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Verlag disserta Die Fünf Meister aus Sichuan (Sichuan wu junzi) Die Posthermetischen Lyriker Bai Hua, Zhang Zao, Zhong Ming, Ouyang Jianghe und Zhai Yongming Alexandra Leipold

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Verlagdisserta

Die Fünf Meister aus Sichuan

(Sichuan wu junzi)

Die Posthermetischen Lyriker Bai Hua, Zhang Zao,

Zhong Ming, Ouyang Jianghe und Zhai Yongming

Alexandra Leipold

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Alexandra Leipold

Die Fünf Meister aus Sichuan (Sichuan wu junzi)

Die Posthermetischen Lyriker Bai Hua, Zhang Zao, Zhong Ming, Ouyang Jianghe und Zhai Yongming

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Leipold, Alexandra: Die Fünf Meister aus Sichuan (Sichuan wu junzi): Die Posthermetischen Lyriker Bai Hua, Zhang Zao, Zhong Ming, Ouyang Jianghe und Zhai Yongming, Hamburg, disserta Verlag, 2011 ISBN: 978-3-942109-63-5Druck: disserta Verlag, ein Imprint der Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2011 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtes.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden und der Verlag, die Autoren oder Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für evtl. verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.

© disserta Verlag, ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH http://www.disserta-verlag.de, Hamburg 2011 Hergestellt in Deutschland

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Die Fünf Meister aus Sichuan (Sichuan wu junzi)

Die Posthermetischen Lyriker Bai Hua, Zhang Zao, Zhong Ming, Ouyang Jianghe und Zhai Yongming

Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde

der Philosophischen Fakultät

der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität

zu Bonn

vorgelegt von Alexandra Leipold M. A.

aus München

Bonn 2010

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Gedruckt mit der Genehmigung der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Zusammensetzung der Prüfungskommission: Prof. Dr. Peter Schwieger: Vorsitzender Prof. Dr. Wolfgang Kubin (Betreuer und Gutachter) Prof. Dr. Thomas Zimmer (Gutachter) Prof. Dr. Stephan Conermann (weiteres prüfungsberechtigtes Mitglied) Tag der mündlichen Prüfung: 4. Oktober 2010

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Für Gustav

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„Die begehrte Schönheit des Pendels bewegt sich unablässig zwischen Kafkas Einzelhandel und einer ‚Sinologie in der Westentasche’.“

Ouyang Jianghe

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Allgemeine Hinweise Zur Transkription chinesischer Orts- und Personennamen wie auch der Buchtitel und einzelner zitierter Textpasssagen wurde durchgängig das Hanyu-Pinyin-System verwendet. Bei Zitaten, die aus der nicht-chinesischen Sekundärliteratur übernommen wurden, habe ich die Schreibweise dem o.g. System angeglichen, wenn auch in den bibliographischen Hinweisen die jeweilige Originaltranskription nicht angetastet wurde. Sofern nicht anders angegeben, wird die abgekürzte Form (jianti) der Schriftzeichen auch für die Publikationen außerhalb der VR China beibehalten. Sämtliche chinesische Namen, Orte und Begriffe können dem Glossar am Ende der Arbeit entnommen werden. Die chinesischen Originaltexte aller wichtigen erwähnten sowie vollständig zitierten Gedichte sind im Anhang abgedruckt. Die Übersetzungen der Gedichte sind, wenn nicht anders angegeben, von der Verfasserin dieser Arbeit vorgenommen worden.

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Vorwort…………………………………………………………………...…..8 I. EINLEITUNG.....................................................................................................9

1. ERKENNTNISINTERESSE.............................................................................12 2. VORGEHENSWEISE ....................................................................................14 3. FORSCHUNGSSTAND..................................................................................18

II. HISTORISCHER RÜCKBLICK..........................................................................20

1. VORWORT .................................................................................................20 2. KRITERIEN FÜR EINE MODERNE CHINESISCHE DICHTUNG ..........................22 2.1 DER DICHTER FENG ZHI (1905–1993) ...........................................29 2.2 DER DICHTER DAI WANGSHU (1905–1950)...............................32 3. DAS ENDE DER EMANZIPATION: DIE FORDERUNG NACH VEREINHEITLICHUNG. DIE ZEIT ZWISCHEN 1938 UND 1976..........................36 3.1 DIE KULTURREVOLUTION .......................................................................42 3.2 DIE WUNDENLITERATUR.........................................................................44 4. DER LYRISCHE NEUANFANG: DIE HERMETISCHE DICHTUNG (MENGLONG SHI)............................................49

III. DIE POSTHERMETISCHE DICHTUNG (HOU MENGLONG SHII) .........................52

1. ENTSTEHUNG, STRÖMUNGEN UND GRUPPIERUNGEN.................................52 2. SICHUAN: PROVINZ DER DICHTER UND DIE DICHTUNG DES SÜDENS. MUTMAßUNGEN & CAPRICCIOS ....................................................................56

3. DER 4. JUNI 1989 UND SEINE FOLGEN.......................................................60 IV. DIE FÜNF MEISTER AUS SICHUAN (SICHUAN WU JUNZI ) BAI HUA, ZHANG ZAO, ZHONG MING, OUYANG JIANGHE UND ZHAI YONGMING ......................................................................................61

1. BAI HUA: INNERLICHKEIT ALS BRÜCKE ZWISCHEN ZWEI WIRKLICHKEITEN..........................................................................................61

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2. DIE DICHTUNG ZHANG ZAOS: EXIL UND ENTFREMDUNG IN DER LYRIK ZHANG ZAOS ALS ÜBUNG DER DESTABILISIERUNG.......................................81 3. ZHONG MING: EIN VISIONÄR – KOMPLEXITÄT, INHALT UND ÄSTHETIK ...95 4. DAS WERK OUYANG JIANGHES: VISION ODER BESTRAFUNG DER INSPIRATION?..............................................................................................111 5. ZHAI YONGMING. DIE VERWANDLUNG EINER FRAU: VON DER NACHT ZUM TAG – WAS IM DUNKELN FLATTERT MUSS NICHT IMMER „FLEDERMAUS“ HEIßEN. DIE NEUE SELBSTIRONIE IM LYRISCHEN SPRECHEN ZHAI YONGMINGS .......126

V. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK.........................................................145 VI. CHINESISCHE VERSIONEN DER ZITIERTEN GEDICHTE ...............................152 VII. BIBLIOGRAPHIE .......................................................................................186

