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UNIVERSITÄT IN MARIBOR PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT ABTEILUNG FÜR GERMANISTIK Diplomarbeit DIE „VERLORENE GENERATION“: GEZEIGT AN BEISPIELEN VON WOLFGANG BORCHERT UND ERICH MARIA REMARQUE Mentorin: redna prof. dr. Vesna Kondrič Horvat Kandidatin: Jasmina Tomc Maribor, 2009

DIE „VERLORENE GENERATION“: GEZEIGT AN BEISPIELEN VON ... · Im Westen nichts Neues, sicherten Zeitungsvorabdruck, Buchausgabe und Verfilmung die Popularität. 5 Die gesellschaftlichen

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UNIVERSITÄT IN MARIBOR

PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT

ABTEILUNG FÜR GERMANISTIK

Diplomarbeit

DIE „VERLORENE GENERATION“: GEZEIGT

AN BEISPIELEN VON WOLFGANG BORCHERT

UND ERICH MARIA REMARQUE

Mentorin: redna prof. dr. Vesna Kondrič Horvat Kandidatin: Jasmina Tomc

Maribor, 2009

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INHALTSVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG ........................................................................................... 3

1.1. Ziele ................................................................................................ 5

1.2. Methodische Voraussetzung ........................................................... 5

2. NACHKRIEGSLITERATUR IN DEUTSCHLAND .............................. 6

2.1. Literatur nach dem Ersten Weltkrieg (nach 1918) ......................... 7

2.1.1. Literarische Richtungen in der Weimarer Republik (1918–1933).. 9

2.1.2. Der Anti-Kriegsroman am Ende der Weimarer Republik ............ 10

2.2. Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg (nach 1945) ..................... 11

2.2.1. Die literarischen Strömungen zwischen 1945 und 1950 ............... 12

2.2.2. Die Tendenzen der Trümmerliteratur ........................................... 13

3. ERICH MARIA REMARQUE ............................................................... 14

3.1. Biographie ..................................................................................... 14

3.2. Werke ............................................................................................ 15

3.3. Generation ohne Zukunft .............................................................. 17

3.3.1. Im Westen nichts Neues ................................................................ 18

3.3.1.1. Das Kriegsbild bei Remarque ....................................................... 19

3.3.1.2. Interpretation ................................................................................ 20

3.3.2. Der Weg zurück ............................................................................ 21

3.3.2.1. Interpretation ................................................................................ 22

3.3.2.2. Parallelen zum Roman Im Westen nichts Neues .......................... 24

4. WOLFGANG BORCHERT .................................................................... 26

4.1. Biographie ..................................................................................... 26

4.2. Werke ............................................................................................ 29

4.3. Aufschrei Wolfgang Borcherts ..................................................... 32

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4.4. Generation ohne Abschied ............................................................ 33

4.4.1. Das Drama Draußen vor der Tür .................................................. 34

4.4.1.1. Die Geschichte .............................................................................. 35

4.4.1.2. Interpretation ................................................................................. 38

4.4.1.3. Rezeption ....................................................................................... 39

4.4.2. Die Kurzgeschichten ..................................................................... 41

4.4.2.1. Allgemeines ................................................................................... 41

4.4.2.2. Interpretation ausgewählter Kurzgeschichten ............................... 43

5. DIE VERLORENE GENERATION ...................................................... 45

5.1. Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück bei Remarque ....... 46

5.2. Draußen vor der Tür und die Kurzgeschichten bei Borchert ....... 48

5.3. Vergleich der verlorenen Generation in den erwähnten Werken .. 50

5.3.1. Die Wahrheit ................................................................................. 52

5.3.2. Verantwortung und Schuld ........................................................... 54

5.3.3. Schule und Lehrer ......................................................................... 57

5.3.4. Das Töten ...................................................................................... 59

5.3.5. Gott und Glaube ............................................................................ 61

5.3.6. Familie .......................................................................................... 61

5.3.7. Heimat ........................................................................................... 62

5.3.8. Zukunft .......................................................................................... 64

6. SCHLUSS ............................................................................................... 67

7. LITERATURVERZEICHNIS ................................................................ 70

8. BEILAGEN .............................................................................................. 73

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1. EINLEITUNG

Die vorliegende Diplomarbeit stellt eine Generation junger Soldaten dar, die vom Kriege

zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam1.

So bezeichnete der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque die „verlorene Generation“,

die direkt aus der Schule in den Krieg einberufen wurde. Die Einberufung an die Front hat ihr

Studium unterbrochen, ihre persönliche Entwicklung gestört, sie aus der Verwurzelung in der

Familie und auch in der Heimat gerissen. Die meisten sind verwundet oder krank aus dem

Krieg oder der Gefangenschaft zurückgekehrt.

Zehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erschien Remarques Anti-Kriegsroman Im

Westen nichts Neues, der die Grausamkeit des Krieges beschreibt, aber er schildert auch die

Verlorenheit einer Gruppe von Soldaten and der Front, die um ihre Jugend betrogen wurde.

Viele Heimkehrer identifizierten sich mit den Protagonisten des Romans und das sicherte

Remarque einen internationalen Riesenerfolg. Remarques Anti-Kriegsroman Im Westen nichts

Neues war die Reportage des Alltags des Krieges, die eine Anklage erhob, die in allen

Ländern verstanden werden konnte.

Eine verlorene Generation von Heimkehrern entsprang auch dem Zweiten Weltkrieg, und sie

fand ihre Stimme in der Literatur von Wolfgang Borchert. Er war der erste Schriftsteller der

jungen Generation, die die Nazis nicht wählte, aber in den Krieg ziehen musste. Und er war

der erste, der darüber schrieb. Sein literarisches Werk ist ein Notschrei einer betrogenen, um

alles beraubten Jugend, die, zerstört von den Schachfeldern, in eine in Gleichgültigkeit und

Egoismus verhärtete Heimat zurückkehrte. Das bekannteste Beispiel ist sein einziges Drama

Draußen vor der Tür. Der vergebliche Ruf nach einer „Antwort“ sprach für eine ganze

Generation.

Erich Maria Remarque und Wolfgang Borchert repräsentierten die junge Generation, die am

Krieg teilnehmen musste und in jungen Jahren schon Erfahrungen gemacht hatte, die anderen

Generationen erspart blieben. Deshalb haben sie eine große Wirkung in der

1 Remarque, 1929, S. 5

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Nachkriegsliteratur hinterlassen und ihre Werke bleiben noch im 21. Jahrhundert, Jahrzehnte

nach dem Ende des letzten Weltkrieges, aktuell.

Der Vergleich der beiden Werke und genaue Analyse zeigen, warum sie so wichtig waren und

noch immer sind.

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1.1. Ziele

In der Diplomarbeit Die verlorene Generation: gezeigt an Beispielen von Wolfgang Borchert

und Erich Maria Remarque werden folgende Ziele verfolgt:

- die literarischen Richtungen und ihre Eigenschaften nach dem Ersten und Zweiten

Weltkrieg im deutschen Raum kurz vorstellen;

- den Begriff der „verlorenen Generation“ beschreiben;

- das Leben und Werk von Wolfgang Borchert und seine Rolle in der Literatur

unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg vorstellen;

- das Leben und Werk von Erich Maria Remarque und seine Rolle in der Literatur nach

dem Ersten Weltkrieg vorstellen;

- die verlorene Generation in verschiedenen Werken der beiden Autoren vergleichen.

1.2. Methodische Voraussetzung

In der Diplomarbeit wird vorwiegend die deskriptive Methode verwendet. Als Grundlage

wurden verschiedene literarische Quellen genommen, die sich mit der ausgewählten Thematik

auseinandersetzen. Die Quellen, die auf dem Thema der verlorenen Generation basieren,

wurden erforscht und dem Anlass entsprechend zusammengefasst. Die meisten Quellen

bearbeiten die Literaturgeschichte im 20. Jahrhundert und das Leben und Werk der beiden

Autoren, die in der Diplomarbeit vorgestellt werden: Erich Maria Remarque und Wolfgang

Borchert. Die gesammelten Daten wurden analysiert.

Die schon existierenden wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden mit Hilfe der Analyse der

einzelnen ausgewählten Werke der beiden Autoren verglichen, mit der komparativen Methode

wurden auch die Eigenschaften der „verlorenen Generation“ nach dem Ersten und nach dem

Zweiten Weltkrieg verglichen und historisch eingebunden.

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2. NACHKRIEGSLITERATUR IN DEUTSCHLAND

Erich Maria Remarque und Wolfgang Borchert haben vieles gemeinsam, sie haben beide an

einem großen Weltkrieg teilgenommen und die Erfahrungen, die sie an der Front gesammelt

haben, haben für immer ihr Leben verändert und radikal ihre Weltanschauung geprägt.

Remarque nahm an der Westfront im Ersten Weltkrieg teil und wegen der damaligen

politischen und literarischen Situation schrieb er darüber erst Jahre später.

Borchert aber kam krank aus dem Zweiten Weltkrieg und fing gleich im selben Jahr im

Zeitdruck die Wahrheit ans Licht zu bringen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse

ermöglichten ihm eine sofortige Anerkennung auch außerhalb der Grenzen seiner Heimat.

Die Unterschiede der politischen und kulturellen Verhältnisse nach den beiden Weltkriegen,

die bei den beiden Autoren die wesentliche Rolle spielten, werden in diesem Kapitel einzeln

vorgestellt und näher erläutert.

Der Ausbruch des Weltkrieges 1914 schien in der Bedrohung der Nation eine neue Einheit

des Fühlens und Denkens zu geben. Er wurde in der Literatur als eine innere Notwendigkeit

empfunden. Doch der Krieg erwies sich als Zusammenbruch aller überlieferten Werte. Die

Grundlagen der Gesellschaft und der Kultur schienen fragwürdig geworden zu sein. Die

bürgerlichen Lebensnormen waren gebrochen.2

Die Stimmung des Verlorenseins in einer Welt der Liebelosigkeit und Brutalität findet sich in

den zwanziger Jahren bei vielen deutschen Autoren, und sie kehrt mit dem Zweiten Weltkrieg

wieder.

2 vgl. hierzu: Martini, 1972, S. 536 – 569

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2.1. Literatur nach dem Ersten Weltkrieg (nach 1918)

Vom Ende des Ersten Weltkriegs 1918 bis zur Machtergreifung durch Hitler und die NSDAP

1933 ist die Zeit der Weimarer Republik. In dieser Zeit entwickelt sich eine neue Stilrichtung,

die den Expressionismus ersetzte.

Die Richtung, die man in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts als „Neue Sachlichkeit“

bezeichnet, ist eine Stilbezeichnung zuerst für die Malerei und später auch für die Literatur.

Die Neue Sachlichkeit war eine Reaktion vor allem auf den Expressionismus, der seine Rolle

verlor. Die Autoren der Neuen Sachlichkeit streben eine objektive Darstellung der Welt und

eine soziale sowie ekonomische Wirklichkeit an. Auf die Autoren der Weimarer Republik

hatte den wichtigsten Einfluss der Erste Welktrieg und die Entstehung der Weimarer

Republik.3

2.1.1. Literarische Richtungen in der Weimarer Republik (1918 -1933)

Schon vor 1914 hatte die expressionistische Generation in ihren Dichtungen ein Weltende

prophezeit. Die Dichter fühlten sich totaler Sinnlosigkeit und dem Zerfall ausgeliefert. Ihr

Werk ist Aufschrei über Leid und Not der Welt. Ein einigendes Band für die Bewegungen

jenes Jahrzehnts war der Protest. Der Krieg hatte eine seit langem fragwürdige Welt zerstört;

er wirkte als ein erregender Aufruf, ein neues menschliches Dasein zu erziehen, und verlangte

eine neue Bestimmung der menschlichen Werte. Zu Beginn der zwanziger Jahre verlor der

eher elitäre literarische Expressionismus der Kriegs- und Vorkriegszeit allmählich an

Bedeutung. Um eine breite Öffentlichkeit anzusprechen, wählten die Literaten nun eine

allgemeinverständliche Sprache und wirklichkeitsnahe Darstellungen.4

Die neue literarische Strömung bezeichnete man als die »Neue Sachlichkeit«. Viele Autoren

sprachen sachlich, nüchtern und genau beobachtend ihre Kritik an der Zeit aus. Sie

bekämpften Orientierung an falschen Vorblidern und beklagen den Verfall moralischer Werte.

Die am häufigsten verwedeten literarischen Formen waren Reportagen, Dokumentationen und

Romane. Die Kriegsdarstellung spielte eine wichtige Rolle. 3 vgl. hierzu: Slezáková, 2007, S. 11 4 vgl. hierzu: Martini, 1972, S. 569

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Zentrale Themen der Romane in dieser Zeit waren Groβstadt, Technik, Industrie und

Wirtschaft, Arbeit und Arbeitslosigkeit sowie Alltag.

Die wichtigsten Autoren, die die Nachkriegszeit gezeichnet haben, waren: Bertolt Brecht,

Alfred Döblin, Hermann Hesse, Franz Kafka, Thomas Mann, Robert Musil, Erich Maria

Remarque, Joseph Roth, Kurt Tucholsky, Robert Walser und viele andere.

In den zwanziger Jahren spielten die neuen Medien als Vermittlungsinstrumente eine

besondere Rolle. Das Ziel war die Erschütterung bisher unbezweifelter Kunstnormen, wobei

die deprimierende Erfahrung des Ersten Weltkriegs auslösend gewirkt hatte. Auch bei einem

der größten Bucherfolge im zwanzigsten Jahrhundert und nach dem Roman gedrehten Film,

Im Westen nichts Neues, sicherten Zeitungsvorabdruck, Buchausgabe und Verfilmung die

Popularität.5

Die gesellschaftlichen Verhältnisse der unmittelbaren Nachkriegszeit waren also durch die

Suche nach einem neuen Sinn gekennzeichnet, das Kriegsthema war nicht erwünscht, die

Menschen wollten die grausame Erfahrung so schnell wie möglich vergessen und sich wieder

ins Leben stürzen. Aber ein paar Autoren, unter ihnen auch Remarque, haben erkannt, dass sie

das Kriegserlebniss noch Jahre nach dem Kriegsende verfolgt und haben versucht ihre

schmerzlichen Eindrücke durchs Niederschreiben zu bewältigen.

Ein wichtiger Unterschied zur Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs war auch, dass die

Front weit außerhalb Deutschlands Grenzen blieb und die zivile Bevölkerung nicht allzuviel

von dem eigentlichen Gräuel erfuhr, sogar nach dem Krieg herrschte oft noch immer die

romantische Vorstellung des Heroismus. Erst Jahre nach dem Krieg war die Situation reif, um

eine genaue Kriegsdarstellung zu akzeptieren und Remarques Buch einen sensationellen

Ruhm und Popularität verleihen.

Doch die Weimarer Demokratie brachte ökonomisch und ideologisch Enttäuschung und das

durch Krieg und Niederlage zutiefst durchschüttelte deutsche Volk hungerte auch geistig nach

einem Inhalt, der seinem Leben einen neuen Sinn hätte geben können. Diese Erneuerung hatte

Weimar nicht gebracht. Bald fühlte man, dass im Grunde sich nicht allzuviel verändert habe.

Die Tendenzen der „neuen Sachlichkeit“, die als Richtung den absterbenden Expressionismus

ablöste, sind inhaltlich und stilistisch durch eine Depressionsatmosphäre bestimmt.6

5 vgl. hierzu: Žmegač, 1994, S. 20 6 vgl. hierzu: Lukacs, 1955, S. 139

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2.1.2. Der Anti-Kriegsroman am Ende der Weimarer Republik

In den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg war das Weltkriegsthema in der

Öffentlichkeit unerwünscht. Erst 1928, zehn Jahre nach Kriegsende, rückt der Weltkrieg zum

allgemeinen Thema der Schriftsteller auf. Die Kriegsromane waren meist mit der Absicht

verfasst, gegen jeden kommenden Krieg zu wirken. Und die berühmteste kriegskritische

Darstellung wurde Remarques Bestseller Im Westen nichts Neues.

Die meisten Anti-Kriegsromane sind Ich-Erzählungen und tragen autobiographische Züge.

Das Ich als Teilnehmer an den geschilderten Erlebnissen und Zeuge des Erzählten garantiert

Authentizität und Wahrheit einer literarischen Darstellung. Einige Autoren erheben für die

subjektive Kriegserfahrung ihrer Ich-Erzähler den Anspruch der Allgemeingültigkeit

innerhalb einer bestimmten sozialen Schicht der jungen Generation.7

Nach Žmegač wertet der Anti-Kriegsroman das Töten generell als Morden, der Soldat tötet,

um nicht selbst umzukommen. Dabei reduziert er sich auf seine Instinkte, wird zum

„Menschentier“. Im Krieg wird der Mensch physisch und psychisch vernichtet. Der Anti-

Kriegsroman zeigt die sichtbaren Folgen des Gemetzels in ihrer ganzen Entsetzlichkeit.

Ebenso furchtbar wie die physische Zerstörung ist die psychische. Die durch den Krieg ihres

Selbstwertgefühls beraubten Einzelnen sind außerstande sich mit dem Grauen geistig

auseinanderzusetzen und es moralisch zu verarbeiten. Immer wieder treten in den Anti-

Kriegsromanen Wahnsinnige auf, die den physischen und psychischen Belastungen an der

Front nicht gewachsen sind. Das Feld behauptet die absolute Vernichtung des Menschen und

seiner Welt und auch der Tod lässt sich nicht zum notwendigen Opfer und Heldentod

umdeuten. Die dominierenden Motive der Soldaten sind Angst und Lebenswille, daneben hat

kein anderer Wert Bestand, der Heroismus fehlt ganz. Die Protagonisten der Anti-

Kriegsromane erkennen bald, dass ihre Gegner sich in einer vergleichbaren Lage befinden

und deshalb keine Feinde sind. Andere Nationalitäten werden als Menschen dargestellt.

Alle Anti-Kriegsromane registrieren die Diskrepanz zwischen der Frontrealität und dem in der

Heimat für wahr gehaltenen Bild, welches die Medien, Kirche und Staat vom Krieg in die

Welt setzen. Die offizielle Version vom vaterländischen Verteidigungskrieg, für den jeder

7 vgl. hierzu: Žmegač, 1994, S. 162

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Deutsche töten und sein Leben opfern muss, wird zurückgewiesen. Eine radikale Umwertung

findet statt. Krieg ist nicht länger die große Gemeinschaftsaufgabe des deutschen Volkes,

sondern ein schuldhaftes, sinnloses Morden.8

Mit der Krise der Weimarer Republik um 1930 werden die erfolgreichen Anti-Kriegsromane

von Arnold Zweig, Erich Maria Remarque oder Ludwig Renn von einer unübersehbaren

Menge von kriegsbejahenden, nationalistisch-antidemokratischen Romanen der rechten

Autoren überrollt. Durch Schriftsteller wie Remarque, die Menschen gestalteten, die der

Fürchterlichkeit der „Materialschlacht“ tapfer trotzen und durch persönlichen Mut und durch

eiserne Selbstbeherrschung über alle Greuel innerlich triumphieren, entsteht eine Literatur, in

der der kommende Krieg als heroisch anziehend in Erscheinung tritt. Sogar ein großer Anti-

Kriegsroman wie Im Westen nichts Neues konnte als Propaganda der nationalsozialistischen

Ideen dienen. Der Krieg wurde idealisiert, die Frontkameradschaft verherrlicht, die

Bindungen zwischen verschiedenen sozialen Schichten nehmen familiäre Formen an und

werden durch eine Art „Soldatenhumor“ charakterisiert. Die idealistisch aufopfernden

Frontsoldaten werden als „die Besten der Nation“9 bezeichnet. Die Nation war von der

Weimarer Republik tief enttäuscht und diese Soldaten wurden als Elite angesehen, die das

Volk retten soll und dafür wird der Tod von Millionen Soldaten als sinnvolles Opfer und die

militärische Niederlage als notwendig deklariert.10

Es gibt jedoch viele wichtige Unterschiede zwischen den Kriegs- und Anti-Kriegsromanen.

Der nationalistische Kriegsroman führt den Krieg auf Gott bzw. das Schicksal zurück und

spart Lazarettaufenthalte meistens aus. In den Kämpfen findet sich der häufig besungene

Heroismus. Kameradschaft zwischen Soldaten aus verschiedenen sozialen Schichten ist für

Remarque das Beste, was der Krieg hervorbrachte. Aber sie wird niemals zum Vorbild für

eine künftige gesellschaftliche Neuordnung Deutschlands und das trennt Remarque vom

Kameradschaftmythios des rechten Kriegsromans.11

Die Auseinandersetzung zwischen der literarischen Ablehnung des Krieges und Bejahung des

Gemeinschaftserlebnisses wird durch das Jahr 1933 gewaltsam beendet. Der Protest gegen

den Krieg konnte nicht das Bewusstsein des Volkes in wenigen Jahren durchdrungen haben.

8 Žmegač, 1994, S. 163 9 eben da, S. 160 10 vgl. hierzu: Žmegač, 1994, S. 160-162, und Lukács, 1955, S. 137 11 Žmegač, 1994, S. 161

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2.2. Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg (nach 1945)

Kriegsführung und Kriegsverlauf wurden im Zweiten Weltkrieg noch viel mehr als im Ersten

Weltkrieg durch den Einsatz riesiger Menschenmassen und hochentwickelter Kriegstechnik

bestimmt. Während des Zweiten Weltkrieges kamen 50 Millionen Menschen ums Leben, und

die materiellen Schäden waren unübersehbar. Durch die Kriegszerstörung stehen große Teile

der deutschen Bevölkerung praktisch vor dem Nichts: Städte und Wohnungen sind von

Bomben zerstört und ausgebrannt, Industrie- und Versorgungseinrichtungen zerstört.12

Nach dem Zusammenbruch 1945 glich die Situation also wieder der von 1918, nur dass

Niederlage und Zerstörung noch gründlicher, Not und Leiden noch furchtbarer waren. Nach

den Bombardierungen, Vertreibung und Flucht standen der Zivilbevölkerung andere

Konsequenzen des Zusammenbruchs bevor: mit dem Hunger und Mangel an Brennstoffen, an

Elektrizität und Gas begann für viele das Elend erst mit dem Ende des Kriegs. Für die

Heimkehrenden war es schwer, sich zu artikulieren.

Wolfgang Borchert war einer der Kriegsteilnehmer, der als erster über die heimatlosen

Kriegsheimkehrer schrieb. Seine persönliche Lage war zwar wesentlich besser als die von

Tausenden anderer Soldaten, da er doch noch ein Zuhause und Familie hatte, zu der er in

seiner Krankheit zurück kommen konnte, doch er verbrachte lange Monate im Gefängnis und

er kannte die Einsamkeit und Verlorenheit, mit der sich die Heimatlosen auseinandersetzen.

