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»Alles, was es schon gibt, wenn du auf die Welt kommst, ist normal und üblich und gehört zum selbstver- ständlichen Funktionieren der Welt dazu. Alles, was zwischen deinem 15. und 35. Lebensjahr erfunden wird, ist neu, aufregend und revolutionär und kann dir vielleicht zu einer beruflichen Laufbahn verhelfen. Alles, was nach deinem 35. Lebensjahr erfunden wird, richtet sich gegen die natürliche Ord- nung der Dinge.« Douglas Adams 2 Um die Folgen der Digitalisierung für Schule und Schüler zu verstehen, müssen wir zunächst festlegen, was der Begriff Digitalisierung vor allem mit Blick auf Kinder und Jugendliche bedeutet. All das, was wir unter dem Begriff der Digitalisierung verstehen, lässt sich drei Ebenen zuordnen. Einer individuellen Ebene, einer technolo- gischen und einer sozio-ökonomi- schen Ebene. Was meinen Sie, wie viel Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren nutzen das Internet ? Einhundert Prozent ! Besonders spannend ist auch die Frage da- nach, was den Jugend- lichen in ihrem Leben besonders wichtig ist. Einer Studie des Bun- desverbands für Infor- mationswirtschaft, Tele- kommunikation und neue Medien zufolge sind – immerhin – für 99 % der Schüler die eigenen Freunde im Leben besonders wichtig. Also nicht die Freunde in Facebook, sondern die im richtigen Leben. Aber schon an zweiter Stelle steht der In- ternetzugang. Für 95 % der Jugendli- chen ist der Zugang zum Internet ge- nauso wichtig wie die eigene Familie. Fragen wir nach der liebsten Freizeitbeschäf- tigung. Nummer eins ist – Freunde treffen. Num- mer zwei – Internet nut- zen. Wobei diese Unter- scheidung zunehmend schwerer fällt. Schließ- lich nutzen Jugendliche das Internet gerade dazu, sich mit ihren Freunden zu treffen. Mit Blick auf die Fol- gen der Digitalisierung für Schüler und Schule hat mich in einer Studie besonders die Frage danach beeindruckt, wie gut Schüler mit dem Computer umgehen können. 85 % der Schüler, das sind fast 9 von 10 Schülern, haben geant- wortet, dass Sie genauso gut oder sogar besser mit dem Computer um- gehen können als ihre Lehrer. Nur – wenn die Schüler (59 %) sogar besser sind als die Lehrer – wer hat ihnen den Umgang mit dem Computer eigentlich beigebracht? Den ganzen Tag sind wir – auch ich bin Lehrer an einer Hochschule – da- mit beschäftigt, unseren Studenten und Schülern neues Wissen und neue Fähigkeiten beizubringen. Wir suchen dabei nach immer neuen Möglichkei- ten, die Aufmerksamkeit der Lernen- den zu gewinnen und sie zum Lernen zu motivieren. Und während eine ganze Generation von Lehrern sorgen- voll auf die möglichen Gefahren des Internets schaut, bringen sich deren Schüler fast nebenbei die Grundlagen der Nutzung einer zentralen Zukunfts- technologie bei. Die große Leidenschaft, mit der sich die junge Generation der Digitalisie- rung hingibt, hat ihr den Spitznamen »Digital Native« beschert. Im Unter- schied zu älteren »Analog-Generatio- nen«, die das Internet als digitale Ein- wanderer nie völlig verstehen können, seien die Jungen digitale Eingeborene im virtuellen Heimatland. Gleichzeitig sind »Digital Natives«, so die verbrei- tete Sorge unter Eltern und Lehrern, jedoch auch »digital Naive«. Für Phi- lippe Wampfler, der einen lesenswer- ten Leitfaden für die Nutzung digitaler Medien in der Schule geschrieben hat, weist das Konzept der Digital Na- tives paradoxe Züge auf : »Während man Jugendlichen auf der Ebene des technischen Know-hows alles Mög- Schönberger Hefte 1/15 5 Fachdidaktische Impulse Die Folgen von Digitalisierung für Schule und Schüler von Daniel Michelis 1 Individuelle Ebene : Das Internet ist zentraler Bildungs- kosmos der jungen Generation Der Begriff der Digitalisierung be- zieht sich auf der individuellen Ebene auf ein neues Kommunikations- und Informationsverhalten, das in der jün- geren Generation besonders ausge- prägt ist. Um das neue Kommunika- tions- und Informationsverhalten von Schülern zu verstehen, ist zunächst deren Internetnutzung von Interesse. _________________________________ 1 Der Artikel geht zurück auf einen Vortrag in der Jahreskonferenz Schulseelsorge der EKHN in September 2014. Der Vor- tragsstil ist weitgehend beibehalten. 2 Douglas Adams, zitiert in Haeusler & Haeusler, a.a.O., 7 Handy-Display – das von jungen Menschen meistbetrachtete Bild

