6
Öffentliche Bibliotheken müssen ihre Rolle neu überden- ken. Als Orte des Lernens, der Inspiration und der Unter- haltung wird es ihnen wohl am besten gelingen, sich den unterschiedlichen Herausforderungen des 21. Jahrhun- derts zu stellen. Bei den Bibliothekaren gibt es viele Mythen über Architekten und auch viele traumatische Erlebnisse. Ich bezweifle, ob es umgekehrt derartige Mythen gibt. In jedem Fall sind Bibliothe- kare weitaus mehr von Architekten abhängig, als es die Architek- ten von den Bibliothekaren sind. Lassen Sie mich mit einigen Aussagen beginnen, die zwar provokativ klingen mögen, aber keineswegs so gemeint sind: Gute Architektur ist für Bibliothe- ken klarerweise unabdingbar. Aber sie ist nicht das Wichtigste. Man kann sehr gute Bibliotheken in schlechten Gebäuden fin- den, aber auch schlechte Bibliotheken in sehr guten Gebäuden. Der Grund dafür – und davon bin ich überzeugt – ist, dass das Herzstück einer Bibliothek weder die Architektur noch die Innengestaltung, ja noch nicht einmal das Buch selbst ist. Im Herzen der Bibliothek steht der Bibliothekar in seiner Rolle als Berater des Benutzers. Drei bedeutende Herausforderungen an die Bibliothek des 21. Jahrhunderts Gute Architektur berücksichtigt die Bedürfnisse der Benutzer. Das in den letzten Jahren enorm gestiegene Interesse an Biblio- theksarchitektur rührt daher, dass sich die Bedürfnisse der Benutzer in der Informationsgesellschaft laufend verändern. Im Bibliothekswesen machen wir gerade eine Art Paradigmenwech- sel durch, indem wir uns von einer Industrie- in eine Informati- onsgesellschaft umwandeln – mit Informationstechnologien, die es uns ermöglichen, den Zugang zur Information in einer Art und Weise in unseren Alltag zu integrieren, wie es uns nie zuvor mög- lich gewesen ist. Und das ist die erste große Herausforderung an das Bibliotheks- wesen des 21. Jahrhunderts: den elektronischen Zugang zu relevanter Information zu gewähren und ihn in den Alltag zu integrieren. Wir haben heute eine Situation erreicht, in der wir fast immer nur ein paar Schritte und ein paar Klicks vom Inter- net entfernt sind, vom Zugang zu Artikeln, Enzyklopädien, Fotos, Musik etc. Büchereiperspektiven 01/04 6 Die Bibliothek der Zukunft Hybrid, virtuell oder real? Autor: Jens Thorhauge Die königliche Bibliothek in Kopenhagen, von den Kopenhagenern liebevoll „Black Diamond“ genannt Foto: Königliche Bibliothek Kopenhagen

Die Bibliothek der Zukunft - Büchereiverband Österreichs · 2005-04-01 · Bedürfnisse der Bürger der Informationsgesellschaft eingeht. Wollte ich provozieren, so würde ich sagen,

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Die Bibliothek der Zukunft - Büchereiverband Österreichs · 2005-04-01 · Bedürfnisse der Bürger der Informationsgesellschaft eingeht. Wollte ich provozieren, so würde ich sagen,

Öffentliche Bibliotheken müssen ihre Rolle neu überden-

ken. Als Orte des Lernens, der Inspiration und der Unter-

haltung wird es ihnen wohl am besten gelingen, sich den

unterschiedlichen Herausforderungen des 21. Jahrhun-

derts zu stellen.

Bei den Bibliothekaren gibt es viele Mythen über Architekten

und auch viele traumatische Erlebnisse. Ich bezweifle, ob es

umgekehrt derartige Mythen gibt. In jedem Fall sind Bibliothe-

kare weitaus mehr von Architekten abhängig, als es die Architek-

ten von den Bibliothekaren sind. Lassen Sie mich mit einigen

Aussagen beginnen, die zwar provokativ klingen mögen, aber

keineswegs so gemeint sind: Gute Architektur ist für Bibliothe-

ken klarerweise unabdingbar. Aber sie ist nicht das Wichtigste.

Man kann sehr gute Bibliotheken in schlechten Gebäuden fin-

den, aber auch schlechte Bibliotheken in sehr guten Gebäuden.

