die Ver-einigten Staaten von Europa hervorgehen. Schon dieser Vorschlag kam überraschend, denn die Folgen des Krieges waren noch überall zu spüren. In weiten Gebieten des Kontinents, so Churchill, starrten »unge-heure Massen zitternder menschlicher Wesen gequält, hungrig, abgehärmt und verzweifelt auf die Ruinen ihrer Städte und Behausungen«. Hass und Rachegefühle seien verbreitet. Angesichts dieser Zu-stände von einer europäischen Völkerfami-lie zu sprechen, mutete verwegen an, doch Churchill ging noch einen Schritt weiter. Um diese Familie zu erreichen, müsse in einem ersten Schritt eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland ent-stehen – eine Partnerschaft zwischen zwei Nationen, die allein in den acht Jahrzehn-ten vor Churchills Rede drei Kriege gegen-einander geführt hatten und zwischen denen nach Meinung von Zeitgenossen ge-radezu eine »Erbfeindschaft« bestand.

»Churchills Rede« und ihre Bedeutung bis heute

Es überrascht deshalb nicht, dass nach Meinung der Times viele Personen diese Vorschläge als »ungeheuerlich« ansahen. Doch es gab auch andere Reaktionen. George C. Marshall, ab 1947 Au-ßenminister der USA und Vater des nach ihm benannten Mar-shall-Plans, gab an, dass Churchills Züricher Plädoyer für ein ver-eintes Europa ihn zu seinem Plan inspiriert hätten. Die damals noch schwache europäische Bewegung sah darin eine wichtige Bestätigung ihrer Bemühungen, und bis heute gilt Churchills Rede als ein zentraler Beitrag zur europäischen Einigung. Diese Einschätzung ist zutreffend, doch ein genauer Blick zeigt, dass die Rede nicht einfach als prophetische Aussage zu interpretie-ren ist, sondern zahlreiche Botschaften und auch Widersprüche enthielt. So forderte Churchill zwar ein vereintes Europa, meinte damit aber die Länder Kontinentaleuropas, nicht hingegen das Vereinigte Königreich. Dieses sollte den Einigungsprozess mit Nachdruck unterstützen, sich jedoch nicht selbst daran beteili-gen. Wichtiger sei Großbritanniens Zugehörigkeit zum Com-

monwealth, wo es weiterhin seine führende Rolle ausüben sollte. Außerdem müsse das Streben nach europäischer Einigung von dem Bemühen begleitet werden, ein gutes Verhältnis zu den USA zu pflegen. Denn nur deren Eingreifen in beiden Weltkriegen habe die Versklavung und den Untergang Europas verhindert. Ohne die Vereinigten Staaten wäre dieser Kontinent in das »fins-tere Mittelalter mit seiner Grausamkeit und seinem Elend« zu-rückgekehrt. Damit sind Merkmale des europäischen Einigungsprozesses be-nannt, die bis heute bestehen: das Verhältnis von Großbritannien zu Europa, das immer wieder durch Spannungen und einer oft-mals unklaren Rolle des Vereinten Königsreichs geprägt war; die Beziehung der europäischen Institutionen und Staaten zu den USA, die nicht weniger konfliktreich verlief; und schließlich deren Verhältnis zu den damaligen Kolonien in Afrika, Asien und Latein-amerika. Auf den ersten Blick drängt sich der Eindruck auf, seit der Rede Churchills im Jahre 1946 habe sich nicht viel geändert. Das gilt vor allem, wenn wir die sowohl zustimmende wie zurück-haltende Position Großbritanniens zur europäischen Einigung

Abb. 1 Am 19. 9.1946 hielt der ehemalige Premierminister von Großbritannien Winston Churchill in der Aula der Universität Zürich eine Rede, in der er zur Einigung Europas aufruft: »Let Europe arise!« © Keystone/ Photopress-Archiv, dpa, picture alliance

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betrachten, die in der Rede so deutlich wurde. Doch tatsächlich fanden seitdem wichtige Veränderungen statt, die besser zu erkennen sind, wenn wir die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg genauer betrachten.

Belastungen nach dem Zweiten Weltkrieg

Zum Zeitpunkt der Rede war Europa durch die Zerstörungen und Belastungen des Krie-ges geprägt, die noch viele Jahre fortbestan-den. Diese betrafen auch Großbritannien, wo Bombenangriffe ebenfalls enorme Schäden angerichtet hatten, zahlreiche Tote und Ver-wundete zu beklagen waren und das Land gegenüber den USA tief verschuldet war. Ent-sprechend blieben dort auch nach Kriegs-ende Lebensmittelkarten sowie andere For-men der Rationierung bestehen und mussten teils noch erweitert werden. Doch verglichen mit Kontinentaleuropa befanden sich Wirt-schaft und Versorgung Großbritanniens in einer deutlich besseren Lage. Hier blickten keine hungrigen Menschenmassen »verzwei-felt auf die Ruinen ihrer Städte«. Zudem mussten sich die Bewohner des Vereinigten Königreichs vor allem politisch keine Sorgen machen. Großbritannien war das einzige größere Land Europas, das während des Krieges nicht besetzt war, wo es keine Kollabo-ration mit den Nationalsozialisten gegeben hatte und wo nach dem Krieg dieselben Parteien, Personen und Institutionen be-standen wie zuvor. Mehr noch: Politik und Gesellschaft gingen gestärkt aus dem Krieg hervor, nach dessen Ende bestand eine verbreitete Aufbruchstimmung.

Regierungswechsel im Vereinigten Königreich

Leidtragender dieser Stimmung waren die Konservativen unter Churchill. Dieser hatte wesentlich dazu beigetragen, den Krieg zu gewinnen und einen nahezu mythischen Status erlangt. Doch eine Mehrheit der Wähler traute ihm nicht zu, den erhofften Neu-anfang umzusetzen. Die Wahlen, die kurz nach der deutschen Ka-pitulation am 5. Juli 1945 stattfanden, gewann deshalb die Labour Partei. Churchill sah sich zu seiner großen Enttäuschung in die

Opposition verbannt und musste sogar die Verhandlungen in Potsdam verlassen, wo er zusammen mit Roosevelt und Stalin die Welt der Nachkriegszeit neu ordnen wollte. Entsprechend beklei-dete er bei seiner Rede in Zürich kein Regierungsamt, was viel-leicht dazu beitrug, dass er sich frei genug fühlte, derart weitrei-chende und kühne Vorschläge zu unterbreiten. In London hatte die neue Labour-Regierung inzwischen mit weit-reichenden Reformen begonnen, die den Wohlfahrtsstaat be-gründeten, wichtige Industrien verstaatlichten und ein starkes Eingreifen des Staates in Gesellschaft und Wirtschaft ermöglich-ten. Von solchen Maßnahmen waren die anderen europäischen Länder weit entfernt. Sie mussten erst einmal neue Parteien und Institutionen begründen oder bestehende gründlich verändern, um stabile politische Verhältnisse zu schaffen und Demokratie sowie Parlamentsherrschaft (erneut) zu etablieren. Ihre Belastun-gen und Herausforderungen unterschieden sich fundamental von der Situation im Vereinten Königreich. Es ist deshalb verständlich, dass Churchill die europäischen Länder bei ihren Bemühungen unterstützen und Schritte zu einem vereinten Europa fördern, sich aber selbst daran nicht beteiligen wollte. Dazu waren die je-weils herrschenden Bedingungen und Aufgaben zu unterschied-lich und wurden noch größer, wenn zusätzlich das Common-wealth betrachtet wurde.