Die Folgen von Digitalisierung für S chule und S chüler...gen der Digitalisierung für Schüler und Schule hat mich in einer Studie besonders die Frage danach beeindruckt, wie gut

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Page 1: Die Folgen von Digitalisierung für S chule und S chüler...gen der Digitalisierung für Schüler und Schule hat mich in einer Studie besonders die Frage danach beeindruckt, wie gut

»Alles, was es schon gibt, wenn duauf die Welt kommst, ist normal undüblich und gehört zum selbstver-ständlichen Funktionieren der Weltdazu. Alles, was zwischen deinem 15.und 35. Lebensjahr erfunden wird, istneu, aufregend und revolutionär undkann dir vielleicht zu einer beruflichenLaufbahn verhelfen. Alles, was nachdeinem 35. Lebensjahr erfunden wird,richtet sich gegen die natürliche Ord-nung der Dinge.« Douglas Adams 2

Um die Folgen der Digitalisierungfür Schule und Schüler zu verstehen,müssen wir zunächst festlegen, wasder Begriff Digitalisierung vor allemmit Blick auf Kinder und Jugendlichebedeutet. All das, was wir unter demBegriff der Digitalisierung verstehen,lässt sich drei Ebenen zuordnen. Einerindividuellen Ebene, einer technolo-gischen und einer sozio-ökonomi-schen Ebene.

Was meinen Sie, wie viel Prozent derJugendlichen zwischen 14 und 19Jahren nutzen das Internet ?Einhundert Prozent !

Besonders spannendist auch die Frage da-nach, was den Jugend-lichen in ihrem Lebenbesonders wichtig ist.Einer Studie des Bun-desverbands für Infor-mationswirtschaft, Tele-kommunikation undneue Medien zufolge sind– immerhin – für 99 % derSchüler die eigenen Freundeim Leben besonders wichtig.Also nicht die Freunde in Facebook,sondern die im richtigen Leben. Aberschon an zweiter Stelle steht der In-ternetzugang. Für 95 % der Jugendli-chen ist der Zugang zum Internet ge-nauso wichtig wie die eigene Familie.

Fragen wir nach derliebsten Freizeitbeschäf-tigung. Nummer eins ist– Freunde treffen. Num-mer zwei – Internet nut-zen. Wobei diese Unter-scheidung zunehmendschwerer fällt. Schließ-lich nutzen Jugendlichedas Internet geradedazu, sich mit ihrenFreunden zu treffen.

Mit Blick auf die Fol-gen der Digitalisierungfür Schüler und Schulehat mich in einer Studiebesonders die Fragedanach beeindruckt, wiegut Schüler mit demComputer umgehen

können. 85 % der Schüler, das sindfast 9 von 10 Schülern, haben geant-wortet, dass Sie genauso gut odersogar besser mit dem Computer um-gehen können als ihre Lehrer. Nur –wenn die Schüler (59 %) sogar bessersind als die Lehrer – wer hat ihnenden Umgang mit dem Computereigentlich beigebracht?

Den ganzen Tag sind wir – auch ichbin Lehrer an einer Hochschule – da-mit beschäftigt, unseren Studenten

und Schülern neues Wissen und neueFähigkeiten beizubringen. Wir suchendabei nach immer neuen Möglichkei-ten, die Aufmerksamkeit der Lernen-den zu gewinnen und sie zum Lernenzu motivieren. Und während eineganze Generation von Lehrern sorgen-voll auf die möglichen Gefahren desInternets schaut, bringen sich derenSchüler fast nebenbei die Grundlagender Nutzung einer zentralen Zukunfts-technologie bei.

