10
BerWissGesch 3, 55-64 (1980) Armirr Hennann Berichtezur WISSENSCHAFTS- GESCHICHTE < · Akademische Yerlagsgcsc\lschaft Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik* Summary: Usually one reads that after the foundation of scientific journals the journal article took the place of scientific correspondence. It is shown here that periodicals did not replace the letter, but only supplemented it. Norms were developed for the journal article such that (in short) only the "context of justification", not the "context of discovery", could be discussed. Any scholar who wanted to participate in the "dis- cussion out of which science arises" had to resort to the letter; the reading of journals did not suffice. - This circumstance is illustrated in particular by the example of quan- tum theory and by Wolfgang Pauli. Schlüsselwörter: Briefwechsel (wissenschaftlicher), Kommunikation (wissenschaftliche), Prosastil (wissenschaftlicher), Quantentheorie, Scientific community, Zeitschriften (wissenschaftliche), XVII Jh., XIX Jh., XX Jh. Wissenschaft ist ein soziales Phänomen. Auch das Genie kann nur nach gehöriger Ausein- andersetzung mit den Auffassungen der Vorgänger und Zeitgenossen Erkenntnis gewin- nen. Und erst dann erreicht individuelle Einsicht den Rang von ,Wissenschaft', wenn sie anderen Menschen zur Kenntnis gelangt, nach gewissen Kriterien geprüft und dabei nicht verworfen wird. Für den Wissensfortschritt ist also der große Gelehrte erforderlich, aber auch die Existenz einer scientific community mit einem funktionierenden Übennittlungssystem, das die neugewonnenen Aussagen schnell verbreitet und zur Diskussion stellt. Nur so kann aus subjektiver ,Meinung' intersubjektive ,Erkenntnis' entstehen. Es wäre also sicher falsch, in einer wissenschaftshistorischen Darstellung - etwa über das Entstehen der neuzeitlichen Physik - das Augenmerk allein auf Galilei, Kepler und Newton zu richten. Die Genies spielen eine entscheidende Rolle. Daneben jedoch muß eingegangen werden auf den umfangreichen Briefverkehr zwischen den Gelehrten, auf die Gründung der wissenschaftlichen Gesellschaften und der ersten Zeitschriften. Ein halb- wegs funktionierender literarischer Betrieb ist die Voraussetzung für das Gedeil1en von Wissenschaft. Bei den großen Erfolgen der neuzeitlichen Naturwissenschaft seit den Zeiten Galileis und Keplers bis heute wird niemand zweifeln wollen: Die scientific community hat sich ein höchst geeignetes System des Informationsaustausches geschaffen. Rückgrat dieses Inforn1ationssystems ist das wissenschaftliche Zeitschriftenwesen. Die Flut von Zeitschriftenaufsätzen hat aber etwas den Blick darauf verstellt, daß für den

Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik

  • Upload
    armin

  • View
    215

  • Download
    1

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik

BerWissGesch 3, 55-64 (1980)

Armirr Hennann

Berichtezur WISSENSCHAFTS­GESCHICHTE < · Akademische Yerlagsgcsc\lschaft 19~0

Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik*

Summary: Usually one reads that after the foundation of scientific journals the journal article took the place of scientific correspondence. It is shown here that periodicals did not replace the letter, but only supplemented it. Norms were developed for the journal article such that (in short) only the "context of justification", not the "context of discovery", could be discussed. Any scholar who wanted to participate in the "dis­cussion out of which science arises" had to resort to the letter; the reading of journals did not suffice. - This circumstance is illustrated in particular by the example of quan­tum theory and by Wolfgang Pauli.

Schlüsselwörter: Briefwechsel (wissenschaftlicher), Kommunikation (wissenschaftliche), Prosastil (wissenschaftlicher), Quantentheorie, Scientific community, Zeitschriften (wissenschaftliche), XVII Jh., XIX Jh., XX Jh.

Wissenschaft ist ein soziales Phänomen. Auch das Genie kann nur nach gehöriger Ausein­andersetzung mit den Auffassungen der Vorgänger und Zeitgenossen Erkenntnis gewin­nen. Und erst dann erreicht individuelle Einsicht den Rang von ,Wissenschaft', wenn sie anderen Menschen zur Kenntnis gelangt, nach gewissen Kriterien geprüft und dabei nicht verworfen wird.

Für den Wissensfortschritt ist also der große Gelehrte erforderlich, aber auch die Existenz einer scientific community mit einem funktionierenden Übennittlungssystem, das die neugewonnenen Aussagen schnell verbreitet und zur Diskussion stellt. Nur so kann aus subjektiver ,Meinung' intersubjektive ,Erkenntnis' entstehen.

Es wäre also sicher falsch, in einer wissenschaftshistorischen Darstellung - etwa über das Entstehen der neuzeitlichen Physik - das Augenmerk allein auf Galilei, Kepler und Newton zu richten. Die Genies spielen eine entscheidende Rolle. Daneben jedoch muß eingegangen werden auf den umfangreichen Briefverkehr zwischen den Gelehrten, auf die Gründung der wissenschaftlichen Gesellschaften und der ersten Zeitschriften. Ein halb­wegs funktionierender literarischer Betrieb ist die Voraussetzung für das Gedeil1en von Wissenschaft.

Bei den großen Erfolgen der neuzeitlichen Naturwissenschaft seit den Zeiten Galileis und Keplers bis heute wird niemand zweifeln wollen: Die scientific community hat sich ein höchst geeignetes System des Informationsaustausches geschaffen.