A LITERATUR IN CHINESISCHER SPRACHE...................................................186 1. PRIMÄRLITERATUR DER FÜNF MEISTER AUS SICHUAN..............................186 2. SEKUNDÄRLITERATUR.............................................................................188 B LITERATUR IN WESTLICHEN SPRACHEN ...................................................191 4. LEXIKA UND NACHSCHLAGEWERKE........................................................201 5. WÖRTERBÜCHER.....................................................................................202

VIII. GLOSSAR WICHTIGER BEGRIFFE.............................................................202 IX. GLOSSAR DER CHINESISCHEN NAMEN ......................................................206

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Vorwort Die vorliegende Dissertation wurde im Sommersemester 2010 am Sinologischen Institut der Rheinischen Friedrich-Willhelms-Universität Bonn zur Promotion angenommen. Besonderer Dank gilt an dieser Stelle der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., ohne deren Förderung diese Arbeit nicht geschrieben worden wäre. Darüber hinaus danke ich vor allem meinem Doktorvater Wolfgang Kubin, der die Entstehung der Arbeit in jeder Phase kritisch begleitet und motivierend unterstützt hat. Den weiteren Mitgliedern der Prüfungskommission, Thomas Zimmer, Stephan Conermann und Peter Schwieger, sei ebenfalls herzlich gedankt. Folgenden Personen möchte ich für ihre Unterstützung danken: Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn danke ich für den mir ermöglichten Zugang zu den Bibliotheksräumen auch außerhalb der Öffnungszeiten. Maghiel van Crevel und Michael Day haben wichtige Hinweise und Anregungen gegeben. Susanne Adamsky und Rita Nemeth danke ich für die Möglichkeit, meine Arbeit im Rahmen des DoktorandInnen-Treffens an der Rhenischen Friedrich-Willhelms-Unisversität vorstellen und diskutieren zu können. Für fachlichen Rat und freundschaftliche Unterstützung danke ich Richeza Herrmann, Silvia Egger, Alexander Huber, Hanna Kessler und Elmar Knobel. Besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle Caroline Lodemann für ihre Freundschaft und den steten, damit verbundenen Gedankenaustausch aussprechen. Meinen Eltern möchte ich für das mir entgegengebrachte Vertrauen danken, meinem Vater ganz speziell für seine Unterstützung bei computerrelevanten Fragen. Meinem Mann Thorsten Willmann danke ich für seine Zeit, seine Geduld und seinen unermüdlichen Zuspruch. Die kritische Lektüre des Manuskripts hat Susanne Adamyksy übernommen. Dafür sei ihr herzlich gedankt. Mirjam Meuser hat schließlich dazu beigetragen, dass die Arbeit zu einem guten Abschluss gebracht werden konnte.

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I. EINLEITUNG Ein Überblick über die chinesische Dichtung des 20. Jahrhunderts verdeutlicht, dass seit Beginn der 1980er-Jahre in der Volksrepublik China (VRC) eine neue Generation von Dichtern und Dichterinnen begonnen hat ihre lyrische Stimme zu erheben: Die Posthermetiker (hou menglong shiren). Diese neue Generation ist auch unter Namen wie die „Dritte Generation“ (san dai ren), „Neugeborene Generation“ (xinsheng dai) oder die „Dichtung der zweiten Strömung“ (di erdai shihu) bekannt geworden. So können die zahlreichen lyrischen Gruppierungen innerhalb dieser Generation zwar anhand stilistischer bzw. inhaltlicher Merkmale voneinander abgegrenzt werden, nicht selten jedoch liegt ihre lyrische Affinität in einem gemeinsamen Freundeskreis begründet. So auch bei den Fünf Meistern aus Sichuan, die eine der wichtigsten Gruppen innerhalb der zeitgenössischen chinesischen Lyrik darstellen. Zu ihr gehören die Dichter Bai Hua (geb. 1956), Zhang Zao (1962-2010), Zhong Ming (geb. 1953), Ouyang Jianghe (geb. 1956) und Zhai Yongming (geb. 1955). Diese Gruppe vereint nicht nur langjährige Freundschaften und gemeinsame Wurzeln in Südchina, sondern vor allem der Gedanke der „Intellektualisierung einer metaphysischen Innerlichkeit“. 1 Alle fünf Dichter streben es an, eine gefühlsbetonte, elegante, reife und gleichzeitig experimentelle Dichtung zu schreiben. Sie betonen laut eigener Aussage vor allem „die Innerlichkeit und Intellektualität, angereichert durch die Bewusstheit von kultureller Tradition“2 als Grundlage ihres lyrischen Schaffens. Mit dieser Aussage folgen sie einem Anspruch, der „statt auf Inspiration, Eingebung oder spontane Erhellung auf Reflexion und den Ausdruck gereifter Erkenntnis setzt“3 und repräsentieren damit eine der beiden Hauptströmungen, die sich bis in die heutige Zeit hinein entwickelt haben.4

1 ZHANG ZAO: „Zeitgenössische chinesische Lyrik und Sprachbewusstsein. Betrachtungen zum metapoetischen Verfahren der Postobskuren Lyrik“, in: Orientierungen. Zeitschrift zur Kultur Asiens, hrsg. von Berthold Damhäuser & Wolfgang Kubin, München: edition global, 2/1996, S. 63–81, hier S. 74. 2 ZHANG ZAO: Auf der Suche nach poetischer Modernität: Die neue Lyrik Chinas nach 1919. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Philosophie, Tübingen 2004, S. 215. 3 Ebd. 4 Zu ihnen gehören neben den Fünf Meistern aus Sichuan die Dichter Chen Dongdong

(geb. 1961), Lu Yimin (geb. 1962), Xi Chuan (geb. 1963) und Song Lin (geb. 1959). Sie werden von der Literaturkritik als „intellektuelle Dichter“ (zhishi fenzi

shiren) bezeichnet. Die andere Stilrichtung wird repräsentiert von der Gruppe Tamen ( , Nanjing, März 1985) sowie der Chengduer Gruppe Feifei ( „Nicht-Nichtsein“). Die Vertreter dieser beiden letztgenannten Gruppen werden als „Alltagsdichter“ (shenghuo shiren) oder auch als „Umgangssprache-Dichter“ (kouyu shiren) bezeichnet. Vgl. MICHAEL DAY: Chinas Second World of Poetry – The Sichuan Avant-Garde 1982–1992. Leiden University, Amsterdam: Digital Archive for Chinese Studies (Dachs), http://leiden.dachs–archive.org/poetry/md.html (PDF-download, eingesehen Januar 2009), 2005.

