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Die Autorin - midnight.ullstein.de · Die Studentin Malena Norden verbringt im Rahmen ihrer For- schungen eine Nacht allein in den Gewölben des Bremer Ratskellers. In den frühen

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Die AutorinTanja Litschel, Jahrgang 1969,Germanistin M.A., lebt und arbei-tet seit zwei Jahrzehnten in Bre-men. Wenn der tägliche Brotjoberledigt ist, verwandelt sie erdach-te Geschichten in geschriebene

Texte. Ihre Kriminalromane spielen vor norddeutscher Kulisse. DieIdeen entstehen zumeist auf ausgedehnten Wanderungen an denschönsten Orten dieser Welt.

Das BuchDie Studentin Malena Norden verbringt im Rahmen ihrer For-schungen eine Nacht allein in den Gewölben des Bremer Ratskellers.In den frühen Morgenstunden wird sie leblos aufgefunden. Esscheint, als sei sie buchstäblich vor Schreck gestorben. Die Ursachehierfür bleibt rätselhaft. Als ihre Zwillingsschwester Tamara da-raufhin nach Bremen zurückkehrt, hat die Polizei die Ermittlungenbereits eingestellt. Doch Malenas mysteriöser Tod lässt Tamara kei-ne Ruhe. Sie beschließt, den Fall auf eigene Faust zu lösen. LangeZeit tappt sie im wahrsten Sinne des Wortes völlig im Dunkeln. Bissie herausfindet, dass nichts im Leben ihrer Schwester so war, wiees scheint … Von Tanja Litschel sind bei Midnight bisher erschienen:Warte, warte nur ein WeilchenTraubenblut

Tanja Litschel

TraubenblutEin Bremen-Krimi

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Drit-ter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buch-

verlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für dieInhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Originalausgabe bei Midnight.

Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Ber-lin

Juni 2016 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®

Autorenfoto: © privatISBN 978-3-95819-078-8

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt.Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Ge-

brauch auf eigenen Endgeräten.Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken,

deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentlicheWiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder straf-

rechtliche Folgen haben.

Handlung und Figuren dieser Geschichte sind frei erfunden. Darumsind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbe-

nen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.

- 1 -

Tamara schlug die Augen auf. Ein unkontrollierbares Zittern durch-fuhr ihren Körper. Hektisch sah sie sich um und versuchte zu ergrün-den, wo sie sich befand. Das diffuse Licht, dessen Quelle sie nicht zulokalisieren vermochte, schaffte es nur mühsam bis zu den Gewölbe-bögen über ihrem Kopf. Auch die Dimensionen des Raumes ließensich bestenfalls erahnen. Doch mit jedem Atemzug verstärkte sich derEindruck, dass sie sich in einem Keller befand. Und dass ihr dieserOrt vollkommen fremd war. Um sie herum herrschte Grabesstille.Nur ihr eigener, von Angst getriebener Herzschlag pochte dumpf inihren Ohren. Dennoch konnte sie die unheimliche Präsenz förmlichspüren, ein Prickeln wie von Eiskristallen auf nackter Haut. Tamarawar nicht allein.

Ganz langsam drehte sie sich um die eigene Achse und versuchte,mit ihrem Blick das Zwielicht zu durchdringen. Steinerne Pfeilerstrebten zur Decke empor, aber kaum ein Mensch war dünn genug,um sich hinter ihnen zu verstecken. Zahlreiche Tische und Stühlestanden in Gruppen angeordnet; auch darunter konnte sie nichts er-kennen, das einer dort kauernden Person ähnlich sah. Offenbar dientediese Halle normalerweise als eine Art Speise- oder Festsaal. Doch auswelchem Grund auch immer sie sich hier aufhielt, mit einer Feierhatte es ganz sicher nichts zu tun.

»Wer ist da?« Ihr heiseres Flüstern durchbrach die gespenstischeAtmosphäre wie ein Schrei. Nicht dass sie wirklich mit einer Antwort

rechnete, aber einfach nur in Schockstarre dazustehen machte dieSituation auch nicht besser. »Kommen Sie heraus, ich weiß, dass Sieda sind«, versuchte sie es noch einmal. Doch alle Silhouetten ver-harrten unerschütterlich in ihrer Position. Kein Schatten löste sichaus den Konturen, um davon zu huschen. Oder Tamara anzugreifen.Noch nicht.

Sämtliche Instinkte befahlen ihr zu fliehen. Gleichzeitig wusste sie,dass es vollkommen aussichtslos wäre. Ihr fehlte jegliche Orientie-rung. Vermutlich würde sie statt zum Ausgang erst recht in die Fallelaufen. Zudem beschlich sie die düstere Ahnung, dass man sie hierunten auf eigenen Wunsch hin eingeschlossen hatte. Auch wenn siesich beim besten Willen nicht entsinnen konnte, was sie zu diesemIrrsinn veranlasst haben könnte.

Somit setzte sie nun mit gebotener Vorsicht einen Fuß vor den an-deren. Je weiter sie sich bewegte, desto schwächer wurde das Licht.Pure Intuition leitete sie zu einem schmalen, finsteren Gang, der ander Rückseite des Saals lag. Von diesem zweigte eine altertümlicheTür ab, die eine nahezu magische Anziehungskraft ausübte. Jetztwusste Tamara ganz sicher, wo das Böse lauerte. Ohne dass sie sichdagegen wehren konnte, glitt ihre Hand vor und umfasste den eis-kalten Griff.

Nein, nein, nein! Du darfst diese Tür auf gar keinen Fall öffnen!Niemals! Nicht, wenn du leben willst! Die innere Stimme kreischte,als wolle sie Tamaras Schädel zum Bersten bringen. Dennoch fühltesie sich außerstande, kehrtzumachen. Sie wusste ja nicht einmal, wo-hin sie gehen sollte. Was auch immer in diesem Keller sein Unwesentrieb, war der einzige Grund, warum sie überhaupt hierhergekommenwar! Gegen jede Vernunft packte Tamara den Knauf fester und zog.Dann schlüpfte sie durch den schmalen Spalt in das verbotene Ge-mach.

Tamara schoss kerzengerade empor und schnappte panisch nachLuft. Blitzschnell realisierte sie, dass sie sich in ihrem Hotelbett be-fand. Durch das Fenster schien matt dämmerndes Tageslicht insZimmer, das sich zwei Stockwerke über dem Erdboden befand. Sieknipste die Tischlampe an und massierte sich die Schläfen. Was fürein beschissener Albtraum! Das aufdringlich rote Display des alt-modischen Radioweckers zeigte 19:53 Uhr. Eigentlich hatte sie sicham Nachmittag nur kurz hinlegen wollen. Offensichtlich war siestattdessen in einen mehrstündigen Tiefschlaf gefallen. Kein Wun-der, dass ihr Unterbewusstsein wieder auf Touren kam, wenn es Zeitwurde, einen Pub aufzusuchen und sich ein kühles Ale zu gönnen.Wie auch immer die Dinge standen, so bald würde sie nicht wiedereinschlafen können. Somit ging sie ins Bad und stützte sich einenMoment lang auf den Rand des Waschbeckens. Dann drehte denHahn auf und schaufelte sich einige Handvoll eiskaltes Wasser insGesicht. Nasse Haarsträhnen klebten auf ihrer Stirn, als sie sichaufrichte und in den Spiegel starrte. Plötzlich wusste sie, was ge-schehen war. In ihrem Traum war sie gar nicht selbst durch diefinsteren Gewölbe geschlichen. Sie hatte durch die Augen einer An-deren gesehen. Sie hatte die Ängste einer Person durchlebt, mit dersie auf ewig ein unsichtbares Band vereinte. Fast glaubte Tamara,einen zweiten Herzschlag in der Brust zu spüren.