Rückgrat dieses Inforn1ationssystems ist das wissenschaftliche Zeitschriftenwesen. Die Flut von Zeitschriftenaufsätzen hat aber etwas den Blick darauf verstellt, daß für den

Page 2: Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik

56 Armin Hermann:

Physiker, der nicht nur gelegentlich durch einen Zufallstreffer, sondern ständig zur Grundlagenforschung beitragen wollte, die Lektüre von Zeitschriften allein fast nie ge­nügte. Wer teilnehmen wollte an dem Gespräch, aus dem Wissenschaft entsteht, der mußte zusätzlich in den mündlichen und brieflichen Gedankenaustausch mit den Kollegen ein­treten. Unsere Behauptung ist also: Wichtige, zur physikalischen Forschung unabdingbar notwendige Informationen lassen sich nicht aus den Zeitschriftenaufsätzen entnehmen, wohl aber aus dem mündlichen Gespräch und aus dem Brief, der Fortsetzung des Ge­sprächs mit anderen Mitteln. Diese Behauptung werde ich im Referat zu beweisen ver­suchen.

Wie damals der junge Physiker, der teilnehmen wollte an der Grundlagenforschung, ist jetzt der Historiker auf diese zusätzlichen Informationen angewiesen. Die Briefe sind also heute fur den Geschichtsschreiber eine hervorragende Quelle.

Mitte Februar dieses Jahres hat in Berlin unter Leitung von Hans Gert Roloff eine Arbeitssitzung stattgefunden über das Projekt der "Berliner Editionen". Dabei habe ich über die Bedeutung von Brief-Editionen fur die Geschichtsschreibung gesprochen. Mein Thema heute ist ein anderes: "Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik".

In beiden Fällen aber - fur die heutigen Historiker der Wissenschaft wie damals fur den aktiv in der physikalischen Forschung stehenden Gelehrten ist der springende Punkt der zusätzliche Informationsgehalt der Briefe, der über die in den Zeitschriften gebotenen oder sonst im Druck erschienenen Darlegungen hinausgeht. So werde ich einen Teil von dem am 15. Februar bei den Berliner Editionen im kleinen Kreis Gesagten heute wiederholen. -- In einem ersten kurzen Abschnitt behandle ich die Zeit vor der Gründung der wissenschaftlichen Zeitschriften.

I

Bereits die Humanisten des 16. Jahrhunderts unterhielten einen wohlorganisierten Brief­verkehr. Erasmus sandte mehrfach im Jahr junge Leute in die Hauptstädte, um seine Briefe verteilen zu lassen. Melanchthon empfing Nachrichten von zahlreichen Korre­spondenten und versorgte seinerseits Freunde und Fürsten. Auch in der Generation von Galilei und Kepler gab es noch keine wissenschaftlichen Journale. Wohl aber gab es einen gut funktionierenden Informationsaustausch durch Briefe und Flugschriften. Ohne einen solchen literarischen Betrieb hätte die neuzeitliche Physik gar nicht entstehen können. Zur Illustration der Rolle von Brief, Flugschrift und mündlicher Nachricht sei als Beispiel die Erfindung des Fernrohres und die Begründung der Gesetze der geometrischen Ab bil­dung angefuhrt.

Im Mai 1609 erhielt Galilei einen Brief aus Paris, der ihm bestätigte, was er schon ge­rüchteweise gehört hatte: Es sei Niederländern gelungen, ein "Augenglas" zu entwickeln, "durch dessen Hilfe man sichtbare Gegenstände so deutlich wahrnahm, als sähe man sie aus der Nähe." Innerhalb weniger Wochen gelang Galilei die Nacherfmdung. Sein Instru­ment war besser als jedes früher gebaute; er richtete es gegen den Hinunel und machte überraschende Entdeckungen. Kepler erzählte 1:

Ganz unvermutet kommt um den 15. März [1610] durch Kuriere die Nachricht[ ... ] über vier bisher unbekannte, durch Anwendung einer zweifachen Linse gefundene Planeten [d.h. die Monde des Jupiter]. Als mir das der erlauchte Rat Seiner Kaiserlichen Majestät[ ... ] Herr Joh. Matthäus Wackher von Wackhenfels vom Wagen herab vor meiner Wohnung verkündet hatte, befiel mich bei näherem Nacl1clenken [ ... ] solches Staunen, bestürmten mich solche Gemütserregungen (ganz unvermutet war nämlich eine alte Streitfrage zwischen uns entschieden), daß er vor Freude, ich vor Schamgefühl,

Page 3: Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik

Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik 57

jeder lachend in der Verwirrung über die Neuigkeit, er nicht genug erzählen, ich nicht genug hören konnte.

In einer Flugschrift Sidereus Nuncius gab Galilei seine Entdeckungen bekannt; das erste Exemplar, das nach Prag kam, ging an Rudolph II. Kepler konnte es "aus Gunst des Kaisers" einsehen und in Eile überfliegen: Was soll ich aber von Wackher sagen? Als ich zu dem ohne das Buch kam und ihm doch gestehen mußte, daß ich darin gelesen hatte, da gab es Neid und Zank.

Wenig später, am 8. April, erhielt Kepler ein Widmungsexemplar. Diese Tatsache und die Schrift selbst begeisterten ihn so, daß er innerhalb von zehn Tagen als Antwort einen offenen Brief verfaßte, die Dissertatio cum Nuncio Sidereo: "Dem edlen und ganz vor­trefflichen Herrn Galileo Galilei, Patrizier der Stadt Florenz, Professor der Mathematik an der hohen Schule von Padua - Besten Gruß zuvor!" Ein Jahr später erschien dann Keplers Dioptrik, in der ein ftir kleine Einfallswinkel gültiges Brechungsgesetz, die Theorie des Galileischen und die Erfindung des Keplerschen Fernrohres mitgeteilt wird.