Großbritannien und das Commonwealth

Das Commonwealth bestand nach dem Zweiten Weltkrieg aus unabhängigen Staaten wie Neuseeland, Australien oder Kanada und zahlreichen Kolonien. Wie schon im Ersten hatte diese auch im Zweiten Weltkrieg entscheidende Unterstützung geboten und gezeigt, wie wichtig das Commonwealth für Großbritannien war. Dessen Fortbestand musste allerdings gesichert werden. In den Kolonien breiteten sich Unabhängigkeitsbewegungen aus, be-sonders in Indien. Hier gewannen diese während des Krieges und vor allem nach dessen Ende in kurzer Zeit ein derartiges Gewicht, dass die britische Herrschaft sich nicht halten konnte. Im Mai 1947, weniger als ein Jahr nach Churchills Rede, erlangte Indien seine Unabhängigkeit. Die Bewegungen in anderen Kolo-nien erfuhren dadurch Auftrieb und konnten sich zudem auf die

Abb. 2 Wahlplakat der Labour Party 1945 in Großbritannien. Mitten in der Potsdamer Konferenz 1945 wurde der konservative britische Premierminister Winston Churchill durch den neuen Premier Clement Richard Attlee, Labour, abgelöst. © labour.org.uk

Abb. 3 Siegesfeier in London anlässlich der deutschen Kapitulation im Mai 1945 und des Ende des Zwei-ten Weltkriegs. © dpa, picture alliance

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USA berufen. Roosevelt hatte im August 1941, vor dem Kriegsein-tritt seines Landes, in der Atlantik-Charta zusammen mit Chur-chill das Selbstbestimmmungsrecht der Nationen vereinbart. Dieses war mit dem britischen Kolonialbesitz eigentlich nicht ver-einbar, so dass Churchill das Dokument eher widerwillig unter-zeichnete. Seine Befürchtungen, die USA würden Unabhängig-keitsbewegungen in den Kolonien unterstützen, traten nach Ende des Krieges allerdings nicht ein. Dazu trug wesentlich der auf-kommende Kalte Krieg bei, denn diese Bewegungen wurden be-schuldigt, für Ziele der Sowjetunion bzw. des Kommunismus ein-zutreten. Als Großbritannien gegen diese kämpfte, vertrat es deshalb nicht veraltete koloniale Ansprüche, sondern verteidigte die Freiheit des Westens und erhielt dafür die Unterstützung der USA.Neben politischen und militärischen Gründen besaß das Com-monwealth auch wirtschaftlich für das Vereinigte Königreich eine wichtige Bedeutung. Hier wurde seit langem ein großer Teil des britischen Handels abgewickelt, und angesichts der Zerstö-rungen in Europa sah es nicht danach aus, dass hier auf abseh-bare Zeit wichtige Märkte entstehen könnten. Entsprechend be-teiligten die britischen Regierungen sich nicht an den Bemühungen, eine größere wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa zu erreichen. Das galt für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die 1952 entstand, und insbesondere für die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1957. Auch Churchill, der von 1951 bis 1955 wieder Premier-minister war, zeigte daran kein Interesse. Wie bereits in Zürich sah er diese Schritte zur europäischen Einigung als Aufgabe der kontinentaleuropäischen Staaten, nicht hingegen seines Landes.

Die NATO und die Sonderstellung von GB

Dieses mangelnde Interesse betraf jedoch nur die politischen und wirtschaftlichen Einigungsbemühungen, nicht hingegen die militärischen, die allerdings über Europa hinausreichten. Als 1949 die NATO entstand, war Großbritannien eines der Grün-dungsmitglieder und besaß nach den USA die größte Bedeutung.

Gerade die Regierung in London legte großen Wert darauf, dass die USA Teil dieses Bündnisses wurde. Wie Churchill in seiner Zü-richer Rede ausführte, hatte dieses Land in beiden Weltkriegen entscheidend zum Sieg der Alliierten beigetragen. Nach dem Ers-ten Weltkrieg zog es sich aus Europa und teils auch aus der Welt-politik zurück, was nach Meinung vieler Zeitgenossen dazu bei-trug, dass in Europa erneut ein Weltkrieg ausbrach. Um einen derartigen Rückzug nicht noch einmal aufkommen zu lassen, sollten dieses Mal die USA in Europa eingebunden bleiben, vor allem militärisch durch die NATO. Churchill schwebte sogar eine enge transatlantische Gemeinschaft der englischsprachigen Länder vor, die jedoch kaum mehr war als ein romantischer Traum. Erfolgsversprechender war das Bemühen, gegenüber den USA eine ‚besondere Partnerschaft’ zu etablieren, zumal diese es erleichterte, weiterhin zum Kreis der drei großen Weltmächte zu gehören.Angesichts der Schwäche der anderen europäischen Länder und des Fortbestandes von Commonwealth und Kolonien, sprach ei-niges für diese Sonderstellung, wenngleich unklar war, worin ge-nau diese bestehen und wie stark dabei die Position Großbritan-niens sein sollte. Bei der Konferenz in Potsdam im Jahr 1945 gehörte dieses Land noch zu den drei großen Mächten, die über die Nachkriegsordnung berieten. Churchill und Attlee, sein Nach-folger als Premierminister, konnten die Entscheidungen beein-flussen, handelten aber bereits als Juniorpartner der USA. In den folgenden Jahren zeigte sich mehr und mehr, wie ungleich die Kräfteverhältnisse zwischen den beiden Weltmächten USA und UdSSR auf der einen und Großbritannien auf der anderen Seite tatsächlich waren. Und spätestens bei der Suez-Krise (1956) musste die Regierung in London erfahren, dass die USA nicht die-selben Ziele und Interessen verfolgten wie ihr britischer Partner und sich ggf. gegen ihn stellten. Großbritannien hatte zusammen mit Frankreich Ägypten angegriffen, das den Suez-Kanal ver-staatlicht hatte, musste jedoch auf amerikanischen Druck die Truppen zurückziehen und sah sich bloßgestellt. Das Verhältnis dieser beiden Länder war deshalb nicht gleichberechtigt, aber en-ger als zu den anderen europäischen Staaten. Das galt nicht nur militärisch, wo beide Länder in der NATO eng zusammen arbeite-ten, sondern zumindest genauso politisch, wirtschaftlich und

Abb. 4 Das britische Empire/ Das britische Commonwealth und die Unabhängigkeitsbewegungen seit 1945 © www.atlasofbritempire.com

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kulturell, wo sie auf seit langem bestehende Traditionen und Gemeinsamkeiten zurück-greifen konnten.