Seine Krankheit zwang ihn unter enormem Zeitdruck zu schreiben, den er konnte über den

schmerzlichen Betrug, mit dem man seine Generation in den Krieg schickte, nicht schweigen.

Diesmal waren im Unterschied zum Ersten Weltkrieg auch die deutschen Zivilisten vom

Krieg unmittelbar betroffen, die Bomben zerstörten ihre Häuser, sie erlebten das Sterben

gleich in ihrer direkten Nachbarschaft. Das gab die notwendigen Vorraussetzungen für den

sofortigen Erfolg Borcherts, dessen Werk gleich in allen Teilen Deutschlands berühmt wurde.

12 vgl. hierzu: Slezakova, 2007, S. 15, 16

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2.2.1. Die literarischen Strömungen zwischen 1945 und 1950

In den Jahren 1933 – 1945 befand sich die deutsche Literatur in einem Ausnahmezustand.

Viele Autoren waren emigriert und vielen Autoren war es verboten zu schreiben, viele gingen

von selbst in die innere Emigration. Das literarische Leben war fast zum Stillstand

gekommen. Deshalb spricht man nicht direkt von einem „Nullpunkt“. Trotz zerstörter Städte,

trotz Papierknappheit und zahlreichen Beschränkungen im täglichen Leben, begann sich ein

neues kulturelles Leben zu entwickeln. In der Literatur der frühen Nachkriegszeit ging es

einerseits darum, das Grauen in Sprache zu fassen und andererseits darum die Frage nach der

Schuld und Verantwortung des deutschen Volkes zu stellen. Die ersten Werke verarbeiten

meist das Erlebnis des Zweiten Weltkrieges. Die deutsche Literatur hatte eine Aufgabe zu

erfüllen. Die Autoren wollten das deutsche Volk aus seinem tiefsten politischen, moralischen

und ideologischen Verfall wieder zurück ins zivilisierte Leben führen.13

Die wichtigsten Autoren waren: Alfred Andersch, Bertolt Brecht, Heinrich Böll, Wolfgang

Borchert, Paul Celan, Nelly Sachs, Wolfdietrich Schnurre und andere. Die aktuellen Stoffe

waren Krieg, Verfolgung, die unermäßlichen Leiden der Soldaten und der Verfolgten,

Gefangenschaft und Heimkehr in eine vernichtete Heimat.

Der Verlust an geschichtlicher Tradition intensivierte sich nach 1945 zum Bruch und

Zwiespalt zwischen den Generationen. Die Generationsschichtungen machen sich im erneuten

Anknüpfen an den Expressionismus bemerkbar. In der Nachkriegszeit war das Druckmateriall

knapp, viele Autoren schrieben unter Zeitdruck. Es war kein Platz mehr für groβe Romane,

die die Leiden des Krieges und Grausamkeit der Hitlerdiktatur beschrieben. So wird die

Kurzgeschichte vor allem bei den Autoren der „jungen Generation“ zur dominierenden

literarischen Form. Es zeigte sich großer Einfluss von Franz Kafka.

Ein Gutteil der Wirkung dieser Literatur liegt im Nennen und Aufzählen. Im Nennen der

Dinge beginnt nämlich auch die Auseinandersetzung mit ihnen. Die frühe Literatur dieser

„jungen Generation“ nach dem Krieg ist deshalb häufig moralisch. Typische Schicksale und

Handlungen werden knapp und ohne ausdrückliche Anteilnahme des Erzählers erzählt. Sein

Engagement ist in der Syntax versteckt, die in der ständigen Wiederholung einfacher

13 vgl. hierzu: Baumann und Oberle, 1985, S. 233 und Lukacs, 1955, S. 152, 153

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Strukturen emotionalisierend wirkt und zugleich ihre eigene Ergriffenheit verbirgt. Es

dominiert der offene Schluss, die unaufgelöste Frage, wie z.B. im Drama Borcherts Draußen

vor der Tür.14

2.2.2. Die Tendenzen der Trümmerliteratur

Die erste Phase der Nachkriegsliteratur, von 1945 bis 1950, wird oft auch Trümmerliteratur

genannt. Da vermischen sich die Traditionen mit neuen Akzenten. Es gab Kriegs- und

Heimkehrerliteratur, Todeserinnerung und Sprachlosigkeit angesichts dieser Erlebnisse.

• Die Eindrücke vom Krieg und der Vernichtung (Heinrich Böll; Wolfgang Borchert;

Paul Celan; Wolfdietrich Schnurre) spielten eine große Rolle. Als Trümmer und

Ruinen sind nicht nur zerstörte Häuser, Wohnungen und Städte, sondern viel mehr

vernichtete Ideale und Ideologien der Menschen bezeichnet.

• Die Heimkehrerthematik ist mit der Frage der Schuld verbunden. Die Schuld wurde

den Lehrern, den Vätern oder Gott gegeben, vor allem aber denen, die alle Befehle

gegeben hatten. In dieser Literatur wird die Sinnlosigkeit und Unmenschlichkeit des

Weltkrieges dargestellt.

• Schriftsteller protestierten gegen alle Ideologien. Man erkannte, dass die Nazis die

Sprache missbraucht hatten, also war die Sprache für die Schriftsteller sehr wichtig.

• Politisch und gesellschaftlich engagierte Schriftsteller kamen zusammen und nannten

sich die Gruppe 47 (Ilse Aichinger; Alfred Andersch; Ingeborg Bachmann; Böll).15

Die immer wiederkehrenden Schlagwörter der Zeit und Dichtung seit 1945 sind: die verlorene

Generation, die Unbehaustheit des Menschen, das Geworfensein ins Nichts, Kontaktlosigkeit,

Vereinsamung, Angst als Lebensgefühl, unbewältigte Vergangenheit, Traditionslosigkeit, der

Abgrund und das Nichts.

14 vgl. hierzu: Martini, 1972, S. 623 15 vgl. hierzu: http://oregonstate.edu/instruct/ger341/lit45-95.htm

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3. ERICH MARIA REMARQUE

Im Mittelpunkt des weltweit geschätzten literarischen Werkes von dem Osnabrücker Erich

Maria Remarque steht der Aufruf zu einer von pazifistischen Ideen geleiteten Gesellschaft.

Besonders in seinen Romanen demonstriert Remarque schonungslos die Grausamkeit und

Sinnlosigkeit des Krieges. An den Reaktionen der Kritiker ist abzulesen, dass man sich

darüber klar war, wie berechtigt und zutreffend Remarques Anklagen waren.16

Seine häftigsten Anklagen richteten sich auch gegen die »Verherrlichung der Kriegstoten«17,

die noch heute alltäglich ist: Orden, Auszeichnungen, Gedenkstätten, Kriegerdenkmäler in

jeder Gemeinde, Totenfeiern, Kranzniederlegungen für »Helden«, die als Soldaten töten und

getötet werden – zugleich für »Mörder«, wie Soldaten von Pazifisten genannt werden, auch

von Erich Maria Remarque. In seinem Roman Zeit zu leben und Zeit zu sterben (1954) stellt

der Protagonist, der deutsche Soldat Ernst Graeber, die Frage: Wann wird zum Mord, was man

sonst Heldentum nennt?18

3.1. Biographie

Erich Maria Remarque wird am 22. Juni 1898 in Osnabrück geboren. Von 1904 bis 1912

besucht er die Volksschule in Osnabrück. Er beginnt eine Lehrerausbildung im katholischen

Lehrerseminar in Osnabrück, die später durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen wird. Im

November 1916 erfolgt die Einberufung zum Militär. Nach einer weiteren Ausbildungszeit

kommt er im Juni 1917 in Frankreich an die Front. Im selben Jahr wird er durch Granatsplitter

verwundet und in ein Lazarett in Duisburg überführt.19

Mit den ersten Januartagen des Jahres 1919 beginnt für Remarque das zivile Leben.

Remarque absolviert im Juni 1919 die erste Lehrerprüfung am Osnabrücker Seminar. In den

folgenden zwei Jahren unterrichtet er an verschiedenen Volksschulen auf dem Lande. In

Osnabrück arbeitet er 1922 als Buchhalter und als Verkäufer in einem Steinmetzbetrieb.

16 vgl. hierzu: Schneider, 2001, S. 8 – 15 17 Westephalen, 2006, S. 3 18 vgl. hierzu: ebenda 19 vgl. hierzu: Stadt Osnabrück, 2008 und Schneider, 2001, S. 79 – 92

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Danach arbeitet er als Werbeleiter und Redakteur in Berlin. Seine Reportagetätigkeit hat den

Stil seiner Bücher mit geprägt.

1927 schreibt er in Berlin in sechs Wochen den Antikriegsroman Im Westen nichts Neues, der

1929 erscheint und zum Weltbestseller wird. Der Roman bringt Remarque Erfolg als

Schriftsteller, Weltruhm und finanzielle Unabhängigkeit, aber auch Anfeindungen: besonders

die aufstrebenden Nationalsozialisten sabotieren das Buch und den Autor durch

Hetzkampagnen. Bei der deutschen Uraufführung der Verfilmung des Romans in Berlin gab

es Störaktionen des NSDAP und Aufführungsverbot durch die deutsche Filmprüfstelle für

ganz Deutschland.20

Im Januar 1933, wenige Tage vor Hitlers Machtübernahme, verlässt er Deutschland und geht

in die Schweiz, wo er schon 1931 die Villa „Casa Monte Tabor“ in Porto Ronco am Laggo

Maggiore im Schweizer Tessin kauft. Im Mai werden seine Bücher in Berlin öffentlich

verbrannt. 1938 wird ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt und er sucht Zuflucht

und Schutz in den USA. Remarque entschließt sich 1941 offiziell in die USA einzuwandern.

Von 1939 bis 1942 hielt Remarque sich vorwiegend in Hollywood in Los Angeles auf.

Zwischendurch reiste er mehrere Male nach New York und Mexico City. In diesen Jahren

entstehen die Exilromane Liebe deinen Nächsten und Arc de Triomphe. 1947 wird er

amerikanischer Staatsbürger.

Am 25. September 1970 stirbt Remarque 72jährig im Krankenhaus von Locarno im Tessin

nach längerer Herzkrankheit.

3.2. Werke

Remarque hat in seinen Werken viele Themen aus seinen eigenen Erfahrungen geschildert:

Den Sadismus des Unteroffiziers Himmelreich in Remarques Ausbildung beim Militär

schildert er später in seinem Antikriegsroman Im Westen nichts Neues in der Figur des

„Himmelstoß“. Aus seinen Lazaretterfahrungen schildert er die Kriegsverstümmelungen mit

einem Realismus, in dem die persönliche Erschütterung noch in jeder Zeile nachklingt:

Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas möglich ist!

[...] Erst das Lazarett zeigt, was der Krieg ist.21

20 vgl. hierzu: Stadt Osnabrück, 2008 und Schneider, 2001, S. 79 – 92 21 Gumtau, 1969, S. 34

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Die vielen Versuche Remarques, in der Stadt seiner Kindheit und früher Jugend wieder

heimisch zu werden oder sich anderswo auf die Dauer niederzulassen, scheitern. Hinter

seinem mondänen Lebensstil verbirgt sich Remarques Verzweiflung über den

Zusammenbruch seiner Ideale und gesellschaftlichen Wertvorstellungen, verursacht durch den

Krieg, der schon zehn Jahre zurück liegt. Um weiterzukommen, muss er zunächst den

lähmenden Schock des Krieges überwinden. Mit der Niederschrift der Kriegserlebnisse im

Roman Im Westen nichts Neues verarbeitet Remarque seine traumatischen Erinnerungen und

trifft damit auch die Gefühle von Millionen.22

1931 erscheint der Roman Der Weg zurück, in dem er die Rückkehr von Soldaten in die

Heimat schildert. Der Roman Der Funke Leben aus dem Jahre 1952 schildert die Greuel der

Konzentrationslager und im Roman Zeit zu leben und Zeit zu sterben (1954) wird der

Angriffskrieg der Deutschen gegen die Sowjetunion thematisiert. 1956 folgt Der schwarze

Obelisk, dessen Thema die Auseinandersetzung mit dem geistigen Klima seiner Heimatstadt

in den 20er Jahren ist. 1959 folgt der Roman Der Himmel kennt keine Günstlinge. Mit Die

Nacht von Lissabon aus 1961 kehrt er nochmals zum Emigrantenthema zurück. Als vierter

Emigrantenroman folgt Schatten im Paradies, der erst nach Remarques Tod 1971 von seiner

zweiten Frau Paulette Goddard veröffentlicht wird.23

1930 verfilmt Universal Pictures in Hollywood Im Westen nichts Neues (All Quiet On the

Western Front) in der Regie von Lewis Milestone. Remarques Intention, die Vernichtung des

Menschen durch die moderne industrialisierte Kriegsführung zu verdeutlichen, wurde von

dem Hollywood-Studio visuell umgesetzt. Der Film, der auf Grund seiner kriegskritischen,

antinationalistischen Aussage von mehr als einem Dutzend Regierungen verboten wurde, gilt

trotzdem noch heute als der klassische Antikriegsfilm.24

Aus seinen Werken lässt sich Typisches über Remarques Lebenshaltung und seine

literarischen Stilmittel ableiten: scharfe Beobachtungsgabe, Realismus, Skepsis, fast

Pessimismus – alles in einfacher Sprache geschrieben. Mit seiner Romantechnik verteilt er

sein eigenes Erleben und Erinnerungen auf verschiedene Figuren, die autobiographisch

bedeutsame Abspaltungen der Persönlichkeit ihres Autors sind. Das Erlebnis des ersten

22 vgl. hierzu: Stadt Osnabrück, 2008 23 vgl. hierzu: ebenda 24 vgl. hierzu: Chambers und Schneider, 2001, S. 11

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Weltkrieges hat Remarques Blick für das Leiden geschärft. Die Thematik aller seiner Bücher

ist auf dieses Erlebnis zurückzuführen. Immer sind Leidende die Helden seiner Romane,

Menschen unter schwersten Belastungen des Krieges oder einer Diktatur. In Remarques

Bestsellern wird eine uralte Thematik abgehandelt, die in der Geschichte der Menschheit nie

ihre Aktualität verloren hat: der Machtmissbrauch des Kollektivs gegen den einzelnen, der

Staatsraison gegen das Individuum, des Willkürrechts gegen das Naturrecht.25

Remarque macht das Bildungsbürgertum für den Krieg verantwortlich. Er prangert das

Erziehungswesen der Väter an, das die Jugend mit idealistischen Phrasen fütterte. Er macht

das Problem der Verantwortung zu einer Generationsfrage. Er sagte über sein eigenes Werk:

Mein eigentliches Thema war ein rein menschliches Thema, daß man junge Menschen von 18

Jahren, die eigentlich dem Leben gegenübergestellt werden sollten, plötzlich dem Tode

gegenüberstellt. Und was würde mit ihnen geschehen? Aus dem Grunde habe ich auch Im

Westen nichts Neues eher als ein Nachkriegsbuch angesehen als ein Kriegsbuch.26

3.3. Generation ohne Zukunft

Remarques Osnabrücker Nachkriegszeit ist durch ein Suchen nach der verlorenen Jugend

gekennzeichnet: Ich bin herumgelaufen und herumgelaufen, ich habe an alle Türen meiner

Jugend geklopft und wollte wieder hinein, ich dachte, dass sie mich wieder aufnehmen

müsste, weil ich doch noch so jung bin und es mir so sehr gewünscht hatte, zu vergessen –

aber sie huschte vor mir davon wie eine Fata Morgana, sie zerbrach lautlos [...] jetzt erkenne

ich, dass ein stiller, schweigender Krieg auch in dieser Landschaft der Erinnerung gewütet

hat und dass es sinnlos von mir wäre, weiter zu suchen. Die Zeit steht dazwischen wie eine

breite Kluft, ich kann nicht zurück, es gibt nichts anderes mehr, ich muss vorwärts,

marschieren, irgendwohin, denn ich habe noch kein Ziel.27

So existentiell ist dieses Gefühl des Verlorenseins, dass er es noch in seinem 1937 im

Schweizer Exil geschriebenen dritten Roman, Drei Kameraden, heraufbeschwört. Einer der

drei Kriegsteilnehmer, antwortet auf die Klage, dass „immer alles in die Brüche geht“:

25 vgl. hierzu: Baumer, 1976, S. 9 – 40 26 Schneider, www.ingentaconnect.com, erworben am 16.3.2009 27 Remarque, 1931, S. 208, 209

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Dafür gehörst du einem Orden an, Bruder – dem Orden der Erfolglosen, Untüchtigen, mit

ihren Wünschen ohne Ziel, ihrer Sehnsucht, die nichts einbringt, ihrer Liebe ohne Zukunft,

ihrer Verzweiflung ohne Vernunft [...] Der geheimen Brüderschaft, die lieber verkommt, als

dass sie Karriere macht...28

Er ist einer der Autoren, die sich dem Krieg als dem Zentralthema ihrer Werken widmen und

die den Krieg aus der Perspektive des einfachen Soldaten schildern. In seinen Romanen

bearbeitet er die Themen wie z.B. die Kriegsfolgen, die Erlebnisse der Soldaten an der Front.

Er interessierte sich für das Schicksal junger Menschen nicht nur im Krieg, sondern auch nach

dem Krieg. Besonders in seinen ersten zwei berühmten Romanen Im Westen nichts Neues und

Der Weg zurück beschäftigt er sich vorwiegend mit dem Thema der Kriegsheimkehrer und

ihrer verzweifelten Versuche, in der Landschaft ihrer Jugend wieder neu anzufangen. Doch

die Protagonisten der Romane stellen bald fest, dass sich ihre Kriegserlebnisse nicht einfach

aus dem Gehirn wischen lassen.

3.3.1. Im Westen nichts Neues

1927 schrieb Remarque in Berlin den Roman, der für sein weiteres Leben schicksalhaft

geworden ist: Im Westen nichts Neues. Remarque gesteht in einem Gespräch, er hätte zuerst

nie daran gedacht, einmal über den Krieg zu schreiben: Ich litt unter ziemlich heftigen

Anfällen von Verzweiflung. Bei dem Versuche, sie zu überwinden, suchte ich allmählich ganz

bewusst nach der Ursache meiner Depressionen. Durch diese absichtliche Analyse kam ich

auf mein Kriegserleben zurück. Ich konnte ganz Ähnliches bei vielen Bekannten und Freunden

beobachten. Der Schatten des Krieges hing über uns, wenn wir gar nicht daran dachten. [...]

Der Erfolg kam für mich ganz überraschend.29

Aus dieser Aussage können wir schließen, weshalb es ganze zehn Jahre vom Ende des Kriegs

gedauert hat, bis sein erster Kriegsroman erschienen ist. Erst nachdem er nicht von seinen

Kriegserfahrungen hinweg gekommen war, entschloss er sich, darüber zu schreiben.

Unerwartet identifizierten sich unzählige ehemalige Soldaten gerade mit einem deutschen

Soldaten, dessen Schicksal man an Soldaten jeder Nationalität verallgemeinern konnte. Das

sicherte Remarque einen Welterfolg. 28 Vgl. Hierzu: Baumer, 1976, S. 56, 57 29 eben da, S. 62

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3.3.1.1. Das Kriegsbild bei Remarque

Remarques Kriegsbild sprang bereits 1929 über die ehemaligen Fronten: englische,

amerikanische, französische, russische Leser identifizierten sich ausgerechnet mit dem

Schicksal einer Gruppe deutscher Soldaten und machten deren Erfahrungen zu ihren eigenen.

Im Westen nichts Neues wurde universell.

Der Krieg bei Remarque ist ein von Menschen gemachtes Schicksal, aber dies ändert nichts

an den Einflussmöglichkeiten der einfachen Soldaten auf den Fortgang des Kriegs und auf

ihre Rolle in diesem Krieg: Sie bleiben Schlachtvieh, und ihr Tod ist den Betreibern des

Kriegs nicht einmal eine Notiz wert. Der Krieg ist in Remarques Text ein vom Einzelnen

nicht zu beeinflussendes Ereignis, indem er seine Kultur, seine Werte, seine

Lebensperspektive und seine physische Existenz verliert. Die Soldaten liegen sich auf kurzem

Abstand unter katastrophalen Lebensbedingungen gegenüber und führen Angriffe durch,

deren militärische Ziele sie nicht verstehen und deren Erfolge oder Misserfolge sie nicht

ermessen können, da ihre Kriterien für „Erfolg“ und “Misserfolg“ einzig am individuellen

Überleben orientiert sind. Ein menschlich unerfahrener, nicht politisch denkender Schüler

schildert den Krieg aus Remarques Perspektive – und gerade die Unerfahrenheit und

Sentimentalität Paul Bäumers sollten an das Bewusstsein des Lesers appellieren. Remarques

Text Im Westen nichts Neues ist zwar an der Westfront angesiedelt, der Text enthält aber

keine konkreten Orts- oder Zeitangaben, beschreibt keine identifizierbaren Schlachten oder

Einheiten. Das, was passiert, hätte überall geschehen können. Das Bild des Kriegs in Im

Westen nichts Neues ist in der westlichen kulturellen Tradition das Kriegsbild des Autors

Remarque, der für eine ganze Generation, sogar für alle Kriegsteilnehmer spricht – in jedem

Krieg. Und dieses „offene“ Bild des „modernen“ Kriegs ist beliebig einsetzbar geworden.30

30 Chambers und Schneider, 2001, S. 9, 10

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3.3.1.2. Interpretation

Im Roman Im Westen nichts Neues zeigt Remarque das Phänomen der verlorenen Generation

an jungen Charakteren, die den Verlust der Unschuld, den Mangel an Hoffnung und

Schwierigkeiten mit der Gesellschaft darstellen. Die Folgen des Krieges waren unzählig und

verschieden, vom Tod vieler Unschuldigen Soldaten und Zivilisten bis zu den Überlebenden

mit permanentem Schaden, der sie für immer verfolgen sollte.

Der Roman besteht aus zwölf Kapiteln, doch es gibt keine geschlossene Handlung. Die

Geschichte wird zwar an einer Front im Ersten Weltkrieg angesiedelt, doch das Geschehen

wird immer wieder von Erinnerungsfetzen des Erzählers unterbrochen. Durch genaue

Beschreibungen wird der Eindruck hergestellt, der Leser sei unmittelbar am Geschehen

beteiligt, die Szenen laufen vor seinen Augen vorbei. Aber der Leser wird regelmässig über

die Gedanken und die Empfindungswelt des jungen Soldaten informiert.