In der Korrespondenz zwischen Prag und Florenz, Rom und Paris, London und Am­sterdam gab es Gelehrte, die mehr als andere Briefe empfingen und Briefe hinausschick­ten. Sogenannte Polyhistoren waren es, die mit lebhaftem Interesse alles Neue aufnah­men und in großen Kompendien zusammentrugen. Hans Schimank und Fritz Krafft haben ftir Otto von Guericke nachgewiesen, und Ähnliches dürfte allgemein gelten: Guericke verdankte seine astronomischen und physikalischen Kenntnisse vorwiegend den großen Sammelwerken, wie sie gelehrte Jesuitenpatres, ein Clavius, Kircher, Schott oder Ricciolo verfaßt hatten. Die Pendelgesetze lernte er nicht durch aufmerksame Lektüre von Galileis Discorsi kennen, sondern schrieb sie aus Ricciolis Almagestum novum wörtlich ab.2

Nach dem Ersten Weltkrieg studierten entsprechend die jungen Physiker Sommerfelds Atombau und Spektrallinien, ein Werk, das seit 1919 in vielen Auflagen erschien, weit häufiger als die Originalabhandlungen. "Für meine Generation", sagte der 1894 geborene Oskar Klein\ wurde auch Paulis Referat über die Relativitätstheorie in der Mathema­tischen Enzyklopädie (das auch als eigenständiges Buch erschien), "zu einem unserer ganz wenigen theoretisch-physikalischen Bibeln."

Die Polyhistoren bildeten Mittelpunkte im Netz des wissenschaftlichen Briefwechsels und der persönlichen Beziehungen. Im 17. J al1rhundert war für auswärtige Gelehrte, die nach Paris kamen, Marin Merse1me die bevorzugte Kontaktperson. Seine Korrespondenz ging bis nach Tunesien, Syrien und Konstantinopel. Zu den Besuchern und Briefpartnern gehörten Galilei, Huygens, Gassendi, Descartes, Fermat, Hobbes und Pascal. Man hat Mersenne den "Generalsekretär des gelehrten Europa" genannt. Wollte man eine Mittei­lung zur Kenntnis der wissenschaftlichen Welt gelangen lassen, wählte man den Weg des Briefes an den Paulanerpater. Mersenne sorgte zuverlässig fur die Weitergabe.

Es bestand also bereits vor Gründung der wissenschaftlichen Zeitschriften ein Konmm­nikationssystem. Dieses wurde mit der Gründung der wissenschaftlichen Gesellschaften institutionalisiert. Ich komme damit zum zweiten Teil des Referates: auf die Etablie­rung des Zeitschriftenwesens und von Nonnen für die wissenschaftliche Mitteilung.

n.

Mit der Gründung der wissenschaftlichen Gesellschaften wurde das bestehende Kommuni­kationssystem institutionalisiert. Die Gelehrten richteten nun Briefe an den Sekretär der

Page 4: Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik

58 Armin Hermann:

Akademie, und dieser brachte sie zum Druck. In den Philosophical TransaGtions erschei­nenüberschriftenwie "Extract of a letter, written from Rome", oder ein Aufsatz beginnt mit den Worten des Herausgebers Henry Oldenburg: "I have received an Account from very good hands". 1672 informierte Isaac Newton den Sekretär der Royal Society über seine optischen Entdeckungen, und in den Philosophical Transactions wurde sein Schrei­ben im vollen Wortlaut veröffentlicht.

Der Zeitschriftenaufsatz spielte im Wissenschaftsbetrieb eine hervorragende Rolle: Mit einem Zeitschriftenaufsatz wies man sich aus als gelehrter Schriftsteller und konnte Mit­glied werden in der "Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte"; mit einem Zeit­schriftenaufsatz sicherte man sich die Priorität einer Entdeckung. Gegenüber dem bishe­rigen Gelehrtenbriefwechsel hatten die seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ent­standenen Zeitschriften entscheidende Vorteile: Es konnte eine wesentlich größere Zahl von Gebildeten regelmäßig und sicher angesprochen werden. Nachträgliche Konjekturen waren ausgeschlossen.

Nur langsam streiften die wissenschaftlichen Abhandlungen den Briefcharakter ab. In den Annalen der Physik fielen seit 1825 unter Johann Christian Poggendorff Anrede und Schlußfloskel weg. Mit der äußeren änderte sich die innere Form des wissenschaft­lichen Aufsatzes: Die gelehrte und die schöngeistige Literatur gingen in der Entwicklung des Stiles diametral auseinander.

Galileis Schriften haben Saft und Kraft wie das gesprochene Wort. Seine Anhänger suchte er nicht unter den Stubengelehrten, sondern unter den Praktikern, den "experi­mentierenden Meistern"; deshalb appellierte er an den gesunden Menschenverstand und zog es vor, in der "lingua volgare", der Volkssprache, zu publizieren. Weil er sich vom gelehrten Schrifttum absetzen will in wissenschaftlicher Hinsicht, sucht er auch in der Sprache neue Formen. Sein literarisches Meisterwerk ist der Saggiatore von 1623. Jedem der 53 Abschnitte stellt Galilei die Sätze des Jesuitenpaters Orazio Grassi voran und zerpflückt sie mit ätzender Polemik. Mit leidenschaftlichem Temperament faßt er den Gegner und zieht die Lacher auf seine Seite. Wie ein Mann des Volkes liebt er die drastische Zuspitzung, nie ist er verlegen um ein derbes Wort oder einen kräftigen, bild­haften Vergleich. Der Streit um das Wesen und Eigenschaften der Kometen ist längst gegenstandslos geworden; Bestand aber haben die glänzenden Formulierungen. So ver­gleicht Galilei die Ilias oder den Rasenden Roland als Produkte der menschlichen Phan­tasie mit dem Weltall als Schöpfung Gottes4

:

Das Buch der Natur ist in mathematischer Sprache geschrieben, und seine Buchstaben sind Drei­ecke, Kreise und andere geometrische Figuren. Ohne diese Mittel ist es dem Menschen unmöglich, auch nur ein einziges Wort zu verstehen.