Die große Leidenschaft, mit der sichdie junge Generation der Digitalisie-rung hingibt, hat ihr den Spitznamen»Digital Native« beschert. Im Unter-schied zu älteren »Analog-Generatio-nen«, die das Internet als digitale Ein-wanderer nie völlig verstehen können,seien die Jungen digitale Eingeboreneim virtuellen Heimatland. Gleichzeitigsind »Digital Natives«, so die verbrei-tete Sorge unter Eltern und Lehrern,jedoch auch »digital Naive«. Für Phi-lippe Wampfler, der einen lesenswer-ten Leitfaden für die Nutzung digitalerMedien in der Schule geschriebenhat, weist das Konzept der Digital Na-tives paradoxe Züge auf : »Währendman Jugendlichen auf der Ebene destechnischen Know-hows alles Mög -

Schönberger Hefte 1/15 5Fachdidaktische Impulse

Die Folgen von Digitalisierung für Schule und Schülervon Daniel Michelis 1

Individuelle Ebene : Das Internet ist zentraler Bildungs-kosmos der jungen Generation

Der Begriff der Digitalisierung be-zieht sich auf der individuellen Ebeneauf ein neues Kommunikations- undInformationsverhalten, das in der jün-geren Generation besonders ausge-prägt ist. Um das neue Kommunika -tions- und Informationsverhalten vonSchülern zu verstehen, ist zunächstderen Internetnutzung von Interesse.

_________________________________

1 Der Artikel geht zurück auf einen Vortragin der Jahreskonferenz Schulseelsorgeder EKHN in September 2014. Der Vor-tragsstil ist weitgehend beibehalten.

2 Douglas Adams, zitiert in Haeusler &Haeusler, a.a.O., 7

Handy-Display – das von jungen Menschenmeistbetrachtete Bild

Page 2: Die Folgen von Digitalisierung für S chule und S chüler...gen der Digitalisierung für Schüler und Schule hat mich in einer Studie besonders die Frage danach beeindruckt, wie gut

böse; noch ist sie neutral.«4 Techno-logien verändern auch die Art undWeise, wie sich Schüler gegenseitigSchaden zufügen können. Es sind al-len voran die sozialen Medien, diederart gestaltet sind, dass der Schutzder eigenen Privatsphäre immerschwieriger und Mobbing hingegenerleichtert wird. Auch wenn Smart -phones und das Internet selten Aus-löser für Mobbing-Angriffe sind, dieihren Ursprung eher in der Offline-Welt haben, erleichtern sie die Ver-

breitung und das Mitmachen beiaggressiven Angriffen. Smart -

phones und das Internetscheinen darüber hinaus

die Hürden für Täter undMittäter zu senken undMitgefühl oder Reuezu erschweren. Aktu-elle Untersuchungenkommen darüber hi-naus leider zu dem Er-

gebnis, dass Mobbing-Opfer die Angriffe im

Internet teilweise nochschmerzhafter wahrnehmen

als physische Aggressionen ; Vir-tualität im Internet heißt eben nicht

Abwesenheit von Gefühlen.5

Zu den Folgen der Digitalisierungvon Schülern gehört damit auch dasRisiko, Opfer von Cyber-Mobbing wer-den zu können. Unklar scheint zusein, welche Rolle gute oder wenigergute Kenntnisse im Umgang mit demComputer spielen – Studien wider-sprechen sich in dieser Hinsicht. Was

liche zutraut, wird ihnen zugleich einekolossale Naivität den Medien gegen-über unterstellt. Der jugendliche Froh-mut mache sie blind gegenüber deneigentlichen Kräften, die hinter derTechnik lauerten.« In der Realitätscheint keine dieser beiden Perspek-tiven zuzutreffen, denn weder verfügtdie junge Generation zwangsläufigüber die digitalen Kompetenzen, nochsind Schüler und Schülerinnen bei derNutzung des Internets unreflektiert :»Sie können den Informationsgehaltund -wert von Medien besser ein-schätzen, als die Rolle [des Digital Na-tives] vorgibt, sind andererseits aberwie Erwachsene in der Benutzungtechnischer Hilfsmittel auch manchesMal überfordert und brauchen dabeiHilfe.«3