- 2 -

»Und Ihnen ist wirklich klar, worauf Sie sich einlassen?« RichardHofmann gelang es, ihren Blick einzufangen. Jetzt bestand die He-rausforderung vor allem darin, dem Bann ihrer dunklen Rehaugenlänger als drei Sekunden standzuhalten, ohne ins Stottern zu gera-ten. Natürlich war ihm bewusst, dass er sich die Frage vor allemselbst stellte. Was zum Teufel war in ihn gefahren, als er ihrer Bittenachgegeben hatte, die Nacht allein in diesem Gewölbe verbringenzu dürfen? Der Aufschlag ihrer langen, schwarzen Wimpern liefertedie Erklärung umgehend.

»Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass es im Ratskeller spukt?«,entgegnete sie mit einem Lächeln, das ebenmäßige, perlweiße Zäh-ne zum Vorschein brachte. »Oder wollen Sie mir weismachen, Sieseien schon einmal einem Ihrer Weingeister persönlich begegnet?«Sie ließ den Lederriemen von ihrer Schulter gleiten und deponierteihre Büchertasche auf einem der verzierten Holzstühle. Eine Geste,die klar zum Ausdruck brachte, dass ihr Vorhaben nicht zur Dis-kussion stand.

»Nein, nicht dass ich wüsste«, antworte Hofmann, »doch offengestanden habe ich die Burschen noch nie herausgefordert, sich zuzeigen.«

Mit tänzelnden Schritten eilte sie voraus und studierte die Wand-gemälde, gespenstische Szenen aus einer Erzählung des DichtersWilhelm Hauff, die sich um den Bremer Ratskeller rankte. »Soweit

ich weiß, wird das Gewölbe unter dem Alten Rathaus seit sechs-hundert Jahren als Wein- und Speiselokal genutzt. Hier gehenallabendlich unzählige Gäste ein und aus. Meinen Sie nicht, dasseiner von ihnen etwas bemerkt haben müsste, falls düstere Gesellendirekt vor ihrer Nase Unfug treiben?« Sie drehte sich wieder zuHofmann um. Für den Bruchteil einer Sekunde schien sie verunsi-chert. Doch dieser Eindruck löste sich auf wie Nebel in der Sonne,ehe er sicher war, ihn überhaupt wahrgenommen zu haben.

»Sicher«, antwortet Hofmann auf ihre Frage. »Nur kommen dieLeute hierher, um das eine oder andere Glas Wein zu genießen. Wer,meinen Sie, würde einer Geistererscheinung nach MitternachtGlauben schenken?«

»Niemand«, gestand sie, »man hielte den Erzähler schlicht fürbetrunken. Allerdings …«, wie auf Knopfdruck brachte sie ein Lä-cheln zustande, das sämtliches Unbehagen beiseite drängte, »versi-chere ich Ihnen hoch und heilig, dass ich keinen Tropfen Alkoholanrühren werde. Sie können also ganz beruhigt sein.«

»Nun ja«, Hofmanns Skepsis gewann erneut die Oberhand, »heu-te ist der erste September. In dieser Nacht schließt der Ratskelleralljährlich um einundzwanzig Uhr, wie es schon zu Lebzeiten Wil-helm Hauffs und lange davor Brauch gewesen ist. Sie wissen, was esdamit auf sich hat.«

»Der Jahrestag der Rose«, bestätigte sie. »Die Rose steht sinn-bildlich für den edelsten der hier gelagerten Weine. In der Nachtdes ersten September steigen die Weingeister aus ihren Fässern undfinden sich zusammen, um sich ordentlich zu amüsieren.«

Hofmann nickte ernst.»Ich habe keine einzige literarische Quelle gefunden, die diesen

Aberglauben auch nur erwähnt. Man darf wohl getrost davon aus-gehen, dass Wilhelm Hauff sich diese Mär höchst selbst ausgedachthat.«

»Hat er nicht.«

»Können Sie es beweisen?«»Nein. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir gewisse Bräuche

nicht nur zum Spaß pflegen, sondern aus einem ganz bestimmtenGrund, auch wenn wir diesen heute nicht mehr kennen.«

»Du meine Güte, gibt es noch mehr von der Sorte?«»Natürlich. Zum Beispiel sind die tieferen Lagerkeller grundsätz-

lich von Mitternacht bis zum Morgengrauen für alle Sterblichentabu.«

»Weil Sie die Rache der Weingeister fürchten? Ehrlich jetzt?« Inihre melodische Stimme mischte sich ein Unterton, der zu subtilwar, um ihn richtig zu deuten.

»Keiner der bisherigen Ratskellermeister hat dieses Gesetz jemalsgebrochen und ich gedenke nicht, der erste zu sein.«

»Okay, fast hätten Sie mich erwischt«, ihr glockenhelles Aufla-chen hallte von den Wänden wider. »Aber es ist in Ordnung, dassSie versuchen, mir Angst zu machen. Ich meine, wo bliebe sonst derKick?« Sie strich ihr dezent geblümtes Baumwollkleid glatt undsetzte sich ein wenig zu schwungvoll an einen der Tische. Dann zogsie einen Laptop und eine Thermoskanne aus ihrer Collegetascheund arrangierte beides so, dass es einen glaubwürdigen Arbeitsplatzergab. Anschließend brachte sie ein stark zerlesenes, in Leder ge-bundenes Büchlein zum Vorschein und hielt es demonstrativ in dieHöhe. Obwohl ihre Hand den Titel halb verdeckte, wusste Hof-mann, worum es sich handelte, die »Phantasien im Bremer Raths-keller«. Er kannte den Text fast auswendig.

»An exakt diesem Ort durchlebte Wilhelm Hauff anno 1826 seine›Phantasien‹, bevor er sie kurz darauf zu Papier brachte«, erklärtesie mit überwältigendem Enthusiasmus, »wann hat eine Literatur-wissenschaftlerin schon einmal die Gelegenheit, fast zweihundertJahre später am selben Ort zu arbeiten, wie der Dichter, über densie forscht?«

»Sie denken, Hauff habe hier gearbeitet? Also in meiner Sprachenennt man das zechen, sich sinnlos betrinken, hemmungslos saufen,so was in der Art. Angeblich war der gute Mann unglücklich verliebtund musste seinen Kummer in Wein ertränken.«

»Das stimmt in gewisser Weise. Zumindest ist dokumentiert, dasser seiner Angebeteten ausgerechnet hier in Bremen begegnete, sieseinem Charme aber nicht verfiel, so wie er es von anderen Frauengewohnt war. Möglich, dass er vor allem mit seiner gekränkten Ei-telkeit zu kämpfen hatte. Aber ich für meinen Teil glaube, dasdurchaus mehr dahinter steckte.«

»Sie denken, dass wahre Liebe im Spiel war?«, Hofmann gestattetesich ein Schmunzeln. »Es ist schön, dass Sie einen so ausgeprägtenSinn für Romantik besitzen. Allerdings verstehe ich weniger dennje, was Sie ausgerechnet an einem sündhaften Ort wie diesen hierdarüber in Erfahrung bringen wollen. Hauff hat sich hier lediglichdie Kante gegeben, nachdem er endgültig bei der Dame abgeblitztwar.«

»Wirklich?«, entgegnete sie mit einer Spur von Überheblichkeitin der Stimme. Gleich darauf schenkte sie ihm einen leicht besch-ämten, mädchenhaften Blick, der jegliche Verärgerung ihres Ge-sprächspartners im Keim erstickte. »Habe ich mich eigentlich schonordentlich bei Ihnen bedankt?«, fragte sie.