Während Galilei im Dialogo und in den Discorsi nur indirekt auftritt, ist Kepler als leben­dige Person in seinen Werken gegenwärtig; in der Astronomia novaschrieb er5

:

Obgleich ich bis fast zum Verrücktwerden nachdachte, konnte ich nicht ausfindig machen, warum der Planet nach Ausweis der Gleichungen lieber den elliptischen Weg geht. Oh, ich närrischer Kauz!

Kepler hat gleichsam den Leser vor sich und spricht ihn immer wieder persönlich an6 :

Du siehst, nachdenklicher und scharfsinniger Leser, daß die Vorstellung einer vollkommen kreis­förmigen exzentrischen Planetenbahn zahlreiche Ungenauigkeiten im Gefolge hat. Und gemeinsam mit dem Leser betrachtet er das Erreichte:

Wie klein ist das Getreidehäufchen, das wir diesmal beim Dreschen gewonnen haben! Aber sieh nun auch den großen Haufen Spreu an!

In der Astronomia nova tritt besonders deutlich hervor, wie sehr das Dialogische Keplers innerstem Wesen entsprach7

:

Page 5: Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik

Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik 59

Denn selbst hier, wo es sich letzten Endes um die sachliche Erörterung rein wissenschaftlicher Fragen handelte, bricht durch den Fluß der erzählenden Darstellung immer wieder der Dialog durch, so daß man unwillkürlich den Eindruck gewinnt, Keplers volle Fähigkeit zu belebter Darstellung habe sich erst an der Vorstellung einer Zwiesprache mit seinem imaginären Zuhörer entzündet.

Später haben insbesondere Lessing und Goethe den dialogischen Stil gepflegt. Goethe berichtet, daß er oft einen fiktiven Gast zu sich bat, bequem Platz nehmen ließ, um ihn dann im Auf- und Abgehen anzusprechen. Lessings Prosaschriften gehen immer wieder in Gespräche über; Schlag auf Schlag folgen Frage und Antwort. Einwand und Widerlegung.

Während in der sogenannten "schönen Literatur" der lebendige Redestil zur Meister­schaft entwickelt und der Dialog, "der das Denken gesellig macht", gepflegt wurde, ging in den wissenschaftlichen Publikationen die Tendenz gerade in die entgegengesetzte Rich­tung. Menschenferne Nüchternheit wurde das stilistische Ideal. In Deutschland spielte dabei, wie mir scheint, die Auseinandersetzung mit der romantischen Naturphilosophie eine entscheidende Rolle. Ein zünftiger Physiker wollte sich in allem, auch im Stil, von den Naturphilosophen unterscheiden. Da diese in kühnen Analogien schwelgten, in phan­tastischen Kombinationen, und eine hymnische Sprache bevorzugten, wurden die Ab­handlungen der Physiker betont sachlich gehalten, ja geradezu karg und nüchtern. Nur ein Alexander von Humboldt konnte es wagen, mit dichterischem Schwung zu schreiben (und hinter der vorgehaltenen Hand warf man ihm denn auch "Geschwätzigkeit" vor).

Die fünfzig Jahre 1795 bis 1845, die gekennzeichnet sind durch den Kampf gegen die Naturphilosophie und ihre schließliehe Überwindung, haben den Stil der physikalischen Veröffentlichung nachhaltig geprägt: In schmuckloser Sachlichkeit hatte man die fertigen Ergebnisse mitzuteilen. Felix Klein sieht die Zäsur bei Carl Friedrich Gauß8 : Noch Euler leitete, wie Kepler, den Leser auf der Gedankenbahn, die er selber zurückgelegt hatte, und warnte vor Irrwegen. Die Absicht von Gauß aber war, ein in allen Teilen fertiges Gedan­kengebäude vorzuführen. "Ich hasse alles übereilte Publizieren", sagte Gauß, "und wün­sche immer nur Reifes zu geben." Man dürfe einem Bauwerk, pflegte er sich auszudrük­ken, nach seiner Vollendung nicht mehr das Gerüst ansehen. Dieser Grundsatz spricht sich auch in dem Siegel aus, das er benutzte: Es zeigt einen Baum mit wenigen Früchten und der Umschrift: Pauca sed matura.

Gauß war für die folgenden Generationen von Mathematikern und Physikern das Vorbild, auch was den knappen Stil seiner Veröffentlichungen betrifft. Als Alfred Lande die Veröffentlichung von Zwischenergebnissen vorbereitete, von "Halbfertigfabrikaten", wie Sommerfeld abfallig urteilte, die "in der nächsten Publikation abgeändert werden", mahnte der Geheimrat9:

Pauca sed matura. Mit den Prioritäten ist's nicht so gefährlich. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde der Stil der wissenschaftlichen Abhandlung wo­

möglich noch unpersönlicher und knapper. Fast schon war der Gebrauch des Wortes ich" verpönt und es mußte in der 3. Person und abgekürzt "Verf." heißen. Wolfgang

Pauli hätte in' einem Zeitschriftenaufsatz nicht mehr schreiben dürfen (aber im Brief konnte er es) 10:

Jetzt halte ich schon auf Seite 12, und 2 Uhr 40 Nacht ist auch, ein Zeitpunkt, wo ich in Ehren und mit gutem Gewissen schlafen gehen kann. [ ... ] Ich freue mich schon sehr auf Ihre Antwort. Jetzt können Sie einmal kritisieren und pöbeln!