Frankreichs Distanz zu GB

Für de Gaulle waren diese Gemeinsamkeiten zu ausgeprägt. Als 1961 die britische Regie-rung den Beitritt zur EWG beantragte, schei-terte sie vor allem an dessen Veto. Er sah in Großbritannien einen »amerikanischen Pu-del«, der sich nicht wirklich auf Europa ein-lassen wollte. Diese Beurteilung hatte einen zutreffenden Kern. Die britische Regierung wollte der EWG zwar beitreten, zugleich aber an den engen Beziehungen zu den USA fest-halten. Sie vertrat weiterhin die Positionen, die Churchills in Zürich vertreten hatte: Eine enge Zusammenarbeit mit den USA sei – ge-rade im Kalten Krieg – sowohl grundsätzlich für Europa wie speziell für Großbritannien unverzichtbar. So konnte die Regierung in London nur deshalb als Atommacht agieren, weil sie auf amerikanische Trägerraketen zu-rückgreifen konnte. De Gaulle hingegen ver-suchte, eine größere Unabhängigkeit von den USA zu erreichen, baute dazu mit hohen Kosten eine eigene Atommacht auf und ver-suchte, die anderen Länder auf seine Seite zu ziehen. Ein Beitritt Großbritanniens zur EWG hätte diese Bemühungen erschwert, so dass sein Veto verständlich wird, das allerdings nicht dazu führte, dass die anderen europäischen Regierungen seine kritische Haltung gegenüber den USA teilten.

Das Zeitalter der Entkolonialisierung und die Neuorientierung hin zu Europa

Während sich dadurch in den grundsätzlichen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten nach der Rede Churchills wenig änderte, fanden in den Kolonien dramatische Entwicklungen statt. Die Un-abhängigkeit Indiens war dafür ein erster Hinweis. In anderen Ko-lonien gewannen vergleichbare Bemühungen rasch an Unterstüt-zung und führten vielfach zu bewaffneten Kämpfen. Noch zu Beginn der 1950er Jahre sah es allerdings danach aus, dass die europäischen Mächte sich behaupten könnten. Dabei versuchte nicht nur Großbritannien, seine Kolonien zu halten, auch mit Waf-fengewalt. Die anderen europäischen Kolonialmächte verfolgten dieselbe Politik. Sie hielten ebenfalls an ihren Territorien fest oder versuchten, dort die Kontrolle wiederzuerlangen, wo sie diese während des Zweiten Weltkriegs verloren hatten – wie Frankreich in Indochina (was später zum Vietnamkrieg führte). Bald aller-dings zeigte sich, dass der Widerstand immer heftiger und zu-gleich die ökonomische Bedeutung der Kolonien immer geringer wurde. Schon zuvor war diese Bedeutung oftmals zu hoch einge-schätzt worden, und Kritiker hatten darauf verwiesen, dass allen-falls einzelne Firmen und Personen davon profitierten, während die Kolonien insgesamt eher Kosten verursachten, die auf die Steuerzahler abgewälzt wurden. Vor allem jedoch litten die Kolo-nien selbst darunter, vielfach bis heute.Parallel dazu fand in Europa eine Entwicklung statt, die 1945 kei-ner erwartete. Die europäischen Staaten, die durch den Krieg so sehr zerstört waren, erholten sich und boten einen immer wichti-geren Wirtschaftsraum, auch für Großbritannien. Eine Folge da-von war der Beitrittsantrag an die EWG im Jahr 1961. Eine andere das rasche Ende der Kolonialreiche. Nach 1960 erlangten inner-halb weniger Jahre die meisten, insbesondere die größeren Kolo-

nien ihre Unabhängigkeit, allerdings nicht nur wegen der abneh-menden wirtschaftlichen Bedeutung. Zumindest genauso wichtig waren die Unabhängigkeitsbewegungen, der Kalte Krieg und die damit verbundene Sorge, ohne Entgegenkommen würden diese Bewegungen ins Lager der Sowjetunion wechseln Und nicht zu-letzt entwickelte sich ein immer geringeres Interesse in der Bevöl-kerung der verschiedenen europäischen Länder, an den Kolonien festzuhalten und dafür gar Opfer zu bringen.In Großbritannien war diese Entwicklung mit einer wachsenden Orientierung an Europa verbunden. Das bedeutete nicht, dass die alten Verbindungen abbrachen. Das Commonwealth besteht viel-mehr bis heute, jetzt allerdings als freiwilliger Zusammenschluss. Und ebenso bestehen weiterhin vielfältige kulturelle, wirtschaft-liche, politische und nicht zuletzt sportliche sowie familiäre Be-ziehungen zwischen den verschiedenen Ländern. Entsprechend entwickelte sich die Zuwendung zu Europa parallel zu diesen Be-ziehungen, und vielfach kam die Sorge auf, der Zusammenhalt im Commonwealth und die dort bestehenden Verbindungen würden darunter leiden. Als Großbritannien in einem erneuten Anlauf 1973 der EWG beitrat, handelte die Regierung deshalb günstige Zölle und andere Regelungen für die Länder des Commonwealth aus, damit diese weiterhin Produkte in das Vereinte Königreich liefern konnten. Zusätzlich fand 1975 ein Referendum statt, um auf die verbreitete Skepsis zu reagieren und für den Beitritt die erforderliche öffentliche Unterstützung zu erhalten. Derartige Abstimmungen sind im politischen System Großbritanniens nicht vorgesehen und fanden bis dahin nicht statt, da hier das Parla-ment die entscheidende Institution ist. Weil der Beitritt zur EWG jedoch derart grundlegende Fragen betraf, kam es jetzt zum ers-ten Mal in der britischen Geschichte zu einem Referendum, bei dem eine deutliche Mehrheit von 67 Prozent für den Beitritt stimmte. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die EWG bereits auf dem Weg zur Europäischen Gemeinschaft. Diesen Namen trägt sie seit 1992, um auszudrücken, dass die Mitgliedsländer nicht nur einen gemeinsamen Wirtschaftsraum schaffen wollten. Ihre Zielsetzun-gen hatten sich seit Gründung der EWG erweitert und strebten mittlerweile auch eine engere politische, soziale und kulturelle