Auf der individuellen Ebene voll-zieht sich ein tiefgreifender Wandel.Digitale Medien sind für die Schülerkeine Technologien. Sie sind Lebens-raum, Kultur und Wissen. Schüler undSchülerinnen sind mit der Wikipediain eine Kultur des freien Wissens hin -eingewachsen und sie nutzen das In-ternet und ihr Smartphone, um sichin Eigeninitiative fortzubilden. Das In-ternet ist zum zentralen Bildungskos-mos der jungen Generation gewor-den.

Technologische Ebene : Segen und Fluch

Die Nutzung neuer Kommunikati-onstechnologien ist bei weitem nichtnur ein Segen. Oder um es mit demersten Kranzbergschen Gesetz zusagen : »Technik ist weder gut noch

jedoch bestätigt scheint : Der physi-sche Ort, an dem Kinder zuhause Zu-gang zum Internet haben, spielt eineRolle. Kinder, die beispielsweise in ih-rem Kinderzimmer Zugang zum Inter-net hatten, waren gefährdeter als Kin-der, die einen Computer in Gemein -schaftsräumen der Familie nutzen.

Eher Fluch als Segen ist auch derEinfluss der Digitalisierung auf denSchutz der Privatsphäre. Die Möglich-keit der Verletzung von Privatsphäreheißt zwar nicht, dass die eigene Pri-vatsphäre fortwährend verletzt wird.Es bereitet aber ganz zu Recht großesUnbehagen, dass man die eigenenDaten immer schwieriger schützenkann. Anderseits ist es jedoch so,dass unsere Privatsphäre nicht weni-ger gefährdet ist, wenn wir uns weni-ger im Internet bewegen oder auf dieNutzung sozialer Medien verzichten.Dies gilt insbesondere für Lehrer undLehrerinnen. So finden sich im Inter-net zuhauf Bilder oder Videos vonLehrern, die Schüler ohne ihr Wissenveröffentlicht haben. Lehrer, die ei-gene Bilder ins Netz stellen oder bei-spielsweise ein gepflegtes Facebook-profil haben, haben eine größereKontrolle über die Wahrnehmung ihrerPerson. Fake-Profile lassen sich deut-lich besser identifizieren, wenn es einechtes Profil derselben Person bereitsgibt.

6 Schönberger Hefte 1/15Fachdidaktische Impulse

Selfie für zwei mit praktischem Selfie-Stab ! © H. J. Dam

_________________________________

3 Wampfler, a. a. O., S. 54.4 Kranzberg, a.a.O., S. 55 Kwan & Skoric, a.a.O., 17, und Haeusler

& Haeusler, a.a.O., …

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Schönberger Hefte 1/15 7Fachdidaktische Impulse

Sozio-ökonomische Ebene :Fünf Trends !

Veränderungen im Informations-und Kommunikationsverhalten habentraditionelle Beziehungen in Wirt-schaft und Gesellschaft verändert undzur Auflösung traditioneller Macht-und Hierarchiestrukturen beigetra-gen. Als Folge der Digitalisierung ha-ben sich neue soziale Praktiken etab-liert, die es vorher gar nicht oderlediglich in einer anderen Form gege-ben hat. Diese neuen Sozialpraktikenzeigen einmal mehr, dass mit Blickauf die Digitalisierung weniger dietechnologische Entwicklung, als viel-mehr deren Adaption von Schülernund Schule von zentraler Bedeutungist. Die mit der Digitalisierung einher-gehenden gesellschaftlichen Verän-derungen, die ich in den vergangenenJahren beobachten konnte, lassensich fünf übergeordneten Trends zu-ordnen.

1. Authentische Kommunikation

Den ersten Trend bezeichne ich alsauthentische Kommunikation – oderauch als neue Ehrlichkeit. In Online-Communities und Foren tauschen sichSchüler und Schülerinnen über Schul-fächer und -themen aus, sie diskutie-ren Lösungen und besprechen dortauch ihre sozialen Probleme und teil-weise auch ihre Sorgen.