Der Zeitschriftenherausgeber verlangte Kürze; so schrieb Ende 1909 der Redakteur der Physikalischen Zeitschrift: Der Materialandrang ist so stark, daß ich ihn nur mit Mühe unterbringen ka1m auch bei starker Durch­siebung. So bin ich gezwungen, in bezug auf Knappheit und Kürze der Darstellung die äußersten An­forderungen zu stellen.

Page 6: Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik

60 Armin Hermann:

Auch fur die Annalen der Physik malmten Wilhelm Wien und Max Planck oft zu ener­gischen Kürzungen. Die beiden Annalen-Redakteure stimmten überein, "daß man einem Autor, der soeben erst gesprochen hat, nicht gleich wieder in der nämlichen Sache [ ... ] das Wort erteilt."

Die zum äußersten getriebene Kürze galt aber nicht etwa als ein durch die rasch stei­gende Zahl der Physiker, die alle in den wenigen Zeitschriften gedruckt sein wollten, bedingter Notstand, dem man sich fügen mußte, so gut es eben ging. Die Knappheit war vielmehr das methodische Ideal, wie es, fast schon zum Exzeß getrieben, Gustav Kireh­hoff in seinen Lehrbüchern demonstriert hatte. Von Kirchhoff schreibt sich wesentlich der Stil her, als vornehmstes Gesetz das Vermeiden voreiliger Hypothesen anzusehen und jede persönliche Anteilnal1me, Entdeckerfreude oder staunende Bewunderung vor der unerschöpflich geheimnisvollen Welt der Erscheinungen zu unterdrücken. Dreilmndert Jahre nach Kepler hätte eine Veröffentlichung seiner Art als Zumutung gegolten. Keine Spur mehr von der einstigen behaglichen Breite; kein persönliches Wort, das den Leser ermunterte, kein Exkurs, der nicht direkt mit der Sache zu tun hatte. In den exakten Naturwissenschaften "schwebt als Ideal vor", so hat sich Erwin Schrödinger13 einmal geäußert, alles Persönliche, Subjektive muß ausgeschaltet werden, das Ziel ist ausschließlich die Auffindung reiner, objektiver Wahrheit, die jeder nachprüfen kann mit demselben Ergebnis, unabhängig von seinem Temperament. Oft hört man sogar: nicht nur der einzelne Mensch solle als Subjekt ausgeschaltet wer­den, auch die Gattung Mensch als Subjekt des Forschens. Es müsse mit jeder Art von ,Anthropomor­phismen' aufgeräumt werden, so daß wenigstens hier [in den exakten Naturwissenschaften) nicht mehr, wie die Sophisten wollten, der Mensch das Maß aller Dinge sei.

Galilei und Kepler hatten über das geschrieben, was ihnen am Herzen lag. Seither hat die öffentliche wissenschaftliche Mitteilung il1re Form völlig gewandelt. "Man legte sich einen Stil zu", konstatierte H. A. Kramers, "in dem alle menschlichen Regungen von nicht rein verstandesmäßiger Art verboten waren. " 14 Mit der Zusammendrängung der Ergebnisse auf engsten Raum fielen gerade die für den Leser interessanten Aufgaben fort. Die Diskussionen über die Grund- und Grenzfragen, über die wirklich umstrittenen Pro­bleme, bei denen "das Herz zittert", spielten sich nicht in den Spalten der Fachzeit­schriften ab. Wer selbst weiterarbeiten wollte, war fast immer auf zusätzliche Informa­tionen angewiesen.

Wissenschaftstheoretiker unterscheiden zwischen dem ,context of discovery' und dem ,context of justification'. In den Zeitschriftenaufsätzen erschienen die Ergebnisse nur im Rahmen des ,Begründungszusammenhanges'. Sorgfaltig getilgt waren die anthropomor­phen Vorstellungen, die Analogien, die Elemente der Anschauung, die zur Entdeckung gefuhrt hatten.

Erwin Schrödinger hat mit Recht festgestellt: In einem physikalischen Aufsatz bleiben die eigentlichen Beweggründe des Autors, die Anlaß für die Untersuchung waren, meist im Dunkel 15:

[Erst im persönlichen Gespräch,] wenn wir dann uns bemühen, die Zusammenhänge aufzudecken, unser Interesse zu verteidigen: dann zeigt sich deutlich an der plötzlich verstärkten Beteiligung des Gemüts, daß wir erst jetzt auf das zu sprechen kommen, was uns eigentlich am Herzen liegt.

Vieles Wesentliche war nur im persönlichen Gespräch und im privaten Brief - der Fortsetzung des Gesprächs mit anderen Mitteln zu erfahren. Nur der Physiker konnte damit rechnen, die aktuellen Probleme zu verstehen und zu ilirer Lösung beizutragen, der an den Diskussionen teilnahm und selbst Briefe schrieb und erhielt. In seiner Ge­schichte des Zeitschriftenwesens konstatierte J oachim Kirclmer, daß nach Gründung der gelehrten Journale in der zweiten Hälfte des 17. J al1rhunderts "die Zeitschriften die wissenschaftliche Korrespondenz abzulösen begannen. " 16 Das ist schon ftir das Ende des

Page 7: Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik

Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik 61

17. Jahrhunderts und das 18. Jahrhundert ein Irrtum und noch mehr ftir das 19. und 20. Jahrhundert.

Im letzten Abschnitt meines Referats möchte ich noch speziell auf den Wissenschaftsbe­trieb im 20. Jahrhundert eingehen, genauer auf die internationale Gemeinschaft der jungen theoretischen Physiker, die in den zwanziger J al1ren die Quantentheorie geschaffen haben.

m.

Reisenberg erzählte vom Münchner Institut ftir theoretische Physik 17:

Über die neuesten Entwicklungen erfuhren wir entweder durch die neuen Zeitschriften oder durch die Briefe, die Sommerfeld erhalten hatte. Wenn er einen Briefvon Einstein oder Bohr oder von ande­ren aus der Kopenhagener Gruppe erhalten hatte, dann gab er für gewöhnlich diesen Brief an Pauli und sagte: "Pauli, hier sehen Sie, Einstein schreibt das ... , was denken Sie darüber?"