Hofmann seufzte vernehmlich und schaute resignierend auf sei-ne Armbanduhr; die Zeiger standen auf sieben Minuten vor neun.Ein letztes Mal spielte er mit dem Gedanken, die junge Frau einfachkommentarlos vor die Tür zu setzen. Doch er war ihrem Charmebereits vor Tagen erlegen, als sie das erste Mal in seinem Büro auf-getaucht war. Er würde es auch jetzt nicht fertigbringen, ihr die Bitteabzuschlagen.

»Also gut, ganz wie Sie wollen«, sagte er. »Das Lokal schließt inwenigen Minuten. Die Mitarbeiter werden sämtliche Außentürenzusperren und die Alarmanlage scharf schalten, wenn sie gehen.

Nur die Damentoilette lassen wir ausnahmsweise offen«, er zwin-kerte ihr zu, was sie mit gelassener Miene quittierte. »Morgen frühum Punkt sechs Uhr werde ich höchstpersönlich nach Ihnen sehen.Wenn Sie Glück haben, bringe ich sogar Kaffee und Croissants mit.Sie schulden mir nur einen ausführlichen Bericht über Ihre Nacht-wache im Bremer Ratskeller. Versprechen Sie mir, kein Detailauszulassen.« Er legte seine Hand auf ihre schmale Schulter unddrückte sie vorsichtig. »Passen Sie einfach gut auf sich auf.« Mitdiesen Worten drehte er sich um und ließ sie allein.

- 3 -

Tamara schubste ihr Handy auf dem blank polierten Holztisch he-rum und kämpfte gegen den unerklärlichen Drang, eine ganz be-stimmte Nummer anzurufen. Zwar war es mitten in der Nacht,genau genommen 23:13 Uhr hier in Schottland, also kurz nach Mit-ternacht in Deutschland. Aber sie glaubte nicht, dass es eine Rollespielte. Vielmehr hatte sie nicht die geringste Ahnung, wie sie dasGespräch nach so langer Zeit des Schweigens überhaupt beginnensollte. »Hallo, ich bin’s, wollte nur mal hören, wie’s dir geht«, würdejedenfalls nicht sonderlich glaubhaft rüberkommen. Auch wenn esziemlich dicht an der Wahrheit kratzte. »Ich hatte einen Albtraum.Du bist in Gefahr. Was auch immer du vorhast, tu´s nicht!«, brachtedie Sache schon eher auf den Punkt. Allerdings klänge diese Art vonDramatik wie der dumme Scherz einer Betrunkenen und sie warsich nicht ganz sicher, ob sie nach dem dritten Bier noch überzeu-gend das Gegenteil behaupten konnte. Zu allem Überfluss erschienwie durch Geisterhand ein Glas mit goldfarbenem Whisky vor ihrerNase.

»Trink das, du siehst aus, als hättest du es bitter nötig«, sagteJonathan und setzte sich zu ihr an den Tisch. »Und anschließendrufst du ihn an. Ich bin nämlich nicht länger in der Lage, dich derartleiden zu sehen.«

»Was?« Einen Moment lang wusste Tamara wirklich nicht, wo-von er sprach.

»Deinen Lover. Oder Ex. Was weiß denn ich? Es ist ziemlichschwierig, bei dir auf dem Laufenden zu bleiben. Zumindest was diearmen Kerle anbelangt. Warum hast du ihm dieses Mal den Lauf-pass gegeben? Bevorzugt er Bourbon statt Scotch? Oder hört erMusik, die du nicht ausstehen kannst?«

Etwas skeptisch forschte Tamara in seinem wettergegerbten, kan-tigen Gesicht nach etwas, das ihr bislang entgangen war. Jonathanhatte sie schon häufig bei ihren Recherchen für das New Planet-Magazin begleitet. Tamara schrieb die Texte, er sorgte für brillantesFotomaterial. Zusammen bildeten sie ein unschlagbares Team.Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob mehr daraus entstehenkönnte.

»Nun mach schon. Bitte, tu’s für mich«, drängelte er, hob dasTelefon vom Tisch auf und hielt es ihr entgegen.

»Es ist nicht so, wie du denkst.« Sie ignorierte seine Geste und sahihm direkt in die Augen.

»Sondern?«, fragte er mit einem leicht gereizten Unterton.»Es geht um meine Schwester. Malena. Ich kann einfach nicht

aufhören, an sie zu denken.«»Aha«, entgegnete er nur und lehnte sich zurück. »Ich dachte, du

hättest keine Familie mehr.«»Habe ich auch nicht. Sie sind alle tot. Es gibt nur noch Malena,

aber wir haben uns vor langer Zeit zerstritten.«»Warum wundert mich das nicht?«»Oh, besten Dank. Fast hätte ich schon geglaubt, du seist auf

meiner Seite.« Sie hob ihr Whiskyglas und trank es in einem Zugleer. »Aber was soll’s, ich wollte sowieso gerade gehen.«

»Du meine Güte, seit wann bist du so empfindlich?« Jonathanergriff ihre Hände und hielt sie fest. »Es tu mir leid, okay? Erzählemir von deiner Schwester. Wie ist sie so?«

»Sie ist perfekt.« Tamara versuchte ein Lächeln, was nicht sorichtig gelingen wollte.

»Niemand ist perfekt.« Er zog die Augenbrauen in die Höhe undbetrachtete Tamara, als sähe er sie zum ersten Mal.

»Du kennst sie nicht. Jede Wette, dass du dich auf der Stelle in sieverlieben würdest. So ergeht es nämlich jedem Mann. Und jederFrau. Malena versteht es, die Menschen zu bezaubern. Sie ist vollerEmpathie für jedermann, bildschön, klug, gebildet, kreativ, sanft,freundlich. Sie ist einfach zu gut für diese Welt.«

»Blödsinn. Sie kann unmöglich so schön sein wie du.«»Netter Versuch. Aber ich konnte ihr noch nie das Wasser rei-

chen. Einmal, als wir noch Kinder waren, haben wir einen verletztenHund am Straßenrand gefunden. Ein Auto hatte ihn angefahrenund übel zugerichtet. Der Tierarzt, zu dem wir ihn brachten, räumteihm eine Überlebenschance von 1:100 ein. Ich konnte den Anblickdes halb zerfetzten Körpers nicht ertragen und flehte den Mannunter Tränen an, das Tier von seinem Leiden zu erlösen. Malenaschob mich einfach beiseite, drückte mir ein Päckchen Papierta-schentücher in die Hand und versicherte dem Doktor, dass unsereEltern die Rechnung auf Heller und Pfennig bezahlen würden.Wenn er nur sein Möglichstes täte, den Hund zu retten. Du kannstdir vorstellen, wie die Geschichte weiterging.«

»Das Hündchen wurde wieder gesund und verbrachte noch vieleglückliche Jahre im Kreise der Familie Norden.«

»Ganz genau. Ich wollte, dass ihn der Arzt tötet. Malena hat ihmdas Leben gerettet. Verstehst du jetzt, was ich meine?«

»Ja, so ungefähr. Aber das ist nicht der Grund, warum du deineSchwester ausgerechnet jetzt anrufen willst.«

»Nein natürlich nicht. Ich habe einfach nur so ein mieses Gefühl.Es hat mich aus heiterem Himmel gepackt und weigert sich, wiederverschwinden. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.«

Jonathan nickte bedächtig. »Wenn das so ist, kann ich dir nureinen einzigen guten Rat geben: Schlafe eine Nacht drüber. Morgenfrüh bei Sonnenschein sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.