Abb. 5 Bundeskanzler Konrad Adenauer (l), der luxemburgische Außenminister Joseph Bech (2.v. r.) und der 1951 knapp wiedergewählte britische Premierminister Winston Churchill (r) in Churchills Amtssitz Downing Street No 10. Auf der Londoner Neunmächtekonferenz vom 28.09. bis zum 3.10.1954 wurde über eine Alternative für die an Frankreich gescheiterte EVG (Europäische Verteidigungsgemeinschaft) verhan-delt. In der »Londoner Akte« wurde empfohlen, die Bundesrepublik Deutschland und Italien in den Fünf-mächtepakt von 1948 und in die NATO aufzunehmen. © dpa, picture alliance

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Zusammenarbeit an. Ähnlich anspruchsvoll hatte sich bereits Churchill in Zürich geäußert, als er die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa beschwor. So weit sind wir auch heute noch nicht. Zudem hat diese Zielsetzung zahlreiche Befürworter, aber auch Kritiker, und es bestehen sehr unterschiedliche Vorstellun-gen darüber, wie eng die Mitgliedstaaten der EU zusammenarbei-ten sollen. Durch die Beitritte der vergangenen Jahre ist deren Zahl auf 28 Länder gestiegen, die wirtschaftlich, politisch und kulturell erhebliche Unterschiede aufweisen. Umso wichtiger ist die Frage, was diese Länder verbindet. Darauf ging auch Churchill in seiner Rede ein, als er ausführlich über das gemeinsame histo-rische und kulturelle Erbe Europas sprach.

Churchills Argumentation 1946 und das heutige Europa

Der »edle Kontinent Europa«, so Churchill, umfasse die »schöns-ten und kultiviertesten Gegenden der Erde«. Hier liege der »Ur-sprung fast aller Kulturen, Künste, philosophischen Lehren und Wissenschaften des Altertums und der Neuzeit«. Nicht zuletzt »die Quellen des christlichen Glaubens« befänden sich in diesem Kontinent. Vergleichbare Aussagen über das gemeinsame Erbe haben die europäischen Einigungsbewegungen von Beginn an begleitet und jüngst durch die zahlreichen neuen Mitgliedsstaa-ten verstärktes Interesse gefunden. Dabei ist der Verweis auf die griechisch-römische Antike unstrittig, während der Bezug auf das Abendland Probleme aufwirft, da dieser Begriff ursprünglich nur das westliche Europa meinte. Zu Recht verweisen die östlich und südöstlich gelegenen Länder darauf, dass sie ebenfalls seit Jahr-hunderten zum europäischen Kulturraum zählen.

Dieser ist seit Jahrhunderten durch das Chris-tentum geprägt, das bis heute eine wichtige Gemeinsamkeit bietet, aber auch mit Aus-grenzungen verbunden war und ist. Churchill verwies in Zürich noch ganz selbstverständ-lich auf christlichen Glauben und Ethik als zentrale Elemente des europäischen Erbe. Diese Selbstverständlichkeit besteht heute nicht mehr, nicht nur weil eine wachsende Zahl von Europäern nicht mehr einer Religi-onsgemeinschaft angehört. Hinzu kommt ein größeres Bewusstsein dafür, dass die christlichen Religionen auch problemati-sche, teils sogar katastrophale Folgen hat-ten. Und schließlich ist gerade in den letzten beiden Jahrzehnten die Zahl derjenigen Euro-päer deutlich gestiegen, die zwar gläubig, aber keine Christen sind, sondern zu anderen Religionen gehören, darunter insbesondere Muslime. Diese entstammen zudem vielfach einem anderen Kulturkreis, sind inzwischen aber in wachsender Zahl in Europa geboren, besitzen die Staatsangehörigkeit ihrer jewei-ligen Länder und gehören schon deshalb zu Europa. Entsprechend betonte der frühere Bundespräsident Wulff, dass nicht nur Chris-ten- und Judentum, sondern inzwischen auch der Islam zu Deutschland gehören. Diese Aussage blieb nicht ohne Widerspruch und ist Teil einer in Deutschland noch recht jungen Debatte. Hier ist die Zahl der Muslime noch klein, sie sind überwiegend erst vor we-nigen Jahren zugewandert und haben Politik, Gesellschaft und Kultur bisher erst in Ansät-zen geprägt. Das gilt nicht für Frankreich und vor allem nicht für Großbritannien. Das briti-sche Empire und später das Commonwealth umfassten zahlreiche Gebiete, deren Bewoh-

ner ganz unterschiedlichen Religionen und Kulturen angehörten. Lange Zeit stellten Muslime die mit Abstand größte Gruppe, aller-dings außerhalb des Vereinigten Königreichs, wo sie und Angehö-rigen anderer Kulturen nur eine geringe Bedeutung besaßen. Das änderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als nach und nach Bewohner der früheren Kolonien nach Großbritannien einwan-derten. Als Angehörige des Commonwealth besaßen sie die briti-sche Staatsangehörigkeit. Sie waren dennoch Diskriminierungen ausgesetzt, konnten sich aber leichter in Politik und Gesellschaft einbringen als etwa Gastarbeiter in Deutschland. Allein schon die Tatsache, dass sie das Wahlrecht besaßen, trug wesentlich dazu bei, dass sie ihre Positionen mit einigem Erfolg vertreten konnten und das Interesse von Parteien fanden. Inzwischen besitzen sie erhebliche politische, kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung und sind wichtiger Bestandteil der britischen Gesellschaft. Mehr als in anderen europäischen Ländern ist es hier (und in Frank-reich, wo eine vergleichbare Situation besteht) besonders proble-matisch und ausgrenzend, vor allem das christliche Erbe der euro-päischen Kultur zu betonen.Diese Entwicklung haben Churchill und seine Zeitgenossen nicht vorhergesehen, als er 1946 in Zürich seine Rede hielt. Seitdem ist auch der Prozess der europäischen Einigung weit vorangeschrit-ten, vermutlich weiter, als er es damals für möglich hielt. Zugleich bestehen viele der Probleme, die seine damalige Wahrnehmung prägten, nicht mehr. Europa hat sich von den Folgen des Krieges erholt. Die vermeintliche Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich ist seit langem ebenso überwunden wie die Spal-tung durch den Kalten Krieg. Und Großbritannien ist stärker in Europa integriert als ihm vorschwebte. Andere Merkmale scheinen sich kaum verändert zu haben, darun-ter vor allem das Verhältnis zu den USA. Dieses hat nach 1945 eine