Der Grund dafür – und davon bin ich überzeugt – ist, dass das

Herzstück einer Bibliothek weder die Architektur noch die

Innengestaltung, ja noch nicht einmal das Buch selbst ist. Im

Herzen der Bibliothek steht der Bibliothekar in seiner Rolle als

Berater des Benutzers.

Drei bedeutende Herausforderungen an die Bibliothek des 21. Jahrhunderts

Gute Architektur berücksichtigt die Bedürfnisse der Benutzer.

Das in den letzten Jahren enorm gestiegene Interesse an Biblio-

theksarchitektur rührt daher, dass sich die Bedürfnisse der

Benutzer in der Informationsgesellschaft laufend verändern. Im

Bibliothekswesen machen wir gerade eine Art Paradigmenwech-

sel durch, indem wir uns von einer Industrie- in eine Informati-

onsgesellschaft umwandeln – mit Informationstechnologien, die

es uns ermöglichen, den Zugang zur Information in einer Art und

Weise in unseren Alltag zu integrieren, wie es uns nie zuvor mög-

lich gewesen ist.

Und das ist die erste große Herausforderung an das Bibliotheks-

wesen des 21. Jahrhunderts: den elektronischen Zugang zu

relevanter Information zu gewähren und ihn in den Alltag zu

integrieren. Wir haben heute eine Situation erreicht, in der wir

fast immer nur ein paar Schritte und ein paar Klicks vom Inter-

net entfernt sind, vom Zugang zu Artikeln, Enzyklopädien,

Fotos, Musik etc.

cher

eipe

rspe

ktiv

en01/04

6

Die Bibliothek der Zukunft

Hybrid, virtuell oder real?

Autor: Jens Thorhauge

Die königliche Bibliothek in Kopenhagen, von den Kopenhagenern liebevoll „Black Diamond“ genannt

Fo

to:

nig

lich

e B

iblio

thek

Ko

pen

hag

en

Page 2: Die Bibliothek der Zukunft - Büchereiverband Österreichs · 2005-04-01 · Bedürfnisse der Bürger der Informationsgesellschaft eingeht. Wollte ich provozieren, so würde ich sagen,

Die zweite Herausforderung ist, dass wir den Auswirkungen des

verstärkten Zugangs zu digitalen Medien Rechnung tragen müs-

sen. Wir müssen einen neuen, realen Bibliotheksraum schaffen

und das Konzept einer Bibliothek als reinem Lagerraum verwer-

fen. Wir müssen dem Trend Rechnung tragen, dass digitale Quel-

len immer mehr zu einer Sache globaler Kooperation werden,

während gleichzeitig die realen Bibliotheken immer lokalspezi-

fischer werden, um die speziellen Bedürfnisse der Bürger zufrie-

den zu stellen. Natürlich besuchen wir eine Öffentliche Biblio-

thek, um neue Bücher und andere Medien zu sehen. Aber wir tun

dies auch, um zu lernen, um an kulturellen Veranstaltungen teil-

zunehmen oder um einfach Zeitung zu lesen. Nur selten gehen

wir dorthin, um in den riesigen alten Sammlungen zu stöbern.

Hie und da fragen wir nach einem speziellen alten Titel – und wir

erhalten ihn. Aber wir brauchen nicht mehr in jeder Bibliothek

große Sammlungsbestände.

Die dritte große Herausforderung an das Bibliothekswesen ist

die Entwicklung neuer Standards für den Beruf des Bibliothe-

kars. Diese Herausforderung zielt primär darauf ab, den unter-

schiedlichen Bedürfnissen der Nutzer in einer aktiveren Art und

Weise zu entsprechen.

Klarerweise geht es hier vor allem um die zweite Herausforde-

rung: d.h. darum, eine Bibliothek zu schaffen, die auf die

Bedürfnisse der Bürger der Informationsgesellschaft eingeht.

Wollte ich provozieren, so würde ich sagen, dass – angenommen,

es gäbe in der Zukunft nur einen einzigen Bibliothekstypus – es

meiner Meinung nach der virtuelle wäre. Das rührt daher, dass

die Funktion der Bibliothek in der Geschichte dieselbe geblie-

ben ist; nämlich die, einen Zugang zur Information zu gewähren

– natürlich unter den unterschiedlichsten Bedingungen und für

verschiedenste Zielgruppen.

