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Die „Arisierung“ im Dritten Reich am Beispiel der Kasseler
Privatbank S. J. Werthauer jun. Nachf.
1. Der Aufruf zum „Judenboykott“ als Weichenstellung für demütigende und
erniedrigende Gesetze gegen Juden
Der 1. April 1933 wurde auf Anweisung Adolf Hitlers zum sogenannten Tag des
„Judenboykotts“ in ganz Deutschland aufgerufen.
Auch in der Kasseler Innenstadt wurden von SA Männern und der örtlichen NSDAP, Schilder
vor jüdischen Läden mit der Aufschrift: „Deutsche, kauft nicht beim Juden - Deutsche,
wehrt euch! Kauft nicht bei Juden! - Hier kaufen sie bei einem Juden“ platziert.
NSDAP und SA-Angehörige organisierten diesen ersten öffentlichen Boykott vor jüdischen
Einrichtungen. Die Schilder wurden allerdings nicht nur vor Lebensmittelläden, sondern auch
vor Kasseler Kanzleien, Arztpraxen, Warenhäusern und auch vor jüdischen Banken
aufgestellt. SA-Männer und aktive Nationalsozialisten versuchten die bisherigen Kunden,
Klienten oder Patienten am Betreten der Geschäfts- und Büroräume zu hindern.
Organisiert wurde die Hetze von der diktatorischen Staatsmacht und ihren Helfershelfern. Der
Staat war erstmals Vorbereiter und in der Funktion der SA-Männer gleichzeitig auch
Durchführer dieser niederträchtigen Aktion. Diese Form der Aggression war neu und
bedrohte nicht nur die jüdischen Geschäftsleute, sondern schürte zudem massive Ängste unter
den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern.
Mit dieser Weichenstellung nahm die NSDAP- Regierung ihr 25-Punkte-Programm aus dem
Jahr 1920 als Garant für die Entfernung der deutschen Juden aus dem gesamten
Wirtschaftsleben in Angriff. Die gesellschaftliche Ächtung der deutschen Juden begann und
sie setzt sich in erschreckend, aggressiver Weise fort.
Es folgten in den Jahren 1933 bis 1938 weitere Entrechtungsmaßnahmen zur Vertreibung der
Juden in Deutschland. Durch die Berufsverbote im Jahr 1938 und die Reichspogromnacht
vom 9. November 1938 verlor schließlich die Mehrheit der deutschen Juden ihre materielle
Existenzgrundlage.
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Horst Kottke hält in ihrem 2. Band von „Volksgemeinschaft und Volksfeinde (1933-1945) auf
Seite 223 fest:
„Die Geschäfte der Kasseler Juden wurden nicht wieder eröffnet. Am 26. November wurde in
der Mittelgasse 45 eine Sonderverkaufsstelle für Juden eingerichtet. Die dort auf
Lebensmittelkarten erhältlichen Waren wurden ständig gekürzt, koscheres Fleisch und Milch
gab es gar nicht. Außerdem wurden die Juden aus ihren Wohnungen verdrängt und in
Sammelhäuser – "Judenhäuser" – und Baracken eingewiesen. Zu den frühesten
lagerähnlichen Unterkünften gehörte die Barackensiedlung in Kirchditmold,
Zentgrafenstraße 5-17, die noch vor 1933 für Obdachlose gebaut worden war. Seit 1936
wurden dort zehn bis 15 jüdische Familien untergebracht – in einem jeweils zehn bis zwölf
Quadratmeter großen Raum. Auch auf der Wartekuppe in Niederzwehren gab es eine von der
Gestapo überwachte Judenbaracke. Die Kasseler Synagoge wurde wenige Wochen nach dem
Überfall abgerissen.
Unter dem Begriff „Arisierung“ wurde jüdischer Besitz enteignet und in „schaffendes
arisches Eigentum“ übergeführt. Die Konfiszierung des jüdischen Vermögens wurde mit der
„Arisierungsausgleichsabgabe („Entjudungsgewinn“) fast ausschließlich für die Stabilisierung
der nationalsozialistischen Wirtschaft verwendet. Höhepunkt – vor allem in Kassel – war die
Verwüstung von Kasseler Synagogen und anderer jüdischen Einrichtungen am Abend des 7.
Novembers 1938 - zwei Tage vor der Reichspogromnacht im übrigen Deutschland!