Der Erste Weltkrieg bildet den geschichtlichen Rahmen der Handlung, doch genauere Zeit-

und Raumbeschreibungen fehlen ganz, auch die Figuren sind Teil von dichterischer Freiheit

des Autors, obwohl sie auf autobiographischen Erfahrungen basieren.

Die Motive, die im Roman vorkommen, sind der Lebenstrieb, Frontkameradschaft, Angst und

Tod. Wobei die Angst untrennbar mit der Lebensgier verflochten ist, da sie die Soldaten in

„Menschentiere“ verwandelt, um zu überleben, wird die Freundschaft zwischen Soldaten als

eine positive Folge der Front dargestellt. Der Tod dagegen steht über allem, was sie machen,

und ist ein treuer Begleiter ihres Alltags. Diese Motive sind typisch für die Vertreter der

verlorenen Generation, die sich schon im Krieg und noch lange nach dem Ende des Kriegs

damit auseinandersetzen. Gerade diese Generation ist auch das Thema nicht nur von Im

Westen nichts Neues, sondern auch von vielen späteren Remarques Romanen.

Der Protagonist des Textes Im Westen nichts Neues ist nicht eine einzelne Figur, sondern eine

Gruppe. Zwar werden die Ereignisse durch die Perspektive des Erzählers Paul Bäumer

gefiltert, der aber spricht mehr von „wir“ als von „ich“. Die Gruppe wird als Folge der

Kriegserlebnisse zum Familienersatz, Bäumer bezeichnet die Kameradschaft als das Beste,

was der Krieg hervorbrachte: Das Wichtigste aber war, dass in uns ein festes, praktisches

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Zusammengehörigkeitsgefühl erwachte, das sich im Felde dann zum Besten steigerte, was der

Krieg hervorbrachte: zur Kameradschaft!31.

Die Gruppe durchläuft die meisten Standardsituationen des Kriegs: die Kriegsbegeisterung,

den Drill der militärischen Ausbildung, den Fronteinsatz, den Verlust von Freunden, die

Entfremdung von der Heimat, das Ausgeliefertsein im Trommelfeuer, das Lazarett, den

Verlust von Körperteilen und damit auch die physische Entfremdung, die Erkenntnis der

Leiden des „Feindes“ und schließlich die Erkenntnis, dass die Kriegserlebnisse zu einer

fundamentalen Veränderung des Lebens führen und sich nicht einfach aus dem Gedächtnis

werden streichen lassen. Auf diesen Stationen verlieren die Jungs immer mehr von ihrer

unschuldigen Kindheit. Der Tod ihres Kamerades Kemmerich symbolisiert den Tod der

ganzen Gruppe. Er ist der erste aus ihrer Gruppe, der stirbt und das ist der erste symbolische

Verlust der Unschuld im Buch.32

Paul Bäumer und viele seiner Kameraden sind typische Vertreter der verlorenen Generation:

sie sind direkt aus der Schule mit Begeisterung fürs Vaterland in den Krieg gezogen. Doch

schon die ersten Kampfeinsätze haben ihre Vorstellungen hart und ohne Gnade in die Realität

versetzt. So haben sie das Vertrauen in die ältere Generation verloren, die gut klingenden

Wörter der Lehrer erweisen sich als fade Lügen. Auf die meisten warten nur ihre Eltern zu

Hause, weil sie noch keine Erfahrungen mit Frauen haben. Und das einzige, was sie lernen, ist

Krieg führen, sie haben noch keinen Beruf von früher, so können sie keine Zukunftspläne

machen, da sie auch an keine Vergangenheit anknüpfen können. Der Krieg hat alle ihre

Jugendträume weggeschwemmt und so fühlen sie sich vollkommen verloren.

Bäumer äussert sich kurz vor seinem Tod an der Westfront darüber, wie seine Generation

nach dem Krieg weiterleben werde. Seine Ansichten wirken zunächst pessimistisch: Wir sind

überflüssig für uns selbst, wir werden wachsen, einige werden sich anpassen, andere sich

fügen, und viele werden ratlos sein; - die Jahre werden zerrinnen, und schließlich werden wir

zugrunde gehen33.

Bäumer meint, dass sie ihm sowieso nichts mehr nehmen können, und solange noch Leben in

ihm sei, würde er sich seinen Weg suchen.

31 Remarque, 1929, S. 32 32 vgl. hierzu: Chambers und Schneider, 2001, S. 9 33 Remarque, 1929, S. 287

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Der erste Roman weist damit bereits hinaus auf die Themen und Probleme des zweiten, Der

Weg zurück, der schon zwei Jahre nach dem ersten erschien und das Thema der verlorenen

Generation noch gründlicher aufnahm.

3.3.2. Der Weg zurück

„Der Weg zurück gilt als konsequente Fortsetzung und Vervollständigung des Klassikers Im

Westen nichts Neues. Beide Werke sind zugleich Kriegsromane und Nachkriegsromane,

indem sie versuchen, den Ersten Weltkrieg und seine Auswirkungen aus zeitlicher Distanz

literarisch darzustellen.“34

Obwohl dieser zweite Roman als Fortsetzung des ersten gilt, in diesem Zusammenhang wurde

er auch geschrieben, hat er nie den großen Weltruhm des ersten erfolgreichen Romans

erreicht und er wird noch heute oft von den Literaturwissenschaftlern übersehen. Aber da in

beiden Romanen das Thema der verlorenen Generation verflochten auftritt, im zweiten

Roman treten sogar viele Personen aus dem ersten auf, werden beide Romane im Bezug auf

das erwähnte Thema analysiert.

3.3.2.1. Interpretation

Im Mittelpunkt des Romans Der Weg zurück stehen die seelischen und menschlichen

Konflikte der „verlorenen Generation“, deren Hoffnungen auf ein besseres Deutschland bitter

enttäuscht wurden. Remarque malt mit autobiographischen Zügen das Bild einer Jugend, die

starb, bevor sie zu leben beginnen konnte.35

Remarque spricht von jungen Kriegsheimkehrern, die erkennen, wie furchtbar betrogen und

mißbraucht sie wurden: Man sagte uns Vaterland und meinte die Okkupationspläne einer

habgierigen Industrie – man sagte uns Ehre und meinte [...] die Machtwünsche einer

Handvoll ehrgeiziger Diplomaten und Fürsten – man sagte uns Nation und meinte den

34 Murdoch, 2001, S. 21 35 Baumer, 1976, S. 61

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Tätigkeitsdrang beschäftigungsloser Generäle! [...] Wir haben gegen uns selbst Krieg

geführt, ohne es zu wissen! Und jeder Schuss, der traf, traf einen von uns! [...] Es gibt nur

einen einzigen Kampf: den gegen die Lüge, die Halbheit, den Kompromiß [...] Unsere Zukunft

ist tot, denn die Jugend ist tot, die sie trug. Wir sind nur noch Übriggebliebene, Reste! [...]

Eine Generation ist vernichtet worden! Eine Generation Hoffnung, Glauben, Willen, Kraft,

Können ist hypnotisiert worden, so dass sie sich selbst zusammenschoß [...].36

Die Handlung fängt dort an, wo Remarque seinen Helden Paul Bäumer kurz vor seinem Tod

im Roman Im Westen nichts Neues verlassen hat, an der Westfront, wo die deutsche Armee in

ihre letzten, müden Abwehrkämpfen ein Paar Tage vor dem Waffenstillstand 1918 verstrickt

war. Die jungen Männer haben auf dem Schlachtfeld alle ihre Ideale, ihre Ziele und

Zukunftsperspektiven verloren und gehen den Weg zurück in die Heimat, sie stehen vor dem

Nichts. Der Weg zurück in ein Leben, wie sie es vor dem Krieg kannten, erscheint ihnen nach

den Jahren in Schützengraben unmöglich.37 In Deutschland tobt die Revolution, von der

Begeisterung, mit der man sie vor Jahren in den Kampf fürs Vaterland schickte, ist nichts

geblieben. Statt dessen schlagen den ehemaligen Helden Unverständnis, Gleichgültigkeit und

offene Verachtung entgegen. Sie fühlen sich fremd und überflüssig, verzweifelt suchen sie

nach dem Sinn. Geblieben ist nur die Kameradschaft, selbst die bröckelt nach und nach ab.

Die Geschichte wird mit einem Eingang eingeführt, wo die Frontsoldaten bei den letzten

verzweifelten Kämpfen der erschöpften deutschen Armee teilnehmen. Die Handlung wird

dann in sieben Teile aufgeteilt und jeder Teil besteht aus mehreren kürzeren Kapiteln. Das

letzte Kapitel endet mit dem Tod von Georg Rahe und erst mit diesem Tod ist der Krieg

endgültig zu Ende.

Der Roman endet mit einem Ausgang und so bilden der Eingang und der Ausgang den

Rahmen der Romanstruktur. In diesen beiden Kapiteln herrscht eine ähnliche Atmosphäre.

Am Anfang gibt es ganz leise Gerüchte, dass es endlich Frieden geben soll und die Soldaten

sind nach langen Jahren ständiger Kämpfe angespannt vor leiser Hoffnung, die sie noch nicht

zu erwarten wagen. Aber die Hoffnung auf ein Leben nach dem Krieg ist schon vorhanden.

Im Ausgang äußert Birkholz schon viel zuversichtlicher seine Hoffnungen und Erwartungen

an die Zukunft. Dazwischen liegen sieben Kapitel, wo die ehemaligen Soldaten versuchen,

36 Remarque, 1931, S. 233, 234 37 Vgl. Hierzu: Slezakova, 2007, S. 28)

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sich wieder in die Welt ihrer Jugend einzufügen oder einfach neu anzufangen. Viele von

ihnen scheitern dabei, aber am Ende bleiben doch noch manche an der Seite der Hauptperson.

Die Doppeldeutigkeit des Titels erschließt sich am Schluss des Werks. Der Freund und

ehemaliger Kamerad der Hauptfigur Ernst Birkholz, Georg Rahe, nimmt den endgültigen

Weg zurück. Tief enttäuscht von dem Verrat und falscher Kameradschaft der Revolutionäre,

reist er zurück an die verlassenen Felder der Westfront, wo er von Erinnerungen an seine tote

Kameraden überflutet wird und dort Selbstmord begeht, um für immer dort zu bleiben, wo es

noch wahre Kameradschaft und keinen Verrat gab.

Doch zeigen die Todesfälle, dass der Weg nur vorwärts gehen kann.

3.3.2.2. Parallelen zum Roman Im Westen nichts Neues

Remarques zweiter Roman hängt direkt vom ersten ab, also ist eine Parallelität in der

Wahrnehmung der beiden Ich-Erzähler zu beobachten. Den Erzähler Ernst Birkholz im

Roman Der Weg zurück kann man mit Paul Bäumer als geistig verwandt ansehen.38

Im letzten Kapitel von Im Westen nichts Neues fällt Bäumer, aber seine letzten Gedanken

werden im zweiten Roman auf Breyer, Rahe und Birkholz übertragen. Zu den Themen, die

dabei behandelt werden, gehören Kameradschaft, Schule, Tod, Eltern, die Unmöglichkeit,

über den Krieg zu sprechen, und vor allem der Sinn des Kriegs selbst.

• Bäumer war zu der Ansicht gekommen, dass das Töten als Soldat im bürgerlichen

Sinne Mord sei. Auch den Feindesbegriff erkennt er als etwas Künstliches, als er

einige Zeit mit den Russen verbringt. Die Gleichsetzung von Krieg und Verbrechen

wird im zweiten Roman weiter ausgearbeitet. Albert Trosske tötet aus Hass einen

Mann, die Logik von Bäumers Gedanken wird nun umgekehrt. Trosske hat ein

Verbrechen begangen, das im Kontrast zu den Kriegserlebnissen steht, wo er Männer,

die er nicht hasste, durch gesetzliche Anordnung töten musste.39

38 vgl. hierzu: Murdoch, 2001, S. 19 39 vgl. hierzu: eben da

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• Der Zerfall der Frontkameradschaft verbindet beide Romane. Im Westen nichts Neues

zeigt zunächst die Entwicklung einer Kameradschaft, einer Solidarität im Angesicht

des Todes. In Der Weg zurück besteht diese Kameradschaft anfangs noch immer, doch

sie verschwindet allmählich, eben weil sie nur im Krieg gründete.

• Im Krieg hatte der Einzelne keine Zeit, der Toten zu gedenken. Im zweiten Roman

rückt dieses Motiv in den Vordergrund, mit Anklängen an Figuren aus dem ersten

Roman. In Im Westen nichts Neues wurde der Leser am Bett von Franz Kemmerich

vorbeigeführt. Im zweiten Roman erscheint Kemmerich zusammen mit Katczinsky

und Bäumer als Schatten wieder, in der Erinnerung des Ernst Birkholz.

Von Breyers Grab aus sucht Rahe den Weg zurück zu den größeren Friedhofen an der

Westfront, wo er sich angesichts der gefallenen Kameraden erschießt. Dieser Akt ist im

psychologischen Sinne für einen Frontsoldaten ein endgültiges Ende. Erst mit Rahes Tod, mit

dem die Erzählung vom Der Weg zurück endet, ist der Krieg zu Ende. Objektiv dargestellt,

soll es als Katharsis für die Überlebenden wirken. Wie Bäumers Tod muss auch Rahes Tod

von einem objektiven Erzählerstandpunkt aus erzählt werden, denn hier stirbt ein Teil von

Birkholz selbst. Rahe hat also in einem ganz anderen Sinne den Weg zurück gefunden, zurück

zu den „echten“ Kameraden, die in der Nachkriegszeit nicht mehr existieren. Birkholz aber

lebt weiter und der Krieg ist endgültig vorbei. Nach dem allmählichen Zerfall der Kompanie

bleibt Bäumer am Ende allein. Im zweiten Roman sind einige Kameraden noch nachträglich

gefallen: Weil, Breyer und Rahe. Es ist die Kameradschaft selbst, die diesmal zerfällt. Am

Ende ist dann auch Birkholz allein.40

40 vgl. hierzu: Murdoch, 2001, S. 19 – 28

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4. WOLFGANG BORCHERT

Wolfgang Borchert ist einer der bekanntesten Autoren der Trümmerliteratur, jener

kurzlebigen Literaturepoche nach dem Zweiten Weltkrieg, die vom Zusammenbruch der

Städte, von Familienstrukturen und den Traumata des Krieges geprägt ist.41

Wolfgang Borchert war kein literarisches Genie. Sein erstes Gedicht lässt kein besonderes

Talent erkennen. Was ihn zum Dichter machte, was seine Sprache unverwechselbar werden

ließ, seinen Stil formte, das war die leidvolle Erfahrung des Krieges. Zu dieser Erfahrung

gehört das Fronterlebnis in Russland, Aufenthalte im Lazarett, der Anblick seiner Heimatstadt

Hamburg, die wenige Tage vor seinem Heimaturlaub durch Bombardierung der Alliierten

zerstört wurde, und lange, einsame Monate im Gefängnis. Der Schrei seiner Seele machte aus

dem jugendlichen Verseschmied den Dichter Wolfgang Borchert.42

4.1. Biographie

Wolfgang Borchert wurde am 20. Mai 1921 als Sohn der Heimatschriftstellerin Hertha

Borchert und des Volksschullehrers Fritz Borchert im Hamburg geboren. Er ging von 1928-32

in die Volkshochschule, ab 1932 in die Oberschule in Hamburg. Er wollte Schauspieler

werden, machte jedoch auf Wunsch der Eltern zunächst eine Buchhändlerausbildung. Die

1939 begonnene Buchhändlerlehre füllte ihn nicht aus, so nahm er nebenher privaten

Schauspielunterricht. Er bestand die Schauspielprüfung und brach die ungeliebte

Buchhändlerlehre ab. Im März 1941 wurde er an der Landesbühne Ost-Hannover, einer

Wanderbühne, in Lüneburg als Schauspieler engagiert. Borchert, der persönliche Freiheit und

Individualität in höchstem Maße wertschätzte und dem bürgerliche Wohlgeordnetheit und

Harmonie widerstrebten, bezeichnet diese kurze Periode am Theater als die schönste seines

Lebens. Aber die sollte nicht lange dauern.43

Im Juni 1941 wurde Borchert zum Kriegsdienst eingezogen und zum Panzergrenadier und

Funker ausgebildet. Im November kam seine Kompanie an die Ostfront, ins sowjetische

41 vgl. hierzu: http://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Borchert, 2008 42 vgl. hierzu: http://www.staff.uni-mainz.de/willi/docs/schule/ausstellungen/borchert.htm, 2008 43 vgl. hierzu: http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/BorchertWolfgang/, 2008

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Kalinin. Borchert erkrankte 1942 an Gelbsucht und Diphtherie. Eines Tages meldete er sich

mit einer Schussverletzung an der linken Hand. Unter dem Verdacht, sich durch

Selbstverstümmelung dem Wehrdienst entziehen zu wollen, wurde Borchert verhaftet und

angeklagt. Er kam ins Untersuchungsgefängnis Nürnberg und verbrachte drei Monate in einer

Einzelzelle. Die Gerichtsverhandlung endete mit einem Freispruch; er musste jedoch wegen

"staatsgefährdender" Briefe in Untersuchungshaft bleiben und wurde wegen Äußerungen

gegen den Nationalsozialismus zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt. Auf Antrag

Borcherts und seines Verteidigers wurde die Strafe zu sechs Wochen verschärfter Haft mit

anschließender "Frontbewährung" umgewandelt. Im November wurde er zur Bewährung

wieder zum Erssatzbatallion seines Regiments bei der Garnison in Jena geschickt. Bei den

harten Panzerkämpfen um Toropez wurde er als Melder im Fronteinsatz eingesetzt. Ende

Dezember wurde er mit erfrorenen Füßen ins Lazarett eingeliefert und kam 1943 mit

Fleckfieberverdacht ins Seuchenlazarett.44

Im August 1943 wurde ihm Heimaturlaub bewilligt und er ist nach Hamburg gefahren. In eine

Stadt, die kurze Zeit vorher zur Hälfte durch Bombenangriffe vernichtet worden ist. Er trat

im Hamburger Lokal "Bronzekeller" als Kabarettist auf und präsentierte Songs.

Zu seiner Kompanie zurückgekehrt, sollte Borchert anfang 1943 als Dienstuntauglich aus der

Armee entlassen und einem Fronttheater zugewiesen werden. Doch wegen einer Parodie auf

den "Reichsminister Dr. Joseph Goebbels" wurde er verhaftet und wegen politischer

Äußerungen ins Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit überführt. Borchert wurde zu einer

Gefängnishaft von neun Monaten verurteilt und im September 1944 „zur Feindbewährung an

der Front“ entlassen. Er begann zu ahnen, dass ihm für sein Lebenswerk nicht mehr viel Zeit

zur Verfügung stehen würde: Allzu alt werde ich bei meiner Gesundheit kaum werden.45

Borcherts Kompanie, die zu Beginn des Jahres 1945 noch zu den Kämpfen südlich des Mains

beordert wurde, kapitulierte im März in der Nähe von Frankfurt am Main ohne Gegenwehr

vor den französischen Truppen. Auf dem Transport in die französische Kriegsgefangenschaft

gelang Borchert die Flucht in Richtung Heimat — schwer krank schlug er sich 600 Kilometer

zu Fuß nach Norden durch und kehrte 10. Mai am Leib und Seele gebrochen in die Trümmer

von Hamburg zurück, wo ihn seine Eltern erwarteten.

44 vgl. hierzu: Rühmkorf, 1961, S. 70 – 88 45 http://www.utexas.edu/ftp/courses/swaffar/distance/chron.htm, 2008

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Wolfgang Borchert versuchte bald, sein altes Leben wieder aufzunehmen, dort wo seine

Hoffnungen sich schon vor dem Krige etabliert hatten: beim Theater. Er wurde Mitgründer

des Hinterhoftheaters "Die Komödie" in Hamburg-Altona. Er wurde für ein Theaterstück als

Regieassistent am Hamburger Schauspielhaus eingesetzt. Gegen Ende 1945 fesselte ihn sein

Leberleiden schließlich endgültig ans Bett. Im Frühjahr 1946 wird Borchert in das Hamburger

Elisabeth-Krankenhaus eingeliefert. Nach ärztlichem Ermessen bleibt ihm eine Lebensfrist

von höchstens einem Jahr. Obwohl sein Gesundheitszustand erbarmenswert schlecht ist,

konzentriert er alle ihm verbliebenen Lebensenergien aufs Schreiben. In rascher Folge

schreibt Borchert in diesem Jahr 24 Prosatexte. Im Dezember 1946 veröffentlichte er die

Gedichtsammlung Laterne, Nacht und Sterne mit Gedichten aus der Zeit zwischen 1940 und

1945. Im Januar 1947 schrieb er sein einziges Drama Draußen vor der Tür, das am 13.

Februar als Hörspiel gesendet wurde. Es löst eine unerwartet weitreichende Resonanz aus und

erweist sich als ein sensationeller Publikumserfolg. Das Stück verhilft Borchert zum

absoluten Durchbruch, ein Erfolg, der ihn selbst überrascht. Bis zum September wurden

weitere 22 Prosatexte geschrieben.46

Nach langen bürokratischen Verhandlungen gelang es den Freunden Borcherts, für ihn eine

spezielle Behandlung in der Schweiz durchzusetzten. Gegen Ende September reiste der

Kranke in das katholische Clara-Spital nach Basel. Der ihm von Freunden verschaffte

Kuraufenthalt in der Schweiz kam zu spät. Eine gesundheitliche Besserung tritt nicht ein,

vielmehr kommt es zu einer Verschlechterung des Befindens.47

Nach Rühmkorf erfuhr Borchert in den Wochen in Basel noch viel Anerkennung für seine

Arbeiten durch Kritiker, Leser und Bewunderer. Doch er litt unter der Isolation als Deutscher,

in dem man in ihm einen Angehörigen des untergegangenen Nazi-Deutschlands sieht. Bis ins

Krankenhaus ist sein Dichterruhm nämlich noch nicht gedrungen, und man begegnet ihm,

dem Ausländer und Protestanten, eher misstrauisch als zuvorkommend.

Am 20. November 1947 stirbt er während eines Kuraufenthaltes im Clara-Spital in Basel mit

nur 26 Jahren — einen Tag vor der Uraufführung seines Schauspiels Draußen vor der Tür in

den Hamburger Kammerspielen am 21. November.

1962 wird das Nachlassband Die traurigen Geranien veröffentlicht.