Von der mittelalterlichen Bibliothek bis heute beobachten wir

eine klare Tendenz, wie Zug um Zug der Zugang zu Information

ausgeweitet wurde: von einer Elite (Kirche und Hof) zu den

Gelehrten, dem Bürgertum, der Arbeiterschaft bis hin zu den

Kindern. Schritt für Schritt wurde der Zugang zur Information

demokratischer und leichter zugänglich. Offensichtlich bewegen

wir uns auf die Personalisierung der Bibliotheksdienste zu, mit

individuellen Benutzerprofilen und Benachrichtigungssystemen.

Diese Funktion eines „Zugangs zur Information“ wird in Zukunft

möglicherweise immer stärker auf digitaler/virtueller Ebene

erfüllt werden; bis hin zu einer Situation, in der man „die Infor-

mation erhält, wenn man sie sich vorstellen kann“. Das heißt

also, wenn man sein Informationsbedürfnis artikulieren kann,

wird es auch erfüllt.

Trotzdem glaube ich nicht, dass wir in näherer Zukunft allein auf

digitale Bibliotheken angewiesen sein werden. Noch immer gibt

es viele Informationsquellen in den traditionellen Bibliotheken,

die nicht digitalisiert werden. Und es wird auch weiterhin einen

Bedarf an neuen Büchern geben, die Romane und andere lineare

Texte enthalten. Worauf ich eigentlich hinaus will ist, dass wir,

solange wir auf die gegenwärtig bekannten Technologien ange-

wiesen sind, auch reale Bibliotheken haben werden. Und zwar in

einer Form, die wir üblicherweise als Hybrid bezeichnen, wo also

virtuelle und herkömmliche Quellen einander ergänzen. Deshalb

sollten die Planer von Bibliotheken die Tatsache nicht negieren,

dass Nutzer digitaler Bibliotheken unter Umständen regelmäßig

individuell betreut werden sollten. In der ganzen westlichen Welt

heißen die neuen Felder im wissenschaftlichen Bibliothekssek-

tor E-Learning und E-Publishing. Elektronische Nachschlage-

werke und andere Hilfsdienste mit verschiedensten Expertisen

und Profilen werden in den nächsten Jahren unabdingbar sein.

Wie nahe sind wir einer digitalen Zukunft?

Wie sich jeder hier wohl bewusst ist, verläuft die Entwicklung der

Bibliotheken in Europa sehr uneinheitlich. So kann auch die

Frage „Wie nahe sind wir einer digitalen Zukunft?“ nur differen-

ziert beantwortet werden. Doch ist diese Frage von äußerst gro-

ßer Relevanz. Lassen Sie mich Ihnen deshalb einen ganz kurzen

Überblick über die Situation in Dänemark geben. Wir verfügen

heute bereits über eine gut funktionierende digitale Forschungs-

datenbank. Diese basiert auf einer Vernetzung der Bibliotheken

und steht Studierenden und Forschern zur Verfügung, vor allem

mittels eines Proxy-Servers, der den Zugang zu Journalen und

anderen Quellen ermöglicht (Dänische Elektronische For-

schungsbibliothek). Bei einem Drittel aller Entlehnungen im wis-

senschaftlichen Bibliothekssektor handelt es sich heute bereits

um heruntergeladene Daten.

Es gibt ein landesweites Bibliothekssystem (http://www.biblio-

tek.dk), mit dessen Hilfe jede Art von Medium, das von einer

öffentlichen oder einer Forschungsbibliothek angekauft wird,

gesucht, reserviert und angefordert werden kann. Abholen kann

man es dann bei jeder beliebigen Bibliothek. Wir sind jetzt kurz

vor dem Abschluss eines Vertrages mit der Urheberrechtsorga-

nisation, um Bibliotheken die Möglichkeit einzuräumen, Artikel

und Teile von Büchern zu digitalisieren und sie per E-Mail direkt

an den Endverbraucher zu senden. Öffentliche Bibliotheken

cher

eipe

rspe

ktiv

en01/04

7

Bibliotheksbauten als kultur- und bildungspolitische Signale THEMA

Page 3: Die Bibliothek der Zukunft - Büchereiverband Österreichs · 2005-04-01 · Bedürfnisse der Bürger der Informationsgesellschaft eingeht. Wollte ich provozieren, so würde ich sagen,

experimentieren mit Digitalentlehnungen von Musik und elektro-

nischen Büchern. Wir haben ein nationales elektronisches Nach-

schlageservice, eine große Anzahl themenbezogener Portale

sowie spezielle Informationsangebote. Tag für Tag nehmen die

digitalen Bibliotheksdienste zu.