Eine zunehmend wichtige Rollespielen in diesem Zusammenhang so-ziale Netzwerke wie Facebook. DieseNetzwerke sind zum Bindeglied zwi-schen der schulischen und sozialen

Welt von Kindern und Jugendlichengeworden. Schüler und Schüle-

rinnen nutzen soziale Netz-werke als sogenannten

Backchannel, also alsKommunikationskanal,über den sich Schülerparallel zum Unterrichtüber die Themen undauch über die Lehrerund Lehrerinnen aus-tauschen. Das Potential

dieser Backchannelsliegt in der horizontalen

Kommunikation, das heißtim Austausch der Schüler un-

tereinander. Soziale Netzwerkewerden auf diese Weise ein parallelerRaum, der informelles Lernen zwi-schen den Schülern unterstützt. ImBackchannel gibt es keine direkte Un-terstützung durch die Lehrkräfte, son-dern hier unterstützen sich Schülergegenseitig. In der Sprache des Inter-nets sprechen wir dabei von Peer-to-peer-Support – Unterstützung unterGleichgesinnten.6

Das Ehepaar Haeusler, das unterdem Titel »Netzgemüse« ein wunder-bares Buch über die Digitalisierungder jungen Generation geschriebenhat, bezeichnet das Internet in diesemZusammenhang als Beispiel für Mon-tessori-Pädagogik : »Ich helfe Dir, Dirselbst zu helfen.« Da ist es übrigensspannend zu sehen, welch großeRolle die Montessori-Pädagogik beider Entwicklung des Internet spielt.Jimmy Wales (Gründer der Wikipedia),Lary Page und Sergey Brin (Google),sowie Jeff Bezos (Gründer von Ama-zon) sind alle Montessori-Schüler. DieDigitalisierung kann Schülern sehrkonkrete Lernhilfe leisten. So wissenwir, dass wir alle in unterschiedlichenGeschwindigkeiten lernen. Bei denLehrern in der Schulklasse können wirjedoch nicht einfach auf den Pause-Knopf drücken, wie bei einem Lehr -video auf YouTube. Kinder und Ju-gendliche nutzen YouTube nicht nur,um sich die zehn lustigsten Katzen-filme anzusehen – was sie natürlichauch mit Genuss tun, sondern auchdafür, sich alle möglichen Themen ausder Schule und anderen Bereichen er-klären zu lassen. Wenn sie in derSchule nicht verstanden haben, wieman den Umfang eines Kreises be-rechnet, suchen sie sich ein passen-des Video heraus.

2. Symmetrische Beziehungen

Den zweiten Trend bezeichne ichals symmetrische Beziehungen. Diezentrale Grundlage für Entwicklungzunehmend gleichberechtigter Bezie-hungen ist die mit dem uneinge-schränkten Zugang zu sozialen Tech-nologien einhergehende Auflösungtraditioneller Macht- und Hierarchie-strukturen.

Die Folgen dieser Entwicklung fürdie Schule sind durchaus problema-tisch – vor allem, wie vorhin bereitskurz erwähnt, mit Blick auf die Leh-rer-Schüler-Beziehung. Die technischeArchitektur von Facebook ist für dieseArt von Beziehungen eine Herausfor-derung und sie erschwert die Auf-rechterhaltung der professionellenDistanz zwischen Lehrern und Schü-lern. Das Design und die Funktionali-täten von Facebook führen dazu, dassder Kontext von Beziehungen verlorengeht und soziale Grenzen und Bezie-hungen abgeflacht werden. Der Grundhierfür liegt in der spezifischenFreundschaftsstruktur von Facebook,bei der einzig zwischen Freund undNicht-Freund unterschieden wird. AlleFormen der sozialen Beziehungen undhierarchische Strukturen werden ineine eindimensionale Freunde-Kate-gorie zusammengeschrumpft. Vor die-sem Hintergrund stellt sich zumindestdie Frage danach, inwieweit es fürLehrer und Lehrerinnen angebrachtist, sich mit ihren Schülern anzufreun-den.