46 vgl. hierzu: http://think-of-me.de/Biographie/Wolfgang_Borchert.htm 47 Rühmkorf, 1961, S. 156

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4.2. Werke

„Dass Wahrheit schmerzt und einsam macht, erfuhr er schon in jungen Jahren. Doch im

Erdulden dieses Schmerzes und dieser Einsamkeit lag zugleich eine Erlösung. In seinen

Soldatenbriefen sprach er von einer Wahrheit, wie er sie angesichts der Lüge, die Millionen

Menschen ins Verderben riss, erkannte. In seinen Erzählungen brach das Erlebte und Erlittene

wieder hervor, gelöst aus der Sphäre des Persönlichen.«48

Schon während seiner Militärausbildung schrieb er empörte Briefe an seine Freunde und

Eltern, wo er die brutale Verhältnisse und ständige Gehirnwäsche seiner Vorgesetzten

kritisierte und deswegen oft Probleme mit den Machtvertretern bekam und später auch im

Gefängnis landete. Seine Kriegserfahrungen schilderte er in zahlreichen Kurzgeschichten, wo

er mit verschiedenen Stilmitteln die düstere Atmosphäre der Front herbeizauberte.

Während der Zeit in der Kaserne äußerte Borchert seine Wut und sein Entsetzen über die

erniedrigenden Zustände: Im Augenblick tötet die brutal aufgezwungene Welt des Zwanges

und der Uniform-Einform alles Schöne, alle Kunst in mir.; Ich empfinde die Kasernen als

Zwingburgen des dritten Reiches.49

An der Ostfront wurde Borchert im Fronteinsatz Augenzeuge der schweren und verlustreichen

Schlachten, die, entgegen den heroischen-völkischen Siegesparolen der

nationalsozialistischen Propaganda, für die erfrierenden und verhungernden deutschen

Soldaten in einer vernichtenden Niederlage endete. Meine Kameraden, die vor vierzehn Tagen

herausgekommen sind, sind alle gefallen. Für nichts und wieder nichts.50

Anfang 1943 kommt er in das Reservelazarett Elend. Täglich wird hier ein halbes Dutzend

Toter hinausgetragen und diese Zahl wird in seiner Kurzgeschichte An diesem Dienstag

wieder aufgenommen.

Stilistisch ist Borchert vom literarischen Expressionismus und vom moralischen

Pragmatismus Kurt Tucholskys und Erich Kästners beeinflusst. Borcherts frühe Vorbilder

waren Hölderlin und Rilke. Seine Kurzgeschichten und sein Drama Draußen vor der Tür

sprechen Klartext über die Verhältnisse in Deutschland während und nach dem Krieg. Seine

48 Meyer-Marwitz, 1957, S. 328 49 http://www.utexas.edu/ftp/courses/swaffar/distance/chron.htm, 2008 50 eben da

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Forderung nach einer tabula rasa angesichts einer von Lüge und Missbrauch korrumpierten

Literatur hatte Einfluss auf die Gruppe 47. Insbesondere benutzte Borchert aber die Sprache

des Expressionismus. Der letzte „Schrei“ der jungen (verlorenen) Generation lebt in seiner

Sprache fort. Kurze, abgehackte Sätze bis hin zur Ellipse prägen seinen Stil. Er benutzt

Wiederholungen, Farbsymboliken, Gegensätze und Emotionen. Borcherts Werk handelt vom

Elend der Hungernden, der Kriegskrüppel, von den Heimkehrern und Heimatlosen, von allen,

die der Krieg gezeichnet hatte. Er gibt nicht nur seinen eigenen Erfahrungen Ausdruck,

sondern denen einer ganzen Generation. Seine Kurzgeschichten versetzen den Leser oftmals

direkt in eine Situation hinein, beschreiben das Grauen der Zerstörung indirekt und

Ausschnittweise, lassen Personen agieren, welche die größeren Zusammenhänge nicht

verstehen oder nicht verstehen können (z.B. Kinder).51

Diese Kriegsgeschichten sind im wesentlichen Grotesken. Mag gelegentlich das mitleidende

Pathos auftönen, es wird sofort wieder in Ironie und Zynismus umgebogen. Hier herrscht ein

böses Lachen und der Hohn und das Gelächter mischen sich unter das Entsetzen. Der Dichter

des Grotesken versucht sich nicht an einer Sinngebung. Er misst der sinnlosen Welt das

passende Paradox an – lässt das Lachen in das Grauen hineinplatzen und gibt dem Humor das

schwärzeste Schwarz bei. Das Lachen bei Borchert ist ein Lachen aus dem Erschrecken

heraus, ein Lachen ohne rechten Grund. Alle Geschichten Borcherts zeigen ein besonderes

Vergnügen am Detail, an der Ausgefallenheit und deutliche Lust am Tragikomischen. Dieser

Zug bestätigt sich besonders in Borchert Vorliebe für Menschen, die auf groteske Weise aus

dem Rahmen der bürgerlichen Ordnung fielen.52

In seiner ersten berühmt gewordenen Erzählung Die Hundeblume wurden seine Erfahrungen

aus der Gefangenschaft verdichtet. Abseits von allem schönfärberischem Heroismus steht hier

die Erfahrung des Nichts an erster Stelle, und die Fragen in die Leere hinein, an das fehlende

Gegenüber unterscheidet sich substantiell gar nicht so sehr von den späteren Beckmann-

Fragen. Auf der anderen Seite aber findet sich am Schluss des Stückes jene anbetend-

beschwörende Verehrung einer Blume, die man als primitve, als prächristliche Religiosität

bezeichnen könnte. Hier offenbart sich uns als letztes Beständiges der Glaube an den ewigen

Kreislauf des Lebendigen.53

51 vgl. hierzu: http://www.utexas.edu/ftp/courses/swaffar/distance/chron.htm, 2008 52 vgl. hierzu: Rühmkorf, 1961, S. 23 – 26 53 vgl. hierzu: eben da, S. 68

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Mit der Hundeblume hatte eine Zeit höchster Produktivität begonnen. Rund 60 Texte wurden

1946 und 1947 vollendet, Erzählungen, Reflexionen, Mono- und Dialoge, Manifeste und das

expressionistisch beeinflusste Drama Draußen vor der Tür, in dem es um die Heimkehr eines

Kriegsgefangenen geht, der mit seinem Trauma in der Heimat nur auf Unverständnis, Hohn

und Isolation trifft. Er beschreibt realistisch das Elend und die Einsamkeit, die die

Kriegsgeneration nach dem desillusionierenden Kriegsende erwartet. Das Stück wurde als

Hörspiel gesendet und erwies sich sofort als ein sensationeller Publikumserfolg.54

Zu seinen wichstigsten Kurzgeschichten gehören Gespräch über den Dächern, die Skizze

Stimmen sind da – in der Luft – in der Nacht und die Kurzgeschichten Das Brot und Nachts

schlafen die Ratten doch.

„Diese Prosastücke waren keine ‚Lektüre’, sie waren Anklage, Notschrei, Aufruhr. Borchert

[...] forderte mehr als nur literarische Teilnahme, er wollte Entscheidungen, Stellungsnahmen

erzwingen. Das machte ihn unbequem. Viele schreckte er ab, mehr aber riss er mit sich. Dass

seine Arbeiten ein starkes Echo auslösten, stärker als er je zu erhoffen gewagt hatte, bestärkte

ihn in seiner Entschlossenheit, jeden Kompromiss ein für allemal aus seinem Werk

auszuschließen. Sein Schaffen war ein gewaltiger Schrei, ein Aufschrei der Lust, der Qual,

der Seligkeit, der Verzwiflung. [...] Er kannte keine Furcht, keine Verstellung, keine Feigheit,

er drängte nach dem Bekenntnis der Wahrheit, nach der Entlarvung der Lüge. Schonungslos.

Gegen sich selbst und gegen andere.“55

54 vgl. hierzu: Gumtau, 1969, S. 47 55 Meyer-Marwitz, 1957, S. S. 338, 339

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4.3. Aufschrei Wolfgang Borcherts

Wolfgang Borchert war achtzehn Jahre alt, als der Krieg ausbrach, vierundzwanzig, als er zu

Ende war. Krieg und Kerker hatten seine Gesundheit zerstört, das Übrige tat die Hungersnot

der Nachkriegsjahre, er starb am 20. November 1947, sechsundzwanzig Jahre alt. Zwei Jahre

blieben ihm zu Schreiben, und er schrieb in diesen beiden Jahren, wie jemand im Wettlauf mit

dem Tode schreibt; Wolfgang Borchert hatte keine Zeit, und er wusste es. Er zählt zu den

Opfern des Krieges, es war ihm über die Schwelle des Krieges hinaus nur eine kurze Frist

gegeben, um den Überlebenden zu sagen, was die Toten des Krieges, zu denen er gehört,

nicht mehr sagen konnten: dass ihre Gelassenheit, ihre Weisheit, dass alle ihre glatten Worte

die schlimmsten ihrer Lügen sind. Das törichte Pathos der Fahnen, das Geknalle der

Salutschüsse und der fade Heroismus der Trauermärsche – das alles ist so gleichgültig für die

Toten. Borcherts Wahrheit ist, dass beide Schlachten, die gewonnene und die verlorene,

Gemetzel waren. Borchert wurde als ein Dichter ausgewiesen, der unvergesslich macht, was

die Geschichte so gern vergisst: die Reibung, die der Einzelne zu ertragen hat, indem er

Geschichte macht und sie erlebt. Ein Strich über eine Generalstabkarte, das ist ein

marschierendes Regiment; eine Stecknadel mit rotem, grünem, blauem oder glebem Kopf ist

eine kämpfende Division. Elf Gefallene: Männer und Brüder, Söhne, Vätter und Gatten – die

Geschichte geht achselzuckend darüber hinweg. Ein Name in den Büchern, „Stalingrad“ oder

„Versorgungskrise“ – Wörter, hinter denen die Einzelnen verschwinden. Sie ruhen nur im

Gedächtnis Wolfgang Borcherts, der nicht gelassen sein konnte.56

Der Kasernenhofdrill, die Primitivität der Vorgesetzten, die Uniformität der Kameraden und

die Erniedrigungen der Ausbildung versetzen Borchert in ohnmächtige Wut. Postkarten und

melancholische Briefe an Freunde zu Hause zeigen, wie dieser Jüngling, den man als lockeren

Vogel zu bezeichnen bereit war, sich entpuppt als der Mann des Protestes und rücksichtsloser

Wahrhaftigkeit. Der Narr wird zum Neinsager. Es scheint ein Bruch zu sein zwischen dem

fröhlichen, optimistischen Jungen und dem Schreiber der finsteren Geschichten, dem Jasager

und dem Neinsager, und Borchert war sich der Zwieschaffenheit seines Wesens sehr wohl

bewusst. Das auffälligste Beispiel einer ins Bild gebrachten Persönlichkeitsspaltung ist das

Gegeneinander zwischen Beckmann und dem Jasager im Schauspiel Draußen vor der Tür.57

56 vgl. hierzu: Böll, 1956. Aus: Nachwort von Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen 57 vgl. hierzu: Rühmkorf, 1961, S. 51, 52, 124

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4.4. Generation ohne Abschied

Wolfgang Borchert gehörte einer Generation an, die durch den Zeitpunkt ihrer Geburt doppelt

mit den Auswirkungen von Krieg konfrontiert wurde: Die Auswirkungen des Ersten

Weltkrieges waren noch deutlich spürbar. In fast jeder Familie gab es gefallene oder

kriegsversehrte Söhne und Väter. Die Weimarer Republik, 1919 aus den Wahlen zur

Nationalversammlung entstanden, bot der Bevölkerung keine genügende Orientierung. Sie

wurde schließlich von der Hitlerdiktatur überrannt und 1933, im Jahr der Machtübernahme

Hitlers, wurde jeder Mann aus Borcherts Generation zu Hitlers Soldaten.58

Er zählte sich zur Generation ohne Abschied: Wir sind die Generation ohne Bindung und

ohne Tiefe. Unsere Tiefe ist Abgrund. Wir sind die Generation ohne Glück, ohne Heimat und

ohne Abschied.59

Borchert war nur einer aus der grauen Masse der Kriegsheimkehrer, aber er war der erste, der

über die Gruppenerfahrung sprach. Mit seiner erbarmungslosen Enthüllung der Kriegsfolgen

fand er Sympathien bei seiner ganzen Generation, die sich besonders mit Beckmann

identifizierte, dem Protagonisten seines einzigen Dramas, Draußen vor der Tür. Die

Generation ohne Abschied beschrieb er gründlicher in seiner gleichnamigen Kurzgeschichte,

außerdem werden ihre Eigenschaften und gemeinsame Schicksale dieser verlorenen und

verratenen Generation auch in anderen Kurzgeschichten und Skizzen erwähnt.

Borchert hatte die Hoffnungslosigkeit besungen – und war doch für einige Zeit die einzige

ernst zu nehmende Hoffnung der jungen Literatur. Ein Frühverstorbener – und gerade an ihn

klammerte sich die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Der Jüngling war der erste seiner

Generation, der seine eigenen Erfahrungen an einem allgemeinen Thema demonstrierte.

Borchert hat von einer tragisch-schmerzlichen Gruppenerfahrung gesprochen, dem Schicksal

der „verratenen Generation“. Und gerade dass er die Jugend von allen Vorwürfen ausnahm

und von aller Schuld entlastete, gab der potentiellen Popularität die fruchtbarste Vorgabe – zu

einer Zeit, als Schuld, Unschuld, Kollektivschuld die Kernthemen des täglichen Disputs

waren.60

58 vgl. hierzu: http://think-of-me.de/Biographie/Wolfgang_Borchert.htm, 2008 59 Borchert, 1949, S. 59 60 vgl. hierzu: Rühmkorf, 1967, Nachwort von Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlaß

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Alle Ankunft gehört uns, [...] sie gehört dieser enttäuschten, verratenen Generation – gleich,

ob es sich um Amerikaner, Franzosen oder Deutsche handelt. [...] die Generation unserer

Väter hat uns zwar blind in diesen Krieg gehen lassen, aber nun wissen wir Sehend-

gewordenen, daß nur noch eine Ankunft zu neuen Ufern uns retten kann, mutiger gesagt:

Diese Hoffnung gehört uns ganz allein! [...] Die Indolenten [...] ließen es zu, daß wir, ihre

Söhne, in die Hölle hineinstolzierten, und keiner von ihnen sagte uns: Ihr geht in die Hölle!

Es hieß: Mach's gut! und: für's Vaterland!61

4.4.1. Das Drama Draußen vor der Tür

Das Schauspiel Draußen vor der Tür schrieb Borchert innerhalb von acht Tagen im Januar

1947. Das Stück wurde am 13. Februar 1947 zum ersten Mal vom Nordwestdeutschen

Rundfunk als Hörspiel gesendet und einen Tag nach Borcherts Tod als Bühnenstück am 21.

November 1947 in den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt. Das Buch wurde in viele

Sprachen übersetzt.62

Draußen vor der Tür ist ein Stationendrama. Im Stationendrama ist der Held, dessen

Entwicklung es schildert, von Gestalten, die er an den Stationen seines Weges antrifft,

deutlich abgehoben. Sie erscheinen, indem sie nur in seinem Zusammentreffen mit ihnen

auftreten, in seiner Perspektive und so auf ihn bezogen. Die Einheit der Handlung wird durch

die Einheit des Ichs ersetzt. Die einzelnen Szenen stehen in keinem kausalen Bezug, bringen

einander nicht, wie im Drama, selber hervor. Vielmehr erscheinen sie als isolierte Steine. In

der Szene des Stationendramas entsteht keine Wechselbeziehung, der Held trifft zwar auf

Menschen, aber sie bleiben ihm fremd. Der Zusammenhang des Stationendramas Draußen

vor der Tür wird nur durch die Gestalt Beckmanns gewährleistet. Beckmann wird in den

Zusammenhang der damaligen Zeit gestellt, verdeutlicht am Beispiel, dass der einzelne

Mensch nichts zähle. Es ist ein Drama der offenen Form, in dem es neben der Hauptfigur

weder einen Gegenspieler noch eine Gegenaktion gibt. Beckmanns Verhaltensweise bestimmt

das szenische Geschehen, das durch seinen Gang von Tür zu Tür gegliedert erscheint.63

61 http://www.utexas.edu/courses/swaffar/distance/chron.htm, 2008 62 vgl. hierzu: http://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Borchert, 2008 63 vgl. hierzu: http://www.raffiniert.ch/sborchert.html, 2008

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4.4.1.1. Geschichte

Das Drama Draußen vor der Tür spielt im Hamburg der unmittelbaren Nachkriegszeit,

Anfang 1946. Ein Mann namens Beckmann kommt mit nur einer Kniescheibe, humpelnd und

frierend aus der Kriegsgefangenschaft aus Sibirien nach Hause zurück. In der Vorrede wird

ein Mann angekündigt, der sich innerlich und äußerlich verändert und eine vollkommen

veränderte Heimat wiederfindet. Sein Aussehen und seine scheinbar aussichtslose Situation

sind nur ein Beispiel für unzählige Kriegsheimkehrer, die im Krieg ihr Zuhause verloren

haben und bei ihrer Heimkehr von der Front in die Heimat trotzdem draußen bleiben. Er ist

einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil

für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür.64

Das Drama beginnt mit einem »Vorspiel« und einem »Traum«.

Im Vorspiel lernen wir den Tod als einen übersättigten Beerdigungsunternehmer kennen und

die Zeit der Handlung wird als eine mörderische bezeichnet: Wie die Fliegen kleben die Toten

an den Wänden dieses Jahrhunderts.65

Der Tod beobachtet einen Mann im Soldatenmantel, der gerade in die Elbe springt. Die

Tatsache, dass das Leben weitergeht, dass kein Loch in der Welt entsteht, wenn ein Mensch

stirbt, wird deutlich gemacht: Ein Mensch stirbt. Und? Nichts weiter.66

Der Tod unterhält sich mit einem weinenden alten Mann, der die Menschen, seine „Kinder“

beklagt. Er ist der Gott, an den keiner mehr glaubt, und er kann nur noch bitter auf die Welt

schauen und Tränen über das Geschehen vergießen, den er hat seinen Platz dem Tod

abgetreten: Sie erschießen sich. Sie hängen sich auf. Sie ersaufen sich. Sie ermorden sich,

heute hundert, morgen hunderttausend. Und ich, ich kann es nicht ändern. [...] Du hast es

gut! Du bist der neue Gott. An Dich glauben sie. Dich lieben sie. Dich fürchten sie. Du bist

unumstößlich. Dich kann keiner leugnen! [...] An Dir kommt keiner vorbei.67

In einer Zwischenszene Traum springt Beckmann in die Elbe, um seinem Leben ein Ende zu

setzen, doch die Elbe wirft ihn bei Blankenese wieder ans Ufer. Die drei Gründe, die ihm das

Dasein unerträglich machen, sind seine Beinverletzung, der Hunger und die Abwendung

seiner Frau. 64 Borchert, 1949, S. 102 65 ebenda, S. 105 66 ebenda, S. 103 67 ebenda, S. 105

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Die erste Szene handelt von der Identifikation des Helden mit Soldatentum, Stalingrad,

Verwundung und Selbstmordversuch.

Der Dialog in der ersten Szene zwischen Beckmann und dem Anderen zeigt, dass Beckmann

eine negative und der Andere eine positive Orientierung besitzt. Beckmann ist der

»Neinsager«, sein Gegenspieler »Der Andere« dagegen: Der Andere von Immer. Der Jasager.

Der Antworter. [...] Du wirst mich nicht los. [...] Und der Ja sagt, wenn du Nein sagst...68

Er hält ihn immer wieder davon ab, in die Elbe zu gehen und erweckt immer wieder neue

Hoffnung. Am Ende der Szene erscheint ein Mädchen, das ihn mit nach Hause nimmt und

dem Kriegskrüppel ein neues Zuhause bietet.

Mit Beginn der zweiten Szene scheint für Beckmann ein Weg aus der aussichtslosen Situation

gefunden zu sein, denn das Mädchen kümmert sich um Beckmann wie eine Mutter. Ein Mann

tritt geisterhaft auf, einbeinig, auf Krücken. Beckmann trägt die Schuld an der Verwundung

des Einbeinigen, dem er befohlen hatte, seinen Posten unbedingt bis zuletzt zu halten. Er war

im Kriegseinsatz als Unteroffizier der Vorgesetzte des Einbeinigen und fühlt sich an dessen

Verletzung mitschuldig.

Beckmann flüchtet. Nun versucht der Andere ihn zu überreden, zu seinem vormaligen Oberst

zu gehen und ihm die Verantwortung wieder zurückzugeben.

In der 3. Szene trifft Beckmann auf den Oberst, dem er seine Verantwortung, die Toten, die er

auf dem Gewissen hat, zurückgeben will. Nur so glaubt er, die Schuldgefühle loswerden zu

können, die ihn nicht mehr schlafen lassen. Dessen Frau und Tochter grauen sich vor

Beckmann, der Schwiegersohn nimmt ihn nicht ganz ernst. Diese Reaktion zeigt wieder

einmal, dass die Menschen mit dem Krieg und den Heimkehrern nichts zu tun haben wollen.

Beckmann erzählt seinen Traum vom General, der blutschwitzend eine Todessymphonie auf

einem Knochenxylophon spielt. Beckmanns Traum bildet eine Anklage gegen den Krieg. Der

Oberst empfindet für die Vergangenheit nicht einmal Schuld und Verantwortung, er findet ihn

komisch und rät ihm in den Zirkus zu gehen. Der Oberst wendet die gleiche Technik an, um

die Vergangenheit zu vergessen.

Die Anklage verkehrt sich zu Zynismus: Es lebe das Gelächter über die Toten. Ich geh zum

Zirkus, die Leute lachen sich kaputt, wenn es recht grausig hergeht, mit Blut und vielen

Toten.69

68 Borchert, 1949, S. 108, 109 69 eben da, S. 129

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In der 4. Szene sucht der Direktor eines Kabaretts eine Jugend, die zu allen Problemen aktiv

Stellung nimmt und den dunklen Seiten des Lebens gefasst ins Auge sieht, unsentimental,

objektiv, überlegen.70

Er will einen Aufschrei auf der Bühne sehen, aber vom Krieg will er nichts mehr wissen. Er

klammert sich an das »dickste Zivilleben«. Die Feigheit des Direktors zeigt sich auch in

seiner Erwartung von berühmten Namen und großen Geistern, weil ein unbekannter Soldat

mit unbeliebter Wahrheit seinen Ruin bedeuten könnte. Er weist ihn zurück, weil doch

niemand mehr was von der Wahrheit wissen will. Auch er verdrängte die Verantwortung für

die Heimkehrer und die Kriegsopfer, denn er hätte schliesslich keinen nach Sibirien geschickt.

Am Schluss der Szene empfiehlt der "Andere" Beckmann, nach Hause zu gehen.