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Die Fünf Meister aus Sichuan sind nicht nur mit der eigenen Tradition, der literarischen Moderne Chinas sowie der chinesischen Gegenwartsliteratur vertraut, sondern besitzen darüber hinaus reiche Kenntnisse hinsichtlich der gesamten Weltliteratur. Ihre Heimatverbundenheit zu Südchina spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle wie das Chinesische als sprachliche Heimat im globalen Kontext. Wichtige Merkmale dieser sprachlichen Zugehörigkeit finden sich in Begriffen wie Tradition, Transzendenz und Dekadenz, Gelassenheit und sprachlicher Raffinesse.5 Viele ihrer lyrischen Werke können daher auch unter einer „daoistischen Dimension, die die integrale Verbindung von Leben und Tod, von Leben und Kunst“6 zu ästhetisieren beabsichtigt, gesehen werden. Den lyrischen Neuanfang sehen die Fünf Meister aus Sichuan in der seit 1979 veränderten politischen Situation, in den gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen und vor allem in der Sprache selbst begründet.7 Ihr Schwerpunkt liegt in der für die Posthermetiker so typischen Auffassung einer Autonomie, die „allein durch die Sprache und nicht durch den Inhalt eines Gedichtes realisiert“8 werden kann. Wo für ihre Vorgänger, die Hermetiker (menglong shiren), „immer wieder der Rückgriff auf den Humanismus und die differenzierte Bedeutung des Menschlichen, die Stärkung des Gefühlsausdrucks, das Streben nach dem Gefühl geistiger Freiheit, die Bewahrung des Optimismus inmitten aller Zweifel und der Versuch, dem traurigen Bewusstsein der Entfremdung zu widerstehen“ 9 elementar blieb, ist für die folgende Epoche vor allem der

5 Wichtige Anmerkungen hierzu sind zu finden in XIAO KAIYU: „Nanfang shi – putong de guancha, chuaice he suixiang (Die Poesie des Südens: Gewöhnliche Beobachtungen, Mutmaßungen und Capriccios)“, in Huacheng 5/1997, S. 198–208, hier S. 201; RAFFAEL KELLER: Poesie des Südens. Eine vergleichende Studie zur chinesischen Lyrik der Gegenwart. Bochum: Projekt Verlag, 2000, S. 74 und CHENG GUANGWEI: Zhongguo dangdai shige shi (Die Geschichte der zeitgenössischen chinesischen Dichtung). Peking: Renmin Daxue Chubanshe, 2003. 6 ZHANG ZAO 2004, S. 213. 7 Die Posthermetiker sehen sich einerseits in unmittelbarer Nachfolge zu ihren berühmten Vorgängern, den Hermetikern (menglong shiren) – zu ihnen gehören die weltbekannten Autoren Bei Dao (geb. 1949), Gu Cheng (1956–1993), Yang Lian (geb. 1955) und Shu Ting (geb. 1952) u.a. – bekennen sich andererseits jedoch vehement zu einem lyrischen Neuanfang. Vgl. hierzu z. B. TANG XIAODU: Zhongguo shiyan shixuan (Experimentelle chinesische Lyrik), Shenyang: Chunfeng Wenyi Chubanshe, 1994b. 8 Ebd. 9 TANG XIAODU: Tang Xiaodu shixue lunji (Tang Xiaodu über die Dichtung). Peking: Zhongguo Shehui Kexue Chubanshe, 2001, S. 77. Zur Dichtung der Hermetiker vgl. MICHELLE YEH: Modern Chinese Poetry: Theory and Practice since 1917. New Haven & London: Yale University Press. 1991; MAGHIEL VAN CREVEL: Language Shattered. Contemporary Chinese Poetry and Duo Duo. Leiden (NL): CNWS Publications, Research School, 1996; WOLFGANG KUBIN: Bei Dao – Notizen vom Sonnenstaat. Gedichte. München: Hanser, 1991 und BONNIE MCDOUGALL & KAM LOUIE: The Literature of China in the 20th Century. New York: Columbia University Press. 1997, hier v.a. S. 421–440. Zur

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Pluralismus, die Individualität, die künstlerische Freiheit und die Betonung des Ästhetischen charakteristisch. Weder steht die Situation des Einzelnen noch die der gesamten Gesellschaft mehr im Mittelpunkt, da sich nun der Fokus verstärkt auf das kreative Selbst, das Schreiben, die Dichtung, ihre Sprache und deren Situation zu richten beginnt. Aus diesem Grund steht für viele Posthermetiker besonders die Auseinandersetzung mit dem eigenen lyrischen Sprechen im Vordergrund. So lassen sie neben der vermehrten Konzentration auf das Private und das Alltägliche vor allem das eigene Sprachbewusstsein zum Mittelpunkt ihres Interesses werden. Diese neue Grundtendenz lässt sich zu Beginn der 1980er-Jahre nicht nur in den vielen verschiedenen lyrischen Strömungen und Stilen erkennen, sondern sie ist es, die bis heute die chinesische Literaturszene nachhaltig beeinflusst. 10 Damit ist die selbstständige Entwicklung neuer dichterischer Ausdrucksformen fern der politisch vorgegebenen Ideologie für die heutige Generation als charakteristisch, und die daraus resultierende Frage nach dem „Wie“ des dichterischen Schreibens als wesentlich anzusehen. In vielerlei Hinsicht bedeutet also die Etablierung der „materiellen Gegenwart von Sprache, die im poetischen Akt eine eigene räumliche Konkretheit erlangen kann“11 das wichtigste Merkmal der Posthermetischen Dichtung. Besonders die Dichter der Gruppe der Fünf Meister aus Sichuan verkörpern mit ihren Forderungen nach einer ästhetischen Neuorientierung, einer gefühlsbetonten, autonomen und autarken Dichtung, eine Abkehr von altbekannten Sichtweisen und politischen Machtstrukturen. Dass sie dies nicht mittels lyrischem Pathos und idealisierten Wertvorstellungen tun, verdanken sie den Erfahrungen ihrer Vorgänger. Dass sie es geschafft haben, ihre Aufmerksamkeit vermehrt auf die ästhetischen Fragen der Dichtung und Kunst zu richten, beweist im Grunde genommen ihre fortwährende Suche nach einer adäquaten 12 lyrischen Sprechweise. Denn, so die Dichterin Zhai Yongming: „Die Frage ist nicht was, sondern wie geschrieben wird und was aus dem Schreiben geworden ist.“ 13 Das kann jedoch wiederum heißen, dass das Schreiben über das Schreiben – als konkreter Akt des Selbstausdrucks – für sie bei Weitem mehr bedeutet, als vorerst anzunehmen ist. Vor allem steht es für eine radikale Abkehr von jeglicher Politisierung, denn, so der Dichter Zhong Ming, „der konsistenteste und tiefste Widerstand [liegt] im rein ästhetisch Begriffserläuterung vgl. HANS PETER HOFFMANN: Gu Cheng – Eine dekonstruktive Studie zur Menglong–Lyrik. Frankfurt am Main: Peter Lang, 1993, S. 80 ff. 10 Vgl. hierzu MAGHIEL VAN CREVEL: Language Shattered, Contemporary Chinese Poetry and Duo Duo. Leiden (NL): CNWS Publications, Research School, 1996, S. 77 ff. 11 ZHANG ZAO 2004, S. 230. 12 Es ist nicht bestimmbar, welche Bedeutung der Begriff „adäquat“ an dieser Stelle hat, da noch unklar ist, wonach die fünf Dichter suchen. Er ist somit in keiner wissenschaftsgerechten Entität zu charakterisieren. 13 SHEN YONG MIKLITZ: „Zhai Yongming“, in: HEINZ LUDWIG ARNOLD (Hrsg.): Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur. 57. Nlg., 1983, München: Edition text und kritik GmbH, 2002, S. 5.