Und wenn dir der Sinn danach steht, kannst du nach dem Frühstückimmer noch mit ihr sprechen.«

»Du hast Recht, ich gehöre ins Bett.« Tamara stand auf undhauchte ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange. Schon jetztstand fest, dass sie Malena auf gar keinen Fall anrufen würde, wederheute Nacht noch morgen früh. Tamara hatte ihrer Vergangenheitvor langer Zeit den Rücken gekehrt um ein eigenes Leben zu führen.Sie gedachte nicht, sich durch einen bloßen dummen Traum ausder Bahn werfen zu lassen.

- 4 -

Richard Hofmann hatte miserabel geschlafen, was pro Dekadehöchstens einmal vorkam. Somit war er bereits zwanzig Minutenvor dem Weckerklingeln aus dem Bett gestiegen, nur um festzu-stellen, dass der Heißwasserboiler im Bad über Nacht den Geistaufgegeben hatte. Trotz der unchristlichen Uhrzeit war er auf sei-nem knapp halbstündigen Fußmarsch in die Innenstadt vor zweiRadfahrern zur Seite gesprungen, um nicht über den Haufen ge-fahren zu werden. Gerade schoben sich die goldglänzenden Zeigerder Domsuhr auf viertel vor sechs und für Hofmann stand fest, dassdieser Tag nichts Gutes bringen würde.

Umständlich balancierte er zwei riesige, heiße Pappbecher undeine prall gefüllte Papiertüte aus einer Bäckerei über den Marktplatz.Es war nicht ganz einfach gewesen, zu so früher Stunde Kaffee undCroissants aufzutreiben, doch er hatte es der jungen Dame verspro-chen und ihm lag einiges daran, sie nicht zu enttäuschen. Leichtaußer Atem erreichte er endlich den Eingang zum Ratskeller-Lokal,stellte seine Lasten auf einer Treppenstufe ab und schloss die glä-serne Schwingtür auf. Schnell tippte er einige Ziffern in das Tas-tenfeld der Alarmanlage. Dann schritt er mit wachsender Nervositätdie letzten Stufen in das Gewölbe hinab, das in gespenstischer Dun-kelheit dalag. Warum zum Teufel hatte sie das Licht ausgeschaltet?Etwas irritiert tastete sich sein Blick in den hinteren Teil des langgezogenen Raumes vor. Dort, wo sich die Silhouette der jungen Frau

im fahlen Licht des Laptopdisplays abzeichnen sollte, gähnte fins-tere Leere. Schon spürte er, wie sich eine Vorahnung, die er seitgestern Abend mühsam in Schach hielt, an die Oberfläche seinesBewusstseins drängelte. Sie hat es also doch getan! Sie ist in die La-gerkeller hinunter gegangen! Verdammt, ich hätte es wissen müs-sen! Dann wurde ihm klar, was für ein Dummkopf er war.Vermutlich war die Kleine einfach nur von Müdigkeit überwältigteingeschlafen. Allerdings würde er keine Gewissheit erlangen, in-dem er hier herumstand und den Kaffee in den Pappbechern kaltwerden ließ. Er betätigte den Kippschalter unmittelbar neben sichund wartete, bis die geschickt montierten Strahler in den Säulen-bögen aufleuchteten und die alte Halle in die gewohnte, heimeligeAtmosphäre tauchten. Dann gab er sich einen Ruck und setzte sichwieder in Bewegung.

»Guten Morgen, Zimmerservice!«, rief er, während er auf jenenPlatz zusteuerte, an dem er sich am Abend zuvor von ihr verab-schiedet hatte. Der Laptop starrte ihm mit schwarzem Bildschirmentgegen, im Becher der Thermoskanne stand eine Pfütze, die auf-dringlich nach kaltem Pfefferminztee roch. Einige Bücher lagenverstreut auf dem Tisch herum. Doch von der Studentin fehlte jedeSpur. Sein Herzschlag verfiel in einen holprigen Galopp. Trotz derhier herrschenden Kühle spürte er, wie sich kleine Schweißperlenauf seiner Stirn bildeten.

»Frau Norden?« Er deponierte Becher und Brötchentüte nebendem verwaisten Arbeitsplatz und nahm jeden Winkel des Raumeseinzeln in Augenschein. Vergeblich.

Vielleicht macht sie sich einfach nur ein wenig frisch. Natürlich,das wird es sein! Auch wenn es ihm taktlos erschien, ging er zu denDamentoiletten und klopfte an die Tür zum Waschraum. Da keineAntwort kam, öffnete er sie – und starrte in den dunklen Raum.Obwohl die junge Frau kaum eine der Kabinen aufsuchen würde,ohne zuvor das Licht einzuschalten, horchte Hofmann einige Se-

kunden lang nach etwas, das er als Lebenszeichen deuten konnte.Alles blieb still. Noch einmal rief er ihren Namen. Zurück kam nurdas Echo seiner eigenen Stimme.

Die irrationale Hoffnung, sie sei womöglich in der Zwischenzeitzu ihrem Tisch zurückgekehrt, verpuffte noch in derselben Minute.Wo um alles in der Welt sollte er jetzt nach ihr suchen? Die bittereAntwort lautete mit einem Wort: überall. Die Gewölbe des BremerRatskellers bildeten sowohl in westliche als auch in nordöstlichRichtung ein verwirrend verzweigtes Labyrinth von unterirdischenHallen, kleineren Clubzimmern, Arbeits- und Packräumen sowieden Fass- und Flaschenlagern. Dort unten konnte ihr Gott weiß waszugestoßen sein. Hofmanns Puls legte einen weiteren Zahn zu. Ver-dammt, ich hatte sie doch ausdrücklich gewarnt! Nur mit Mühe hielter sich davon ab, seine Suchaktion in blinder Hektik zu starten. Denknach, alter Mann, denk nach. Malena Norden interessiert sich einzigund allein für ihren Lieblingsdichter. Zu dessen Lebzeiten haben dieKeller außerhalb der Rathausfundamente in der heutigen Form nochgar nicht existiert. Also ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass sie sichbis dorthin vorgewagt hat. In Hauffs »Phantasien« ging es vielmehrum einen Schatz, den Generationen von Ratskellermeistern bis heu-te hüteten. Dieser befand sich damals wie heute direkt unter denWurzeln des Alten Rathauses, ganz in Hofmanns Nähe: Der Rose-wein, ein 1653er Rüdesheimer, der älteste noch immer trinkbareFasswein Deutschlands, dessen Wert in Geldsummen unmöglichzu beziffern war. Natürlich lagerte das Fass in einem separaten,sorgfältig verschlossen Raum. Hofmann allein besaß den einzigenSchlüssel. Somit war es ganz und gar undenkbar, dass die Studentinden Raum betreten haben und dort zu Schaden gekommen seinkönnte. Andererseits … Der erste September. Der Jahrestag der Rose.Die Nacht, in der die Geister aus ihren Fässern emporsteigen … Ver-dammt! Im Laufschritt durchquerte er die alte Halle und stopptevor einem etwas versteckt liegenden Gang, der, wenn man ihm wei-

ter folgte, vom Lokalbereich in die tieferen Gefilde des Ratskellersführte. Zuvor jedoch lag rechter Hand ein weiteres, kleines Gewölbe,das von einer schweren Holztür versperrt war. Hofmann selbst hattesie gestern Abend zugeschlossen. Anschließend hatte er sich durchordentliches Rütteln am Türgriff davon überzeugt, dass sich diemassiven Angeln wirklich nicht bewegten.