Was aber bleibt dann den traditionellen Bibliotheken? Ermögli-

chen die Bibliotheken den elektronischen Zugang zu Musik,

Videos, Nachschlagediensten, Enzyklopädien, Wörterbüchern

und Fachschriften, dann bleiben nur noch kulturgeschichtliche

und längere lineare Texte. Dies wäre ausreichend für ein

Museum, nicht aber für eine Bibliothek, da deren Hauptaktivi-

tät ja, wie zuvor bereits erwähnt, in der Gewährung des Informa-

tionszugangs liegt. Aber Bibliotheken scheinen sich zu weit mehr

zu entwickeln. Denn selbst wenn die elektronischen Zugangs-

möglichkeiten immer ausgereifter werden, so liegt das große

Plus doch darin, dass man in einer Bibliothek den Bibliothekar

persönlich antreffen kann – genauso wie man auf kulturhistori-

sche Vorträge, auf neue Bücher und andere reale und virtuelle

Medien treffen kann. Die Bibliothek wird vielleicht mehr zu

einem Schauraum, andererseits könnte sie ja auch ein Ort zum

Lernen oder für kulturelle Veranstaltungen sein, so wie dies

bereits seit einigen Jahren in vielen Bibliotheken der Fall ist. Es

gib eine Fülle an Möglichkeiten. Dennoch meint der britische

Forscher Peter Brophy in „The library in the 21st century“

(2001): „Die Fähigkeit Möglichkeiten wahrzunehmen und auf

Beispiele hinzuweisen, bedeutet nicht automatisch, dass Biblio-

theken notwendigerweise einen zentralen Platz in der zukünfti-

gen Gesellschaft einnehmen werden. Denn dieser Platz muss

erst verdient werden. Und es sind die Bibliothekare, die ihn

erobern werden müssen.“

Ich bin überzeugt, dass dieser Punkt – nämlich, dass man sich in

Zukunft den Platz erst wird verdienen müssen – für viele Insti-

tutionen und Organisationen von Relevanz ist. Bibliotheken

können natürlich auch darunter sein.

Deshalb lautet die nächste Frage: Wie verdienen wir uns diesen

Platz? Auf einer allgemeinen Ebene ist die Antwort darauf mit

jener des vergangenen Jahrzehnts ident: Indem wir unseren

Nutzern einen Mehrwert bieten. Allerdings sind die Bedingun-

gen, unter denen wir dies tun müssen, härter als zuvor. Der Wett-

bewerb ist beängstigend und die Zugangsmöglichkeiten zu

Informationen zahllos. Deshalb müssen wir neue Funktionen ent-

wickeln und neue Bedürf-

nisse befriedigen. Ein guter

Beweggrund, neue Modelle

anzuwenden, könnte jener

sein, dass der virtuelle Zugang technisch zwar sehr gut sein mag,

dadurch aber nicht unbedingt alle menschlichen Wünsche erfüllt

werden können. Wir brauchen Orte der Begegnung, der Inspira-

tion, Orte, wo wir lernen oder uns unterhalten lassen können.

Ray Oldenburg beschreibt in „The Great Good Place“ (1989)

Orte, die er als „dritte Orte“ bezeichnet (wobei der „erste Ort”

das Zuhause und der „zweite“ der Arbeitsplatz ist). Oldenburg

zufolge sind diese „dritten Orte“ aus einer Vielzahl von Gründen

extrem wichtig für eine Gemeinschaft. Sie sind unverwechsel-

bare, informelle Treffpunkte. Die Bürger fühlen sich dort wohl.

Sie begünstigen zwischenmenschliche Beziehungen und vielfäl-

tigen Kontakt mit anderen. Sie schaffen ein Zusammengehörig-

keitsgefühl. Sie erzeugen (staats-)bürgerlichen Stolz. Sie eröff-

nen die Möglichkeit, plötzlich auf einen „Schatz“ zu stoßen.