Das galt ftir die J al1re bis 1921. Später waren es dann vor allem die Briefe Paulis (aus Göttingen, Ramburg und Kopenhagen), die ftir die Münchener wegen ihres hohen Infor­mationsgehaltes Bedeutung hatten. So berichtete Pauli im Juni 1923 an Sommerfeld, als dieser nach sechsmonatigem Aufenthalt in den U.S.A. wieder nach München zurück­gekehrt war, über die inzwischen in Kopenlugen erreichten Fortschritte. Auch dort spiel­ten Briefe aus dem Sommerfeld- und Born-Kreis eine entscheidende Rolle. So schrieb Reisenberg an1 28. Oktober 1926 an Pauli: Vielen Dank flir Ihren langen Brief. Daß ich so spät antworte, kommt daher, daß Ihr Brief dauernd hier die Runde macht und Bohr, Dirac und Hund uns darum raufen.

1924 hatte Bohr zusammen mit Kramers und Slater auf sehr unkonventionelle Weise versucht, den Durchbruch zur neuen Physik zu erzielen: Die Erhaltung der Energie sollte fur atomare Einzelprozesse nur im statistischen Mittel gültig bleiben. Born, Schrödinger und andere Kollegen stimmten lebhaft zu. Pauli aber hielt das ftir einen gefahrliehen Irr­weg. Nicht in einem Aufsatz, sondern in einem langen Brief übermittelte er seine und Einsteins Gegenargumente. Leon Rosenfeld erzählte 19

:

A Ietter of Pauli was quite an event. Bohr would take it with him when going about his business, and lose no occasion of looking it up again or showing it to those who would be interested in the problern at issue. On the pretext of drafting a replay, he would for days on end pursue with the absent friend an imaginary dialogue almost as vivid as if he had been sitting there, listening with his sardonic smile.

Seinen Beweis ftir die Äquivalenz der Göttinger Quantentheorie und der Schrödinger­schen Wellenmechanik legte Pauli (damals in Kopenhagen) in einem mit Schreibmaschine geschriebenen Brief an Pascual Jordan in Göttingen dar. Dieser Briefwar ebenso für Max Born bestimmt. Ein Durchschlag ging an Gregor Wentzel. Wie in Miinchen Briefe aus Kopenhagen behandelt wurden, wußte Pauli aus eigener Erfahrung.

"In den zwanziger Jahren", erinnerte sich Goudsmit, "war ein mit der Maschine ge­schriebener Brief fur ein größeres Publikum gedacht und deshalb besonders sorgfältig überlegt. " 20 Als Vervielfältigungsapparate zur selbstverständlichen Ausrüstung von For­schungsinstituten gehörten, entwickelte sich aus dem Schreibmaschinenbrief der ,Pre­print'.

Die scientific community, der die ,Nuova Scienza' zu danken ist, die neuzeitliche Phy­sik, hatte aus Gelehrten bestanden, die im Umkreis von Galilei und Kepler, von Mersenne und Oldenburg lebten und mit ihnen Briefe wechselten. Genau analog war es im 20. Jahr­hundert. Wenn man konsequent sozialwissenschaftlich vorgehen will, so muß man die Zugehörigkeit zur Gruppe über die wissenschaftliche Kommunikation definieren. Die Mitglieder der scientific community, die die neue Atomphysik hervorgebracht hat, sind

Page 8: Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik

62 Armin Hermann:

die Gesprächs- und Briefpartner von Bohr, Sommerfeld, Born, Pauli und Heisenberg. Neben einer Kerngruppe (der die Genannten zugehören) gibt es Physiker, die deutlich weniger eingeschaltet sind in diesen Gedankenaustausch, und Randfiguren, die nur selten einmal eine Meinung in die Debatte werfen oder Information einholen.

So pflegte Planck über Fragen der Quantentheorie einen Briefverkehr mit Einstein, Lorentz, Wien, Sommerfeld und einigen anderen, der 1905 beginnt, angestoßen von der Lichtquantenhypothese Einsteins, langsam intensiver wird und nach einem Höhepunkt um 1911 wieder abfallt. Bei Pauli setzt dieser Gedankenaustausch bereits in jungen Jahren ein, steigert sich in kurzer Zeit zur maximalen Höhe und hält sich dort.

Man müßte den Wissenstransfer in den Briefen informationstheoretisch analysieren: Ganz gewiß bleibt Planck in der Zahl der ,bits' auch in seinem besten Jahr 1911 weit unter Pauli oder Bohr in einem durchschnittlieben Jahr (etwa 1928). Nimmt man das Integral über das ganze Leben, ist der Unterschied um ein Vielfaches größer. Zum Aus­druck kommt hier, daß Planck, der im Jahre 1900 mit seinem Quantenansatz die Ent­wicklung eingeleitet hatte, im Aufbau der Theorie seit Ende des Ersten Weltkrieges nur noch eine Randrolle spielte.

"Naturwissenschaft beruht auf Experimenten", sagte Heisenberg21 in seiner Autobio­graphie, "sie gelangt zu ihren Ergebnissen durch die Gespräche der in ihr Tätigen, die miteinander über die Deutung der Experimente beraten." Die Quantenphysiker verstän­digten sich im Gespräch und im Brief darüber, wie relevante Experimente zu interpre­tieren und neue Ideen zu beurteilen sind.