Der Trend zu symmetrischen Bezie-hungen bietet auch Potentiale für dieSchule. Lehrer und Lehrerinnen soll-ten ihre Schüler aktiv an der Diskus-sion über die Digitalisierung und amEinsatz digitaler Technologien betei-ligen. Die junge Generation hat, wieich in der individuellen Ebene gezeigthabe, eine völlig andere Technologie-mentalität und sie beherrscht die Nut-zung des Internets. Sie kann daherdurchaus auch einschätzen, wo digi-tale Technologien in der Vermittlungvon Wissen sinnvoll, nachhaltig undgewinnbringend eingesetzt werdenkönnen. Die Aufgabe von Lehrerinnenund Lehrern bezieht sich damit weni-ger auf die digitalen Kompetenzen,sondern vielmehr auf die Vermittlungvon kulturellen und sozialen Prakti-_________________________________

6 Stirling, a.a.O., S. 23

Page 4: Die Folgen von Digitalisierung für S chule und S chüler...gen der Digitalisierung für Schüler und Schule hat mich in einer Studie besonders die Frage danach beeindruckt, wie gut

ken, von Wissen, das von der Digita-lisierung kaum betroffen ist. Währenddie Schüler den Umgang mit digitalerTechnologie schon mehr oder wenigerbeherrschen, ist eine der zentralenHerausforderungen für die Schule, dieWerte, die Traditionen und Lebens-weisen der älteren Generationen indas Internetzeitalter zu übertragen.

3. SelbstorganisierteGruppenaktivitäten

Den dritten Trend bezeichne ich alsselbstorganisierte Gruppenaktivitä-ten. Das Internet hat unterschied-lichste Gruppierungen in einer sehrgroßen Vielfalt hervorgebracht. Einebesondere Plattform für diese Grup-pierungen ist www.betterplace.org.»Betterplace« ist in Deutschland diegrößte Spendenplattform, die auf derSelbstorganisation von Projekten ba-siert. Jeder Interessierte kann auf derPlattform eigene Projekte starten unddann gemeinsam mit seinem Freun-des- und Bekanntenkreis Geld-, Zeitoder Sachspenden einsammeln. Bet-terplace selber bietet nur die Platt-form, für das Projekt werben müssendie Initiatoren und ihre Unterstützerselber. Allein in Deutschland findensich auf betterplace.org über 170Schulprojekte, bei denen engagierteLehrer und Eltern auf digitalem Wegefinanzielle Unterstützung für einengrüneren Schulhof, für die neueSportanlage oder für soziale Förder-programme suchen.

4. Neue Märkte

Der vorletzte Trend sind neueMärkte, die im Internet entstehen. An-gebot und Nachfrage treffen immerhäufiger nur virtuell aufeinander. Wirt-schaftliche Zusammenhänge habensich schon vor dem Einzug des Inter-nets auf das Bildungssystem ausge-wirkt. So hat sich eine ganze Reihevon Verlagen darauf spezialisiert,Lehrmittel zu produzieren, die nachLehrplan der Schulen als Standardvorgesehen sind. Mit der Digitalisie-rung wurden hingegen neue Metho-den zur Produktion und Distributionvon Lehrmaterialien ermöglicht. In ei-ner »vernetzten Informationswirt-schaft« haben Lehrer und Lehrerinnenfreien Zugang zu den notwendigenProduktions- und Distributionstech-nologien. Mit diesem freien Zugang

können langfristig dieKosten der Lehrmittel-produktion abnehmenund Lehrende und Ler-nen können auf indivi-duellere Materialien zu-greifen. Ein Beispieldieser Entwicklung sindOpen Educational Re-sources – frei verfügbaredigitale Lernmaterialien,wie Online-Kurse, Unter-richtsmaterialien oderLehrbücher.

Doch die Digitalisie-rung hat in der Vergan-genheit auch die Ent-wicklung wenigerfreulicher Märkte be-fördert. So sind sozialeNetzwerke, über dieSchüler täglich kommu-nizieren, für deren Be-treiber deshalb profita-bel, weil die Daten derNutzer für Werbezweckeausgewertet werden.Die Nutzer sozialer Netz-werke wie Facebook sind nicht dieKunden auf diesen neuen Märkten,sondern sie sind das Produkt. Sie sinddie Zielgruppe, deren Daten an Wer-bekunden verkauft werden. Mit derNutzung von Angeboten wie Face-book werden Schüler direkt den Mar-ketingaktivitäten der Plattformbetrei-ber ausgesetzt und geben unter Um-ständen ihr intellektuelles Eigentumund die Kontrolle persönlicher Datenpreis, die auf amerikanischen Com-putern verarbeitet und gespeichertwerden.7