Bibliotheken haben ein außergewöhnliches Potential als „dritte

Orte“, denn sie eignen sich zum Lernen, als Ort der Inspiration

und Unterhaltung. Eine der jüngsten europäischen Antworten

auf die Frage nach der Funktion Öffentlicher Bibliotheken gibt

das so genannte Pulman-Projekt. In diesem Projekt werden vier

Gebiete bzw. Nebenfunktionen der Öffentlichen Bibliothek

unterschieden: Demokratie und Bürgerrechte, lebenslanges Ler-

nen, wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie Unterstüt-

zung und Förderung der kulturellen Vielfalt. Man könnte es auch

so ausdrücken, dass die Öffentliche Bibliothek ein Ort sein sollte,

cher

eipe

rspe

ktiv

en01/04

8

THEMA Bibliotheksbauten als kultur- und bildungspolitische Signale

Die Öffentliche Bibliothekvon Sundby bei KopenhagenF

oto

: M

ark

An

der

sen

Page 4: Die Bibliothek der Zukunft - Büchereiverband Österreichs · 2005-04-01 · Bedürfnisse der Bürger der Informationsgesellschaft eingeht. Wollte ich provozieren, so würde ich sagen,

der dem Leben des Einzelnen einen Mehrwert verleiht – sei er

nun ein informierter Bürger, ein lebenslang Lernender, jemand,

der nach neuen Kompetenzen und Erkenntnissen sucht oder

jemand, der sich immer gern von einem neuen Buch, von Musik

oder von Kulturerbe inspirieren lässt. Die Öffentliche Bibliothek

ist der am besten geeignete „dritte Ort“ der Zukunft. Sie ist der

ideale Ort, um andere zu treffen, um zu lernen, nachzudenken,

sich zu entspannen oder um sich inspirieren zu lassen. Die Werte,

auf denen die Bibliothek basiert, sind relativ stabil: Demokratie,

Aufklärung, Humanismus, das Hochhalten des Rechts auf Infor-

mation, persönliche Entwicklung, Erkenntnis und Überblick. Der

in der Praxis wahrscheinlich wichtigste Wert der Öffentlichen

Bibliothek ist die neutrale und ausgeglichene Basis, von der aus

sie jedem den Zugang ermöglicht: Jeder kann der Bibliothek ver-

trauen und sie konsultieren.

Künftige Anforderungen an die Öffentliche Bibliothek

Eine Bibliothek so zu planen, dass sie künftigen Anforderungen

gerecht wird, zählt natürlich zu einer der kompliziertesten und

anspruchsvollsten Aufgaben. Ich werde in diesem Zusammen-

hang nur einige Themen aufgreifen und erläutern. Zunächst

einige Anmerkungen zur Beziehung zwischen Form und Inhalt –

Architektur und Bibliothek. Betrachten wir einige außergewöhn-

lich gut gelungene Gebäude der letzten zehn Jahre, so sehen wir,

dass einige deshalb so herausragend sind, weil sie den Gebäu-

dezweck reflektieren und präsentieren.

Norman Forsters Umgestaltung des Berliner Reichstags drückt

das Ideal der Offenheit von Demokratie aus – nicht bloß durch

die transparente Kuppel, sondern insbesondere dadurch, dass

man von außen in das Parlament einsieht und so die Abstimmun-

gen mitverfolgen kann.

Frank Gehrys Guggenheim Art Museum in Bilbao lässt das tra-

ditionelle Gebäudekonzept ganz hinter sich und führt etwas ein,

das an organische Strukturen erinnert, das Kreativität und

künstlerischen Mut ausdrückt. Ein etwas weniger extremes Bei-

spiel ist die Königliche Bibliothek in Kopenhagen – „The Black

Diamond“. Auch sie lässt von außen vermuten, was sie ist: eine

riesengroße Schatzkiste, sicher und verschlossen. Vom Wasser

aus aber kann man sie einsehen und erahnen, welche Schätze

sich in ihr befinden. Sollten Bibliotheksbetreiber künftig Ambi-

tionen haben, Gebäude zu errichten, die wirklich auch vom

architektonischen Standpunkt herausragend sind (bzw. sollten

die Politiker im Namen der Bibliotheken diese Ambitionen

haben), dann sollte man versuchen, jenen Architekten nachzu-

eifern, die diesbezüglich bereits Geschichte geschrieben haben

(Foto Seite 6).