Beckmanns Heim existiert nicht mehr, denn ein fremder Name steht an der Tür: "Kramer".

Frau Kramer erzählt ihm zynisch und teilnahmslos, dass sich die alten Beckmanns getötet

haben. Beckmann reiht die toten Eltern in die Liste der unschuldigen Opfer des Krieges und

steht nun wieder "draußen vor der Tür".

Er verfällt in eine Art Wachtraum, in welchem er noch einmal mit allen erlittenen

Enttäuschungen konfrontiert wird. Der „Andere“ mahnt ihn, dass seine Strasse auf ihn warte

und dass die Menschen doch gut seien. Auch der Tod zeigt sich wieder, diesmal als

Straßenfeger und weist auf einen immer bestehenden Ausweg hin, weil seine Tür immer offen

steht. In der Begegnung mit dem Oberst, dem Direktor, Frau Kramer und seiner Frau

verurteilt Beckmann alle als Mörder.

Am Schluss der Szene kommt auch das Mädchen, aber der Einbeinige beschuldigt Beckmann,

er hätte einen Mord begangen. Doch auch Beckmann ist ein schuldiges Opfer: Wir werden

jeden Tag ermordet und jeden Tag begehen wir einen Mord.71

Am Ende ist Beckmanns Lage aussichtslos, er hat keine Hoffnung mehr und kann keinen Sinn

mehr im Leben sehen. So ist der Zustand völliger Hoffnungslosigkeit erreicht. Kein Ausweg

ist mehr offen. So sieht er auch den „Anderen“, den ewigen Jasager, nicht mehr. Auch Gott

redet nicht.

Eine Lösung scheint Beckmann nicht zu finden und das Spiel endet mit vielfach wiederholten

Fragen, mit dem Flehen und dem Schrei nach Antwort, der am Ende unbeantwortet bleibt72:

70 Borchert, 1949, S. 130 71 ebenda S. 162 72 vgl. hierzu: http://www.raffiniert.ch/sborchert.html, 2008

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Gibt denn keiner Antwort?

Gibt keiner Antwort?

Gibt denn keiner, keiner Antwort? 73

4.4.1.2. Interpretation

Beckmann, der Hinkemann des Zweiten Weltkrieges, fragt sich durch die fünf Akte, ohne

dass ihm eine Hoffnung, eine haltbare Antwort gegeben wird. Eher ein Antiheld, kein

Handelnder, sondern ein Fragender, keine Persönlichkeit und kaum eine Person, schien er alle

Anlage für den Heimkehrer-Jedermann des Jahres 1947 zu besitzen. Zwar erscheint er zuerst

grau und gesichtslos, als die Verkörperung eines Millionentypus, als Teilhaber an der

kollektiven Misere – aber gerade er erweckt am Ende die Sympathien. Er ist, und er allein, der

Tiefbetroffene, der nicht vergessen kann und seine Skrupel durch eine Welt von flacher

Gleichgültigkeit trägt; der seine Stigmen zeigt, wo man sie nicht sehen will; der vorgibt, eine

feste Stätte zu suchen, aber nicht daran denkt, sich einzufügen. Er wird zum Sinnbild des

herumvagabundierenden schlechten Gewissens, der Klage, aber auch der Anklage einer

bürgerlichen Welt, die ihre Ordnung bereits wieder gefunden hat: im verschnittenen

Mittelmaß und in der feigen Absicherung.74

Ausgangs- und Schlusssituation stimmen überein, nur die Verzweiflung ist gesteigert; denn

Beckmann, der am Schluss des Dramas wieder wie am Anfang »draußen vor der Tür« steht,

ist nun um die Erkenntnis der Unaufhebbarkeit seiner Lage reicher. Die traumhaft erlebte

Selbstmordsituation am Ende der 5. Szene zeigt ein viel endgültigeres Scheitern als es ohne

den gegebenen Ausgangspunkt möglich wäre. Traumhaft erlebter Tod am Anfang und am

Ende des Dramas bilden so den Rahmen für eine Art Binnenhandlung, in der Beckmann

vergeblich versucht, den Anschluss an ein ertragbares Leben zu finden. Es handelt sich um

immer wiederholte Versuche, zu leben, die alle scheitern. Er versucht immer wieder, einen

neuen Sinn zu finden, aber dabei kann ihm keiner helfen. Der Oberst kann ihm nicht helfen,

weil er nichts versteht, der Kabarettdirektor nicht, weil er zu feige, und Frau Kramer nicht,

weil sie zu gedankenlos ist. So sind vier Versuche Beckmanns, seine Position «draußen vor

der Tür« aufzuheben, aneinandergefügt; nur die Tür des Todes ist ihm offen. Dabei wird in

73 Borchert, 1949, S. 165 74 vgl. hierzu: Rühmkorf, 1961, S. 134, 135

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dem wiederholten Scheitern eine Steigerung gesehen. Die Figuren, zu denen Beckmann in

Beziehung tritt, haben alle das eine gemeinsam, dass sie ihm nicht zu helfen vermögen,

sondern – ohne es zu beabsichtigen – noch tiefer in die Verzweiflung stürzen. Dabei ist ihre

Eigenwertigkeit gering; sie sind in erster Linie zur Verdeutlichung der Situation Beckmanns

da, zeigen seine Umwelt. Auch ihr Auftreten ist von Beckmann abhängig. Der Oberst, der

Kabarettdirektor, Frau Kramer und die Elbe sind Figuren, die im Gegensatz zu Beckmann ein

Zuhause haben und in ihrer Existenz nicht bedroht sind. Der Oberst hat Familie und alle

Annehmlichkeiten des Zivillebens unmittelbar nach dem Krieg, so wie er den Krieg auch

nicht von der härtesten Seite kennenlernen musste. So ist er völlig gesund und lebt noch ganz

nach den Prinzipien und soldatischen Idealen, die einmal Gültigkeit hatten. Auch der

Kabarettdirektor hat den Krieg bereits weit hinter sich gelassen und genießt das „dickste

Zivilleben“, so dass es ihm gar nicht mehr vorstellbar ist, wie jemand noch Mangel leiden

kann. Von seiner gesicherten Position aus fällt es ihm leicht, mutige Forderungen nach einer

nüchternen, revolutionären Jugend zu stellen.75

4.4.1.3. Rezeption

Draußen vor der Tür erwies sich für Borchert als der endgültige Durchbruch. Eine gequälte,

betrogene Jugend schrie auf, eine Jugend, deren auf Lügen gebauter Glaube eingestürzt war

und die nun, ratlos und im Stich gelassen, ins düstere kalte Nichts ausgestoßen schien. In

diesem Stück verdichten sich die Stimmen von Millionen, von Toten und Lebenden, von

vorgestern, gestern, heute und morgen, zur Anklage und Mahnung. Das Leid dieser Millionen

wird Schrei. Das ist Borcherts Stück: Schrei! Dieser Schrei ist nicht überhört worden.76

Einer aus Borcherts Generation antwortete in einem Brief:

Wir, Deine gleichaltrigen Kameraden, die jungen Unteroffiziere von Stalingrad [...], wir

haben dich gehört und – verstanden! Und nachdem wir dieses Erlebnis nun tagelang mit uns

herumgetragen [...] haben, weil wir uns im Tiefsten und Allerpersönlichsten angesprochen

sehen, haben wir nun begonnen [...] darüber zu diskutieren. [...] Einer aus unseren eigenen

Reihen hat als erster den Mut gefunden zu sprechen. [...] Wir alle, die wir immer noch in

umgefärbten Militärklamotten herumlaufen, Gasmaskenbrillen tragen, Trümmer räumen [...],

75 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 13, 19, 20 76 Meyer-Marwitz, 1957, S. 340, 341

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die wir tagtäglich morden und ermordet werden, an deren Betten nachts die toten Kameraden

hocken und uns mit dem Blick ihrer erloschenen Augen quälen, die wir überall im Wege sind

und beiseite stehen, wir haben einmal unsere eigene Stimme gehört, die einer von uns ins

Worte geformt hat. [...] Und darum lass Dich bitten: Wenn Dich keiner hören will, kein

Theater Deine Stücke spielt und kein Theaterbesucher Beifall klatscht, lass Dich auf Deinem

einmal bestrittenen Weg nicht beirren, schreibe für uns, für Deine Kameraden, schreibe für

die Tausende von »Beckmanns«, für die Einsamen und Verlassenen, für die in keine Heimat

Heimgekehrten, für die Verzweifelnden und sich überflüssig Glaubenden, für alle, die

draußen vor der Tür stehen, und lass nicht nach und schreibe, dass Dir die Finger bluten!77

Der Abend der Uraufführung war mehr als eine Premiere, war ein Requiem für eine verlorene

Jugend in einem zerschlagenen Lande. Die Jugend, deren Qual Borchert hinausschrie, diese

Jugend fühlte, was ihr der Tod in dem Sechsundzwanzigjährigen geraubt hatte.

Die Trauer wird besonders aus den vielen Briefen deutlich, die an die Mutter des Dichters

geschickt wurden:

Es scheint, als ob man unserer Generation nichts ersparen will. Mit seinem Tode ist die Leere

um uns noch endloser geworden. Der winzige Streifen Licht, der einen Augenblick lang das

Dunkel zerriß – erloschen. Es ist wieder Nacht. Tiefere Nacht als zuvor... [...] Vater und

Mutter habe ich verloren. Es war Krieg. Und ich war Soldat. Als ich zurückkam, waren sie

tot. Begraben von fremden Menschen. Ich habe nicht geweint. Ich habe es nicht einmal als

Schmerz empfunden. Es war eben so. Alles war tot, zertrümmert, heimatlos. Wir hatten zuviel

gelitten, um noch Schmerz zu empfinden. Wir – die Generation ohne Abschied. [...] Mit diesen

Worten ist mir Wolfgang Borchert zum Bruder geworden. [...] ...ich kann das alles nicht mehr

alleine tragen. Ich muß mit einem Menschen sprechen. Mit einem Menschen, der verlor, was

ich verlor. [...] Für mich genügte, dass ich in ihm lesen durfte. Dass ich plötzlich erschrak

und wusste – Du bist nicht allein. Da ist ein Mensch. Ein Mensch, der spricht wie du. Der

denkt wie du. Der leidet wie du. [...] Das hat mir Kraft gegeben. [...] Ich war nicht

sentimental. Unsere Generation ist zu hart angepackt worden, um es zu sein. Wir haben

gelernt, Abschied zu nehmen. Von allem und immer. Wir weinen nicht, wenn das Schicksal

uns schlägt. Wir haben nie geweint. Auch als Kinder nicht. Wir waren nie Kinder. Wir sind

die Jugend ohne Jugend. Wir fluchen, wir schreien, wir verbluten uns nach innen. Aber wir

77 Meyer-Marwitz, 1957, S. 342

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weinen nicht. Niemand hat uns je weinen sehen. Niemand. Aber wir sind eine arme

Generation. Wir kennen nicht mal mehr Tränen...78

Diese Jugend, diese »Generation ohne Abschied«, von der viele damals wie Beckmänner

»draußen« standen, ohne Heimat, ohne Habe, war nicht nur enttäuscht, ratlos, unwillig,

stumpf, taub, gleichgültig – sie wollte noch etwas, sie besaß noch

Verantwortungsbewusstsein, sie war dem Leben noch nicht verloren. Es bedurfte nur eines

Anrufes, der stark und echt genug war, um in diesen jungen Menschen das lähmende

Schweigen aufzubrechen, in dem sie zu verzweifeln drohten. Borchert gab dieser Jugend ihre

Stimme zurück, er fand sich mit ihr im gemeinsamen Schicksal und half ihr, diesem Schicksal

zu begegnen.79

4.4.2. Die Kurzgeschichten

Das Thema der verlorenen Generation wird in vielen Kurzgeschichten Borcherts behandelt,

jedoch in jeder ein anderer Aspekt, aus einer anderen Perspektive.

4.4.2.1. Allgemeines

• Die Skizze Die Krähen fliegen abends nach Hause nimmt ein Einsamkeitsmotiv auf.

Die Krähen haben Heimat, aber die beiden Menschen, die in die ungewisse

Hamburger Hafennacht hineinlungern, haben keine.80

• Die Kurzgeschichte Stimmen sind da in der Luft – in der Nacht behandelt das Thema

der Geister von toten Soldaten, die den Lebendigen nicht schlafen lassen. Dieses

Motiv wird im Drama Draußen vor der Tür erneut aufgenommen, als die elf toten

Soldaten Beckmann nachts nicht schlafen lassen und er mit Schreien aufwacht.

78 Meyer-Marwitz, 1957, S. 334, 335 79 vgl. hierzu: ebenda, S. 343 80 vgl. hierzu: Gumtau, 1969, S. 88

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• Im Gespräch über den Dächern spricht Borchert schon davon, sie seien heimatlos und

verloren. Und er erkennt: Und wir Ungläubigen, wir Belogenen, Getretenen, Ratlosen

und Aufgegebenen, wir von Gott und dem Guten und der Liebe Enttäuschten [...] Wir

leben ohne Gott [...] Ohne Ja. Ohne Heimat [...] Wir rufen, wir flehen, wir brüllen

nach morgen. Und keiner gibt uns Antwort.81 Das Verlangen nach der Antwort

wiederholt sich in Draußen vor der Tür, aber hier wird ein bißchen Hoffnung an die

Zukunft in die Welt gesetzt: Sind wir selbst die Antwort?82

• In dem kurzen Manifest Generation ohne Abschied sieht Borchert sich und seine

Altersgenossen verloren: Wir begegnen uns auf der Welt und sind Mensch mit Mensch

- und dann stehlen wir uns davon, denn wir sind ohne Bindung, ohne Bleiben und

ohne Abschied. Wir sind eine Generation ohne Abschied, die sich davonstiehlt wie

Diebe, weil sie Angst hat vor dem Schrei ihres Herzens. Wir sind eine Generation

ohne Heimkehr, denn wir haben nichts, zu dem wir heimkehren könnten, und wir

haben keinen, bei dem unser Herz aufgehoben wäre - so sind wir eine Generation

ohne Abschied geworden und ohne Heimkehr.83 Doch am Schluss gibt Borchert

seinem Lebenswillen Ausdruck. Er hofft auf ein neues Lieben, ein neues Lachen,

einen neuen Gott und erklärt, dass alle Ankunft ihnen gehört.

• Borcherts letzte geschriebenen Worte in der Schweiz waren das Manifest: Dann gibt

es nur eins! Darin fordert er Forscher, Dichter, Ärzte, Pfarrer und viele andere auf,

nein zu sagen, falls ihnen wieder zugemutet würde, irgendeine kriegsvorbereitende

Tätigkeit auszuüben. Fünfzehnmal lesen wir die Mahnung „Sag NEIN!“, am

eindringlichsten an die Mütter. Dann folgt eine bildhaft harte Version dessen, was

geschehen wird, wenn sie nicht nein sagen.84

• In dem Nachlaßtext Das ist unser Manifest (1947) klagt Borchert über eine Erziehung,

die vor 1914 die Väter und später die Söhne für den Krieg vorbereitete. Er hat aus der

Not, gehetzt schreiben und Jargon mit Dichtung verbinden zu müssen, eine Tugend

seiner Generation gemacht: laut und deutlich und ohne Konjunktiv die Wahrheit zu

sagen. Borchert wendet sich gegen den Missbrauch einer Dichtung, die zum 81 Borchert, 1949, S. 54, 55 82 ebenda, S. 57 83 ebenda, S. 60 84 vgl. hierzu: Gumtau, 1969, S. 89, 90

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Heldenkult wurde, und verwirft trügende Sentimentalitäten85: Zu guter Grammatik

fehlt uns Geduld. [...] Wer schreibt für uns eine neue Harmonielehre? Wir brauchen

keine wohltemperierten Klaviere mehr. Wir selbst sind zuviel Dissonanz.86

In diesem Manifest brechen alle Gegensätze in Borchert auf, aber im Chaos nach der

zweiten Stunde Null sieht er die Zukunft hinein: Denn wir sind Neinsager. Aber wir

sagen nicht nein aus Verzweiflung. Unser Nein ist Protest ... wir müssen in das Nichts

hinein wieder ein Ja bauen. [...] Wir wollen in dieser wahn-witzigen Welt noch wieder,

immer wieder lieben!87

4.4.2.2. Interpretation ausgewählter Kurzgeschichten

Obwohl Borcherts Schicksal grausam war, vermag er in seinen zahlreichen Kurzgeschichten

Hoffnung und Zuversicht auf eine bessere Zukunft zu vermitteln. In vielen Kurzgeschichten

wird die Hoffnung direkt ausgedrückt, so z.B. im Text Generation ohne Abschied. Aber in

vielen Kurzgeschichten ist der Optimismus ausgedrückt. Mit verschiedenen Mitteln gelang es

Borchert, in anscheinend größter Verzweiflung zwischen den Zeilen doch noch Hoffnung zu

zeigen. Das zeigen vor allem seine Kurzgeschichte Nachts schlafen die Ratten doch, die

unmittelbar im Krieg spielt, und die Geschichte Das Brot, die die Nachkriegsrealität

widerspiegelt.

Nachts schlafen die Ratten doch

Am Anfang der Geschichte erlebt der Leser eine triste Atmosphäre, die besonders durch die

blaurote Farbe und die Dunkelheit betont wird: Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer

gähnte blaurot voll früher Abendsonne.88

Der kleine Junge erlebt seine Umwelt als Bedrohung. Er ist so verängstigt, dass er den alten

Mann nicht mal ansehen kann, er erkennt nur seine krummen Beine. Zur Abwehr hält er sich

noch an seinem Stock fest. Alle Bemühungen des alten Mannes, etwas über den Jungen zu

Erfahren, sind vergeblich, denn das Kind hat durch seine Erfahrung im Krieg kein Vertrauen

85 vgl. hierzu: Gumtau, 1969, S. 83, 84 86 Borchert, 1949, S. 310 87 ebenda, S. 315 88 ebenda, S. 216

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zu der Welt der Erwachsenen. Aber der Mann erweist sich als guter Pädagoge, denn er weiß,

wie er den Knaben aus der Reserve locken kann – er lässt den Jungen klug erscheinen: Pah,

kann mir denken, was in dem Korb ist, meinte Jürgen geringschätzig, Kaninchenfutter.89

Er stellt ihm noch eine mathematische Aufgabe, die dem Jungen Selbstvertrauen einflößt.

Kinder spielen gern mit kleinen Kaninchen, daher weiß der Mann, dass das Erwähnen der

siebenundzwanzig Kaninchen das Kind aus seiner Starre lösen könnte. Und in der Tat reagiert

das Kind das erste Mal völlig kindergemäß: er macht vor Staunen einen runden Mund. Die

Vorstellung, ein eigenes Kaninchen zu bekommen, lässt ihn Vertrauen zu dem Alten fassen,

und endlich erzählt er ihm, worauf er aufpasst.

Die Geschichte des kleinen Jungen ist in den meisten Geschichten Borcherts an Grausamkeit

und tiefster Erschütterung nicht zu überbieten. Doch durch eine Lüge, ob ihnen der Lehrer

nicht gesagt hätte, dass die Ratten nachts schlafen, vermag der alte Mann das übermüdete

Kind aufzurichten, es hat wieder Vertrauen zu der Welt der Erwachsenen. Das wird deutlich

an seiner Körperhaltung: zuerst hockt er am Boden, dann richtet er sich auf. Zuerst antwortete

er zögernd auf die Fragen, aber jetzt ist er voller Elan und macht schon Pläne für die Zukunft

mit seinem Kaninchen.

Dieser Junge erlebt, dass es Freude und Freundlichkeit trotz der Grausamkeit des Kriegs gibt.

Auch die Atmosphäre ist deutlich anders, als die Geschichte ausklingt. Am Anfang war das

Licht violett, kalt, aber jetzt hat die Abendsonne ihre warme rote Farbe. Am Anfang wird die

Umwelt statisch beschrieben, aber am Ende herrscht Dynamik, der Junge sieht voller

Hoffnung und Erwartung dem alten Mann nach.

Das Brot

Diese Kurzgeschichte zeigt dagegen ein Nachkriegsthema, nämlich den Mangel und den

Hunger, die gleich nach dem Ende des Kriegs herrschten.

Am Anfang lernen wir ein eigentlich harmonisch lebendes Ehepaar kennen. Die Harmonie

zeigt sich dadurch, dass die Frau nur durch das Fehlen seines Atems aufgewacht ist.

Die Sätze sind kurz und abgeschnitten und zeigen die bevorstehende Spannung. In der Küche

entdeckt die Frau den heimlichen Diebstahl ihres Mannes, doch beide lügen, damit sie nicht

die Wahrheit auszusprechen brauchen: Ich dachte, hier wär was [...] – Ich habe auch was

89 Borchert, 1949, S. 217

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gehört.90. Die Entfremdung zeigt sich durch ihre Sprachlosigkeit, denn sie wiederholen nur

die Sätze des Anderen.

Im Bett stellt sich die Frau schlafend, um ihn nicht bloßzustellen. Es wird deutlich, dass sie

nicht mehr verärgert ist, weil sie bei seinem regelmässigem Kauen sogar einschlafen kann.

Die Lösung des Konflikts zeigt sich am nächsten Tag durch den Verzicht der Frau, sie könnte

dieses Brot nicht so recht vertragen. Am Ende der Geschichte sind auch die Sätze länger, also

zeigt schon die Struktur die wieder aufgebaute Harmonie in der Ehe. Zuerst ging die Frau

noch von der Lampe weg, aber am Schluss setzt sie sich wieder unter das Licht, was auch ein

Beweis für die Einheit und Verständnis ist.

So zeigt Borchert Hoffnung und Liebe sogar in den schweren Zeiten der Nachkriegszeit.