2. Die „Arisierung“ im NS Regime als Mittel zum Zweck
Der Begriff „„Arisierung““ stand im zeitgenössischen Behördenjargon der 1930er- Jahre und
steht auch in der heutigen Forschung vor allem für Prozesse der wirtschaftlichen Enteignung
jüdischer Bürger. Er stammt aus dem Umfeld des deutsch völkischen Antisemitismus der
1920er Jahre, als Antwort auf die steigende Inflation und der Massenarmut im
Nachkriegsdeutschland. Erstmals tauchte im Kontext dieser Auseinandersetzung die
„„Arisierung“ der Wirtschaft“ im Parteiprogramm der NSDAP auf.
Die massive Verdrängung und Existenzvernichtung der Juden aus dem gesamten
Wirtschaftsleben gehörte einerseits von Anfang an zur Intention des NSDAP Programms und
andererseits sollte der Eigentumstransfer von „jüdischen“ in „arischen“ Besitz übergehen.
Zwischen 1935 und 1938 erließen die NS-Behörden zahlreiche Maßnahmen zur
systematischen materiellen Enteignung der jüdischen Bürger und Bürgerinnen. An diesem
Verfahren waren etliche Behörden direkt beteiligt: In erster Reihe das
Reichsfinanzministerium als Zentralbehörde der Reichsfinanz-verwaltung. Weiterhin waren
die Landesfinanzämter und die dieser Ebene der Finanzverwaltung angegliederten
Devisenstellen, aber auch die Finanz- und Hauptzollämter auf der lokalen Ebene beteiligt und
ausführende Organe.
In der inhaltlichen Auseinandersetzung sind sich die Historiker einig, dass die Realisierung
der Forderung nach „Arisierung“ der Wirtschaft einen der größten Besitzwechsel der neueren
deutschen Geschichte darstellte. Der Gießener Geschichtsforscher Helmut Genschel schildert
in seinem Buch „Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich“ das
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Durcheinander von Rassenhass, Konkurrenzneid, Korruption und handfesten
Interessenkampf, das die „aktive Arisierungspolitik“ des Dritten Reiches in der Wirtschaft
charakterisierte. Genschel zeigt auf, dass die Zwangsauflösung zahlreicher jüdischer
Geschäfte und Firmen dem Nationalsozialismus zu Gute kam. Er beschreibt in seinem Buch,
dass von den 40 000 jüdischen Betrieben zwischen April 1939 und April 1939 insgesamt 14
803 aufgelöst und 5976 „arisiert“ wurden. Die wenigen jüdischen Großunternehmen in der
Schwerindustrie wurden von vier bestehenden Konzernen (Mannesmann, Flick, Wolff und
den Reichswerken Hermann Göring) in kürzester Zeit geschluckt. Die Zunahme der
Konzentration in Industrie und Bankwesen, "in geringerem Maße" auch im Handel, nennt der
Historiker Genschel das für ihn "wichtigste bleibende Ergebnis der „Arisierung“". In der
Maschinenindustrie entstand überhaupt erst mit der „Arisierung“ der Firma Simson/Suhl der
erste große Konzern, die „Wilhelm-Gustloff-Stiftung“. Ebenso kam es in der Schuh- und
Lederindustrie erst durch die „Arisierung“ zur Konzernbildung. Im Bankwesen wurde die
Konzentration durch die Schließung der zahlreichen jüdischen Privatbanken begünstigt.
3. Die „Arisierung“ des Kasseler Wirtschaftsleben als Teil der NSDAP-Politik
Nach der Reichspogromnacht blieben auch in Kassel die Kreditinstitute nicht mehr verschont.
Jüdische Gesellschafter und Teileigner wurden aus den Vorständen hinausgedrängt und meist
zum Unterpreisverkauf ihrer Anteile gezwungen. Im Banken- und Versicherungswesen wurde
„jüdisches Kapital“ benachteiligt und konfisziert, jüdische Lebensversicherungen storniert
oder nur noch zum Teil ausbezahlt. Schulden bei jüdischen Gläubigern konnten von diesen
kaum mehr eingeklagt werden und verfielen. Die „Arisierung“ fand in der „Verordnung zur
Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938 einen
ersten Abschluss. Sämtliche Kasseler Betriebe jüdischer Eigentümer wurden zwangs-
geschlossen. Noch vorhandene Wertgegenstände mussten zu festen Niedrigpreisen bei
staatlichen Stellen eingetauscht werden. Juden verloren alle Ansprüche auf Renten, Pensionen
und Versicherungen. Die Verkaufserlöse wurden der Reichsfinanzverwaltung und somit dem
Deutschen Reich gutgeschrieben. Insgesamt flossen aus den „Arisierungserlösen“ in den
Jahren 1938/39 über 9% der Reichseinnahmen in den Haushalt des Deutschen Reiches.