Da es aber in Europa schätzungsweise mehr als 100 000 Biblio-

theken gibt, können nicht alle einen Foster oder einem Libeskind

engagieren. Und da derzeit gerade viele neue Bibliotheken ent-

stehen, verfügen wir über einige grundlegende Erfahrungen, die

relativ offensichtlich sind. Ein zentraler Standort in der Stadt ist

wesentlich, ebenso die Nähe guter öffentlicher Verkehrsverbin-

dungen und Parkmöglichkeiten – er muss leicht erreichbar sein.

Und man sollte sich dort wohlfühlen können: Die Architektur

sollte ansprechend, wenn möglich einzigartig sein; sie sollte die

Werte der Bibliothek repräsentieren, d.h. Zugangsmöglichkei-

ten, Bürgerrechte, Gemeinde und Gemein-

schaft, Dialog, kritische Reflektion, Inspira-

tion. Eine gute Idee wäre vielleicht, die

Bibliothek mit anderen adäquaten Aktivi-

tätszentren zu verbinden, z. B. mit Buchlä-

den, Musikgeschäften, Galerien, Kinos und

Cafés.

Allgemeine Empfehlungen hinsichtlich der

Innengestaltung sind am schwierigsten zu

geben. Hier aber zumindest ein paar: Man

sollte sich leicht zurechtfinden und einen

Überblick erhalten können. Eine klare Prä-

sentation der Vielzahl an Möglichkeiten ist

immer schon eine Herausforderung für

Bibliotheken gewesen. Denken Sie an die

Flexibilität: Regale auf Rollen, verschieb-

cher

eipe

rspe

ktiv

en01/04

9

Bibliotheksbauten als kultur- und bildungspolitische Signale THEMA

Eine Öffentliche Bibliothek im Schwimmbad: Haraldslund in Aalborg

Fo

to:

Nils

Lu

nd

Der

der

sen

Page 5: Die Bibliothek der Zukunft - Büchereiverband Österreichs · 2005-04-01 · Bedürfnisse der Bürger der Informationsgesellschaft eingeht. Wollte ich provozieren, so würde ich sagen,

bare Wände. Und am wichtigsten: Planen Sie unterschiedliche

Räume ein. Mein Vorschlag wären Räume zur Präsentation inspi-

rierender Medien und für Ausstellungen, Orte zum Lernen und

für Workshops, attraktive Treffpunkte wie z. B. gute Cafés, und

schließlich Plätze zum Nachdenken und Reflektieren. Man

könnte aber genauso gut an Arbeits-, Kommunikations- und

Spielplätze denken. Meine primäre Sorge hinsichtlich der Innen-

gestaltung ist, dass die Hauptaufgabe künftiger Bibliotheken

nicht darin bestehen kann, ihre Räume allein der Aufbewahrung

der Sammlungen zu widmen. Vielmehr sollte man andere Lösun-

gen suchen, die eher den Bedürfnissen der Benutzer entspre-

chen.

Hinsichtlich der Organisation beinhalten die allgemeinen Emp-

fehlungen Schlagworte wie das Netzwerkbilden und Kooperie-

ren mit relevanten Institutionen (Bildung, Kulturerbe), Klubs,

Benutzern, Wirtschaftstreibenden. Vielleicht organisieren Sie

eine beratende VIP-Gruppe, um die Unterstützung wichtiger

Ressourcen Ihrer Gemeinde zu bekommen? Um Innovationen zu

fördern, können Sie permanent mit Mitarbeitern arbeiten, die

nur für die Projektdauer engagiert sind – zumindest ließe dies

eine laufende Entwicklung zu. Kindern und Jugendlichen

höchste Priorität einzuräumen, wäre für die meisten Bibliothe-

ken klug.