5. VERLORENE GENERATION

Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute, wir sind roh und traurig und

oberflächlich – ich glaube, wir sind verloren.91

Wir stimmen darin überein, dass es jedem ähnlich geht; nicht nur uns hier; [...] Es ist das

gemeinsame Schicksal unserer Generation.92

Mit diesen Zitaten aus Im Westen nichts Neues wird die Stimmung der ersten Nachkriegszeit

aufgegriffen, die bei Remarque auch weiterhin vorherrschend bleiben sollte und ihn, der sich

einem „Orden der Verlorenen“ verbunden wusste, jener Reihe jüngerer Schriftsteller

zuordnet, für die Gertrude Stein Anfang der zwanziger Jahre in Paris die Bezeichnung „Lost

generation“ geprägt hat.93

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird als „verlorene Generation“ jene Generation genannt, deren

Geburtsjahrgang nach 1920 liegt und im Dritten Reich aufwuchs und nach 1945 oder um

1950 zu schreiben begann. Das war eine Generation, die geprägt war durch ihre Skrupel und

Verluste und deren Verhältnis zur Welt sich am ehesten in dem Verhältniswort „ohne“

ausdrücken ließ. Borchert hat diese Generation nicht nur beschrieben, er hat sie auch benannt:

„Generation ohne Abschied“, auch: „Generation ohne Ziel“, „ohne Bindung“, „ohne Tiefe“, 90 Borchert, 1949, S. 304 91 Remarque, 1929, S. 126 92 eben da, S. 91 93 vgl. hierzu: Baumer, 1976, S. 54, 55

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„ohne Glück“, „ohne Heimat“, „ohne Gott“, „ohne Vergangenheit“, „ohne Ja“, „ohne

Jugend“. Aber wenn er auch solch allumfassendes Nein aussprach und den situationären

Nihilismus der ersten drei Nachkriegsjahre formulierte, so trug er doch seine Negation mit

einem so machtvollen Trotz, dass es seinem Bekenntnis zu sich selbst und einem Ja zur

eigenen Existenz glich: Die Strasse gehört uns.94

Nach dem Ersten Weltkrieg litt die Bevölkerung an Hunger und Not. Die heimkehrenden

Soldaten hatten aber ihre Häuser unzerstört gefunden, denn der Erste Weltkrieg spielte sich

nicht auf dem Gebiet ihrer Heimat ab. Für die Heimkehrer vom Zweiten Welktkrieg kamen

dazu auch Verluste an Wohnungen, denn diesmal traf der Krieg Deutschland selbst. Alles lag

in Trümmern.95

5.1. Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück bei Remarque

Bei Remarque werden als verlorene Generation die ehemaligen Gymnasiasten bezeichnet, die

auf Zureden ihrer Vorbilder freiwillig in den Krieg gezogen sind. Doch an der Front erkennen

sie, dass der Krieg sie endgültig von der Vergangenheit getrennt und alle Verbindungen an an

zukünftiges Leben unvorstellbar gemacht hat. Sie fühlen sich vollkommen verloren.

Schon im ersten Roman Im Westen nichts Neues werden die grundsätzlichen Probleme der

verlorenen Generation vorgestellt und im Roman Der Weg zurück weiter ausgearbeitet.

Die älteren Soldaten sind mit Früherem verbunden, sie haben Frauen, Kinder, Berufe und

Interessen, die schon so stark sind, dass der Krieg sie nicht zerreissen kann. Für sie ist der

Krieg nur eine Unterbrechung, sie haben Pläne für das Leben nach dem Krieg. Doch bei den

Zwanzigjährigen ist die Kraft der Eltern am schwächsten, die Mädchen sind noch nicht

beherrschend. Weit außerhalb der Schule reichte ihr Leben noch nicht. Und davon ist nichts

geblieben. [...] Wir waren noch nicht eingewurzelt. Der Krieg hat uns weggeschwemmt.96

Was anderes als den Krieg haben sie fast nicht erlebt. Und auf einmal ist der Krieg zu Ende,

94 vgl. hierzu: Rühmkorf, 1967, Nachwort von Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlaß 95 vgl. hierzu: Slezakova, 2007, S. 26, 27 96 Remarque, 1929, S. 26

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als wäre er nie gewesen. Doch für die Heimkehrer ist das Leid noch lange nicht vorbei: Ich

glaube, wir sind krank, Georg. Wir haben den Krieg noch in den Knochen.97

Und sie sind sich bewusst, dass sie dort, an der Front, ihre Jugend liegen gelassen haben,

zusammen mit den verlorenen Jahren und Kameraden, die noch immer dort liegen. Und sie

erkennen langsam, dass sie diese Jahre nie wieder zurück bekommen werden.

Ernst Birkholz hängt im zweiten Roman Der Weg zurück noch immer sehr an seinen

Kameraden, und vielen geht es genauso, an der Front waren sie in den Gräben nur selten

allein, immer waren sie in der Gesellschaft von anderen Soldaten. Sie erkennen, dass sie noch

immer nie allein sein wollen. Doch langsam, Stück für Stück, zerfällt auch die Kameradschaft

selbst: Das Gemeinsame ist nicht mehr beherrschend. Es ist schon zerfallen in

Einzelinteressen. [...] Alles andere ist kaputtgegangen im Kriege, aber an die Kameradschaft

hatten wir geglaubt. Und jetzt sehen wir: Was der Tod nicht fertiggebracht hat, das gelingt

dem Leben: es trennt uns.98 Es wird deutlich gemacht, dass die sich Frontkameradschaft für

die zivile Nachkriegsgesellschaft als untauglich erweist.

Die Dynamik des Menschen, eine Gestalt herauszubilden, verliert sich mit der Zeit; durch die

Schließung einer offenen Gestalt oder eines durch historisch-gesellschaftliche Umstände

gehemmten, unerledigten Prozesses gewinnen auch die Erinnerungen an Stabilität. Historisch

bedingt können in den meisten Fällen weder Bäumer noch seine Kameraden in Im Westen

nichts Neues diese „Geschlossenheit“ erreichen. In Der Weg zurück muss der Soldat aus dem

Ersten Weltkrieg das Erlebnis als Ganzes beziehungsweise die ihm am wichtigsten

erscheinenden Einzelerlebnisse in diesem Sinne wenigstens zum Teil schließen, bevor er den

Weg zurück ins normale Leben überhaupt antreten kann. Einige Situationen, die als erlebte

Gestalt doch „geschlossen“ werden können, werden schon im ersten Roman dargestellt. Die

Racheszene an Himmelstoß ist ein Beispiel dafür, doch wird diese Szene im zweiten Roman

noch einmal bearbeitet. Im zweiten Roman will sich Ferdinand Kosole am ehemaligen

Feldwebel Seelig rächen; Seelig hatte dafür gesorgt, dass Kosoles Freund Schroeder nicht auf

Urlaub fahren konnte. Schroeder fiel bald darauf. Nach dem Krieg ist Seelig Wirt geworden,

und jetzt muss Kosole einsehen, dass er jetzt ein ganz anderer Mensch ist. Im Hinblick auf

seine Rachepläne bemerkt er, dass man in solchem Fall gar keine Lust mehr hat. Auch Seelig,

97 Remarque, 1929, S. 196 98 ebenda, S. 184

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der sich offenbar nicht mehr an Schroeder erinnern kann, betont, wie lange das schon her sei:

Ist ja schon nicht mehr wahr.99

Schon im ersten Roman wird der Gedanke über eine Revolution geäußert, dann aber sind sie

matt geworden: Wären wir 1916 heimgekommen, wir hätten aus dem Schmerz und der Stärke

unserer Erlebnisse einen Sturm entfesselt. [...] Wenn wir jetzt zurückkehren, sind wir müde,

zerfallen, ausgebrannt, wurzellos und ohne Hoffnung. Wir werden uns nicht mehr

zurechtfinden können.“100 Breyer im zweiten Roman meint, sie hätten mit zu wenig Hass

Revolution gemacht. Die zurückkehrenden Soldaten waren nach Remarque offenbar niemals

in der Lage, eine Revolution zu machen.

Die beiden engsten Freunde von Birkholz begehen bald nach dieser pessimistischen

Diskussion Selbstmord. Rahe und Breyer sind die heimlichen Hauptfiguren des Romans, sie

vertreten verschiedene Lebenskonzepte: das derjenigen, die den Krieg noch im Blut haben

oder rückwärts gerichtet sind, und das derjenigen, die gelernt haben, dass es nur vorwärts

gehen kann.

5.2. Draußen vor der Tür und die Kurzgeschichten bei Borchert

Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren große Teile Hamburgs, wie in den meisten anderen

deutschen Städten, zerstört. Viele Kriegsheimkehrer hatten nun weder eine Familie, noch eine

Unterkunft. Die jungen Männer hatten in ihrem Leben nichts anderes gelernt als Krieg zu

führen. Diese Generation glaubte einer guten Sache zu dienen und am Ende ihren gerechten

Lohn dafür zu bekommen. Stattdessen standen sie nun vor der Erkenntnis einer

verbrecherischen Idee geopfert worden zu sein. Wolfgang Borchert wollte dieser Generation

ihre Stimme zurückgeben und der Welt die Schattenseiten und Nachwirkungen des Krieges

vor Augen führen. Das Wort "draußen" hat für ihn zweierlei Bedeutung. Einerseits bedeutet

es Freiheit, da er selbst über ein Jahr in Gefangenschaft war und auf Grund seiner Krankheit

endgültig zum Liegen kam. Zum anderen aber weiß er genau wie gnadenlos der Mensch ihm

ausgeliefert sein kann.101

99 Remarque, 1931, S. 95 100 Remarque, 1929, S. 286 101 vgl. hierzu: http://www.gwbasic.at/topics/borchert.htm, 2008

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Das Stück Draußen vor der Tür ist kein autobiographisches Werk des Heimkehrers Wolfgang

Borchert. Seine persönliche Situation nach dem Zusammenbruch Deutschlands war

wesentlich besser, als die seiner Schicksalsgenossen. Für viele begann zu dieser Zeit erst die

Tragödie von Flucht, Vertreibung oder Gefangenschaft. Borchert versucht mit Draußen vor

der Tür in der Figur des Beckmann die Millionen junger Soldaten, deren bisheriges Leben aus

fast ausschliesslich militärischen Drill, Angst, Leid und Verwundungen bestanden hat,

widerzuspiegeln. Wolfgang Borchert verurteilt in seinem Stück den Krieg und seine Folgen.

Er stellt Beckmann als Heimkehrer dar, der mit der Rückkehr in seine Heimat auf dem Weg

ist, den Anschluss an sein früheres "Ich", seine frühere Identität zu finden. Aber bei jeder Tür

wird er abgewiesen, denn die Menschen wollen mit dem Krieg und seinen Folgen nicht mehr

konfrontiert werden.102

Borchert hatte den Heimkehrer Beckmann aus dem Drama Draußen vor der Tür mit so viel

allgemein-verbindlichen Zügen ausgestattet, dass er von vielen als das eigene Ich erlebt

werden konnte. War er als Held des Stückes ein ausgemachter Antiheld, so entsprach das für

kurze Spanne Zeit dem Bild des deutschen Jedermann aus einer heldenmüden und

mythenskeptischen Generation. Zwar hatte Beckmann Lösungen nicht zur Hand, aber gerade

dass der Tiefverstörte auf jede Lösung eine Frage wusste, entsprach aufs Haar der Disposition

der deutschen Jugend.

Frisur und Gasmaskenbrille sind leitmotivisch auftretende Zeichen, die seine Verhaftetheit in

vergangenem, grauenhaftem Kriegserleben, seine Unfähigkeit, sich von den Kriegserlebnissen

zu befreien, symbolisch anzeigen. Dadurch wird die zwischen Beckmann und den Menschen

in seiner Umwelt liegende Distanz und damit seine Position als Außenstehender immer

wieder betont. Als das Mädchen Beckmanns Gasmaskenbrille abnimmt, löscht sie zugleich

seine Soldatenexistenz aus. Mit diesem Verlust der Existenz und ohne Aussicht auf eine neue

sieht Beckmann nichts mehr und fühlt sich hilflos und verloren. Der Kommentar zeigt die

Weigerung Beckmanns, mit dem Ablegen der alten Sachen die Vergangenheit auszulöschen.

Beckmanns äußere Verwandtschaft mit einer Vogelscheuche ist von der Erscheinung her

begreiflich. Aber auch das Innere des Menschen kann sich mit ihr vergleichen.103

Der Vergleich mit der Vogelscheuche könnte hier als ein Symbol für die Trostlosigkeit gelten,

die für die ganze verlorene Generation charakteristisch war.

102 vgl. hierzu: http://www.raffiniert.ch/sborchert.html, 2008 103 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 31, 32

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Bei wachem Zustand oder im Traum, wenn er sich gegen die bedrängenden Erinnerungen

nicht wehren kann, finden sie in einem – keineswegs zufällig an die Expressionisten

erinnernden – Schrei unmittelbaren Ausdruck, von dem der Kabarettdirektor im Sinne einer

theoretischen Forderung an die junge Dichtergeneration spricht. Als jedoch Beckmann diese

Forderung in einem Lied erfüllt, rückt der Direktor feige ab. So bleibt Beckmann mit seinem

Aufschrei allein, weil niemand bereit ist, ihn zu hören, weder ein Mensch noch ein Gott. Aber

der Schrei bestimmt auch sein Leben. Seine Träume, die ehemalige Erlebnisse aufnehmen,

sind so schrecklich, dass er im Schlaf schreit und über diesen Schrei aufwacht.104

Trotz aller Trostlosigkeit in Borcherts Werk schickte der junge Dichter mit seinem Schrei

doch einen Funken Hoffnung in die Welt hinaus. In seinem Werk gibt es keine Verzweiflung,

sein Schrei fordert Leben und Hoffung nach ruhigem Schlaf für die verlorene Generation, die

nachts noch immer von den Toten verfolgt wird und droht, unter der Last der Verantwortung

und des Kriegs unterzugehen.

5.3. Vergleich der verlorenen Generation in den erwähnten Werken

Vielen von den Soldaten der „verlorenen Generation“ haben die Kriege ihre Jugend geraubt

und trotz ihres jungen Alters kehrten sie aus dem Krieg als alte Menschen zurück. Die

Erfahrungen der Heimkehrer waren meistens ähnlich. Der Krieg zerstörte in ihnen

moralisches Gefühl und die gründlichen ethischen Gesetze. Während der Kriegszeit handelten

sie gegen diese Gesetze und nach der Heimkehr waren sie auf den Irrewegen ihrer Existenz.

Sie haben zu Hause meist niemanden gefunden, der ihnen aus der moralischen Verzweiflung

hilft. Die Verwandten konnten die Heimkehrer nicht verstehen. Die Heimkerer verloren in

manchen Fällen auch ihre Frauen, denn sie lebten schon mit anderen Männern. Alle Türen

waren ihnen geschlossen. Die Heimkehrer hatten gemeinsame Erinnerungen, ihre toten

Kameraden verfolgten sie und nachts schreckten sie aus dem Schlaf. Das gemeisame Zeichen

war der Verlust. Die Soldaten verloren ihre Ideale, für die sie in den Krieg gegangen waren

und gekämpft hatten. Sie waren betrogen und fühlten sich missbraucht. Es war kein Krieg für

das Vaterland und die Ehre, sondern ein expansiver Krieg der Mächtigen. Und gerade die

104 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 32, 33

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Heimat, für die sie gekämpft haben, ließ sie im Stich. Es wurde den Heimkehrenden keine

Hilfe und Unterstützung vom Staat gewährleistet.

Borchert und Remarque begrenzen ihre Position nicht auf den individuellen Erlebnisbereich,

beide wenden sich an die gesamte Generation, ihre Kameraden und Zeitgenossen, die sie als

eine „verratene Generation“ bezeichneten. So fühlte sich die ganze Generation unmittelbar

angesprochen und das gab die Grundlage der Popularität ihrer Werke. Hinzu kam, dass sie

Männer von drinnen waren und sich als solche empfanden. Sie spielten weder den Racheengel

noch den besserwissenden Lehrmeister und gaben der Klage den Vorrang vor der Anklage.

Borchert war eine Figur, die zur Identifikation herausforderte und in deren Zügen sich das

Selbstmitleid einer geschlagenen Generation spiegeln konnte. Remarque hatte auch an der

Front teilgenommen, er kannte die Zustände und die Stimmung der Heimkehrer. Er wollte nur

berichten, wie es in Wirklichkeit aussah. Beide konnten nicht schweigen, in Bezug af die

Lügen, die über den poetischen Heldentod von der gierigen Macht in die Welt ausgingen.

Remarque spricht durch seinen Protagonisten Paul Bäumer, einen deutschen Soldaten, doch

sein Schicksal konnte sich in den Erfahrungen von jedem Soldat im Ersten Weltkrieg

wiederspiegeln. Auch Borchert erschaffte Beckmann, eine graue Figur, einen aus der Masse,

der als stellvertretend für seine gemeinsame Generation sprechen sollte. An alle Protagonisten

der beiden Autore klammerte sich die Hoffnung einer ganzen Generation, sie identifizierte

sich so mit Bäumer, Birkholz und ihren Kameraden, wie mit Beckmann.

Beide Autoren waren sich einig, dass vieles anders gewesen wäre, wenn mehr Leute „nein“

gesagt hätten. Die Soldaten Im Roman Im Westen nichts Neues sprechen über den Besuch des

Kaisers: Eins möchte ich aber doch wissen... ob es den Krieg gegeben hätte, wenn der Kaiser

nein gesagt hätte. [...] – Na, wenn er allein nicht, dann vielleicht doch, wenn so zwanzig,

dreißig Leute in der Welt nein gesagt hätten.105

Diesen Gedanken finden wir auch in Borcherts letztem Manifest Dann gibt es nur eins!

Unterschiede bei den beiden Autoren gibt es vor allem in der Form ihrer Kriegsschilderungen.

105 Remarque, 1929, S. 202, 203

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Borchert schreibt viele Kurzgeschichten mit offenem Ende. Diese kurze literarische Form

kann man dem Mangel an Geduld zuschreiben, da Borchert beim Schreiben schon am

Sterbebett lag und er wusste, dass ihm die Zeit wegläuft. Er schrieb wie aus einem Schub und

korrigierte kaum etwas.

Remarque dagegen wählt die objektive Form eines Romans, er ließ seine Ideen auch länger

reifen. Borchert hat 2 Jahre nach Ende des Krieges alle Kriegserlebnisse in die schriftliche

Form umgesetzt, Remarque veröffentlichte seine Kriegserlebnisse erst 10 und mehr Jahre

nach dem Ende des Kriegs.

In Borcherts Kriegsgeschichten ist das Geschehen auf ein Minimum reduziert und die

Erregung geht nicht vom Gefechtslärm, nicht von der Nahkampfschilderung aus. Die

Spannung ist in die Form verschlagen. Bei Remarque ist es umgekehrt, der Leser wird mitten

an die Front geworfen, mitten ins Geschehen, unter die Soldaten und erlebt alles mit, was sie

erleben. Remarque beschreibt jede Einzelheit, jede Grausamkeit und schildert objektiv die

Geschichte eines Soldaten im Kriegschaos.

Die Helden der Werke werden nach dem Krieg mit Veränderung in vielen verschiedenen

Bereichen im Leben konfrontiert und der Vergleich erfolgt nach einer thematischen Teilung.

5.3.1. Die Wahrheit

Bei Borchert hat der Dichter die Aufgabe, einzig und allein die Wahrheit darzustellen,

deswegen stehen im Mittelpunkt seiner Dichtung schmerzhafte Erlebnisse des Menschen, der

unter Verletzungen oder seelischen Belastungen und Schuldgefühlen leidet, und die Not

seiner Existenz. Doch Borchert will die Vorgänge nicht unbeteiligt registriert sehen; im

Gegenteil, gerade die Beschäftigung mit der leidvollen Existenz des Menschen lässt ihn

brüderliche Liebe fordern. Borchert versucht die Dinge unmittelbar beim Namen zu nennen

und damit eindringliche Deutlichkeit erreichen.106

Auch Beckmann, wie Borchert selbst, kommt auf die Idee, zur Bühne, zum Kabarett zu

gehen. Dort erhält er die Gelegenheit zu zeigen, was er zu bieten hat: die Wahrheit.

106 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 117

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Beckmann ist nicht fähig, sich Umständen, die seinen Anschauungen widersprechen,

anzupassen, und er ist unfähig, Kompromisse zu schließen. Und ebensowenig wie er bei der

Frage nach Schuld und Verantwortung zu Kompromissen bereit ist, so ist er es bei der

Wahrheit. Er kann nichts anderes zur Darstellung bringen als die unmittelbare, graue, nackte

Wahrheit. Aber außer dem Oberst will auch der Kabrettdirektor mit der Wahrheit nichts zu

tun haben, denn die Wahrheit mache nur unbeliebt. In seiner grenzenlosen Einsamkeit

versucht Beckmann etwas Gültiges zu finden, was ihm einen Halt geben könnte. Und so

möchte er die Verantwortung ebenso absolut fassen wie die Wahrheit. Die Begriffe stellen

jedoch keine absoluten Werte dar und erlauben keine Orientierung. Das Radikale in

Verantwortung und Wahrheitssuche führt Beckmann nur tiefer in seine Verzweiflung.107

Auch Remarque schildert die nackte Wahrheit, in allen grausamsten Details, ohne Rücksicht

und Verschönerung. Doch seine Schilderung der menschlichen Not bleibt objektiv, in der

Form eines Berichts, er appeliert nicht auf die Gefühle des Lesers, er bleibt unbeteiligt am

dokumentär geschilderten Geschehen. Sein Roman war Reportage. Beide Autoren suchen

keinen Sinn, sie fragen sich nur, wie man danach weiter leben soll.

Der Unterschied zwischen den beiden Autoren liegt darin, dass Borcherts Protagonist

Beckmann immer nach der nackten Wahrheit grub und nach Antwort schrie, er wollte die

Wahrheit, die er erlebt hatte, erzählen, sie mit der Welt teilen, damit das Grauen nie wieder in

Vergessenheit gerät. Paul Bäumer im Roman Im Westen nichts Neues will aber nicht mal über

das Grauen um ihn herum nachdenken. Er erkennt, dass so etwas nicht erzählt werden kann:

Es ist eine Gefahr für mich, wenn ich diese Dinge in Worte bringe, ich habe Scheu, dass sie

dann riesenhaft werden und sich nicht mehr bewältigen lassen. Wo blieben wir, wenn uns

alles ganz klar würde, was da draußen vorgeht. [...] ... hier darf ich nicht weiterdenken.

Dieser Weg geht in den Abgrund. Es ist noch nicht die Zeit dazu; aber ich will den Gedanken

nicht verlieren, ich will ihn bewahren, ihn fortschließen, bis der Krieg zu Ende ist.108

Die beiden Autoren wollten mit ihren Werken die Wahrheit mitteilen, aber Borchert tut es

durch seinen Protagonisten, im inneren Monolog und Dialog, Remarque benutzt dazu andere

Mittel, vorwiegend den objektiven Bericht, aber seine Helden setzen sich nicht mit den

Problemen auseinader, denn es wird ja auch nichts anders dadurch. Sie gestehen, dass sie ihre

107 vgl. hierzu: Rühmkorf, 1961, S. 46 und Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 33, 35, 53, 54 108 Remarque, 1929, S. 194, 167

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Erfahrungen nicht in Worte fassen können. Deswegen hat die Frontkameradschaft eine sehr

große Rolle bei Remarque, denn Bäumer und Birkholz verbringen am liebsten die ganze Zeit

mit den Kriegskameraden, die auch ohne Worte verstehen, was sie gemeinsam durchgemacht

haben. Das gemeinsame Erlebnis verflocht ihr Leben und ihr Schicksal, wo die Umgebung

den Heimkehrern mit Unverständnis entgegenkommt, brauchen die Jungs untereinander keine

Worte, um die Probleme des einzelnen Freundes zu verstehen, obwohl sich jeder von ihnen

anders mit der Kriegserfahrung auseinandersetzt.