Trotzdem zitterte seine Hand, als er die Klinke umfasste und zog.Noch im selben Atemzug erfüllte sich der Albtraum, der ihn letzteNacht unerbittlich gequält hatte: Die Tür schwang protestlos auf.

Eine endlose Sekunde lang starrte er voller Entsetzen in die Fins-ternis. In diesem Raum gab es keine elektrische Beleuchtung. AmKopfende befand sich in etwa zweieinhalb Metern Höhe ein winzi-ges, vergittertes und reichlich verschmutztes Fenster. Doch umdiese Uhrzeit kletterte die Herbstsonne gerade erst über den Hori-zont; nicht der kleinste Streifen Tageslicht drang bis hierher vor.

»Frau Norden?«, seine Stimme klang, als hätte er rostige Nägelgeschluckt, »Sie können herauskommen, es ist alles in Ordnung.«Natürlich war überhaupt nichts in Ordnung, aber etwas Besseresfiel ihm einfach nicht ein. Auch jetzt blieb sie ihm eine Antwortschuldig. »Okay, heute haben Sie mich erwischt. Ich gebe offen zu,dass mir vor Angst die Knie schlottern. Wenn Sie darauf bestehen,gebe ich es Ihnen schriftlich. Aber bitte: Kommen Sie aus IhremVersteck.« Nichts rührte sich. »Der Spaß ist vorbei. Ich meine esernst! «Für einen unfassbar kurzen Moment glaubte er, ihr hellesAuflachen zu hören. Pure Einbildung, wie er sich mit Grauen ein-gestand. Sie ist nicht hier! Also reiß dich gefälligst zusammen. Hierist niemand! Das Mantra blieb wirkungslos. Er musste sich mit ei-genen Augen davon überzeugen. Auf wackligen Beinen machte erkehrt, stolperte den schmalen Gang ein Stück weiter, bis sich dieserzu einem etwas geräumigeren Bereich erweiterte. Dort fand er mitzielsicherem Griff einen batteriebetriebenen Handstrahler undkehrte damit zurück.

Dann betrat er den Apostelkeller. Durch ihn hindurch führte dereinzige Weg zum Rosefass.

Das harte, kalte Licht durchbrach die Mystik, die von diesem Ortnormalerweise ausging, wie ein Dolch, der sich durch eine zarteBlüte bohrte. Der schwere, für gewöhnlich berauschende Duft, dendie hier ruhenden uralten Weine verströmten, schlug ihm wie einestumme Warnung entgegen. Langsam ließ Hofmann den Licht-strahl über die mächtigen Holzfässer gleiten, jeweils sechs zu beidenSeiten des schmalen Raumes. Jeder der zwölf biblischen Apostelfand seinen Namen auf einem von ihnen verewigt. Sie alle standenSpalier auf dem Weg in das eigentliche Heiligtum des Ratskellersund schienen jeden Eindringling argwöhnisch zu mustern. VonMalena Norden fehlte jede Spur.

Zu seiner Furcht gesellte sich nun eine derbe Übelkeit. Auf dasÄußerste gefasst trat er durch eine eiserne Pforte in den kleinen abergeräumigen Rosekeller.

Der zierliche Körper lag lang ausgestreckt inmitten des Gewölbes,direkt vor dem großen, alten Weinfass.

»Frau Norden? Um Gottes Willen!« Kaum dass er die wenigenMeter überbrückt hatte, ließ er sich auf die Knie fallen, ignorierteden Schmerz des Aufpralls auf den nackten Steinfliesen und schafftees, den Handstrahler abzulegen, ohne ihn dabei zu zerschmettern.Die junge Frau lag auf der Seite, einen Arm unter dem Kopf ausge-streckt, fast so, als wolle sie auf jemanden oder etwas zeigen. Dochvermutlich hatte sie lediglich versucht, während des Sturzes ihr Ge-sicht zu schützen. Dieses war von ihrem hüftlangen, dunklen Haarverdeckt, was Hofmann für den Moment als Segen empfand. Zö-gerlich strich er einige Strähnen beiseite und tastete nach derHalsschlagader. Ihre weiße Haut fühlte sich kalt an. Der Puls standstill.

»Nein«, flüsterte er, »das können Sie mir nicht antun. Das ist nichtfair!« Irgendwie schaffte er es, sich wieder auf zu rappeln. Er musste

Hilfe rufen! Die Hoffnung war mehr als gering. Aber vielleicht irrteer sich doch und ein Notarzt könnte sie zurück ins Leben holen. Wiein Trance zog er sein Handy hervor, realisierte jedoch mit einemBlick, dass es keinen Empfang anzeigte und somit hier unten völlignutzlos war. Selbstverständlich gab es im Restaurant ein Festnetz-telefon. Doch jetzt, da er Malena Norden endlich gefunden hatte,empfand er es als grausam, sie erneut in der Dunkelheit allein zulassen. Nur blieb ihm keine andere Wahl. Er rannte, so schnell esseine protestierenden Muskeln zuließen. Eine geschliffene Stahl-klinge schien seine Eingeweide zu durchbohren, als die Tür zumApostelkeller hinter ihm zufiel.

- 5 -

»Du meine Güte!«, die hochgewachsene Kriminalbeamtin in Röh-renjeans und Windjacke schnappte hörbar nach Luft, »warumhaben Sie mich nicht vorgewarnt?«

»Wie bitte?« Tamara brachte ihren Reisetrolley in eine senkrechtePosition und überlegte halbherzig, was ihr in dem knappen Telefo-nat mit der Kommissarin entgangen sein konnte.

»Sie haben mir nicht gesagt, dass Sie die Zwillingsschwester derVerstorbenen sind.« Eine dezente Röte breitete sich auf den son-nengebräunten Wangen aus. Ihre dunkelgrünen, leicht schräg ste-henden Augen studierten Tamaras Erscheinung jedoch weiterhinfast zwanghaft.

Was soll das hier werden? Erwartet sie von mir jetzt irgendwelcheKunststückchen? Oder dass ich mich als Alien zu erkennen gebe?»Warum hätte ich das tun sollen? Sie sind doch Polizistin und habennach mir gesucht. Wollen Sie mir weismachen, dass nirgends einFoto von mir existiert? Davon abgesehen müsste Ihnen doch zu-mindest das Geburtsdatum aufgefallen sein.« Tamara bemerktedurchaus, dass sie sich ein wenig im Ton vergriff. Allerdings sah siekeinen Grund für Höflichkeiten, nur weil diese Kripotussi aussahwie eine Mischung aus Supermodel und Freeclimberin und Tamaraum Haupteslänge überragte.