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Formalen, unter bewusstem Verzicht auf die Macht“14. Seiner Meinung nach soll das Gedicht nicht ideologiekritisch, sondern sprachkritisch sein, auch oder gerade unter einem totalitären System. Aus der sprachlichen Selbstreflexion folgt damit nicht nur die Dekonstruktion altbekannter Sichtweisen, sondern auch der Gewinn einer neuen Dimension: der einer paradoxen Autonomie von Sprache.15 Aufgrund anhaltender Skepsis und der Infragestellung hoher Ideale entwickelt sich also ein Trend, der auf metapoetischer Ebene vor allem eines widerspiegelt: die Einsamkeit des Dichters, der sich auf der Suche nach der Realität, der Sprache und der eigenen Identität befindet.16 1. ERKENNTNISINTERESSE In der vorliegenden Studie wird daher der Schwerpunkt auf der Analyse und Interpretation ausgewählter Gedichte der Gruppe der Fünf Meister aus Sichuan liegen. Im Fokus des Interesses steht dabei vor allem ihre Auseinandersetzung mit Sprache und dem lyrischen Sprechen. Das heißt, es soll erörtert werden, welche Fragen sich auf textueller und metatextueller Ebene in ihrer Lyrik als Andeutungen auf ihre Auseinandersetzung mit dem eigenen lyrischen Sprechen erkennen lassen. So können sich z.B. private Symbole, intertextuelle Referenzen oder Metaphern auf allgemeine Problematiken der Poetik beziehen und spiegeln damit möglicherweise Kontroversen zur Adäquatheit des lyrischen Ausdrucks, den Inhalten und Formen von Dichtung, ihrer gesellschaftlichen Relevanz und Angemessenheit wider. Dabei finden sich sprachkritische neben gesellschaftskritischen Fragen ebenso wieder wie Reflexionen über das Leben 14 ZHANG ZAO 2004, S. 213. 15 Vgl. hierzu das Beispiel Zhang Zaos in ZHANG ZAO 2004, S. 240. Hier kommt der Spaziergang durch die Stadt einem Spaziergang durch die Poesie gleich. So erfahren die Dinge eine neue Dimension der Poetisierung und „gewinnen eine merkwürdige, paradoxe Autonomie.“ Viele Posthermetiker sprechen von einer Autonomisierung der Sprache, die ihrer Ansicht nach durch die im Gedicht stattfindende Selbstreflexion auf Metaebene zustande kommt. Diese Vorstellung hat ihre Wurzeln womöglich in der sprachkritischen Suche nach dem adäquaten lyrischen Ausdruck, in dem Wunsch nach Freiheit und nicht zuletzt in der Wiederentdeckung des eigenen Ichs. Denn es ist davon auszugehen, dass der Prozess der Wortsuche zur Überwindung der Sprachlosigkeit im Grunde genommen als Akt des Wieder-aufbaus eines Ich gesehen werden kann, das von der Wirklichkeit und der Gesellschaft geschunden und zerrissen wurde. 16 Es scheint hier einen möglichen Zusammenhang zu geben zwischen der Spätzeit von Diktaturen und einer bestimmten Form des lyrischen Sprechens. So entwickelte sich etwa auch in der DDR-Lyrik der 1980er-Jahre eine Form sprachkritischer, an hermetische Traditionen anknüpfender Lyrik, die sich der Suche nach einer durch staatliche Zwänge schwer beschädigten individuellen Identität verschrieb. Vgl. hierzu JANINE LUDWIG & MIRJAM MEUSER: „In diesem besseren Land - Die Geschichte der DDR-Literatur in vier Generationen engagierter Literaten“, in: JANINE LUDWIG & MIRJAM MEUSER (Hrsg.): Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland. Freiburg im Breisgau 2009, S. 11–71.