Abb. 6 Großbritanniens Premierminister Edward Heath am 22. Januar 1972. Die Vertreter von Großbri-tannien, Irland, Norwegen und Dänemark unterzeichneten in Belgiens Hauptstadt Brüssel die Beitrittsur-kunden zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, EWG. Der Beitritt der Länder, bis auf Norwegen, erfolgte zum 1. Januar 1973. Die Norweger hatten in einer Volksabstimmung am 25. und 26. September 1972 gegen einen Beitritt zur EU gestimmt. © dpa, picture alliance

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wechselvolle Geschichte und erlebt derzeit als Folge der NSA-Affäre und der Kontroverse über ein Freihandelsabkommen eine Krise. Doch zugleich besteht kein Zweifel, dass die USA und Europa füreinander die wichtigsten Verbündeten sind, zumal die Vereinigten Staaten ebenfalls durch Elemente der euro-päischen Kultur geprägt wurden. Alle Bestre-bungen, die europäische Einigung weiter zu entwickeln, werden sich auch darum bemü-hen müssen, die Beziehungen zu den USA ebenfalls zu stärken oder zumindest nicht zu gefährden. Dabei kann es helfen, sich auf europäische Werte und Traditionen zu besinnen, wenn-gleich es schwer fällt, diese eindeutig zu be-stimmen. Die Sicherheit und Selbstgewiss-heit, die Churchill noch besaß, wenn er in Europa den Ursprung »fast aller Kulturen, Künste, philosophischen Lehren und Wissen-schaften des Altertums und der Neuzeit« sah und den Beitrag des Christentums betonte, ist uns abhanden gekommen. Mehr als er und seine Zeitgenossen sind wir uns bewusst, dass zum europäischen Erbe auch Katastro-phen und Ausgrenzungen gehören. Diese drohen weiterhin und betreffen aktuell vor allem diejenigen, die als Zuwanderer oder deren Nachkommen andere kulturelle oder religiöse Hintergründe besitzen, zugleich aber zweifellos fester Bestandteil des heuti-gen Europa und der von Churchill beschworenen europäischen Familie sind. Die Zuwanderung aus früheren Kolonien und anderen Regionen des Globus nach Europa mag ein neuartiges Phänomen sein. Der Austausch mit ihnen und deren Bewohnern hingegen besitzt eine lange Tradition. Erinnert sei nur daran, dass das antike Erbe viel-fach über die arabische Welt (zurück) nach Europa gelangte oder dass dieser Kontinent ohnehin vielfältige Formen des Austau-sches und der gegenseitigen Befruchtung mit anderen Kulturen kannte und davon erheblich profitierte.Wenn die Diskussion über gemeinsame Werte und Traditionen diese unterschiedlichen Einflüsse berücksichtigt und ein entspre-chend offenes Verständnis des gemeinsamen Erbes entwickelt, dann könnte ein gemeinsames Europa entstehen, das – wie Chur-chill es erhoffte – seinen »drei- oder vierhundert Millionen Ein-wohner Glück, Wohlstand und Ehre in unbegrenztem Ausmaße« bietet. Die Erreichung dieser Ziele bezeichnete er als ganz ein-fach. Das einzige, was Churchill als nötig erachtete, war der »Ent-schluss Hunderter von Millionen Männer und Frauen, Recht statt Unrecht zu tun und dafür Segen statt Fluch als Belohnung zu ern-ten«. Ganz so einfach war es nicht, wie er selbst als Politiker nur zu genau wusste und wir inzwischen erfahren haben. Der Prozess der europäischen Einigung war und ist vielmehr mühsam, ein baldiger Abschluss ist nicht zu erwarten. Doch weiterhin gilt, dass dafür die Entschlossenheit und Unter-stützung der Bevölkerung unverzichtbar sind. Und auch die un-terschiedlichen Erfahrungen, die einzelne Personen, Regionen oder Länder einbringen. Im Falle von Großbritannien scheinen diese eher von den Rändern Europas zu kommen, und hierin wird oftmals ein Defizit gesehen. Doch tatsächlich eignet sich das Ver-einigte Königreich wegen dieser Randstellung geradezu ideal als Vermittler: gegenüber den USA, früheren Kolonien, anderen Kul-turen oder anderen Religionen. Der Blick vom Rande oder gar von außen muss nicht schaden. Im Gegenteil, er kann überaus hilf-reich sein. Deshalb gilt weiterhin, was Churchill 1963 schrieb, nachdem de Gaulle sein Veto gegen einen britischen Beitritt ein-gelegt hatte: »Die Zukunft Europas sieht trübe aus, sollte Britan-nien tatsächlich ausgeschlossen werden«.

Literaturhinweise

Brüggemeier, Franz-Josef (2010): Geschichte Großbritanniens im 20. Jahr-hundert, München.

Clarke, Peter (2004): Hope and Glory. Britain 1900–2000, 2. Auflage London.

George, Stephen (1998): An awkward Partner: Britain in the European Com-munity, 3rd edn., Oxford.

May, Alex (2006): Britain and Europe since 1945, London.

Spencer, Ian R. G. (1997): British Immigration Policy since 1939. The Making of Multiracial Britain, London.

Winder, Robert (2004): Bloody Foreigners. The story of immigration to Bri-tain, London.

Internethinweise

BBC-Darstellung: www.bbc.co.uk/history/british/

Großbritannien. Aus Politik und Zeitgeschichte, 2010, www.bpb.de/apuz/32319/grossbritannien

Sturm, Roland: Die Entwicklung Großbritanniens seit 1945. www.bpb.de/izpb/10533/entwicklung-grossbritanniens-seit-1945

Abb. 7 Der britische Premierminister David Cameron auf dem EU-Gipfel am 23.10.2014 in Brüssel. Bis 2017, aber nach den für 2015 anstehenden Unterhauswahlen kündigte der konservative britische Premier-minister in Großbritannien eine Volksabstimmung in Großbritannien über den weiteren Verbleib in der EU an. © Dursun Aydemir – Anadolu Agency, dpa, picture alliance