Drei dänische Beispiele für lokale Bibliotheksprofile

Die primäre Herausforderung besteht darin, Modelle für lokale

Bibliotheken zu finden. Diese sollten berücksichtigen, dass

einige herkömmliche Bibliotheksdienste bereits über das Inter-

net verfügbar sind oder es bald sein werden. Daraus folgt, dass

es nicht notwendig ist, diese Bibliotheken als lokale Version

einer Hauptbibliothek zu konzipieren. Anstatt darüber nachzu-

denken, wie Bibliotheken früher einmal waren, sollte man darü-

ber nachdenken, wie Bibliotheken einen Mehrwert in das Leben

der Bürger bringen können. Lassen Sie mich Ihnen drei verschie-

dene Beispiele geben, die Sie näher betrachten können, wenn

Sie nach Dänemark kommen.

Skanderborg – die Kleinstadt

Skanderborg ist eine Kleinstadt mit 12 500 Einwohnern, in einem

Bezirk mit insgesamt etwa 21 000 Einwohnern, wobei der Rest

in kleinen Dörfern lebt. Die eher traditionelle Öffentliche Biblio-

thek der Stadt wurde umgestaltet. Zusätzlich wurde ein neues

Gebäude errichtet, das eine Multifunktionshalle beheimatet, die

für Kino, Konzerte, Theater und Konferenzen genutzt werden

kann. Es gibt auch ein sehr gutes Café, in dem man sogar spei-

sen kann, und es gibt Sitzungsräumlichkeiten (die auch vom Bür-

germeister und dem Rathaus genutzt werden). Das Konzept der

Bibliothek ist in gewisser Hinsicht ein traditionelles. Die gesamte

Institution wird von der Bibliothek betrieben – ausgenommen

das Café. Nur die Kulturprogramme, die Veranstaltungen, Kon-

zerte usw. werden von ehrenamtlichen Mitarbeitern in Koopera-

tion mit der Bibliothek als Managementstütze organisiert und

durchgeführt. Bei dem Konzept handelt es sich also um ein mul-

tifunktionales Zentrum, das gemeinsam von geschultem Perso-

nal und Freiwilligen betrieben wird, wobei die Veranstaltungs-

dichte bemerkenswert ist. Die Bibliothek befindet sich am bes-

ten Platz der Stadt und überragt einen wunderschönen See. Die

Bibliothek ist so zum Gemeindezentrum geworden, das jeder

besucht und in dem die verschiedensten Aktivitäten für Kinder,

Eltern, ältere Menschen etc. stattfinden.

Bibliothekszweigstelle und Schwimmbäder in der Pro-

vinzhauptstadt Aalborg

Mein zweites Beispiel (Foto Seite 9) befindet sich in Aalborg,

einer Provinzhauptstadt mit etwa 120 000 Einwohnern, in einem

ehemaligen Arbeiterbezirk. Hier wurden zwei Institutionen zum

Vorteil beider zusammengelegt und integriert. Eine alte Biblio-

thekszweigstelle, ausgelegt nach dem Konzept einer Miniatur-

hauptbibliothek – mit zuwenig Platz, zu vielen alten Büchern

und einem schlechten Standort –, wurde geschlossen. Zur glei-

chen Zeit wurde die Renovierung der örtlichen Schwimmbäder

notwendig. Daher entschied man sich zur Errichtung eines

neuen Komplexes mit einer Bibliothek, einem Fitnesszentrum

und Schwimmbädern mit Glaswänden zwischen Pool und Biblio-

thek. Ein neues Bibliotheksprofil wurde erstellt mit Schwerpunkt

auf Sportliteratur, Informations- und Kommunikationstechnolo-

gien, guten Internetverbindungen, Tageszeitungen, Zeitschrif-

ten, den neuesten Romanen und Sachbüchern. Heute gibt es im

Eingangsbereich des Schwimmbades Internet-Terminals, Tages-

zeitungen, Zeitschriften sowie eine angenehme Atmosphäre und

Platz zum Entspannen und Plaudern. Die echte Sensation aber

ist, dass durch die Zusammenlegung der beiden Institutionen

(mit demselben Budget wie vorher) die Öffnungszeiten wesent-

lich ausgeweitet werden konnten: werktags von 6.00 bis 22.00

Uhr. Das Service wurde deutlich verbessert und die Zahl der

Benutzer ist innerhalb eines Jahres um 30 % gestiegen. Der

Punkt war, dass eine allgemeine Zweigstellenbibliothek nicht die

Bedürfnisse der Besucher erfüllte – die Bewohner dieses Stadt-

teils waren nicht mehr Arbeiter, sondern Studenten und junge

cher

eipe

rspe

ktiv

en01/04

10

THEMA Bibliotheksbauten als kultur- und bildungspolitische Signale

Page 6: Die Bibliothek der Zukunft - Büchereiverband Österreichs · 2005-04-01 · Bedürfnisse der Bürger der Informationsgesellschaft eingeht. Wollte ich provozieren, so würde ich sagen,

Leute. Und da die Hauptbibliothek der Stadt weniger als drei

Kilometer von diesem Standort entfernt lag, war es offensicht-

lich, dass man das traditionelle Profil ändern musste, wobei die-

ses in einer neuen Art aus dem „drittem“ Ort resultierte.