»Tut mir leid, Sie haben völlig recht. Ich hätte mich besser infor-mieren sollen.« Jetzt kam sie ihr einen Schritt entgegen und bot ihr

die ausgestreckte Hand. »Esther Lessing. Ich freue mich, Sie ken-nenzulernen. Und dass Sie so schnell herkommen konnten.« IhrLächeln wirkte versöhnlich.

Dennoch fiel es Tamara schwer, auf die Freundlichkeit angemes-sen zu reagieren. Vermutlich lag es schlicht an den allgemeinenUmständen, die sie in ihre Heimatstadt zurück geführt hatten. »VonEdinburgh gibt es Direktflüge nach Bremen«, sagte sie nur, »Ryanairsei Dank.«

»Ich würde mich freuen, wenn wir uns nachher noch ein wenigunterhalten könnten. Aber vielleicht sollten wir zunächst …« Miteiner verhaltenen Geste wies sie auf die Eingangstür zur Rechtsme-dizin. »Leider kann ich es Ihnen nicht ersparen, Ihre Schwesteroffiziell zu identifizieren.« Esther Lessing führte Tamara einen küh-len, weiß getünchten Flur entlang. »Meines Wissens sind Sie dieeinzige lebende Verwandte.« Sie ließ die Feststellung ein klein wenigwie eine Frage klingen. Offenbar nahm sie das Risiko, noch einmalins Fettnäpfchen zu treten, durchaus ernst.

Tamara nickte nur stumm. Ihre Eltern waren vor zehn Jahren beieinem Autounfall ums Leben gekommen. Onkel und Tanten gab esnicht, Großeltern hatten die Zwillinge nicht mehr zu Lebzeitenkennengelernt. Und was eigene Kinder anbelangte, so blieb auchmit neunundzwanzig Jahren noch so viel Zeit, sich zu entscheiden.Zumindest war es Tamara bislang immer so vorgekommen. Zumersten Mal begriff sie, dass der Tod einem ganz eigenen Fahrplanfolgte.

Lessing stoppte ohne Vorwarnung und drückte auf einen rundenKnopf an der Wand. Eine schwere zweiflügelige Tür schwang auf.Sie waren am unvermeidlichen Ziel angelangt. Ein kleiner Mann inhellblauem Kittel bat sie förmlich, ihm zu einem der mattglänzen-den Metalltische zu folgen, auf dem sich ein unverkennbar mensch-licher Umriss unter einem weißen Tuch abzeichneten. Einedunkelbraune Haarsträhne hatte sich verselbstständigt und lugte

seitlich hervor. Der Pathologe wartete, bis die beiden Frauen nahegenug herangetreten waren. Dann entblößte er mit routinierten Be-wegungen das Gesicht der Toten. Tamara erblickte ihr Spiegelbild.

Eine grauenhafte Ewigkeit wartete sie darauf, endlich von Trauerüberwältigt zu werden, suchte nach etwas wie Schmerz, Entsetzenund Wut in ihrem Innern. Stattdessen empfand sie nichts als einetiefschwarze Leere, die jegliches Gefühl verschlang. »Jetzt gibt es unsalso nur noch einmal«, sagte sie tonlos.

Wie in Trance ließ sie es zu, dass ihr die Kommissarin einen Armum die Schultern legte und sie aus dem Gebäude führte. Kurz daraufsaßen sie in ihrem Dienstwagen und fuhren in Richtung Innenstadt,ohne dass Tamara etwas von der Umgebung mitbekam. Lessing ließsie in Ruhe und tat zumindest so, als lausche sie den Songs im Radio;offenbar war sie doch nicht so übel, wie Tamara anfangs gedachthatte. Erst als sie ihr Büro im Polizeipräsidium betraten, brach siedas Schweigen.

»Ich hatte Ihnen ja schon am Telefon gesagt, dass Ihre Schwestereines natürlichen Todes gestorben ist«, begann sie ein wenig um-ständlich und bot Tamara einen gepolsterten Stuhl an. »Währendder Obduktion hat man bei ihr einen seltenen Herzklappenfehlerfestgestellt. Offenbar hat sie damit von Geburt an gelebt.« Sie reichteTamara einen Becher mit dampfendem, schwarzem Kaffee, der sichscheinbar aus dem Nichts materialisiert hatte und nahm ihr gegen-über am Schreibtisch Platz. »Das weitaus ernstere Problem war aberein Tumor, der sich an dieser heiklen Stelle gebildet hatte. HabenSie etwas davon gewusst?«

Tamara schüttelte nur den Kopf, nippte dankbar am Becherrandund stufte das Gebräu als recht passabel ein. »Malena hat gesund-heitliche Probleme nie erwähnt.« Sie trank einen großen Schluckund fluchte leise, als sie sich den Gaumen verbrannte. »Allerdingshaben wir uns in den letzten zehn Jahren kaum gesehen oder mit-einander gesprochen.« Genau genommen hatten wir überhaupt

keinen Kontakt. Aber sie musste der Kommissarin ja nicht gleichalles auf die Nase binden. Zumal diese ihr noch immer nicht gesagthatte, warum die Polizei überhaupt eingeschaltet worden war.

»Als der Arzt gesehen hat, dass Sie Zwillinge sind«, tastete sichLessing behutsam weiter vor, »hat er mich gebeten, Ihnen etwasauszurichten.« Sie forschte in Tamaras Miene, wie sie die Ankün-digung aufnahm. Offenbar sah sie nichts, dass ihr allzu großenAnlass zur Sorge gab. »Doktor Mader rät Ihnen dringend, sich voneinem Kardiologen durchchecken zu lassen. Nur zur Sicherheit.«

»Sie meinen, ich könne dasselbe Handicap mit mir herumtragen,ohne etwas davon zu merken?« Tamara zog die Augenbrauen in dieHöhe und schaffte ein schräges Grinsen. »Der Mann ist Pathologe,das habe ich doch richtig verstanden, oder?« Die Ratschläge einesLeichendoktors waren zurzeit das Letzte, das sie gebrauchen konnte.»Aber danke der Fürsorge, mir geht’s bestens.«

»Diese Art von Klappenanomalie ist erblich bedingt. Die Beden-ken des Mediziners sind meiner Meinung nach absolut nachvoll-ziehbar. Aber Sie müssen das natürlich selbst entscheiden.« Lessingwandte sich zu einem Kollegen um, der hereingekommen war, umihr ein unförmiges Päckchen zu bringen. Sie bedankte sich bei ihmper Handzeichen und schob die halb durchsichtige Tüte zu Tamaraüber den Schreibtisch. »Das sind die Gegenstände, die wir bei IhrerSchwester gefunden haben. Ich nehme an, die gehören jetzt Ihnen.«

Tamara zuckte nur mit den Schultern und schenkte den Sachenbestenfalls flüchtige Beachtung. Sie war erschöpft, verwirrt undkämpfte gegen das Heraufdämmern einer Depression. Ihr ohnehinäußerst morscher Geduldsfaden stand kurz vor dem Zerreißen.»Jetzt rücken Sie endlich heraus mit der Sprache: Was hat die Kri-minalpolizei mit einem nachweislich natürlichen Todesfall einerbraven Bürgerin zu schaffen?«

»Von jetzt an? Gar nichts mehr. Mysteriös ist allein der Ort, andem es passiert ist. Wie gut kennen Sie den Bremer Ratskeller?«

Also das waren die Gewölbe, die sie in ihrem Albtraum gesehenhatte. Eine Vision, der Tamara keine Beachtung hatte schenkenwollen. Sie biss die Zähne so fest zusammen, dass Lessing das Knir-schen unmöglich überhören konnte. Doch falls die Kommissarinirgendeine Art von Verdacht schöpfte, ließ sie es sich nicht anmer-ken. In knappen Sätzen schilderte sie, was man sich über dieVorkommnisse in fraglicher Nacht zusammen reimte. »Genau wer-den wir es wohl nie erfahren«, schloss sie ihren Kurzbericht.

»Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn«, fasste Tamara die Ge-schichte kurz und bündig zusammen. »Malena geht ohne erkenn-baren Grund in einen stockfinsteren Kellerraum, der eigentlichhätte verschlossen sein müssen, und bricht ausgerechnet dort voreinem alten Weinfass tot zusammen? Einfach so? Herzfehler hinoder her, das ist absurd!«

»Die Kollegen von der Spurensicherung haben äußerst gründlichgearbeitet, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Sie haben nichtsgefunden, das auf die Anwesenheit einer weiteren Person hindeu-tet.«

Tamara schüttelte den Kopf. »Wenn ich Sie richtig verstandenhabe, musste Malena dem Ratskellermeister hoch und heilig ver-sprechen, den Lokalbereich nicht zu verlassen. Sie hätte auf garkeinen Fall riskiert, ihn zu enttäuschen. Meine Schwester hat nie-mals etwas Verbotenes getan. Sie ist nicht einmal bei Rot über dieStraße gegangen.«

»Sie beiden hatten sich aus den Augen verloren«, sagte Lessingnachdenklich. »Wer weiß, was Malena in den letzten zehn Jahrenwiderfahren ist. Die Zeit kann einen Menschen stark verändern.«

»Sie irren sich gewaltig. Der Charakter eines Menschen ist uner-schütterlich.« Nein, nein, nein! Du darfst diese Tür auf gar keinenFall öffnen! Niemals! Nicht, wenn du leben willst! Die verstörendeTraumsequenz kehrte mit voller Macht in Tamaras Bewusstseinzurück. »Malena hat sich nur in den Rosekeller hinein gewagt, weil

es ihr unvermeidlich schien. Ich bin mir sicher, dass sie buchstäblichdazu gezwungen wurde.« Sie hob ihren Blick und sah Esther Lessingdirekt in die Augen. »Wollen Sie mir ernsthaft weismachen, dassIhnen dieser Gedanke nicht ein einziges Mal selbst gekommen ist?«

»War Ihre Schwester abergläubisch?«, schoss die Kommissarinunvermittelt zurück, »ich meine früher, als Kind?«

»Wie bitte?« Tamara blinzelte; sie musste sich in der neuen Di-mension, die dieses Gespräch gerade annahm, erst einmal zurechtfinden.

»Eine Menge Bremer schwören auf die Bibel, dass es im Ratskellerspukt. Die Phantasie des Menschen ist ein äußerst mächtiger Be-gleiter.«

»Halten Sie dies für einen guten Zeitpunkt, um mich zu veral-bern?« Im Moment war Tamara zu perplex, um sich wirklich zuärgern.

»Malena hat sogar über eine dieser Geistergeschichten geforscht.Nehmen wir einmal an, sie hat etwas gehört oder gesehen, das ihrseltsam erschienen, in Wirklichkeit aber überhaupt nicht da gewe-sen ist. So ganz allein in dieser unheimlichen Umgebung könnteeine Art Halluzination gehabt haben …«

»Hören Sie sich eigentlich selbst zu?« Tamara schnaufte fas-sungslos. »Oder frustriert Sie ihr eigenes Versagen dermaßen, dassSie Malenas Tod einem Geist anhängen wollen?«

»Nun ja, Doktor Mader hält es jedenfalls für möglich, dass einSchock den Herzstillstand ausgelöst hat. Ernsthaft, Tamara, wirglauben, dass Ihre Schwester im wahrsten Sinne des Wortes vorSchreck gestorben ist.« Esther Lessing hielt inne, um Atem zuschöpfen. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine bessere Erklärungliefern. Mir selbst wäre wesentlich wohler, wenn ich Ihnen einenTäter präsentieren könnte, der gerade einen handfesten Mord ge-standen hat. Aber die Sache ist die: Es gibt definitiv keine Ein-bruchspuren. Wir haben alle Mitarbeiter von Gastronomie und

Weinhandel befragt; keiner von ihnen ist in irgendeiner Weise ver-dächtig. Als das Unglück geschah, war Malena vollkommen allein.«

Als Tamara vor die Tür des Präsidiums trat, fühlte sie sich so be-nommen, als sei sie soeben dem Wrack eines sinkenden Schiffesentkommen und noch immer verzweifelt bemüht, an die Oberflächeder tobenden See zu schwimmen. Der Lärm des abendlichen Be-rufsverkehrs drang eigentümlich gedämpft und verzerrt an ihreOhren; Autos rauschten unablässig über die Kreuzung vor ihr,schienen in derselben Sekunde zu beschleunigen und stillzustehen.Die Ampeln sprangen von grün auf gelb und rot, doch im Momentkonnte sie sich nicht erinnern, was diese Farben zu bedeuten hatten.Menschen eilten auf dem Bürgersteig an ihr vorbei. Niemand schienTamara auch nur wahrzunehmen. Zu allem Überfluss rempelte sieein übergewichtiger Anzugträger an; eine Entschuldigung hielt erfür überflüssig. Kaum dass sie ihr Gleichgewicht wiedergefundenhatte, rauschte ein etwa zwölfjähriger Junge auf seinem Skateboardhaarscharf an ihr vorbei.

»Warum gehst du zum Üben nicht nach Hause?«, rief sie ihmverärgert hinterher, doch ihre Worte verhallten ungehört im feier-abendlichen Chaos. Einen Moment lang spielte sie mit der Verlo-ckung, sich in das Taxi zu setzen, das soeben vor dem Polizeihaushielt und seinen Fahrgast aussteigen ließ. Dann gewannen Geiz undVernunft die Oberhand. Ihr nächstes und für heute hoffentlich letz-tes Ziel befand sich mitten im Steintorviertel und war in einerknappen Viertelstunde zu Fuß erreichbar. Davon abgesehen würdeihr die frische Luft hoffentlich zu einem einigermaßen klaren Kopfverhelfen.