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MATERIALIEN

M 1 Rede Winston Churchills an der Uni-versität in Zürich am 19.9.1946

»Herr Rektor, meine Damen und Herren, ich bin heute geehrt worden durch den Emp-fang in Ihrer ehrwürdigen Universität und durch die Dankadresse, welche mir in Ihrem Namen überreicht worden ist und die ich sehr zu schätzen weiß. Ich möchte heute über Eu-ropas Tragödie zu Ihnen sprechen. Dieser edle Kontinent, der alles in allem die schöns-ten und kultiviertesten Gegenden der Erde umfasst und ein gemäßigtes, ausgeglichenes Klima genießt, ist die Heimat aller großen Muttervölker der westlichen Welt. Hier sind die Quellen des christlichen Glaubens und der christlichen Ethik. Hier liegt der Ursprung fast aller Kulturen, Künste, philosophischen Lehren und Wissenschaften des Altertums und der Neuzeit. Wäre jemals ein vereintes Europa imstande, sich in das gemeinsame Erbe zu teilen, dann genössen seine drei- oder vierhundert Millio-nen Einwohner Glück, Wohlstand und Ehre in unbegrenztem Ausmaße. Jedoch brachen ge-rade in Europa, entfacht durch die teutoni-schen Nationen in ihrem Machtstreben, jene Reihe entsetzlicher nationalistischer Streitig-keiten aus, welche wir in diesem zwanzigsten Jahrhundert und somit zu unserer Lebenszeit den Frieden zerstören und die Hoffnungen der gesamten Menschheit verderben sahen. Und welches ist der Zustand, in den Europa gebracht worden ist? Zwar haben sich einige der kleineren Staaten gut erholt, aber in weiten Gebieten starren ungeheure Massen zitternder menschli-cher Wesen gequält, hungrig, abgehärmt und verzweifelt auf die Ruinen ihrer Städte und Behausungen und suchen den düsteren Horizont angestrengt nach dem Auftauchen einer neuen Gefahr, einer neuen Tyrannei oder eines neuen Schreckens ab. Unter den Siegern herrscht ein babylonisches Stimmengewirr; unter den Besiegten das trotzige Schweigen der Verzweiflung. Das ist alles, was die in so viele alten Staaten und Nationen gegliederten Euro-päer, das ist alles, was die germanischen Völker erreicht haben, nachdem sie sich gegenseitig in Stücke rissen und weit und breit Verheerung anrichteten. Hätte nicht die große Republik jenseits des Atlantischen Ozeans schließlich begriffen, dass der Unter-gang oder die Versklavung Europas auch ebenso ihr eigenes Schicksal bestimmen würde, und hätte sie nicht ihre Hand zu Beistand und Führung ausgestreckt, so wäre das finstere Mittel-alter mit seiner Grausamkeit und seinem Elend zurückgekehrt. Meine Herren, es kann noch immer zurückkehren. Und doch gibt es all die Zeit hindurch ein Mittel, das, würde es allgemein und spontan von der großen Mehrheit der Menschen in vielen Län-dern angewendet, wie durch ein Wunder die ganze Szene verän-derte und in wenigen Jahren ganz Europa, oder doch dessen größten Teil, so frei und glücklich machte, wie es die Schweiz heute ist. Welches ist dieses vorzügliche Heilmittel? Es ist die Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie, oder doch soviel davon, wie möglich ist, indem wir ihr eine Struktur geben, in wel-cher sie in Frieden, in Sicherheit und in Freiheit bestehen kann. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten. Nur auf diese Weise werden Hunderte von Millionen sich abmühen-der Menschen in die Lage versetzt, jene einfachen Freuden und Hoffnungen wiederzuerhalten, die das Leben lebenswert ma-chen. Das Vorgehen ist einfach. Das einzige, was nötig ist, ist der Entschluss Hunderter von Millionen Männer und Frauen, Recht

statt Unrecht zu tun und dafür Segen statt Fluch als Belohnung zu ernten. Viel Arbeit, meine Damen und Herren, wurde für diese Aufgabe durch die Anstrengungen der paneuropäischen Union getan, wel-che Graf Coudenhove-Kalergi so viel zu verdanken hat und welche dem Wirken des berühmten französischen Patrioten und Staats-mannes Aristide Briand seine Richtung gab. Es gibt auch jene rie-sige Fülle von Grundsätzen und Verfahren, welche nach dem Ers-ten Weltkrieg mit großen Hoffnungen ins Leben gerufen worden war, ich meine den Völkerbund. Der Völkerbund hat nicht wegen seiner Grundsätze oder seiner Vorstellungen versagt. Er hat ver-sagt, weil die Staaten, die ihn gegründet hatten, diesen Grund-sätzen untreu geworden waren. Er hat versagt, weil sich die Re-gierungen jener Tage davor fürchteten, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen und zu handeln, solange dazu Zeit blieb. Dieses Unglück darf sich nicht wiederholen. (…)Ich war sehr froh, vor zwei Tagen in den Zeitungen zu lesen, dass mein Freund Präsident Truman diesem großen Plan sein Interesse und seine Sympathie bezeugt. Es gibt keinen Grund, weshalb eine regionale europäische Organisation auf irgendeine Weise mit der Weltorganisation der Vereinten Nationen in Konflikt geraten sollte. Ich glaube im Gegenteil, dass der größere Zusammen-schluss nur lebensfähig bleibt, wenn er sich auf eng verbundene natürliche Gruppen stützen kann. In der westlichen Hemisphäre gibt es bereits eine natürliche Gruppierung. Wir Briten haben unser eigenes Commonwealth. Dieses schwächt die Weltorganisation nicht, im Gegenteil, es stärkt sie. Es ist in der Tat ihre stärkste Stütze. Und warum sollte nicht eine europäi-sche Gruppierung möglich sein, welche den verwirrten Völkern dieses unruhigen und mächtigen Kontinents ein erweitertes Hei-matgefühl und ein gemeinsames Bürgerrecht zu geben ver-möchte? Und warum sollte dieser nicht zusammen mit anderen großen Gruppen bei der Bestimmung des künftigen Schicksals der Menschheit seine berechtigte Stellung einnehmen? (…)

M 2 Der ehemalige Premierminister von Großbritannien Winston Churchill traf am 19. September 1946 in der Universität Zürich ein, wo er am gleichen Tag seine Rede hielt, in der er zur Einigung Europas aufrief: »Let Europe arise!« © Keystone/ Photopress-Archiv, dpa, picture alliance

N a c h k r i e g s p o l i t i k d e s V e r e i n i g t e n K ö n i g r e i c h s

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Page 73: Deutschland und Europa nach 1945