Diese kommerzielle Seite der freiverfügbaren Online-Plattformen müs-sen Schulen natürlich berücksichtigen– und ihre Schüler auf mögliche Risi-ken und Gefahren hinweisen. Die wirt-schaftlichen Aspekte sollten Teil dermedienpädagogischen Auseinander-setzung mit digitalen Medien sein.Off line wie online gilt die Regel, dassSchule und Bildung durch die Nut-zung kommerzieller Angebote unab-hängig bleiben müssen und nicht inAbhängigkeit geraten dürfen.

5. Neue Formen der Motivation

Der fünfte Trend sind neue Formender Motivation. Die beschriebenenOnline-Aktivitäten basieren auf einer

inneren Motivation. Es gibt dafür keinGehalt und keine Noten, sondern derAustausch mit anderen und die neuenMöglichkeiten, sich das relevante Wis-sen auf digitalem Wege anzueignen,scheint an sich Motivation genug, umstundenlang im Internet zu recher-chieren, kooperativ Schulaufgaben zulösen oder sich auch bei sozialen Pro-blemen gegenseitig zu helfen. Schülerkennen sich besser mit der Bedienungvon Computern aus als ihre Eltern undLehrer – sie haben sich diese Fähig-keiten, wie eingangs beschrieben,teilweise gegen den Willen der Er-wachsenen angeeignet und gewinnenkontinuierlich neue Fähigkeiten hinzu.Wenn es gelingt, diese Motivation fürdas Lernen von Mathe, Geschichteoder Physik anzuregen, wäre das einesehr positive Folge der Digitalisierungvon Schülern und Schule.

Digitales und reales Lebenmiteinander verbinden

Damit Lehrkräfte die Risiken der Di-gitalisierung mindern und ihre Poten-tiale optimal heben können, müssensie zunächst verstehen, wie Schülerund Schülerinnen ihre digital ange-

8 Schönberger Hefte 1/15Fachdidaktische Impulse

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7 Haeusler & Haeusler, a.a.O., S. 102. Ray-nes-Goldie & Lloyd, a.a.O., 158

Über 21 Mio. Spieler in Deutschland . . . auchwährend des Unterrichts !

Page 5: Die Folgen von Digitalisierung für S chule und S chüler...gen der Digitalisierung für Schüler und Schule hat mich in einer Studie besonders die Frage danach beeindruckt, wie gut

reicherte Welt erleben, wie sie sichdarin verhalten und wie digitale Lern-prozesse aussehen.

Die Schule steht dabei gewisser-maßen vor einem Dilemma. Sie mussauf die Potentiale der digitalen Kom-munikation setzen und den Prozessdes Lernens und die Wissensvermitt-lung an neue Möglichkeiten anpas-sen. In einer digitalisierten Schulestünde weniger der physische Raumim Vordergrund als vielmehr ein Netz-werk, in dem sich flexible Gemein-schaften bilden, in denen Schüler ko-operativ miteinander lernen undWissen frei zirkuliert.

Gleichzeitig sollte die Schule einenSchonraum bieten, der eine konzen-trierte Lernatmosphäre schafft, ohnedauerhafte Ablenkung durch die all-gegenwärtige Vernetzung und stän-digen Nachrichten. In diesem Schon-raum werden die dynamischen Po-tentiale der Digitalisierung zwar ver-mittelt, gleichzeitig jedoch die nega-tiven Aspekte der Digitalisierung fern-gehalten und eine ruhige Entwicklungermöglicht.