Nachbarschaftszentrum in Kopenhagen

Mein drittes Beispiel ist ein Nachbarschaftszentrum in Jemte-

landsgade, einem multikulturellen Stadtteil von Kopenhagen.

Der Stadtteil zählt zu einem der schäbigsten Kopenhagens, voll

verlassener Industrieanlagen und kleiner Wohnhäuser, errichtet

gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Hier leben 16 000 Menschen,

viele mit einer anderen ethnischen Herkunft als der dänischen.

Das Gebiet wurde Ziel systematischer Anstrengungen, das

Stadtbild zu verschönern. Und zwar durch die Renovierung von

Gebäuden, die Umgestaltung hässlicher Parkplätze in schöne

Plätze und durch das Austauschen langweiliger Fastfood-Shops

zugunsten einladender Cafés. Das Nachbarschaftszentrum

befindet sich in einem alten Industriebau. Personal und Haupt-

aktivitäten hängen mit der Bibliothekszweigstelle im Haus

zusammen. Aber das Entlehnen von Büchern scheint in Relation

zu den anderen Gemeinschaftsaktivitäten eine eher nebensäch-

liche Rolle zu spielen: einander treffen, lernen, sich informieren,

Hilfe finden beim Lösen diverser Alltagsprobleme, bei den Haus-

aufgaben, beim Dänisch lernen, beim Versuch, den dänischen

Arbeitsmarkt und andere schwierige Themen durchblicken. Die

Bibliothek arbeitet eng und partnerschaftlich mit lokalen Projek-

ten und Organisationen zusammen, um viele verschiedene Akti-

vitäten anbieten zu können.

Vom architektonischen Standpunkt aus ist ein Detail besonders

interessant: Es wurde vor allem das Gebäudeinnere umgestaltet.

Allerdings wurde ein riesiger Glaskasten angebaut, der nun als

Besprechungsraum dient. Entscheidend ist natürlich seine Trans-

parenz. So wie im Fall des Berliner Reichstags handelt es sich um

einen Ort, der offen ist und auch jedem offen steht: „Komm zu

uns!“ ist das Signal (Foto Seite 8).

Meine drei Beispiele sollten optimistisch stimmen. Es gibt eine

Zukunft für die Bibliothek. Sie kann sich einen Platz erobern.

Aber nur dann, wenn es gelingt, ihre Rolle für den jeweiligen Ort

zu identifizieren, sie den Bedürfnissen der Bevölkerung anzu-

passen und sie in einen ansprechenden „dritten Ort“ zu verwan-

deln.

cher

eipe

rspe

ktiv

en01/04

11

Jens Thorhauge: Generaldirektor der

Dänischen Nationalbehörde für Bibliotheken.

1971–1977 Dozent an der Universität Aarhus, Institut

für vergleichende Literaturwissenschaften; 1975–1989

außerordentlicher Professor für Literaturgeschichte

an der Königlichen Schule für Bibliothekswesen,

Zweigstelle Aalborg; 1989–1995 Leiter des Institutes für

Betriebsberatung und berufliche Weiterbildung an der

Königlichen Schule für Bibliothekswesen, Kopenhagen;

1995–1997 Geschäftsführer des Dänischen

Bibliotheksverbandes. Internationale Tätigkeiten:

Seit 1990 Mitglied des ständigen Komitees für

Bibliothekstheorie und -forschung der IFLA,

Projektmanager der EU-Studie über Europäische Bib-

liotheken in der Informationsgesellschaft.

Projektgutachter für die Europäische Kommission.

Die Öffentliche Bibliothek Skanderborg liegt als multifunktionales Kulturzentrum am besten Platz der Stadt

Fo

to:

Lar

s Las

sen