Wir alle wissen, dass die beiden Weltkriege, die wir miterlebt haben, der eitlen Leiden-schaft eines neuvereinigten Deutschlands entsprungen sind, welches die dominierende Rolle in der Welt spielen wollte. In diesem letzten Ringen wurden Verbrechen und Mas-senmorde begangen, für welche es seit der mongolischen Invasion des vierzehnten Jahr-hunderts keine Parallele gibt und wie es sie in gleicher Weise zu keiner Zeit der Mensch-heitsgeschichte gegeben hat. Der Schuldige muss bestraft werden. Deutschland muss der Macht beraubt werden, sich wieder zu be-waffnen und einen neuen Angriffskrieg zu entfesseln. Aber wenn all das getan worden ist, so wie es getan werden wird, so wie man es bereits jetzt tut, dann muss die Vergeltung ein Ende haben. Dann muss das stattfinden, was Glad-stone vor vielen Jahren »einen segensreichen Akt des Vergessens« genannt hat. Wir alle müssen den Schrecknissen der Vergangen-heit den Rücken kehren. Wir müssen in die Zukunft schauen. Wir können es uns nicht leisten, den Hass und die Rachegefühle, wel-che den Kränkungen der Vergangenheit ent-sprangen, durch die kommenden Jahre mit-zuschleppen. Wenn Europa vor endlosem Elend und schließlich vor seinem Untergang bewahrt werden soll, dann muss es in der eu-ropäischen Völkerfamilie diesen Akt des Ver-trauens und diesen Akt des Vergessens ge-genüber den Verbrechen und Wahnsinnstaten der Vergangenheit geben. (…) Ich sage Ihnen jetzt etwas, das Sie erstaunen wird. Der erste Schritt zu einer Neuschöp-fung der europäischen Völkerfamilie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein. Nur so kann Frankreich seine moralische und kulturelle Führer-rolle in Europa wiedererlangen. Es gibt kein Wiederaufleben Eu-ropas ohne ein geistig großes Frankreich und ein geistig großes Deutschland. Wenn das Gefüge der Vereinigten Staaten von Eu-ropa gut und richtig gebaut wird, so wird die materielle Stärke eines einzelnen Staates weniger wichtig sein. Kleine Nationen werden genau soviel zählen wie große, und sie werden sich ihren Rang durch ihren Beitrag für die gemeinsame Sache sichern. Die alten Staaten und Fürstentümer Deutschlands, in einem föde-ralistischen System zum gemeinsamen Vorteil freiwillig zusam-mengeschlossen, könnten innerhalb der Vereinigten Staaten von Europa ihre individuellen Stellungen einnehmen. Ich werde nicht versuchen, ein detailliertes Programm für Hunderte von Millio-nen Menschen zu entwerfen, welche glücklich und frei, zufrieden und sicher sein wollen, die jene vier Freiheiten, von denen der große Präsident Roosevelt sprach, genießen wollen und die nach Grundsätzen zu leben wünschen, die in der Atlantik-Charta veran-kert wurden. Wenn das ihr Wunsch ist, wenn das der Wunsch der Europäer in so vielen Ländern ist, müssen sie es nur sagen, und es können sicher Mittel gefunden und Einrichtungen geschaffen werden, damit dieser Wunsch voll in Erfüllung geht. Aber ich muss Sie warnen. Vielleicht bleibt wenig Zeit. Gegenwär-tig gibt es eine Atempause. Die Kanonen sind verstummt. Die Kampfhandlungen haben aufgehört; aber die Gefahren haben nicht aufgehört. Wenn wir die Vereinigten Staaten von Europa, oder welchen Namen sie haben werden, bilden wollen, müssen wir jetzt anfangen. Augenblicklich leben wir in seltsamer und bedenklicher Weise un-ter dem Schild, und ich will sogar sagen Schutz, der Atombombe. Bisher ist die Atombombe nur in den Händen eines Staates und einer Nation, von der wir wissen, dass sie sie niemals brauchen

wird, ausgenommen für die Sache von Freiheit und Recht. Aber es ist wohl möglich, dass dieses ungeheuerliche Zerstörungsmittel in ein paar Jahren weitverbreitet sein wird, und die Katastrophe, die seinem Gebrauch durch verschiedene kriegsführende Natio-nen folgen würde, bedeutete nicht nur das Ende all dessen, was wir Zivilisation nennen, sondern könnte wahrscheinlich sogar den Erdball selbst zerstören. Ich will nun die Aufgaben, die vor Ihnen stehen, zusammenfassen. Unser beständiges Ziel muss sein, die Vereinten Nationen aufzu-bauen und zu festigen. Unter- und innerhalb dieser weltumfas-senden Konzeption müssen wir die europäische Völkerfamilie in einer regionalen Organisation neu zusammenfassen, die man vielleicht die Vereinigten Staaten von Europa nennen könnte. Der erste praktische Schritt wird die Bildung eines Europarates sein. Wenn zu Beginn nicht alle Staaten Europas der Union beitreten können oder wollen, so müssen wir trotzdem damit anfangen und diejenigen, die wollen, und diejenigen, die können, sammeln und zusammenführen. Die Errettung der Menschen aller Rassen und aller Länder aus Krieg und Knechtschaft muss auf soliden Grund-lagen beruhen und garantiert werden durch die Bereitschaft aller Männer und Frauen, lieber zu sterben, als sich der Tyrannei zu un-terwerfen. Bei all diesen dringenden Aufgaben müssen Frank-reich und Deutschland zusammen die Führung übernehmen. Großbritannien, das britische Commonwealth, das mächtige Amerika, und, so hoffe ich wenigstens, Sowjetrussland – denn dann wäre tatsächlich alles gut – sollen die Freunde und Förderer des neuen Europa sein und dessen Recht, zu leben und zu leuch-ten, beschützen. Darum sage ich Ihnen: Lassen Sie Europa entstehen!«

© www.europarl.europa.eu/brussels/website/media/Basis/Geschichte/bis1950/Pdf/Churchill_Rede_Zuerich.pdf sowie www.zeit.de/reden/die_historische_rede/200115_hr_churchill1_englisch

M 3 Der britische Oppositionsführer Winston Churchill hielt am gleichen Tag neben seiner Rede an der Universität auch noch eine Rede auf dem voll versammelten Münsterhof in Zürich. © Keystone/ Photopress-Archiv, dpa, picture alliance

N a c h k r i e g s p o l i t i k d e s V e r e i n i g t e n K ö n i g r e i c h s

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Page 74: Deutschland und Europa nach 1945

DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN

D&E-Autorinnen und Autoren – Heft 68»Die ersten Nachkriegsjahre. Europa nach 1945«

Abb. 1 Professorin Dr. Gabriele Clemens, Universität Hamburg, Arbeitsbereich Europäische Geschichte, Jean Monnet-Lehrstuhl für Europäische Integrationsge-schichte und Europastudien

Abb. 5 Professor Dr. Henri Ménu-dier, Politologe an der Universität Paris III – Sorbonne Nouvelle (Insti-tut d Allemand), gilt als Deutschlan-dexperte. Ménudier ist Schüler von Alfred Grosser und Joseph Rovan.