Allerdings war nicht nur der Staat alleiniger Nutznießer der Verdrängung von jüdischen
Firmen aus dem Wirtschaftsleben. Gerade in Städten wie Kassel (1939 mit 226.000
Einwohnern) begrüßten viele Geschäftsinhaber, Kaufleute und Händler, aber auch Ärzte,
Anwälte und andere Selbständige die Boykottmaßnahmen gegen jüdische Konkurrenten und
deren Berufsverbot.
Großbanken wie die Deutsche und Dresdner Bank betreuten in dieser Zeit die
„Arisierungsgeschäfte“ in allen finanziellen Angelegenheiten. Sie gewährten die Kredite an
Käufer und erstellten für staatliche Behörden Listen jüdischer Kontoinhaber. Zum Beispiel
hat die Deutsche Bank das renommierte jüdische Privatbankhaus Mendelssohn & Co aus
Berlin – mit einer Bilanzsumme von 100 Millionen Reichsmark vollständig übernommen
In Kassel bedeutete die „Arisierung“ z.B. für die Fabrikantenfamilie Karl Anton Henschel,
dass sie neben zahlreichen übernommenen Grundstücken drei wirtschaftlich gutgehende
Textilindustriebetriebe relativ kostengünstig erwerben konnten und dadurch ihre
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wirtschaftliche Macht- und Marktstellung innerhalb Kassels (und Nordhessens) erheblich
ausweiten. 9% des Kaufpreises wurde vorerst als „Arisierungsabgabe“ an die örtliche Partei
(Sozialfond) – später allerdings an das Wirtschaftsministerium abgeführt.
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Die Kasseler Privatbank S. J. Werthauer jun. Nachf.
im Haus Königsplatz Nr. 57
1. Zur Geschichte des Bankhauses
1854 gründete Sandel Josef Werthauer das Bankhaus „Werthauer“ in Kassel. Nach dessen
Tod im Jahre 1904 übernahm der Schwiegersohn Moritz Menachem Menko Wertheim, geb.
am 13.09.1855 in Witzenhausen, die Geschäfte der Privatbank Werthauer.
Vor allem investierte Moritz Wertheim in die keramische Industrie in Großalmerode, sowie in
die Textilindustrie der jüdischen Firma Gottschalk & Co in Hessisch Lichtenau sowie in die
Wäschefabrikation und in die Zündholz- und Basaltindustrie. M. Wertheim war ein
angesehener Kasseler Bürger und in seiner Funktion als Bankeninhaber in 18 Aufsichtsräten
von Aktiengesellschaften. Am 5. April 1909 zog das Bankhaus in ein stattliches Haus am
Königsplatz 57 – Ecke Kölnische Straße. Die jüdische Privatbank Werthauer war in Kassel
eine der bedeutendsten Banken mit hohem Ansehen.
Nach dem Tod von Moritz Wertheim wurde das Bankhaus von seinem Sohn Paul Wertheim
und dem Schwiegersohn Hermann Otto Hoffa (geb. am 27.05.1880 in KS) bis 1938
weitergeführt. Otto Hoffa heiratete am 27.10.1920 die Tochter Johanna von Moritz und
Eugenie Wertheim. Das Ehepaar hatte drei Kinder.
2. Die „Arisierung“ des Bankhauses
Im Vergleich zu vielen anderen jüdischen Bankhäusern wurde das Bankhaus S. J. Werthauer
relativ spät, nämlich erst im Oktober 1938 „arisiert“.
Bedingt durch die Weltwirtschaftskrise in 1929 folgte 1931 auch für die Privatbank
Werthauer eine große Krise. Die Privatbank hatte in diesen Jahren Verluste in Höhe von über
1,1 Millionen Reichs Mark zu Händeln. Wie viele andere deutsche Banken war auch sie
stützungsbedürftig geworden. Der wirtschaftliche Erfolg – bedingt durch die
Weltwirtschaftskrise und der eingeleiteten „Arisierung“ – blieb aus. Ende 1937 sollte die
Sandel Josef Werthauer
geb. am 02.11.1828, mit seiner Ehefrau Helene Lea Werthauer, geborene Heilbrunn, geb. 01.06.1836. Das Ehepaar hatte zwei Töchter: Jenny, geb. 1860 in Kassel, und die drei Jahre jüngere Tochter Emma, geb. 1863 in Kassel.