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und seine Bedeutung. Es soll der Versuch unternommen werden, diese Aspekte der auf der Metaebene reflektierten Gedanken zur Sprache und zum lyrischen Sprechen herauszufiltern, um am Beispiel der Werke der Fünf Meister aus Sichuan neue Erkenntnisse hinsichtlich der Beschäftigung mit Dichtung und Sprache im China des 21. Jahrhunderts zu gewinnen.17 Daher stehen folgende Fragen im Mittelpunkt der Untersuchungen: Warum findet das Sprechen über das lyrische Sprechen, die eigene Sprache bzw. Sprachlosigkeit gerade in so hohem Maße im Posthermetischen Gedicht statt? Wie sind diese Selbstreflexionen zu deuten? Was will der Autor dem Leser mit der Thematisierung seines eigenen Schreibens sagen? Was für mögliche Konsequenzen sind aus poetologischer Sicht daraus zu ziehen? Was für eine Bedeutung haben diese sprachkritischen Auseinandersetzungen für die chinesische Dichtung im 21. Jahrhundert? Die Werke der Fünf Meister aus Sichuan wurden für die vorliegende Studie als Untersuchungsgegenstand ausgewählt, da sie sich durch einige entscheidende und für die zeitgenössische chinesische Dichtung elementare Punkte auszeichnen. So betont keine andere Gruppe innerhalb der zeitgenössischen chinesischen Dichtung die Kombination aus Innerlichkeit und Intellektualität als gemeinsame Grundlage ihres lyrischen Schaffens als so unerlässlich, wie es die Fünf Meister aus Sichuan tun. Ihrer Ansicht nach basieren alle ihre Werke auf einer reflektierten Haltung und einem starken Kulturbewusstsein; beides sind dies Punkte, die sich immer wieder anhand ihrer Gedichte erkennen lassen. Folglich befassen sich die Fünf Meister aus Sichuan in ihren Werken mit weit mehr als nur der Beschreibung des chinesischen Alltagslebens; wenden sie sich diesem dann doch stellenweise zu, sind ihre Bilder alles andere als trivial. Vielmehr sind die Darstellungen Teil einer der wichtigsten Erscheinungen in ihrer Lyrik: der sprachkritischen Selbstreflexion. Somit liegt zunächst die Bedeutung ihrer Dichtung in der Konfrontation von Sprache mit dem eigenen lyrischen Tun. Daraus könnte wiederum abgeleitet werden, dass ihre Suche nach lyrischem Ausdruck das Resultat einer Schreibkrise ist, die bei näherer Betrachtung als Hinweis auf eine „Krise der Existenz“ 18 gedeutet werden kann. Das Ausschlaggebende daran ist jedoch nicht allein die Erkenntnis dieser Krise, sondern die Möglichkeiten, die die fünf Dichter in ihr und ihrer Überwindung sehen. Daher betrachten es alle fünf Dichter als ihre Aufgabe, jene „offene Ferne“ heraufzubeschwören, „auf die sich die Poesie hinbewegen will, um nicht

17 Neben den Selbstreflexionen im Gedicht, die oftmals nur als indirekte Verweise auf ein ästhetisches oder sprachliches bzw. inhaltliches Problem gedeutet werden können, werden weiterführende Fragen dagegen in den Essays der fünf Dichter bzw. der Literaturkritiker angesprochen. Beide Diskurse, also der metatextuelle (d. i. der Essay) und der metapoetische (d. i. die Selbstreflexion im Gedicht), werden in die Untersuchungen zur vorliegenden Arbeit mit einbezogen. 18 ZHANG ZAO 2004, S. 248.

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nur die wahre Realität zu erkennen […], sondern um sich auch selbst furchtlos mit dem Schreiben zu konfrontieren“.19 In ihren lyrischen und essayistischen Werken setzen sich die Fünf Meister aus Sichuan mit diesen Gedanken, Problemen und Erkenntnissen auseinander und reflektieren darüber, wo die Zukunft des chinesischen Gedichtes liegen könnte. Dass sie dabei auch immer wieder sowohl mit der eigenen Sprachlosigkeit als auch dem jahrzehntelangen Schweigen einer ganzen Nation konfrontiert werden, macht die Sache nicht einfacher, aber interessanter. 2. VORGEHENSWEISE Im ersten Kapitel dieser Studie wird das Werk der Gruppe der Fünf Meister aus Sichuan in den Gesamtkontext der chinesischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts eingeordnet. Dies ermöglicht nicht nur einen Einblick in die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen dieser Zeit, sondern wirft vor allem ein Licht auf die damit verbundenen literarischen Entwicklungen. Denn obgleich die Posthermetische Dichtung als ein lyrischer Neuanfang bezeichnet werden kann, sollten alle vorhergehenden literarischen Entwicklungen seit dem Beginn der literarischen Moderne in China für ihre Entstehung als essentiell und von weit reichender Bedeutung angesehen werden. Dazu zählt die Entstehung der modernen chinesischen Literatur (xiandai wenxue) zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Werke nach 1942 bzw. 1949, die Zeit der Kulturrevolution (KR, wenhua da geming, 1966–1976) sowie die Wundenliteratur (shanghen wenxue) und die Hermetische Dichtung (menglong shi).20 In Kapitel II folgt dann eine kurze Einführung in die Lyrik der Gegenwart sowie die zahlreichen lyrischen Strömungen, die sich seit Beginn der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts in der VR China entwickelt haben. Dieser Abschnitt endet schließlich mit einer Herausstellung der Besonderheiten der Posthermetischen Lyrik. Das vierte Kapitel bildet den Hauptteil der Arbeit und befasst sich ausschließlich mit den Untersuchungen ausgewählter lyrischer Werke der Fünf Meister aus Sichuan. Die Gedichtanalysen basieren auf den chinesischen Originaltexten, die hier in deutscher Übersetzung wiedergegeben sind. In den Interpretationen werden sowohl autobiographische Angaben wie auch persönliche Anmerkungen

19 ZHANG ZAO 2004, S. 248. 20 Durch die Forderungen einer Neuen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielten Formen und Stile der traditionellen chinesischen Literatur fortan keine wichtige Rolle mehr. Der historische Rückblick in der vorliegenden Studie beschränkt sich daher auf das 20. Jahrhundert und die Entstehung der literarischen Moderne in China. Wenn erforderlich, werden natürlich Hinweise zur traditionellen chinesischen Literatur gegeben. Vgl. diesbezüglich z. B. zur Frage des Bruchs bzw. der Synthese zwischen Tradition und Moderne in China MILENA DOLEZEOLOVA-VERINGEROVÁ (Hrsg.): The Chinese Novel at the Turn of the Century. Toronto u.a.: University of Toronto Press, 1980.