5.3.2. Verantwortung und Schuld

Erich Maria Remarque gestand in einem Interview, wie er seine Generation sah. Zwar hätten

viele den Krieg vergessen, aber wichtig sind alle anderen, die zahllosen Zerrissenen,

Getroffenen, Erlebnisfähigen, die dem Erlebnis Ausgelieferten…109

So einer ist auch Beckmann. Man kann dieses Leiden nicht mit dem Gang zum Arbeitsamt

oder Sozialamt heilen. Wer so schwer getroffen ist, hat ein Recht auf Antwort.

Die Nebenfiguren in Draußen vor der Tür sind von der Hauptperson Beckmann abhängig, sie

sind nicht in der Lage ihm zu helfen, oder ihm die so ersähnten Antworten zu geben. Nicht

weil sie es nicht möchten, sondern weil sie entweder schon zu tief im „dicksten Zivilleben“

verankert sind oder sich für Beckmanns Lage einfach nicht interessieren.

Borchert fragt aus der Sicht des Soldaten nach der Verantwortung für den millionenfachen

Tod. Beckmann hat im Krieg die Erfahrung gemacht, wie in einer von ihm geleiteten

Abteilung elf junge Männer zu Tode gekommen sind. Und dieser von ihm so interpretierte

Mord lastet auf seiner Seele und wird noch dadurch verstärkt, dass er im Traum einem

geisternden Untoten, genannt der Einbeinige, begegnet, der ihn des Mordes anklagt.

Er empfindet die Verantwortung nicht nur als ein Wort: Man kann doch Menschen nicht für

ein leeres Wort sterben lassen. [...] Die Toten – antworten nicht. Gott – antwortet nicht. Aber

die Lebenden, die fragen Die fragen jede Nacht, Herr Oberst.110

Er sucht die Ruhe, die Befreiung, um den Alb los werden zu können, der ihm auf dem

Gewissen sitzt. Dabei geht es nicht bloß um die physische Ruhe nach dem Sturm, sondern um

109 Gumtau, 1969, S. 65 110 Borchert, 1949, S. 126

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die existentielle Seelenruhe, damit er endlich ruhig schlafen kann. Seine Antwort erhält er

weder von den Hauptdarstellern der Kriegsführung noch von Gott.111

Die Schlüsselformulierung lautet: Wir werden jeden Tag ermordet und jeden Tag begehen wir

einen Mord. Wir gehen jeden Tag an einem Mord vorbei.112

Hier ist nicht nur vom Schuldigwerden durch Tun die Rede, sondern auch durch

Geschehenlassen. Die Schuld Beckmanns ist darin zu sehen, dass er dem Mädchen ins

Zimmer folgt und obwohl er das Problematische seiner Situation erkennt, wirft ihm der

Einbeinige vor, er habe ihn ermordet. Dabei war Beckmann aus denselben Gründen in die

Elbe gegangen: weil er humpelte und weil ein anderer Mann bei seiner Frau war. Beckmann

läuft vor dem Einbeinigen weg und so ist er nicht nur der Mörder, sondern lässt auch den

Selbstmord geschehen, er geht an ihm vorbei. Selbstverständlich kann eine tatsächliche

Schuld im juristischen Sinne nicht abgeleitet werden. Die Schuld erwächst Beckmann aus der

Verantwortung, die er als höherer Dienstgrad bei Erteilung eines Befehls hat. Dass die

Ausführung von Befehlen im Kriege lebensgefährlich ist, liegt im Wesen des Krieges

begründet, nicht in der persönlichen Verantwortung des Befehlenden. Er hat nur unsinnige

Opfer zu vermeiden und die Verluste so gering wie möglich zu halten. Diese Auffassung kann

leicht zu einem Relativismus führen, so ist niemand mehr bereit, eine persönliche

Verantwortung zu übernehmen. Das andere in Beckmann verkörperte Extrem ist aber ebenso

falsch und führt zur Zerstörung des Menschen. Beckmann fühlt sich nicht nur für das Bein des

Einbeinigen, sondern auch für den Tod von elf Männern verantwortlich, die unter seiner

Führung nicht zurückkehrten. Die Mütter, die Frauen und die Kinder der Toten verfolgen ihn

in seinen Träumen und lassen ihn nicht schlafen. Aber für den elffachen Mord ist keine

Motivation mehr da, niemand ist bereit zu sagen, für welches hohes Ziel diese Menschen

gestorben sind. Es gibt nur Leute, die ihre Pflicht getan haben. Übrig bleibt das Schuldgefühl

Beckmanns, das ihn niemand abnimmt. Nur er selbst könnte es überwinden.113

Doch auch an Beckmann werden Menschen schuldig, ohne es im juristischen Sinne zu sein,

aus Schwäche, Verständnislosigkeit, Feigheit, Gedankenlosigkeit. Beckmanns Frau hat ihn

verlassen, weil er zu lange weg war und sie das Alleinsein nicht aushalten konnte. Sie wird

schuldig aus menschlicher Schwäche. Der Oberst versteht ihn einfach nicht. In dem

111 vgl. hierzu: Lätzel, 2001, von: http://www.phil.uni-sb.de/projekte/imprimatur/2002/imp020107.html 112 Borchert, 1949, S. 162 113 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 46, 47

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mangelnden Bemühen um ein Verständnis liegt seine Schuld. Der Kabarettdirektor wagt es

nicht, Beckmann Arbeit zu geben, weil ein Anfänger seinen finanziellen Ruin bedeuten

könnte. Er wird schuldig aus Feigheit. Und Frau Kramer wird an ihm schuldig aus

Gedankenlosigkeit, weil sie kein Mitgefüihl zeigt. Keiner ist bereit, für den Krieg die

Verantwortung zu übernehmen, wahrscheinlich kann das auch keiner; für Beckmann aber

zählt nur die Tatsache, dass ihn keiner hingeschickt haben will.114

In Remarques Roman Der Weg zurück begegnen wir dem Oberst ähnliche Figur in der Person

des Scharfschützen Bruno Mückenhaupt. Ernst Birkholz besucht ihn, um sich zu erkundigen,

wie er damit fertig geworden ist und ob ihm die „armen Kerle“ nicht manchmal ein bißchen

leid täten. Bruno aber bewahrt seine „Trefferliste“ auf einem Ehrenplatz und wehrt sich: War

doch Pflicht! Befehl!115

Im Gegensatz zu Beckmann und Borchert selber, verlangt Remarque nicht nach Schuld und

Verantwortung. Im Roman Der Weg zurück müssen die Soldaten wieder in die Schule, wo die

Lehrer die gleiche Stellung wie vor dem Krieg nehmen und mit großen Worten die

ehemaligen Schüler begrüßen. Sie loben den poetischen Heldentod, da viele der ehemaligen

Schülern gefallen und darum nicht mehr dabei sind, aber die Soldaten begehen Aufstand:

Gefallen sind die nicht, damit Reden darüber gehalten werden. Das sind unsere Kameraden,

fertig, und wir wollen nicht, dass darüber gequatsch wird! [...] Lassen Sie die großen Worte.

Sie passen nicht mehr für uns. Sie passen auch nicht für unsere toten Kameraden. Wir haben

sie sterben sehen. Die Erinnerung daran ist noch so nahe, dass wir es nicht ertragen können,

wenn über sie so gesprochen wird, wie Sie es tun. Sie sind für mehr gestorben als dafür.116

Remarque spricht auch nicht von der Verantwortung, die für Borchert wesentlich ist: Sie

haben den Krieg auf Ihre Weise gesehen. Mit fliegenden Fahnen, mit Begeisterung und

Marschmusik. Aber sie haben ihn nur bis zum Bahnhof gesehen, von dem wir abfuhren. Wir

wollen Sie deshalb nicht tadeln. Wir alle haben ja ebenso gedacht wie Sie. Aber inzwischen

haben wir die andere Seite kennengelernt. Das Pathos von 1914 zerstob davor bald zu nichts.

Wir haben trotzdem durchgehalten, denn etwas Tieferes hielt uns zusammen, etwas, dass erst

draußen entstanden ist, eine Verantwortung, von der Sie nichts wissen, und über die man

114 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 46 – 51 115 Remarque, 1931, S. 322 116 Remarque, 1931, S. 116, 117

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nicht reden kann. [...] Wir verlangen keine Rechenschaft von Ihnen – das wäre töricht, denn

niemand hat gewußt, was kam. Aber wir verlangen von Ihnen, dass sie uns nicht wieder

vorschreiben, wie wir über diese Dinge denken sollen.117

»Der Mensch kann auf Grund eigener Entscheidung nur die Anerkennung der Schuld

verweigern und sich damit die Möglichkeit schaffen, unbeschwert zu leben, verhindern oder

beseitigen kann er sie nicht.«118

5.3.3. Schule und Lehrer

Der Unteroffizier Beckmann sagt in Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür: Sie haben uns

verraten. So furchtbar verraten. Wie wir noch ganz klein waren, da haben sie Krieg gemacht.

Und als wir grösser waren, da haben sie vom Krieg erzählt. Begeistert. Immer waren sie

begeistert. Und als wir dann noch grösser waren, da haben sie sich auch für uns einen Krieg

ausgedacht. Und da haben sie uns dann hingeschickt. Und sie waren begeistert. Immer waren

sie begeistert. Und keiner hat uns gesagt, wo wir hingingen. Keiner hat uns gesagt, ihr geht in

die Hölle.119

Wie in vielen seiner Geschichten beschuldigt Borchert auch in der Geschichte Generation

ohne Abschied die ältere Generation, sie hätten sie verraten und gäben ihnen keinen Gott mit.

In Remarques erstem Roman Im Westen nichts Neues erörtert der Protagonist oft die

Meinung, seine Generation sei von ihren Lehrern betrogen worden. Dort wird oft von

Schullehrern gesprochen, die ständig von Patriotismus sprachen und einer der Lehrer, der

seine Schüler im Klassenzimmer für den Krieg begeisterte, bezeichnet die Jungs als die

„eiserne Jugend“.

Doch der Protagonist erkennt: Jugend! Wir sind alle nicht mehr als zwanzig Jahre. Aber

jung? Jugend? Das ist lange her. Wir sind alte Leute.120

Schon am Anfang des Buches erkennen die Soldaten, dass von dem Begriff der Autorität

nicht geblieben ist: Sie sollten und Achtzehnjährigen Vermittler und Führer zur Welt des

117 Remarque, 1931, S. 116, 117 118 Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 49 119 Borchert, 1949, S. 157, 158 120 Remarque, 1929, S. 24

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Erwachsenseins werden [...] im Grunde glaubten wir ihnen. [...] Doch der erste Tote, den wir

sahen, zertrümmerte diese Überzeugung. Wir mussten erkennen, dass unser Alter ehrlicher

war als das ihre [...] Das erste Trommelfeuer zeigte uns unseren Irrtum, und unter ihm stürzte

die Weltanschauung zusammen, die sie uns gelehrt hatten. Während sie noch schrieben und

redeten, sahen wir Lazarette und Sterbende; - während sie den Dienst am Staate als das

Größte bezeichneten, wußten wir bereits, dass die Todesangst stärker ist. [...] Und wir sahen,

dass nichts von ihrer Welt übrigblieb. Wir waren plötzlich auf furchtbare Weise allein – und

wir mussten allein damit fertig werden.121

Sogar das Wissen, dass sie in der Schule erworben haben, hilft ihnen an der Front nichts, Die

Kameraden zählen viele Fragen aus verschiedenen Schulfächern auf, um dann zu erkennen,

dass ihnen das allgemeine Wissen nichts genutzt hat. Bäumers Kamerad Kropp trifft die

Stimmung der ganzen Generation: Wie kann man das ernst nehmen, wenn man hier draußen

gewesen ist.122

Die Soldaten wollten die Lehrer später zur Rechenschaft ziehen. Jedenfalls im ersten Roman

wird noch darüber diskutiert, nach dem Krieg geschieht dies aber nicht. Ernst Birkholz

wiederholt den Gedanken über die Schule aus dem ersten Buch: Ehe wir Soldaten wurden,

umfaßten diese Gebäude unsere Welt. Dann wurden es die Schützengräben. Jetzt sind wir

wieder hier. Aber dies ist nicht mehr unsere Welt. Die Gräben waren stärker.123

Ähnlich heißt es über die Lehrer. Früher bedeuteten sie für die Schüler mehr als andere

Menschen und sie glaubten auch an sie, doch jetzt geben die Soldaten zu, dass sie die Lehrer

nur noch freundlich verachten, denn jetzt kennen sie das Leben besser als sie. Das Wissen,

das sie jetzt erworben haben, ist grausam, blutig und unerbittlich, und jetzt könnten sie die

Lehrer was lehren. Aber das will natürlich niemand.

Bei dem Aufstand der Soldaten auf dem Empfang im Gymnasium entsteht ein mächtiges

Durcheinander, die Lehrer sind entsetzt und hilflos. Nur zwei Lehrer, die Soldaten waren, sind

ruhig. Das zeigt, mit welchem Unverständnis die deutschen Bürger und Lehrer den

ehemaligen „Zöglingen“ gegenübertreten. Doch sogar Ludwig Breyer, der aus dem Krieg

Syphilis mitgebracht hat, hat den Krieg buchstäblich wie allegorisch noch im Blut. Doch auch

121 Remarque, 1929, S. 18, 19 122 eben da, S. 89 123 Remarque, 1931, S. 109

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er verlangt keine Rechenschaft, er auch will nur, dass die Lehrer ihm und seinesgleichen

nichts mehr vorschreiben.124

Ernst Birkholz sagt in dem Roman Der Weg zurück über den Lehrerberuf aus: Hier stehe ich

vor euch, einer von hunderttausend Bankrotteuren, denen der Krieg jeden Glauben und fast

alle Kraft zerschlug – [...] Was soll ich euch denn lehren, ihr kleinen Geschöpfe – ihr, die ihr

allein rein geblieben seid in diesen furchtbaren Jahren?125

Er fragt sich, ob er sie lehren soll, auf welche Weise man Menschen töten kann und wie

Menschen sterben, denn er gibt zu: Mehr weiß ich nicht! Mehr habe ich nicht gelernt!126

5.3.4. Das Töten

Was haben sie denn so bis jetzt gemacht? - Nichts. Krieg: Gehungert, Gefroren, Geschossen:

Krieg. Sonst nichts.127

Diese Antwort zeigt Beckmanns Situation und die der vielen anderen Soldaten.

Auch Bäumer gesteht: ...das können wir: Kartenspielen, fluchen und Krieg führen. Nicht viel

für zwanzig Jahre – zu viel für zwanzig Jahre.128

Die Soldaten haben in ihren jungen Leben fast nichts gelernt außer Töten, das war jahrelang

ihre einzige Beschäftigung und ihr erster Beruf. Da draußen hilft ihnen kein in der Schule

erworbenes Wissen, nur der reine Lebenstrieb. Sie töten andere für eigenes Überleben. In

diesem Kampf ums nackte Überleben unterscheiden sie keine Feinde. Sie gestehen sogar,

wenn ihr eigener Vater von drüben käme, würden sie nicht zögern, ihm eine Granate gegen

die Brust zu werfen.

Schon im ersten Roman denken die Kameraden nach, wie es nach dem Krieg weitergehen

sollte: Es wird überhaupt schwer werden mit uns allen. Ob die sich in der Heimat eigentlich

124 Murdoch, 2001, S. 23 125 Remarque, 1931, S. 231 126 ebenda 127 Borchert, 1949, S. 133 128 Remarque, 1929, S. 92

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nicht manchmal Sorgen machen deswegen? Zwei Jahre Schießen und Handgranaten – das

kann man doch nicht ausziehen wie einen Strumpf nachher.129

Das zeigt sich am schönsten im zweiten Roman Remarques, als Albert Trosske nach dem

Krieg den Mann, der ihm sein Mädchen genommen hatte, in der Bar tötet. Sie erkennen, dass

sie immer noch Soldaten sind, ohne es gewusst zu haben. Und Albert muss sich diesmal vor

Gericht verantworten, er habe schon viele Menschen getötet – aber im Krieg.

Für den Soldaten zählt also natürlich jedes Töten als reines Morden, aber die Beamten sehen

das nicht so: Das ist doch etwas ganz anderes. [...] Wollen Sie etwa den Kampf fürs Vaterland

mit Ihrer Tat hier vergleichen? – Nein, erwidert Albert, die Leute, die ich damals erschossen

habe, haben mir nichts getan.130

Auch in Borcherts zehn Lesebuchgeschichten finden wir dieses Problem wieder. Die kürzeste

dieser Kalenderminiaturen lautet:

Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Haus. Aber er hatte kein Brot. Da sah er einen,

der hatte Brot. Den schlug er tot.

Du darfst doch keinen totschlagen, sagte der Richter.

Warum nicht, fragte der Soldat.131

In einem Monolog vor Gericht in Der Weg zurück wird die Klage gegen die verfaulten Werte

und die hoffnungslose Lage der Heimkehrer erhoben: Meint Ihr denn, man könne vier Jahre

Töten mit dem läppischen Wort frieden aus dem Gehirn wischen wie mit einem nassen

Schwamm? [...] Wir haben alle Maßstäbe draußen verloren, und niemand hat uns geholfen!

[...] Ihr habt das mit eurem Krieg aus uns gemacht! [...] Was habt ihr denn für uns getan, als

wir wiedergekommen sind? Nichts! Nichts! Ihr habt euch um die Siege gestritten, ihr habt

Kriegsdenkmäler eingeweiht, ihr habt von Heldentum geredet und euch gedrückt vor der

Verantwortung! Ihr hättet uns helfen müssen! Aber ihr habt uns allein gelassen in der

schwersten Zeit, als wir uns zurückfinden mussten! [...] Ihr hättet uns das Leben wieder

zeigen müssen! [...] Aber ihr habt uns in Stich gelassen!132

129 Remarque, 1929, S. 91 130 Remarque, 1931, S. 293 131 Borchert, 1949, S. 317 132 Remarque, 1931, S. 295, 297

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5.3.5. Gott und Glaube

Die jahrhundertalte Anklage gegen Gott ist in Draußen vor der Tür neu formuliert, denn

Beckmann kann nicht verstehen, wie Gott soviel Leid auf Erden zulassen kann. Gott klagt, sie

hätten ihn in den Kirchen eingemauert und seine Kinder hätten sich von ihm abgewandt,

deshalb glaubt niemand mehr an ihn. Er wird als eine nicht mehr zeitgemäße Erscheinung

charakterisiert, so dass ein neuer Gott, der Tod, erstehen kann. An ihn glauben die Menschen,

weil er seine Existenz tausendfach beweist, und sie sehnen ihn herbei als Erlösung von einem

nicht mehr erträglich scheinenden Dasein.133

Der ,Andere' versucht Beckmann auf die Spur zu bringen und erfüllt damit einen Teil des

göttlichen Auftrags, Menschen zum Leben zu führen, den Gott anscheinend nicht zu leisten

vermag. Doch bei aller Trauer und Verzweiflung ist allein das Rufen Ausdruck des Funken

Hoffnung, ob da nicht doch noch Rettung zu erwarten ist. So kann der Schluss des Stückes

doppelt interpretiert werden. Auf der einen Seite verhallt des Protagonisten Ruf, auf der

anderen Seite jedoch zeugt allein der Ruf nach Antwort noch um den Glauben und um

Erlösung. Wer um Hilfe und um Leben schreit, rechnet zumindest noch damit, dass ihn

jemand hört.134

Im Gegensatz zu Borchert gibt es bei Remarque kaum auseinandersetzung mit Religion.

Bäumer gesteht sogar, dass sie nur an den Krieg glauben.

5.3.6. Familie

Paul Bäumer verliert schon im ersten Roman Remarques Im Westen nichts Neues das

Vertrauen in seine Eltern. Auf dem Urlaub in der Heimatstadt wird er von seiner Mutter

empfangen, aber er erkennt, dass sie nichts von seinen Erfahrungen verstehen könnte und

ererkennt, das ist auch besser so. Er fühlt, dass die Mütter vor solchen schrecklichen

Einzelheiten beschützt sein sollten. Das zeigt sich auch in dem Gespräch mit Kemmerichs

Mutter, wo er sich weigert, ihr zu beichten, in welchen Schmerzen ihr Sohn wirklich

133 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 47 134 vgl. hierzu: Lätzel, 2001, von: http://www.phil.uni-sb.de/projekte/imprimatur/2002/imp020107.html

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gestorben ist. Sein Vater scheint noch immer begeistert von der Kriegspropaganda zu sein,

doch sein Sohn hat die Front miterlebt und kann nicht darüber sprechen.

Auch Ernst Birkholz in Der Weg zurück versucht, seine Mutter vor der grausamen Wahrheit

zu schützen, sie soll nie erfahren, was er durchgemacht hat, weil es ihr das Herz brechen

würde. Auch sein Vater konnte ihn draußen nicht schützen, Ernst musste allein mit Allem

fertig werden.

Beckmann im Draußen vor der Tür kehrt nach Hause zurück, aber seine Frau hat ihn

vergessen und ein anderer Mann hat seinen Platz ersetzt. Das ist auch ein Schicksal von vielen

Soldaten aus der verlorenen Generation. Beckmann befindet sich aber bald in einer

umgekehrten Situation, gerade er soll den Platz des Einbeinigen bei dem Mädchen ersetzen.

Als er das erkennt, flüchtet er, weil er damit nicht fertig werden könnte. Sein Kind wurde von

den Bomben getötet, also geht Beckmann zu seinen Eltern zurück, aber erfährt, dass sie

Selbstmord begangen haben.

5.3.7. Heimat

Paul Bäumer erinnert sich in Im Westen nichts Neues an die „Landschaft seiner Jugend“.

Doch sie scheint ihm längst verloren und unerreichbar geworden zu sein. In den Gräben ist

auch die Hoffnung, sie jemals wiederzuerleben, verlorengegangen, da sie wenig mit ihr

anzufangen wussten. Sie zeigt sich nur noch in schönen Bildern, mit denen seine Erfahrungen

nichts mehr gemeinsam haben.