Als stilistisches Mittel, aber auch um die Bedeutung zu betonen, hat Reisenberg seiner Autobiographie Der Teil und das Ganze die Form von Gesprächen gegeben. Ein Gespräch ist in der direktest möglichen Weise ein Kampf zwischen wissenschaftlichen Positionen. Der Brief steht in gewissem Sinne zwischen dem mündlichen Gespräch und dem Zeit­schriftenaufsatz; als Fortsetzung des Gesprächs mit anderen Mitteln hat er noch viel ge­meinsam mit dem mündlichen Dialog.

Der Mechaniker erreicht eine perfekte Ebene (eine ,Standard-Ebene' absoluter Richtig­keit nach Henry Maudslay) nur dadurch, daß er mindestens drei Ebenen zugleich herstellt und durch abwechselndes Aufeinanderreihen jeder mit jeder anderen die vorspringenden Spitzen beseitigt. So entstand die richtige Form der Atomphysik durch ständige Konfron­tation der Argumente: Bohr mit Pauli, Pauli mit Einstein, Einstein mit Heisenberg, Reisenberg mit Bohr. Bohr allein mit Pauli konnte (vorübergehend) dessen "wissenschaft­liches Gewissen zum Schweigen bringen", aber nach diesen sehr intensiven Gesprächen kam es unweigerlich zur Begegnung mit anderen mündlich oder durch Briefe, und ein erneutes Überprüfen der Argumente, der eigenen und der fremden. Pauli schrieb dazu an Bohr22

:

Selbst wenn es ftir mich psychologisch möglich wäre, mir meine wissenschatlichen Meinungen auf Grund einer Art von Autoritätsglauben zu bilden, so wäre dies doch logisch unmöglich, da die Mei­nungenzweier Autoritäten einander hier so sehr widersprechen.

Das Verfahren zeigt, daß eine scientzfic community mehr ist als eine ,Wissenschaft­liche Schule'. In einer wissenschaftlichen Schule dominiert eine Persönlichkeit und in Streitfällen mag deren Autorität oft entscheidend sein. In der scientific community existieren mehrere Autoritäten (größere und kleinere) und Subjektivitäten schleifen sich viel schneller ab. - Bereits im 18. Jahrhundert gab es ein institutionalisiertes Verfahren, wie eine neue Entdeckung in die scientific community eingebracht wird 23:

Page 9: Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik

Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik 63

Wenn ein Wissenschaftler eine Entdeckung gemacht hatte, wurde sie von ihm nicht sofort publi­ziert, wohl aber einigen Freunden in einem lateinischen Brief mitgeteilt. Diese pflegten dann diese Briefe mit ihren Kollegen und Schülern zu diskutieren, die angegebenen Experimente zu wiederholen und über ihre Erfahrungen zu berichten. Nachdem eine Entdeckung auf diese Weise überprüft war, wurde sie dann wohl auch veröffentlicht, entweder in einer Monographie oder den Mitteilungen einer Akademie.

Nicht viel anders war es im 20. Jahrhundert. Seinen Aufsatz, mit dem er das neuent­deckte Ausschließungsprinzip bekannt machen wollte, hatte Pauli Anfang Dezember 1924 fertiggestellt. Er reichte ihn aber noch nicht gleich bei der Zeitschrift für Physik ein. Pauli war daran gelegen, "erst einmal die Reaktion von Bohrund Reisenberg zu erfahren", und er wollte die Gültigkeit des Prinzips auch bei den komplizierteren Spektren überprüfen. Er sandte deshalb sein Manuskript und einen langen Brief nach Kopenhagen 24, und in den Weihnachtsferien besuchte er Ernst Back in Tübingen. Erst als sich in beiden Fällen seine positiven Erwartungen bestätigten, kam es zur Publikation.

Die Architekten der neuen Atomphysik verhielten sich ähnlich wie noch heute Politi­ker, wenn sie ein möglicherweise umstrittenes Projekt gebilligt haben wollen. Es gibt den sozusagen direkten Weg, die Vorstellungen, die man hat, fertig auszuarbeiten und dem Entscheidungsgremium zur Abstinunung vorzulegen. Dabei läuft man das Risiko der offiziellen Ablehnung. Klüger ist es, zunächst einmal, gleichsam versuchsweise, die Reak­tionen zu testen. So lassen sich gewisse Ausgestaltungen noch korrigieren, Ausgestaltun­gen, die vielleicht nebensächlich sind und das Projekt als Ganzes unnötig gefahrden. Erst wenn das Urteil überwiegend positiv ausfällt, bringt der Politiker seinen Vorschlag als ,Drucksache' offiziell vor das Parlament. Entsprechend diskutierten die Physiker ihre neuen Ideen erst einmal mit den Freunden und Kollegen oder schrieben einen Brief an Bohr oder Sommerfeld, um deren Urteil zu hören. Erst wenn diese Hürde genommen war, wurde ein Aufsatz geschrieben. Ein Beispiel: Als Pauli zur Erklärung des konti­nuierlichen ß-Spektrums ein hypothetisches Teilchen postulierte, das später sogenannte Neutrino, "traute" er sich, wie er berichtete, zunächst nicht, "etwas über die Idee zu publizieren." Er schrieb statt dessen einen ,Offenen Brief'. Empfänger waren die Teil­nehmer einer kleinen Physikertagung in Tübingen. Ein halbes Jahr später trug Pauli selbst seine Idee auf einer Tagung der American Physical Society persönlich vor25 :

Die Sache schien mir aber noch recht unsicher, und ich ließ meinen Vortrag nicht drucken.

IV.