Tamara straffte die Schultern und schritt kräftig aus, ging denOstertorsteinweg mit seinen bunten Cafés, Kneipen und kleinenLäden entlang und bog vor der Sielwallkreuzung links in eine enge,kopfsteingepflasterte Gasse. An der nächsten Weggabelung hielt sie

sich rechts und ließ die Straße, in der sie ersten neunzehn Jahre ihresLebens verbracht hatte, auf sich wirken. Winzige Vorgärtchentrennten die charaktervollen, sorgfältig sanierten Altbauten vondem schmalen Gehweg. Über Jahrzehnte gewachsene Bäume, Bü-sche und Ranken verliehen der Gegend einen leicht englischenHauch. Schließlich blieb Tamara vor einer niedrigen, schmiedeei-sernen Gartenpforte stehen. Hier hatte sie mit ihrer Familie gelebtwie unter einer unsichtbaren Käseglocke, umgeben von gedämpf-tem Luxus, der ihr als Kind vollkommen selbstverständlich erschie-nen war: Privatschule, regelmäßige Auslandsreisen, Galeriebesucheund Reitstunden. Tamara konnte sich nicht entsinnen, ihren Elternauch nur ein einziges Mal dafür gedankt zu haben. Nach deren Todwar das gesamte Familienerbe an die Zwillinge gegangen. Malenawar geblieben, um sich darum zu kümmern. Tamara hatte sich ausdem Staub gemacht und nicht einmal daran gedacht, irgendwelcheAnsprüche geltend zu machen. Wie die Dinge standen, fiel ihr nundie Rolle ihrer Schwester zu. Es fühlte sich an, als lege man sie inKetten. »Meistens kannst du gar nicht so verrückt denken, wie es imLeben tatsächlich läuft«, hatte ihr Vater gern postuliert, »deshalb istes besser, dem Leben mit einer ordentlichen Portion Ironie zu begeg-nen.« Tamara seufzte tief; sie glaubte nicht, dass ihr dieses Kunst-stück tatsächlich gelingen würde. Zumal sie gerade realisierte, dassMalena das Haus hatte streichen lassen. Jetzt hob es sich von denanderen, schneeweißen Fassaden in einem zarten Fliederton ab. Ei-ne Farbe, die unter normalen Umständen furchtbar kitschig wirkenmüsste. Was auf eigentümliche Weise nicht der Fall war. Die nos-talgische Bank neben der frisch gebeizten und geölten Holztür, derabgegriffene Türklopfer aus matt glänzendem Messing, dunkelvio-lette Fensterläden und blühende Pflanzen hinter den zweiflügeligenScheiben. All das bildete ein so harmonisches Ganzes, wie es nurMalena hatte erschaffen können. Wenn es darum ging, dem tristen

Alltag eine romantische Seite abzugewinnen, war sie von jeher un-schlagbar gewesen.

Tamara trat durch die Pforte und stellte ihr Gepäck auf den fla-chen Steinstufen vor der Haustür ab. Dann zog sie den Reißver-schluss ihrer abgewetzten Lederjacke auf, tastete nach der Innenta-sche, zog einen einzelnen Schlüssel hervor, der an einer schlichtenKordel befestigt war, und betrachtete ihn skeptisch. Sie hatte ihn seitzehn Jahren nicht benutzt. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit,dass er noch immer passte? Wie viele Gründe mochte es geben, imLaufe einer Dekade ein Türschloss auszutauschen? Fest stand nur,dass Malena kaum auf die Idee gekommen wäre, Tamara darüberzu benachrichtigen. Warum auch? Sie hatte in der festen Überzeu-gung gelebt, ihre einzige Schwester niemals wieder zu sehen.

Allem Argwohn zum Trotz glitt der Schlüssel in das Sicherheits-schloss und ließ sich protestlos drehen. Dennoch stutzte Tamaranoch in derselben Bewegung. Denn die Tür war überhaupt nichtzugesperrt gewesen. Eine Nachlässigkeit, die Malena nie im Lebenunterlaufen wäre. Was nichts anderes bedeutet, als dass jemand zuHause war, von dessen Existenz Tamara nichts wusste. Unwillkür-lich verspürte sie einen Anflug von Ärger in sich aufwallen. Dieswar jetzt ihr Haus und hier hatte schlicht und ergreifend niemandetwas zu suchen, der nicht auf ihre persönliche Einladung anwesendwar. Sie zählte stumm bis zehn und fing ihre davoneilende Vernunftmit dem imaginären Lasso ein. Wie konnte sie nur eine Sekundelang davon ausgegangen sein, dass Malena in diesem riesigen Hausallein gewohnt hatte? Nur weil sie noch immer den alten Familien-namen trug? Das war einfach lächerlich. Also gut, dann werde ichmit dem Kerl wohl ein unerfreuliches Gespräch führen müssen. Ver-dammt, ihr blieb auch wirklich nichts erspart. Sie zog den Trolleyunsanft über die Stufen und trat in das Halbdunkel des Flures. Esberuhigte sie ein wenig, dass hier alles unverändert schien. Das Flie-senmosaik auf dem Fußboden wirkte ein bisschen blasser und

ausgetretener, als sie es in Erinnerung hatte. In den Vasen auf derKommode waren frische Rosen arrangiert. Ihre Mutter hatte niewelche im Haus haben wollen, angeblich wegen der Dornen. DochTamara war den Verdacht niemals los geworden, dass der wahreGrund woanders lag. Nicht dass es in irgendeiner Weise wichtigwäre. Also warum hielt sich ihr Gehirn ausgerechnet jetzt mit de-rartigen Nebensächlichkeiten auf? Tamara kniff einige Male dieAugen zu und öffnete sie wieder, eine Konzentrationsübung, dienicht sonderlich viel bewirkte. Bei jedem Schritt, den sie von nunan zurücklegte, schlugen die Bilder der Vergangenheit förmlichüber ihrem Kopf zusammen und rissen sie mit einem Schlag in eineZeit zurück, die sie so vehement zu vergessen versuchte. Malena,Schätzchen, hilfst du mir, den Tisch zu decken? Es war die Stimmeihrer Mutter, die in ihrer Erinnerung aus der Küche drang. Der Ge-ruch nach gebratenen Zwiebeln und sorgsam kombinierten Kräu-tern schien plötzlich durch den Flur zu ziehen; jetzt glaubte sie zuhören, wie ihr Vater eine Weinflasche entkorkte. In ihrer Kindheitwar das gemeinsame Abendessen das Highlight eines jeden Tagesgewesen. Doch irgendwann war Tamara aufgefallen, dass sich jedesGespräch ausschließlich um ihre Schwester drehte. Zuweilen schienes, als wäre ihrer Mutter schlicht entfallen, dass sie zwei Töchter zurWelt gebracht hatte. Und ihr Vater? Nun ja, mehr als ein vertrau-liches Blinzeln war von ihm in Gegenwart seiner Frau nicht zuerwarten gewesen. »Sie hat euch doch beide gleich lieb«, hatte er Ta-mara immer wieder versichert. Doch im Haus war bis zum Schlussnur ein Name ständig gefallen: Malena.

Ein fürchterliches Scheppern von zerbrechendem Porzellan risssie zurück in die Gegenwart.

Tamara war bis in die geräumige Wohnküche vorgedrungen, inder zum Glück nur sehr wenig an die alten Zeiten erinnerte. Diepraktischen Einbauschränke waren verschwunden. Stattdessenreihten sich bunte Keramikbecher, Weckgläser mit Reis und Nu-

deln, Kaffee- und Teedosen auf offenen Regalen. Insgesamt strahlteder Raum ein gemütliches Durcheinander aus. Mit dem Rückenzum Spülbrett stand eine brünette, etwa eins-sechzig große Frau mitkindlichen Gesichtszügen und rundlichen Hüften. Ihr Mund warzu einem stummen Schrei erstarrt. Auf den im Schachbrett-Mustergelegten Fliesen lagen Scherben, die vor kurzem noch ein Tellergewesen waren.

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