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Bank schon seitens der Inhaber liquidiert werden. Im Interesse der Bankangestellten hofften
die Familien Hoffa und Wertheim einen zahlungskräftigen Interessenten zu finden.
Im 1. Band der historischen Untersuchung „Friedland bei Hessisch Lichtenau“ berichtet
Gregor Espelage auf der Seite 142:
„Im Oktober 1938 trat der Sohn von Hildegard Henschel, Karl Anton rückwirkend in den
Kaufvertrag ein und fungierte fortan als alleiniger Inhaber." Gegen Jahresende notierte der
Wehrwirtschaftsbericht: „Im Kasseler Bezirk ist die „Arisierung“ im vollen Gange.
Besonders erwähnenswerte Vorgänge: Bankgeschäft S.J. Werthauer jun. Nachf. in Kassel
ist in den Besitz der Kommanditgesellschaft von Wangenheim & Co. übergegangen. Zu
deren Kommanditisten gehört außer einem Berliner Bankinstitut die Henschel-
Familienverwaltung G.m.b.H., die auch die bekanntesten jüdischen Betriebe der Kasseler
Schwergewebeindustrie, wie Baumann u. Lederer A.G., Gottschalk & Co. A.G. und Fröhlich
& Wolff, übernommen hat. …Die Fa. Fröhlich & Wolff, Kassel (Wehrwirtschaftsbetrieb
Wehrmacht, V A: Segeltuche, Zeltplanen, Stabszelte u.ä.) ist in den Besitz des Herrn Karl
Anton Henschel übergegangen. Sie firmiert: Textilwerke Karl Anton Henschel, Kassel."
Die Kommanditisten für die Übernahme des Bankhauses S.J. Werthauer jun. Nachf. waren
Reinhard, Karl Anton und Robert Henschel. Die Einlage betrug von Henschels jeweils 15%
des Kapitals, sowie 45% wurden von der Reichs-Kredit-Gesellschaft AG (war die
Konzernbank der reichseigenen Vereinigten Industrieunternehmungen AG) übernommen. Das
restliche Kapital kam vom persönlich haftenden Gesellschafter Freiherr von Wangenheim.
Am 30. März 1939 emigrierte Hermann Otto Hoffa mit seinen Kindern Annemarie und
Wilhelm nach Santiago/Chile.
Heute ist die Santander Bank in dem ehemaligen Privatbankhaus J. S. Werthauer
untergebracht. Die massiven Stützpfeiler an der Außenfassade erinnern noch an das frühere
Gebäude, das beim großen Bombenangriff auf Kassel am 22. Oktober 1943 fast komplett
zerstört wurde.
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Blick auf die Westseite des Königsplatzes in den 1930er Jahren. Die Privatbank Werthauer
befindet sich im rechten Gebäude (Stadtarchiv Kassel 0.501.894)
Der gleiche Blick im Juni 2018 (eigenes Foto)
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Die Santander Bank im ehemaligen Gebäude der Privatbank Werthauer im Juni 2018 (eigenes
Foto)
Literaturverzeichnis:
Arnsberg, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Hessen Bd. 1, Frankfurt 1971
Espelage, Gregor, Friedland bei Hessisch Lichtenau. Geschichte einer Stadt und
Sprengstofffabrik in der Zeit des Dritten Reiches. Band 1: Geschichte der Stadt Hessisch
Lichtenau bis 1945, Hessisch Lichtenau 1992
Funck, Stefanie, Jüdische Gemeinde, in: Kassel Lexikon Bd. 1, Kassel 2009, S.297-300
Genschel, Helmut, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft des Dritten Reichs, 2.
Auflage, Göttingen 2001
Juden in Kassel. Eine Dokumentation anlässlich des 100. Geburtstages von Franz
Rosenzweig, Kassel 1984
Kottke, Horst, Die endgültige Verdrängung der Juden aus der Kasseler Wirtschaft im Jahre
1938, in: Kammler, Jörg und Krause-Villmar, Dietfrid, Volksgemeinschaft und Volksfeinde
Bd. 1, Fuldabrück 1984, S.223-254
https://jinh.lima-city.de/gene/meylert-wahl/Familien_ Meylert_und_Wahl.html)
von Finn Degenhardt und Yannick Vogt