Abb. 6 Professor Dr. phil., Dr. med. Franz-Josef Brüggemeier, Universität Freiburg, unterrichtete als Visiting Professor in York (England) und Har-vard (USA) und hat zahlreiche Bei-träge zur Sozial- und Umweltge-schichte des 19. und 20. Jahrhunderts veröffentlicht.

Abb. 7 Jürgen Kalb, Studiendirek-tor, Fachreferent LpB, Fachberater RP Stuttgart, Elly-Heuss-Knapp- Gymnasium Stuttgart

Abb. 2 Oberstudienrat Johannes Gienger, Leiter des Stadtmedienzent-rums Stuttgart, Autor multimedialer Publikationen zu historischen The-men

Abb. 3 Studiendirektor Herbert Kohl, Staatliches Seminar für Didak-tik und Lehrerbildung Heilbronn, Schulbuchautor, vormals Fachberater für Geschichte am Regierungspräsi-dium Stuttgart

Abb. 4 Manfred Mack, Deutsches Polen-Institut Darmstadt, Schul-buchautor zur deutsch-polnischen Geschichte

Hinweis: Fachtagung Geschichte am 21. Mai 2015, 9:30–16:30 Uhr

70 Jahre »Stunde Null«? Von der Kapitulation zu neuen Perspektiven

Der Fachtag kombiniert Ergebnisse der historischen Forschung mit Anregungen, Unterrichtskonzepten und Materialien für die Unter-richtspraxis. Ausgehend von der Stadtgeschichte – Stuttgart erwacht aus den Trümmern und sucht den wirtschaftlichen, politischen und moralischen Neuanfang – soll das größere Umfeld – Teilung Deutschlands, Entwicklung Europas – ins Blickfeld genommen werden.

Referenten u. a.: Professor Dr. Henri Ménudier, Universität Paris III, Nouvelle Sorbonne, ParisProfessor Dr. Ulrich Herbert, Universität Freiburg

Das Stadtmedienzentrum Stuttgart führt diesen Fachtag in Kooperation mit dem Planungsstab des Stadtmuseums sowie der Landes-zentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Redaktion von »Deutschland & Europa«, durch.Anmeldung unter: [email protected]

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D&ED & E - A u t o r i n n e n u n d A u t o r e n Heft 68 · 2014

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Page 75: Deutschland und Europa nach 1945

Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77 [email protected], www.lpb-bw.de

Direktor: Lothar Frick -60 Büro des Direktors: Sabina Wilhelm -62 Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ -40

Stabsstelle Kommunikation und Marketing Leiter: Werner Fichter -63 Felix Steinbrenner -64

Abteilung Zentraler Service Abteilungsleiter: Kai-Uwe Hecht -10 Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer -12 Personal: Sabrina Gogel -13 Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14 Klaudia Saupe -49Siegfried Kloske, Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-137

Abteilung Demokratisches Engagement Abteilungsleiterin/Gedenkstättenarbeit: Sibylle Thelen* -30 Politische Landeskunde*: Dr. Iris Häuser -20 Schülerwettbewerb des Landtags*: Monika GreinerDaniel Henrich -25 Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel -29/-32 Jugend und Politik*: Angelika Barth -22Freiwilliges Ökologisches Jahr*: Steffen Vogel -35 Alexander Werwein-Bagemühl/ Sarah Mann -36/-34Stefan Paller -37

Abteilung Medien und Methoden Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ -40 Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landes-kunde Baden-Württembergs: Prof. Dr. Reinhold Weber -42 Deutschland & Europa: Jürgen Kalb -43 Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe: Siegfried Frech -44Unterrichtsmedien: Michael Lebisch -47 E-Learning: Dr. Andrea Fausel, Sabine Keitel -46 Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik, Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-136 Internet-Redaktion: Klaudia Saupe -49Bianca Hausenblas -48

Abteilung Haus auf der Alb Tagungszentrum Haus auf der Alb, Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach Telefon 07125/152-0, Fax -100 www.hausaufderalb.de

Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik: Dr. Markus Hug -146 Schule und Bildung/Integration und Migration: Robert Feil -139 Internationale Politik und Friedenssicherung/ Integration und Migration: Wolfgang Hesse -140 Europa – Einheit und Vielfalt: Thomas Schinkel -147 Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann -121 Hausmanagement: Julia Telegin -109

Außenstellen Regionale Arbeit Politische Tage für Schülerinnen und Schüler Veranstaltungen für den Schulbereich

Außenstelle Freiburg Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg Telefon: 0761/20773-0, Fax -99 Leiter: Dr. Michael Wehner -77 Thomas Waldvogel -33

Außenstelle Heidelberg Plöck 22, 69117 Heidelberg Telefon: 06221/6078-0, Fax -22 Leiterin: Wolfgang Berger -14 Robby Geyer -13

Politische Tage für Schülerinnen und SchülerVeranstaltungen für den SchulbereichThomas Franke -83Stuttgart: Stafflenbergstraße 38

Projekt ExtremismuspräventionStuttgart: Stafflenbergstraße 38Leiter: Felix Steinbrenner -81Assistentin: Stefanie Beck -82

* Paulinenstraße 44–46, 70178 Stuttgart Telefon: 0711/164099-0, Fax -55

LpB-Shops/Publikationsausgaben

Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0 Montag bis Freitag 8.00–12.00 Uhr und 13.00–16.30 Uhr

Freiburg Bertoldstraße 55, Telefon 0761/20773-10 Dienstag und Donnerstag 9.00–17.00 Uhr

Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-11 Dienstag, 9.00–15.00 Uhr Mittwoch und Donnerstag 13.00–17.00 Uhr

Stuttgart Stafflenbergstraße 38, Telefon 0711/164099-66 Mittwoch 14.00–17.00 Uhr

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Page 76: Deutschland und Europa nach 1945

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DEUTSCHLAND & EUROPA IM INTERNETAktuelle, ältere und vergriffene Hefte zum kostenlosen Herunterladen: www.deutschlandundeuropa.de

BESTELLUNGENAlle Veröffentlichungen der Landeszentrale (Zeitschriften auch in Klassensätzen) können schriftlich bestellt werden bei:Landeszentrale für politische Bildung, Stabsstelle Kommunikation und MarketingStafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax 07 11/164 [email protected] oder im Webshop: www.lpb-bw.de/shopWenn Sie nur kostenlose Titel mit einem Gewicht unter 0,5 kg bestellen, fallen für Sie keine Versandkosten an. Für Sendungen über 0,5 kg sowie bei Lieferungen kostenpflichtiger Produkte werden Versandkosten berechnet.

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