Ich bin damit am Ende meines Referates und fasse noch einmal zusammen. Das wissen­schaftliche Kommunikationssystem gründete sich auf Gespräche, Briefe und Zeitschrif­ten. Das Zeitschriftenwesen war seit den Zeiten von Gauß strengen Normen unterworfen. Besonders deshalb ist der zusätzliche Informationswert der Briefe erheblich. ,Informa­tionswert' bedeutet zunächst Informationswert für den Empfänger des Briefes, also für den zeitgenössischen Physiker, bedeutet aber auch Informationswert für den heutigen Wissenschaftshistoriker. Wer zu seiner Zeit beitragen wollte zum Fortschritt der Wissen­schaft, war angewiesen auf die in den Briefen gegebenen Informationen. So scherzte einmal Paul Ehrenfest gegenüber Wolfgang Pauli 26:

Ihr verdammten Obcrgescheiterln, die Ihr durch mündliche Besprechungen und Briefwechsel immer schon lange wißt, was alles falsch ist, bevor es noch publiziert ist.

Wer die zusätzlichen Informationen durch die Briefe besaß, war Insider, und im Regelfall konnte nur der Insider positive Beiträge zur Wissenschaft leisten. Die wissen­schaftlichen Briefe haben funktionale Bedeutung für das Entstehen von Wissenschaft.

Page 10: Die Funktion von Briefen in der Entwicklung der Physik

64 Armin Hermann

JLiteratur

* Vortrag beim XVII. Symposium der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichtc, Berlin, 25. Mai 1979. 1 Johannes Kepler: Dissertatio cum Nuncio Sidereo. Prag 1610. Deutsche Übersetzung von Franz

Hammer. Harnburg 1964; hier S. 5. 2 Vgl. die kommentierenden Anmerkungen von Hans Schimank und Fritz Krafft zu: Otto von

Guerickes Neue (sogenannte) Magdeburger Versuche über den leeren Raum ... Übersetzt und hrsg. von Hans Schimank, unter Mitwirkung von Hans Gossen , Gregor Maurach und Fritz Krafft. Düsseldorf 1969; Hans Schimank: Pendelversuche und Fallversuche in Bologna. In: Ernst Brüche (Hrsg.): Sonne steh still. 400 Jahre Galileo Galilei. Mosbach 1964; hier S. 83.

3 Oskar Klein: Wolfgang Pauli. Kosmos (Stockholm) 37 (1959), S. 9-12. Zitiert nach einer von 0. Klein selbst angefertigten deutschen Übersetzung im Pauli-Nachlaß.

4 Galileo Galilei: Il Saggiatore. In: Derselbe: Le opere. Edizione nazionale. Vol. VI, S. 545. 5 Johannes Kepler: Neue Astronomie. Übersetzt und eingeleitet von Max Caspar. Berlin 1929,

S. 345. 6 J. Kepler (wie Anm. 5), S. 295. 7 Hans Schimank: Epochen der Naturforschung. 2. Auflage, München 1964, S. 95. 8 Felix Klein: Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik im 19. Jahrhundert. Bd. 1, Berlin

1926, s. 5. 9 Brief von Arnold Sommerfeld an Alfred Lande, 18. Dezember 1919. Abgedruckt in Paul Forman:

Alfred Lande and the Anomalaus Zeeman Effect, 1919-1921. Historical Studies in the Physical Seiences 2 (1970), S. 153-261.

10 Brief von Wolfgang Pauli an Werner Heisenberg, 19. Oktober 1926. Abgedruckt in Wolfgang Pauli: Wissenschaftlicher Briefwechsel mit Bohr, Einstein, Reisenberg u.a. Band I (1919-1929). Heraus­gegeben von Armin Hermann/Karl von Meyenn/V.F. Weisskopf. New York, Heidelberg, Berlin 1979.

11 Brief von Friedrich Krüger an Johannes Stark, 10. Dezember 1909. Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Nachlaß Stark.

12 Brief von Max Planck an Wilhelm Wien, 10. November 1906. Staatsbibliothek Preußischer Kultur­besitz Berlin.

13 Erwin Schrödinger: Über Indeterminismus in der Physik. Ist die Naturwissenschaft milieubedingt? Zwei Vorträge ... Leipzig 1932, S. 26.

14 Hendrik Antony Kramers: Physiker als Stilisten. Die Naturwissenschaften 23 (1935), S. 297-301. 15 E. Schrödinger (wie Anm. 13), S. 33. 16 Joachim Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen. Seine Geschichte und seine Probleme. Teil I,

Wiesbaden 1958, S. 14. 17 Werner Heisenberg: Interview mit den Sources for History of Quantum Physics. Niels Bohr-Archiv

Kopenhagen. l8 Brief von Werner Reisenberg an Wolfgang Pauli, 28. Oktober 1926 (vgl. Anm. 1 0). 19 Leon Rosenfeld: Niels Bohr in the Thirties. In: Stefan Rozental (Hrsg.): Niels Bohr. His life and

work as seen by his friends. Amsterdam 1968, S. 119. 20 Samuel A. Goudsmit: Die Entdeckung des Elektronenspins. Physikalische Blätter 21 (1965),

S. 445-453. 21 Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze. München 1976, Vorwort. 22 Brief von Wolfgang Pauli an Niels Bohr, 2. Oktober 1924 (vgl. Anm. 10). 23 Henry E. Sigerist: Nationalism and internationalism in medicine. Bulletin ofthe History of Medi­

cine 21 (1947), S. 5-16. 24 Brief von Wolfgang Pauli an Niels Bohr, 12. Dezember 1924 (vgl. Anm. 10). 25 Wolfgang Pauli: Zur älteren und neueren Geschichte des Neutrinos. In: Derselbe: Aufsätze und

Vorträge über Physik und Erkenntnistheorie. Braunschweig 1961, S. 156-180. 26 Brief von Paul Ehrenfest an Wolfgang Pauli, 31. Oktober 1932 (Edition in Vorbereitung).

Prof. Dr. Armin Hermann Historisches Institut der Universität Stuttgart Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik Friedrichstraße 10 D-7000 Stuttgart 1