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der Dichter verarbeitet. Ebenso dienen Kommentare von chinesischen Literaturkritikern als Stütze. Sowohl hinsichtlich der Vorgehensweise wie auch der Methodik sind hier noch einige Anmerkungen zu machen. Im Vordergrund steht zum einen die Frage, nach welcher literaturwissenschaftlichen Methode die Gedichte der fünf Dichter untersucht werden sollen, da aufgrund ihrer Konzentration auf Sprache und Form, eine Fokussierung auf Kontext und Inhalt als nicht mehr zeitgemäß aufgefasst werden muss. Daher soll hier eine sprachkritische Untersuchung vorgenommen werden, die sich auf die Bewertung und Interpretation der sprachlichen Äußerungen der Fünf Meister aus Sichuan in ihren lyrischen Texten konzentriert. Unter dem Begriff „sprachkritische Untersuchung“ ist in diesem Kontext die Reflexion der Fünf Meister aus Sichuan über ihr eigenes lyrisches Sprechen in ihrer Dichtung sowie die Sprache im Allgemeinen in ihren Essays zu verstehen. Somit können gegebenenfalls jene Aspekte hervorgehoben werden, die eine deutliche Auseinandersetzung mit dem Sprechen und den Diskursen über die Zusammenhänge von Sprache und Denken bzw. der Erkenntnisfähigkeit noch vor der Bedeutung ihres gesellschaftskritischen Bezuges zeitigen. Es geht also vor allem um die Bewertung sprachlicher Äußerungen unter sprachkritischen Kategorien. Denn unterzog man bei der Untersuchung chinesischer Gegenwartslyrik das Werk bis dato einer Analyse nach den altbekannten Kategorien Text (d. i. die Dichtung selbst), Kontext (d. i. der gesellschaftliche, politische und kulturelle Hintergrund) sowie Metatext (d. i. der Diskurs über die Dichtung), lassen sich nun Inhalt und Kontext zu einem gewissen Teil ausklammern.21 Es wäre aber nicht richtig anzunehmen, es gäbe keine Inhalte mehr – denn auch wenn es sie nicht mehr gäbe, könnten sie ja zum Thema des Gedichtes werden – doch sind in der chinesischen Gegenwartslyrik die Orte einer klaren und eindeutigen Aussage kaum mehr zu finden. Vielmehr sind es jetzt die poetischen Schwingungen einer bestimmten Stimmung (qingxu), die sprachlich das zu evozieren versuchen, was der Dichter erlebt hat. Meist vergegenwärtigen diese fragmentartigen Versatzstücke, oftmals nur noch aus bedeutungslosen Sprachelementen bestehend, eine besondere Art des Verfahrens der künstlerischen Verfremdung, deren Aussage eben nur noch hinter den Worten zu finden ist.22 Parallelen zur modernen chinesischen Literatur wie auch 21 Ein Werk, das sich dieser Methode nicht anschliesst ist HANS PETER HOFFMANN: Gu Cheng – Eine dekonstruktive Studie zur Menglong–Lyrik. Frankfurt am Main: Peter Lang, 1993. 22 Zur Orientierung: HUGO FRIEDRICH: Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg: Rowohlt, 1956 und das Nachwort Werner Dürrsons in ARTHUR RIMBAUD: Une Saison en Enfer. Eine Zeit in der Hölle. Stuttgart: Reclam, 1992, S. 99–109. Im Zusammenhang mit der Autonomie des Wortes kann auch der Begriff der „Enthumanisierung“, der von dem Philosophen und Soziologen JOSÉ ORTEGA Y GASSET (1883–1955) durch die Veröffentlichung seines Essays „Die Enthumanisierung der Kunst“ im Jahre 1925 geprägt wurde, gesehen werden. Hierzu schreibt GERM AN KRATCHOWIL in der Zeit vom 12.11.1965, Nr. 46: „Es schmeichelte die sensiblen Künstler in Madrid und Paris, in ihm [d. h. dem Essay] als kalte Strategen einer autonomen Wortwelt Bedeutung zu gewinnen. Der Wert einer Dichtung, schrieb damals

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zur europäischen Dichtung des späten 19. Jahrhunderts können diesbezüglich aufgezeigt werden.23 Zum anderen erfordert ein Blick nach China die Auseinandersetzung mit der Frage, aus welcher Perspektive der zu untersuchende Gegenstand, hier das Werk der Fünf Meister aus Sichuan, wahrgenommen werden soll. So ist es zwar durchaus möglich, den Blickwinkel bis zu einem gewissen Grad zu ändern, um den zu betrachtenden Gegenstand besser einsehen zu können. Ein gänzlicher kultureller Perspektivenwechsel kann dabei jedoch nicht vollzogen werden. Es muss also als unhintergehbare Voraussetzung gelten, dass diese, meine Perspektive immer die des Westens bleiben wird. Folglich resultiert daraus wiederum die Schwierigkeit, dass eine Entscheidung getroffen werden muss, nach welchen Kriterien die ausgesuchten Werke gelesen, analysiert, interpretiert und letztendlich beurteilt werden sollen. Insbesondere aufgrund der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen im China des 20. Jahrhunderts sieht man sich vor die Frage gestellt, was unter dem Begriff der „schönen Literatur“ – von dem hier ausgegangen werden soll – verstanden werden kann. Seitens des Literaturwissenschaftlers Gero von Wilpert wird die schöne Literatur als eine „nicht zweckgebundene und vom Gegenstand ausgehende Mitteilung von Gedanken, Erkenntnissen, Wissen und Problemen mit praktischer Zielsetzung“ definiert, „die aus sich selbst heraus besteht und eine eigene Gegenständlichkeit hervorruft, durch besondere ästhetische Gestaltung des Rohstoffs Sprache zum Sprachkunstwerk wird und in der Dichtung […] ihre höchste Form erreicht.“24 Vor allem die Aspekte der Zweckfreiheit und eigenen Gegenständlichkeit spielen im China der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts sowie ab 1949 eine für die Entwicklung der chinesischen Literatur entscheidende Rolle. Können die Werke von Dichtern wie Dai Wangshu oder Feng Zhi noch als Lorca, wachse […] in dem gleichen Maße, wie sie sich von der gemeinsamen Erfahrungswelt entferne. Noch zwei Jahrzehnte später schrieb Gerard Diego: „Man sagt, es sei Glaube, zu glauben, was wir nicht sahen. Zu glauben, was wir nie sehen werden, das ist Dichtung.““ 23 So ist z. B. die beinahe existentielle Verbundenheit zur Sprache in der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts als das mitunter wichtigste Merkmal der poetischen Moderne zu sehen. Der Hermetismus, die moderne Strömung der italienischen Literatur zwischen 1920–1950, stellte z. B. die Klang- und Gefühlswerte des Wortes vor seine Sinnbedeutung und strebte im Anschluss an die Décadance und Symbolismus des 19. Jahrhunderts nach einer vieldeutigen und magischen Dunkelheit in der Lyrik. Vertreter dieser Richtung waren neben Giuseppe Ungaretti (1888–1970) u. a. Georg Trakl (1887–1914), Gottfried Benn (1886–1956) und Paul Celan (1920–1970). Vgl. GERO VON WILPERT: Sachwörterbuch der Literatur. Alfred Körner Verlag: Stuttgart, 2001, S. 338. Im Zusammenhang mit der modernen Literatur Chinas könnte die Gedichtsammlung „Wilde Gräser“ (Yecao) des Schriftstellers Lu Xun (1881–1936) als Zeichen einer sprachlichen Verbundenheit, die auf sprachkritischem und metapoetischen Wege das eigene Dichten zum Gegenstand macht, interpretiert werden. „Der Prozess des Wortsuchens und Wortsetzens zur Überwindung der Sprachlosigkeit wird hier als Akt des Wiederaufbaus eines Ich betrieben, das von der Wirklichkeit und der Gesellschaft verwundet und zerrissen ist. Lu Xun sucht und setzt Wörter in Yecao, als hinge sein Leben davon ab.“ Siehe ZHANG ZAO 2004, S. 61. 24 WILPERT 2001, S. 470. Definition von „Literatur“, Hervorhebungen durch die Autorin.