Im Umgang mit der Digitalisierungsollten Lehrer und Lehrerinnen wahr-scheinlich nach einer ausgeglichenenBalance zwischen »Einsicht und Ein-mischung« (Serres) suchen. Um for-males und informelles Lernen zu för-dern, müssen sie einsehen, dass sichDigitales und Reales in der Lebens-welt von Schülern und Schülerinnennicht mehr so einfach trennen lassen.Gleichzeitig müssen sie sich einmi-schen und Verständnis schaffen fürdie Funktionsweisen und Wirkungendigitaler Technologien. Wenn dieSchule einsieht, dass die Digitalisie-rung für die Lernenden schon längstselbstverständlicher Teil ihre Alltagssind, kann sie sich einmischen unddie Kompetenzen vermitteln, mit de-nen Schülerinnen und Schüler die Zu-kunft der Digitalisierung nachhaltiggestalten können.

Weder Lehrkräfte noch Eltern kön-nen den Schülern und Schülerinnensagen, wie sie das Internet in Zukunftnutzen werden. Die heutige Genera-tion der Schüler kennt ein Leben ohneInternet gar nicht und sie nimmt dendigitalen Kosmos als das Selbstver-ständlichste der Welt wahr. Die wich-tigsten Kompetenzen, die wir als Lehr-kräfte und Eltern vermitteln können,

sind glücklicherweise weniger tech-nischer Art. Es handelt sich um kultu-relle und soziale Praktiken, die vonder Digitalisierung kaum betroffensind. Die Verantwortung der älterenGeneration ist es, ihre Werte, ihre Tra-ditionen und ihre Lebensweisen indas Internetzeitalter zu übertragen.

Literatur

Haeusler, J., Haeusler, Netzgemüse: Auf-zucht und Pflege der Generation Internet,Goldmann Verlag, München 2012

Kranzberg, M., Technology and History:»Kranzberg’s Laws«, in: Bulletin of Science,Technology & Society, 15/1, 1995, S. 5-13

Kwan, G. C. E., & Skoric, M. M. (2013).Facebook Bullying: An Extension of Battlesin School. Computers in Human Behavior,29/1, 2013, S. 16-25

Raynes-Goldie, K., Lloyd, C.: Unfriend ingFacebook? Challenges from an Educator’sPerspective. In: Kent, M., Leaver, T. (Eds.):An Education in Facebook? Higher Educa-tion and the World’s Largest Social Net-work. Routledge, London 2014, S. 153-161

Serres, M., Erfindet euch neu. Eine Lie-beserklärung an die vernetzte Generation.Suhrkamp, Berlin 2013

Stirling, E. »We use Facebook to chat inlectures, of course !« Exploring the Use ofFacebook Group by First-Year Undergra-duate Students for Social and AcademicSupport. In: Kent, M., Leaver, T. (Eds.): AnEducation in Facebook? Higher Educationand the World’s Largets Social Network.Routledge, London 2014, S. 23-31

Wampfler, Philippe, Facebook, Blogsund Wikis in der Schule: ein Social-Media-Leitfaden. Vandenhoeck & Ruprecht, Göt-tingen 2013

Schönberger Hefte 1/15 9Fachdidaktische Impulse

Dr. Daniel Michelisist Professor mit demSchwerpunkt DigitaleKommunikation ander Hochschule Anhaltin Bernburg.

Handreichung für Lehrkräftezum Umgang mitSozialen Netzwerkenan hessischen Schulen

Im Februar 2015 (Amtsblatt HMK 16. 3. 2015) erschien eineHandreichung des Hessischen Kultusministeriums fürden Umgang mit sozialen Netzwerken ( »Facebook & Co.«).Diese Handreichung ist über das Internet abrufbar.Die zentralen Empfehlungen sind hier aufgezählt.

Zentrale Handlungsempfehlungen im Überblick :

1. Die Nutzung schulinterner Lernplattformen ist der Kommu-nikation mit Sozialen Netzwerken vorzuziehen.

2. Von einer privaten Kontaktpflege der Lehrkräfte mit Schüle-rinnen und Schülern der eigenen Schule in Sozialen Netz-werken ist ausdrücklich abzuraten. Dies betrifft insbeson-dere sogenannte Freundschaften.

3. Personenbezogene Daten und Dokumente dürfen überSoziale Netzwerke nicht kommuniziert werden.

4. Keine Schülerin und kein Schüler oder deren Eltern dürfendazu gezwungen sein, sich in Soziale Netzwerke zu begeben.

5. Der sichere und kritische Umgang mit Sozialen Netzwerkenist als Teil der schulischen Medienbildung zu betrachten.