Der Begriff der Heimat, der von der Kriegspropaganda oft ausgenutzt wurde, wurde in Der

Weg zurück neu bewertet: Wir sind begeistert ausgezogen, das Wort Vaterland auf den Lippen

– und wir sind still heimgekehrt, den Begriff Vaterland im Herzen. [...] Lassen Sie die großen

Worte. Sie passen nicht mehr für uns.135

Remarque zeigt hier die Verlogenheit der Kriegspropaganda, die die großen, gut klingenden

Worte ausnutzte.

135 Remarque, 1931, S. 117

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Bei Remarque wird seine Heimat während des Ersten Weltkriegs als unabhängig von der

Front geschildert, außer dem Mangel an Nahrung wird seine Heimatstadt kaum von dem

Kriegsgrauen betroffen, es wird nicht geschossen und die Stadt wird nicht von Bomben

zerstört. Daraus wird auch verständlicher, dass die am Krieg nicht beteiligten Lehrer und die

ältere Generation von den Erfahrungen der Soldaten nichts verstehen können, sie haben den

Krieg auf ihre Weise gesehen. Die totale Vernichtung ist bis in das Innere des Landes nicht

gedrungen.

Bei Borchert nach dem Zweiten Weltkrieg war es jedoch anders. Beckmann, wie Borchert

selbst, ist aus der Gefangenschaft in die Heimat zurückgekehrt, aber fand seine Heimatstadt in

Schutt und Asche wieder. Von den Gebäuden ist oft nichts außer Trümmer übrig geblieben.

Viele Menschen haben in den Bombenangriffen ihr Leben verloren und wo Remarque in der

Familie und Heimat auf Unverständnis trifft, gibt es bei Borchert oft gar keine Familie und

Heimat mehr. Bei Remarque bleiben die Ex-Soldaten trotz der Rückkehr in die geliebte

Heimat allein und einsam, bei Borchert bleiben sie dagegen oft draußen, vor der Tür, da es oft

kein Zuhause mehr gibt und die Familien sind tot. Beckmann stellt also einen Heimkehrer dar,

der nach Deutschland zurückkommt und seine Lage der Situation unzähliger anderer

Heimkehrern ähnelt.

»Sein Zuhause – Wohnung, Familie, Arbeitsstätte – existiert häufig nicht mehr, oder es ist

Veränderungen unterworfen gewesen, die den Heimkehrenden 'draußen vor der Tür' stehen

lassen. Für den heimkehrenden Deutschen, der ohne oder mit Überzeugung an einem

Aggressionskrieg teilgenommen hat, dem die Propaganda aber auch eingeimpft hat, er

verteidige damit zugleich die Heimat, wird jetzt bewußt, daß er gar keine Heimat mehr haben

könnte. [...] Dem Soldaten war eingeredet worden, daß er an der Front 'für Deutschland'

kämpfe. Jetzt ist sein 'Deutschland' auf der Straße.«136

Beckmann ist also: Einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach

Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor

der Tür. Ihr Deutschland ist draußen, nachts im Regen, auf der Straße. Das ist ihr

Deutschland.137

136 Winter, www.ingentaconnect.com, erworben am 16.3.2009 137 Borchert, 1949, S. 102

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In der Kurzgeschichte Das ist unser Manifest bekennt sich Borchert zu der Liebe zu seiner

Heimat: … um Deutschland wollen wir nicht sterben. Um Deutschland wollen wir leben.138

5.3.8. Zukunft

Bäumer im Roman Im Westen nichts Neues erklärt, wie die Kameraden versuchen, das

Nachdenken über den Krieg auszuschalten: Das Grauen der Front versinkt, wenn wir ihm den

Rücken kehren... [...] ...wir haben Humor, weil wir sonst kaputt gehen. [...] Aber wir

vergessen nicht! [...] ...all das, was jetzt, solange wir im Kriege sind, versackt in uns wie ein

Stein, wird nach dem Kriege wieder aufwachen, und dann beginnt erst die

Auseinandersetzung auf Leben und Tod. Die Tage, die Wochen, die Jahre hier vorn werden

noch einmal zurückkommen, und unsere toten Kameraden werden dann aufstehen und mit uns

marschieren [...] – gegen wen, gegen wen?139

Bäumer hat also schon im ersten Roman Remarques die Vorahnung für die physischen

Probleme der Kameraden nach dem Krieg geäußert. Im Roman Der Weg zurück kommen

viele Soldaten aus dem ersten Roman als geisterhafte Erscheinungen zurück, in der

Erinnerung von Birkholz, darunter Katczinsky, Kemmerich.

Die Geister der toten Soldaten finden sich auch in der Erinnerung Beckmanns aus Borcherts

Drama Draußen vor der Tür, sie hocken nachts an Betten und lassen Beckmann nicht

vergessen und deshalb kann er nicht schlafen, sondern muss immer wieder schreiend

aufwachen. Auch da kehren seine toten Kameraden, die unter seinem Befehl ihre Leben

verloren haben, in seinen Träumen wieder zurück und lassen ihm keine Seeleneruhe.

Remarque betont oft, die Soldaten seien die Generation ohne Jugend und ohne Zukunft: Der

Krieg hat uns für alles verdorben. [...] Wir sind keine Jugend mehr. Wir wollen die Welt nicht

mehr stürmen. [...] Wir waren achtzehn Jahre und begannen die Welt und das Dasein zu

lieben; wir mußten darauf schießen. Die erste Granate, die einschlug, traf in unser Herz.140

138 Borchert, 1949, S. 313 139 Remarque, 1929, S. 142, 143 140 eben da, S. 91

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Paul Bäumer hat keine Hoffnung auf Zukunft, da er nichts hat, was man ihm noch nehmen

könnte. Keine Hoffnung und keine Erwartungen. Aber er rät, wie es nach dem Krieg sein

würde: Wir werden uns nicht mehr zurechtfinden können. Man wird uns nicht verstehen – [...]

Wir sind überflüssig für uns selbst, wir werden wachsen, einige werden sich anpassen, andere

sich fügen,und viele werden ratlos sein; - die Jahre werden zerrinnen, und schließlich werden

wir zugrunde gehen.141

Die Kameraden im zweiten Roman fragen sich die ganze Zeit, was aus ihnen werden soll,

nach der Rückkehr in die Heimat fühlen sie sich verloren und sie wissen nicht, was sie mit

sich selber anfangen sollen. Nachdem Birkholz so viel Sterben gesehen hat, verlangt er nicht

viel von seinem Leben: Ich will es ja zu nichts bringen, Vater, ich will nur leben. [...] Ich

kann mir mit dem besten Willen nicht vorstellen, dass ich sechzig Jahre alt werde. Ich habe zu

viele Menschen mit zwanzig sterben sehen.142

Damit ist die Stimmung der ganzen Generation wiedergegeben, alle haben ihre Kameraden

jung sterben gesehen.

Birkholz in dem Roman Der Weg zurück gelingt es allmählich, die vorkriegszeitliche

Vergangenheit zu bewältigen. Er schreit eine Hoffnung an die Kinder aus: Da stehe ich vor

euch, ein Befleckter, ein Schuldiger, und müsste euch bitten: bleibt wie ihr seid und lasst das

warme Licht der Kindheit nicht zur Stichflamme des Hasses mißbrauchen! Um eure Stirnen

ist noch der Hauch der Unschuld – wie kann ich euch da lehren wollen! Hinter mir jagen

noch die blutigen Schatten der Vergangenheit – wie kann ich mich da zwischen euch wagen?

Muss ich nicht selbst erst wieder ein Mensch werden?143

Ernst erkennt, dass er die Kraft nur aus sich selber schöpfen muss, um weiter machen zu

können. Er nimmt Abschied von der ehemaligen Freundin Adele und denkt, er nehme nicht

nur Abschied von ihr, sondern auch „von allem Früheren“: ...ich habe an alle Türen meiner

Jugend geklopft und wollte wieder hinein [...] und es mir so gewünscht hatte, zu vergessen... –

doch jetzt erkenne ich, dass ein stiller, schweigender Krieg auch in dieser Landschaft der

Erinnerung gewütet hat, und dass es sinnlos von mir wäre, weiter zu suchen. Die Zeit steht

141 Remarque, 1929, S. 286, 287 142 Remarque, 1931, S. 236, 237 143 ebenda, S. 232

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dazwischen wie eine breite Kluft, ich kann nicht zurück, es gibt nichts anderes mehr, ich muss

vorwärts, marschieren, irgendwohin, denn ich habe noch kein Ziel.144

Er erkennt, dass der Weg zurück nur vorwärts führt.

Die Antworten sind nach Borchert nicht in einer bestehenden Religion oder herrschenden

Weltanschauung zu suchen, auch nicht bei den Übergeordneten, sondern nur in der eigenen

Kraft und im Lebenswillen. Sie muss als persönliche Leistung gewonnen werden. Der Dichter

bekennt sich zu einer kompromisslosen Moral, die eine neue Orientierung im

Wahrheitsbegriff findet. Der einzige Ausweg, den Beckmann als Repräsentanten der

verlorenen Generation noch übrig hat, ist, seine eigene Hoffnung zu finden, sich entschieden,

wie er selbst weiterleben möchte.145

Borchert forderte in seinem Werk mehr als nur literarische Teilnahme, er wollte

Entscheidungen, Stellungsnahmen erzwingen. Unsere Gefühls- und Emfindungswelt wird

nicht unmittelbar angesprochen, aber durch das Verschweigen hervorgelockt. Figuren,

Charaktere entwickeln sich nicht und doch können wir von einem einheilichen Charakter, von

einer geradlinigen, dramatisch auf einen Schluss hindrängenden Handlung bei jeder

Geschichte Borcherts reden. Aber das Ende ist kein Ausgang, keine Lösung. Wir werden aus

der Spannung nicht entlassen, immer neue Beziehungen zwischen scheinbar Beziehungslosem

gehen auf, als sollten wir aus den Brüchstücken menschlicher Existenz doch den Kosmos

bauen. Und genau das stellte sich als die Aufgabe der verlorenen Generation aus. Ihnen sind

nichts als Brüchstücke ihrer Welt geblieben und es lag an ihnen, eine neue Welt zu bauen, aus

sich selber neue Hoffnung zu schöpfen und ins Nichts immer wieder ein Ja bauen.146

Borchert bekennt sich deutlich zu einer Zukunft und obwohl er sich als Nihilisten bezeichnet,

erwächst gerade daraus schon die Überwindung des Nihilismus, denn er ist überzeugt, dass er

in das Nichts ein Ja bauen muss und kann. So negativ das Lebensgefühl Wolfgang Borcherts

auch erscheinen mag, in der Besinnung des Menschen auf seine eigenen Kräfte liegt eine

einzigartige Möglichkeit, für eine bessere Zukunft zu leben, die der Mensch allerdings selbst

hervorbringen muss.147

144 Remarque, 1931, S. 178 145 vgl. hierzu: Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, S. 115 146 vgl. hierzu: ebenda, S. 114, 115 147 vgl. hierzu: ebenda

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6. SCHLUSS

Remarque erklärte in einem Interview: „Die Schwierigkeit mit dem Krieg ist, dass die Leute,

die ihn wollen, nicht erwarten, in ihm zu sterben. Und die Schwierigkeit mit unserer

Erinnerung ist, dass sie vergisst und verschönert und verfälscht, um zu überleben. Sie

verändert den Tod zu einem Abenteuer, wenn der Tod dich verfehlt. Aber der Tod ist kein

Abenteuer; und Töten ist der Zweck des Krieges, nicht Überleben.“148

Remarques Anti-Kriegsroman Im Westen nichts Neues war die Reportage des Alltags des

Krieges, die eine Anklage erhob, die in allen Ländern verstanden werden konnte und die dem

Buch einen internationalen Riesenerfolg bereitete.

Im Westen nichts Neues ist zwar ein Buch über die Nachkriegszeit und die späte Weimarer

Republik, doch sein Titel und seine vom Verlag zugeschriebene Aussage sind zum zeit- und

kontextlosen Symbol für die Sinnlosigkeit des Krieges geworden. Es ist zu befürchten, dass

auch das neu begonnene 21. Jahrhundert in den von Remarque angesprochenen Fragen, in

anderen Regionen der Welt und in anderen Formen des Krieges, Bürgerkrieges oder

Terrorkrieges, sich kaum vom 20. Jahrhundert unterscheiden dürfte. In dieser Situation kann

die Botschaft des »militanten Pazifisten« Erich Maria Remarque als Potential für das 21.

Jahrhundert einzusetzen, um Bewusstseinsveränderungen für jede Generation neu zu

erkämpfen.149

Anti-Kriegsromane wurden schon vor 1930 als kriegsbejahende Romane interpretiert. Die

Intention wurde entwertet und was nicht in Vergessenheit geraten sollte, wurde durch das

falsche Propaganda aus dem Gedächtnis des Volkes gelöscht. Das Grauen aus dem Ersten

Weltkrieg war verblasst und der grauenvolle Tod der unzähligen Frontsoldaten ins Heldentum

umgewandelt. So wurde eine ideale Grundlage für den Zweiten Weltkrieg erschaffen. Der

Zweite Weltkrieg verursachte dagegen eine grausame Erschütterung, die moderne Technik

war für noch mehr Massenvernichtung als im Ersten Weltkrieg verantwortlich und die Zahlen

der Opfer stiegen diesmal noch mehr als zuvor ins Unvorstellbare. Und diesmal war es umso

schwerer, über die Kriegserfahrung hinwegzukommen, die äußere und innere Vernichtung

war total.

148 Schneider, www.ingentaconnect.com, erworben am 16.3.2009 149 ebenda

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Und diesmal waren sich die Autoren bewusst: man darf es nie wieder vergessen. Die

Kriegsliteratur ist deshalb heute noch aktuell, man kann die Massenerfahrung auch an

heutigen Beispielen aus den Krisenzonen verwenden.

Remarque und Borchert wussten es: man sollte daraus lernen. Die moderne Technik ist heute

höher entwickelt denn je und der Ausmaß der Katastrophe wäre unvorstellbar. Darum wollten

sie in ihren Werken warnen und eine über die Zeit hinweg reichende Botschaft hinterlassen:

... wenn ihr nicht NEIN sagt. 150

Das waren die letzten Worte, die Borchert in seinem Leben schrieb. In ihnen erschöpfte sich

seine letzte Kraft. Nach diesem „NEIN!“ konnte er endlich zurücksinken in die letzte Ruhe.

Er hatte alles getan, was er zu tun vermochte. Und das war weit, weit mehr, als viele andere

getan haben. Wo Borchert „NEIN“ schrie, haben andere geschwiegen. Und schweigen heute

noch. „Das dickste Zivilleben“, vielleicht eine der erschütterndsten Konsequenzen des

Nachkriegsdaseins, durch illusionistischen Wohlstand bequem wattiert gegen Schrecken der

Vergangenheit und Drohungen der Zukunft, scheint gefährlicher zu sein, als jene mit

grausamer wissenschaftlicher Logik entwickelten Superbomben, weil es die Voraussetzungen

für die Anwendung dieser Bomben schafft – oder zumindest nicht abschafft.151

Als Wolfgang Borchert 1947 davonging, hatte er für sich, für seine Generation, für seine Zeit

Gültiges und Bleibendes gesagt. Furchtlos und besessen von einer Mut zur Unbedingtheit, die

Bewunderung, aber auch Entsetzen erregte. Sein Leben, Denken und Schreiben galt der

Wahrheit. Borcherts Stimme ist in keinem dieser Jahre verstummt, sie ist weit über

Deutschlands Grenzen hinausgedrungen.

So bitter, hart und düster Borcherts Sätze oft klingen, hinter jeder Anklage, jedem Notschrei,

jedem Fluch leuchtet unauslöschlich die Liebe zum Dasein. Borchert war um das Beste des

Lebens betrogen worden. Doch was für ihn galt, galt für Millionen. Auch für sie litt er. Und

für sie stritt er. So wuchs alles bei ihm aus dem Persönlichen ins Allgemeine.

Borchert sagte häufiger Ja, als es den Nihilisten und Neinsagern immer angehängt wird. Nein

sagte er lediglich dort, wo es angebracht und nötig war: Nein zu Krieg; Nein zu Verstecken

vor der Verantwortung; Nein zu denen, die andere draußen vor der Tür lassen.152

150 Borchert, 1949, S. 321 151 vgl. hierzu: Meyer-Marwitz, 1957, S. 345 152 vgl. hierzu: http://www.staff.uni-mainz.de/willi/docs/schule/ausstellungen/borchert.htm, 2008

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Beide Autoren stellen in ihren Werken die schrecklichen Folgen des Krieges vor, doch beide

schildern eine klare Bekenntnis zu einer optimistischen Zukunft. Die Reaktionen der

verlorenen Generation zeigte, dass sie noch Hoffnung hatte, dass noch Leben in ihren Herzen

strömte. Und deswegen bliebt das Werk von Borchert und Remarque noch Jahrzehnte nach

dem letzten Weltkrieg aktuell, solange es Machtmissbrauch gibt.

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7. LITERATURVERZEICHNIS

Primärliteratur:

- Borchert, W., 1949, Das Gesamtwerk, Hamburg: Rowohlt Verlag;

- Borchert, W., 1956, Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen, Hamburg:

Rowohlt Taschenbuch Verlag;

- Borchert, W., 1967, Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem

Nachlaß, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Verlag;

- Remarque, E. M., 1929, Im Westen nichts Neues, Berlin: Propyläen-Verlag;

- Remarque, E. M., 1931, Der Weg zurück, Berlin: Propyläen-Verlag;

Sekundärliteratur:

- Erzählungen der Gegenwart V, 1972, Frankfurt am Main: Hirschgraben-Verlag;

- Interpretationen zu Wolfgang Borchert, 1962, München: R. Oldenbourg Verlag;

- Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg, S. 217-232,

Amsterdam: Rodopi;

- War: the cause of a lost generation, Seminararbeit, erworben im Februar 2009, von:

http://schoolsucks.com/War-the-cause-of-a-lost-generation/1293.html;

- Baumann, B. und Oberle, B., 1985, Deutsche Literatur in Epochen, München: Max

Hueber Verlag;

- Baumer, F., 1976, E. M. Remarque, Köpfe des XX. Jahrhunderts, Berlin: Colloquium

Verlag;

- Bock, C., 2007, Er war die Stimme der Kriegskinder, Offenburger Tageblatt, 20.

November 2007

- Durzak, M., 1989, Die Kunst der Kurzgeschichte, München: Wilhelm Fink Verag;

- Glaser, H., 1962, Wege der deutschen Literatur, Berlin – Darmstadt – Wien: Deutsche

Buch-Gemeinschaft;

- Gumtau, H., 1969, Wolfgang Borchert, Köpfe des XX. Jahrhunderts, Band 55, Berlin:

Colloquium Verlag Otto H. Hess;

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- Lätzel, M., 2001, Wo wohnt der liebe Gott? Im Graben, im Graben! Über Wolfgang

Borchert, erworben am 16.3.2009, von: http://www.phil.uni-

sb.de/projekte/imprimatur/2002/imp020107.html;

- Lukacs, G., 1955, Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur, Berlin:

Aufbau Verlag;

- Martini, F., 1972, Deutsche Literaturgeschichte: von den Anfängen bis zur Gegenwart,

Stuttgart: Alfred Kröner Verlag;

- Rühmkorf, P., 1961, Wolfgang Borchert, Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag;

- Schlosser, H. D., 1985, DTV Atlas zur deutschen Literatur, Tafeln und Texte,

München: Deutscher Taschenbuch Verlag;

- Schneider, T. F., Krieg ist Krieg schließlich. Erich Maria Remarque: Im Westen nichts

Neues (1928), erworben am 16.3.2009, von: www.ingentaconnect.com;

- Süselbeck, J., 2002, Gestohlene Jugend. Hans-Gerd Winters Sammelband über den

Schriftstellernachwuchs nach 1945, erworben am: 16.3.2009, von:

www.literaturkritik.de, Nr. 11, November 2002;

- Slezáková, I., 2007, Heimkehrerproblematik im Zeitraum nach dem Ersten und

Zweiten Weltkrieg in den Literarischen Werke Erich Maria Remarques, Heinrich

Bölls und Wolfgang Borcherts, Diplomarbeit, Brno: Masaryk Universität;

- Wagener, H., Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues – Zeit zu leben und

Zeit zu sterben: Ein Autor, zwei Weltkriege, erworben am 16.3.2009, von:

www.ingentaconnect.com;

- Westphalen, T., 2006, 20 Jahre Erich Maria Remarque Gesellschaft in Osnabrück.

Eine Stadt und ihr weltberühmter Autor im Bewusstseinswandel von zwei

Jahrzehnten. Erich Maria Remarque Jahrbuch 16, 96 – 113, erworben am: 16.3.2009:

http://www.remarque-gesellschaft.de/extras/Sonderdruck_20_Jahre_EMR-G.pdf;

- Willson, L. A., 1972, Beckmann, der Ertrinkende. Zu Wolfgang Borcherts Draußen

vor der Tür. In: Akzente. 19. 1972. S. 466 – 479;

- Winter H.-G., Du kommst, und niemand will dich haben. Heimkehrertexte der

unmittelbaren Nachkriegszeit, erworben am 16.3.2009, von:

www.ingentaconnect.com;

- Žmegač, V., 1994, Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur

Gegenwart, Band III/1, 1918-1945, Weinheim: Beltz Athenäum Verlag;

- Žmegač, V., 1994, Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur

Gegenwart, Band III/2, 1945-1980, Weinheim: Beltz Athenäum Verlag;

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- Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur, Januar 2001, Heft 149, Erich Maria Remarque,

München: Richard Boorberg Verlag:

� John W. Chambers II / Thomas F. Schneider, »Im Westen nichts Neues« und das Bild

des »modernen« Krieges, S. 8 – 15

� Brian Murdoch, Vorwärts auf dem Weg zurück. Kriegsende und Nachkriegszeit bei

Erich Maria Remarque, S. 19 – 28

� Thomas F. Schneider, Erich Maria Remarque – Kurzbiografie in Daten, S. 79 – 92;

- http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/BorchertWolfgang/, erworben am

16.3.2009;

- http://www.geschichte.2me.net/bio/cethegus/b/borchert.html, erworben am 16.3.2009;

- http://www.denk-an-mich.de/Biography/Wolfgang_Borchert.htm, erworben am

16.3.2009;

- http://www.utexas.edu/ftp/courses/swaffar/distance/chron.htm, erworben am

16.3.2009;

- http://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Borchert, erworben am 16.3.2009;

- http://www.ceryx.de/literatur/borchert_wolfgang.htm, erworben am 16.3.2009;

- http://www.raffiniert.ch/sborchert.html, erworben am 16.3.2009;

- http:// borchert.magiers.de/, erworben am16.3.2009;

- http://www.remarque.de/, erworben am16.3.2009;

- http://www.remarque.uos.de/internet.htm, erworben am 16.3.2009.

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