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früheste Beispiele einer „schönen Literatur“ verstanden werden, wird die Empfindsamkeit der Schriftsteller kurze Zeit später dazu missbraucht, eine literarische Verantwortung für die Veränderung der Verhältnisse zu übernehmen. Damit wird ihnen vor allem die Möglichkeit genommen, ihre eigene Weltwirklichkeit – auch verfremdend – beschreiben zu können. Die Diskrepanz zwischen individueller Vorstellung von der Wirklichkeit und deren Soll-Zustand korrelierte folglich mit der gesamtchinesischen Problematik, das Alte zugunsten des Neuen ersetzen zu müssen. Eine Literatur für die Partei, d. h. eine Dichtung mit propagandistischer Absicht, wurde gefordert. Folglich ist für eine recht lange Zeitspanne in der chinesischen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts festzustellen, dass das Ziel der Künste nicht mehr in ihrer eigenen künstlerischen Gegenständlichkeit, sondern insbesondere in ihrem Mittel zum Zweck lag. Denn, so der Philosoph Jean Paul Sartre (1905–1980) in Was ist Literatur?:

Ich sage, daß die Literatur einer bestimmten Epoche entfremdet ist, wenn sie nicht zum ausdrücklichen Bewußtsein ihrer Autonomie gelangt ist und sich den zeitlichen Mächten oder einer Ideologie unterwirft, mit einem Wort, wenn sie sich selbst als ein Mittel […] betrachtet.25

25 Siehe JEAN PAUL SARTRE: Was ist Literatur? Hamburg: Rowohlt. 1981, hier S. 117. Im Gegensatz zu Jean Paul Sartres Begriff einer litératur engagée („Schreiben heißt also die Welt enthüllen und sie zugleich der Hingabe des Lesers als eine Aufgabe stellen.“ In: SARTRE 1981, S. 51) spricht WLADIMIR ILJITSCH LENIN (1870–1924) in seinem 1905 veröffentlichten Aufsatz „Parteiorganisation und Parteiliteratur“ eindeutig von einer Parteiliteratur: „Worin besteht nun dieses Prinzip der Parteiliteratur? Nicht nur darin, daß für das sozialistische Proletariat die literarische Tätigkeit keine Quelle des Gewinns von Einzelpersonen oder Gruppen sein darf, sie darf überhaupt keine individuelle Angelegenheit sein, die von der allgemeinen proletarischen Sache unabhängig ist. Nieder mit den parteilosen Literaten! Nieder mit den literarischen Übermenschen! Die literarische Tätigkeit muß zu einem Teil der allgemeinen proletarischen Sache, zu einem ‚Rädchen und Schräubchen’ des einen einheitlichen, großen sozialdemokratischen Mechanismus werden, der von dem ganzen politisch bewußten Vortrupp der ganzen Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt wird. Die literarische Betätigung muß ein Bestandteil der organisierten, planmäßigen, vereinigten sozialdemokratischen Parteiarbeit werden.“ In: WLADIMIR ILJITSCH LENIN: Werke. Bd 10. 1905, S. 29–34. Einzusehen auf www.marxists.org. Vgl. zum Begriff der Propaganda in China auch den Aufsatz von STEFAN LANDSBERGER, in: BRUNHILD STAIGER, STEFAN FRIEDRICH & HANS–WILM SCHÜTTE (Hrsg.): Das große China–Lexikon: Geschichte, Geographie, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Kultur. Veröffentlicht durch das Institut für Asienkunde, Hamburg. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003. S. 590–592. Zur Aufgabe des Schriftsstellers im Sozialismus siehe BIRGIT H. LERMEN: Lyrik aus der DDR. Exemplarische Analysen. München, Wien, Zürich: UTB für Wissenschaft. Uni-Tschenbücher; 1470. 1987, S. 73–74, hier v. a. die Aussagen STEPHAN HERMLINS (eigtl. Rudolf Leder, 1915–1997) zur Kritik der Schriftsteller im Sozialismus: „Wir begreifen nicht, daß eine solche Kritik, sie mag sogar manchmal unbarmherzig aussehen, in Wirklichkeit das tägliche Leben, die tägliche Nahrung des Sozialismus ist. […] Wir sind nicht zufrieden mit dem Erreichten, wenn wir etwas erreicht haben, wollen wir schon etwas ganz anderes. Das ist das Wesen des Sozialismus, daß er immer etwas anderes will, nämlich sich selbst. […] Das ist

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Es ist also davon auszugehen, dass, obgleich die oben gegebene Definition des Begriffs der „schönen Literatur“ als idealisierend aufgefasst werden muss26, ihre Ziele im Verlauf des 20. Jahrhunderts in China in Vergessenheit geraten zu sein scheinen. Bei Vergegenwärtigung dieser Problematik ist auffallend, dass sich die Fünf Meister aus Sichuan nach den einschneidenden Erfahrungen ihrer Vorgänger (d. i. der Hermetiker) mit einzelnen Aspekten dieser Frage wieder auseinanderzusetzen begonnen haben und folglich die ästhetischen Gestaltungsmöglichkeiten von Sprache in ihrer Dichtung erneut in den Vordergrund stellen. 3. FORSCHUNGSSTAND Obgleich in den letzten Jahren einige bemerkenswerte Studien über die Posthermetische Dichtung entstanden sind, bieten die meisten lediglich einen Überblick zu den zahlreichen lyrischen Strömungen, die sich seit Beginn der 1980er-Jahre in der VR China entwickelt haben. Hierzu gehört vor allem die sehr umfangreiche Studie des momentan in Kalifornien lehrenden holländischen Sinologen Michael Day aus dem Jahr 2005 Chinas Second World of Poetry – The Sichuan Avant-Garde 1982–199227 sowie die Arbeit des Übersetzers und Sinologen Raffael Keller Poesie des Südens. Eine vergleichende Studie zur chinesischen Lyrik der Gegenwart aus dem Jahre 2000. Day bemüht sich trotz des großen Umfanges seiner Arbeit, seinen Fokus immer wieder auch auf einzelne Autoren der Posthermetischen Dichtung zu richten und hat folglich viele ihrer Gedichte ins Englische übertragen. Keller dagegen legt mit seiner Studie zur Poesie des Südens ein recht knappes, aber sehr anschauliches und meiner Ansicht nach wegweisendes Werk vor. Eine weitere wichtige Untersuchung stellt die Dissertation des chinesischen Dichters Zhang Zao, Auf der Suche nach poetischer Modernität: Die neue Lyrik Chinas nach 1919, dar. Sie bietet einen Gesamtüberblick über die chinesische Dichtung seit 1919 mit

nichts Fremdes, das ist nichts Entgegengesetztes, es ist sein eigenes Wesen, das er will, und das drückt sich in der Kunst aus“. Zitiert nach LERMEN 1987 in STEPHAN HERMLIN: „Gespräch mit Ulla Hahn im Anschluß an seine Rede vor dem 8. Schrifststellerkongreß der DDR am 30. Mai 1978“, in: Ders.: Aufsätze, Reportagen, Reden, Interviews. Hrsg. v. Ulla Hahn, München/Wien 1980, S. 133–134. 26 Es kann im besten Fall von einem abstrakten Gehalt von Sprache ausgegangen werden (vgl. die Sprachphilosophie), doch muss Sprache zum gleichen Zeitpunkt immer auch als gesellschaftlich wirksames System gesehen werden (vgl. die Soziologie). 27 Die Dissertation sowie weitere biographische Informationen zu einzelnen Dichtern sind lediglich online auf www.dachs–archive.net einsehbar (eingesehen Juli 2009) und liegen der Autorin im PDF-Format vor. Meiner Information zufolge ist die Studie bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht als Buch veröffentlicht worden (Stand: September 2009), sie steht aber in Form einer gebundenen Kopie in der Bibliothek des Sinologischen Seminars der Universität Bonn.

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Schwerpunkt auf der Analyse ausgewählter Werke der Moderne und richtet ihren Fokus auf die jüngsten Entwicklungen der Gegenwart. Die aktuellste Arbeit zur zeitgenössischen chinesischen Dichtung liegt mit Chinese Poetry in Times of Mind, Mayhem and Money des Leidener Sinologen Maghiel van Crevel aus dem Jahre 2008 vor. Diese Studie spiegelt die langjährige und extensive Beschäftigung Crevels mit der aktuellen chinesischen Dichtung wieder und bietet neben zahlreichen Übersetzungen einen sehr guten Überblick über die lyrischen Entwicklungen der letzten Jahre. Darüber hinaus befasst sie sich mit der literarischen Bedeutung neuer Medien (z. B. öffentliche Gedicht-Lesungen in Kombination mit Video-Performances) und den Möglichkeiten und Problemen von literarischen Internetplattformen. 28 Die Sinologin Jean Hong Zhang konzentriert sich in The invention of a discourse: Women’s Poetry from Contemporary China aus dem Jahre 2004 vor allem auf die zeitgenössische Lyrik aus der Feder von Dichterinnen. Sie bringt neue intertextuelle Verflechtungen ans Licht und betont die herausragende Qualität dieser unkonventionellen lyrischen Stimmen. Abgesehen von den bereits genannten Werken gibt es vor allem im deutschsprachigen Raum eine große Anzahl von Einzelstudien zur Posthermetischen Dichtung. Dabei kann insbesondere dem Sinologen, Übersetzer und Lyriker Wolfgang Kubin eine besondere Rolle zugesprochen werden. Kubin befasst sich seit vielen Jahren unter anderem mit der Posthermetischen Dichtung und hat immer wieder versucht, sie anhand von Übersetzungen ausgewählter Autoren einem interessierten Publikum zugänglich zu machen. Sein Interesse gilt besonders der Lyrikerin und Essayistin Zhai Yongming, dem Lyriker Zhang Zao sowie dem Dichter und Denker Ouyang Jianghe.29 Viele ihrer Gedichte sind von ihm nicht nur übersetzt, sondern auch kommentiert und kritisiert worden.30 Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist vor allem die im Jahre 2009 von Wolfgang Kubin und dem chinesischen Dichter und Literaturkritiker Tang Xiaodu (geb. 1954) heraugegebene Anthologie Alles versteht sich auf Verrat, die die chinesische Gegenwartslyrik zum ersten Mal einem breiteren Publikum zugänglich machen soll. Neben Kubins Übersetzungen sind noch diejenigen der Sinologen Karl Rospenk, Raffael Keller, Hans Peter Hoffmann sowie der Sinologin Susanne Göße zu nennen. Mit den Übersetzungen Gößes und Hoffmanns in den Bänden Bai Hua, Zhang Zao, Ouyang Jianghe. Die Glasfabrik. Gedichte chinesisch–deutsch (Göße &

28 Zu diesem Thema liegt mir das bis dato unveröffentlichte Manuskript der Dissertation der amerikanischen Sinologin Heather Inwood, Virtual Practice: Chinese Poetry Online, vor. 29 Vgl. z. B. WOLFGANG KUBIN: Zhai Yongming. Kaffeehauslieder. Gedichte. Bonn: Weidle Verlag, 2004 (d.i.2004a) und DERS.: Zhang Zao. Briefe aus der Zeit. Gedichte. Chinesisch und Deutsch. Aus dem Chinesischen u. m. einem Nachwort versehen von WOLFGANG KUBIN. Eisingen: Heiderhoff Verlag, 1995. 30 Die chinesischen Autoren sind sich darüber sehr wohl bewusst, schätzen ihn vermutlich deshalb umso mehr.