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Die Geschichte ist offenIn memoriam Fritz Stern

Vorträge und Kolloquien

Band 23

Jena CenterGeschichte des 20. Jahrhunderts20th Century History

Wallstein Verlag

Die Geschichte ist offenIn memoriam Fritz Stern

Herausgegeben vonNorbert Frei

© Wallstein Verlag GmbH 2017Vom Verlag gesetzt aus der Sabon und der UniversFotos: Louisa Reichstetter. Foto S. 13: FSU JenaUmschlaggestaltung: Steffen Röder, BerlinFotograf: Arno Burgi © dpa - Report

ISBN (Print) 978-3-8353-3159-4ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4146-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Angela Merkel

Grußwort 9

Walter Rosenthal

Begrüßung 11

I. Fritz Stern als Historiker

Norbert Frei im Gespräch mit

Wolfgang Beck, Volker Berghahn, Benjamin Hofmann, Gangolf Hübinger, Jürgen Osterhammel und Gesine Schwan 18

II. Fritz Stern und die Politik

Norbert Frei

Einführung 48

Bernhard Vogel

Unsere zweite Chance 51

Janusz Reiter

Verlorene Heimat 57

Jürgen Habermas

Bürger, Intellektueller, Kompass 63

Haug von Kuenheim

Fritz, die Gräfin und der 20. Juli 69

Joschka Fischer

Fritz Stern und seine Sorge um die Demokratie 74

Elisabeth Sifton

Varieties of Stories 85

III. Fritz Sterns letzte Interviews

»Wir stehen vor einem Zeitalter der Angst« 92

»Die Freiheit ist ungeheuer verletzlich« 96

»Das war keine Heimat mehr« 100

IV. Nachrufe auf Fritz Stern

Gunter Hofmann

Eine Stimme wider das alte Deutschland 104

Patrick Bahners

Ein Alliierter der Vernunft 109

Detlef Felken

Ein Weltbürger mit Geist und Witz 111

Max Vögler

Fritz Stern (1926-2016) 115

Norbert Frei

Er glaubte an Vorbilder 119

Elisabeth von Thadden

Ein kritischer Freund 124

Michael Brenner

Liberal im besten Sinne 128

V. Bibliographie Fritz Stern

Bücher 134

Herausgeberschaften 135

Aufsätze (Auswahl) 136

Autoren 142

Nachwort und Dank 144

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Angela Merkel

Grußwort

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde und Weggefährten von Fritz Stern,

als Gelehrter, Mahner und Transatlantiker hat Pro-fessor Fritz Stern unsere Sicht auf die wechselvolle deutsche Geschichte geprägt und den Blick für unse-re Verantwortung in der Gegenwart geschärft. Seine Gedanken leben in unseren Köpfen und Herzen ein-geschrieben fort. Dies findet auch Ausdruck in Ihrem Zusammenkommen an seinem Geburtstag, um seiner zu gedenken. Ich übermittle Ihnen meine herzlichsten Grüße.

Fritz Stern hat deutsch-amerikanische Geschichte geschrieben – mit seinem eigenen Lebensweg und mit seinen vielgelesenen Schriften. Er hat uns neue Wege zu einem besseren Verständnis der Entwicklungen Europas und insbesondere Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert erschlossen. Sein Wirken als weithin geachteter Historiker ging einher mit der Rückkehr Deutschlands in den Kreis der demokratischen Staa-tengemeinschaft nach dem Ende des Zweiten Welt-kriegs und des Zivilisationsbruchs der Shoah. In Zeiten des Umbruchs und neuer Herausforderungen mahnte er stets die individuelle Verantwortung für die Wah-rung der Freiheit und Würde des einzelnen Menschen

an. Fritz Sterns Vermächtnis lebt für unsere innere Ori-entierung fort. Von unvergleichlich großer Bedeutung ist dabei sein Werk Five Germanys I Have Known.

Fritz Sterns Tod im vergangenen Jahr war ein schmerzvoller Verlust. Ich selbst vermisse die Begeg-nungen und Gespräche mit ihm. Umso mehr freut es mich, dass Sie im Geiste und zu Ehren Fritz Sterns die Debatte über die innere Verfasstheit unseres Landes und unserer Demokratie fortsetzen. Dafür danke ich Ihnen und wünsche Ihnen einen anregenden und berei-chernden Austausch.

Angela Merkel, Fritz Stern

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Walter Rosenthal

Begrüßung

»Ich wurde am 2. Februar 1926 geboren, zwei Wochen vor der abschließenden Lehrerprüfung meiner Mut-ter«, schreibt Fritz Stern in seinen Erinnerungen. Und er fährt fort: »Genannt wurde ich nach Fritz Haber, der auch mein Taufpate war; meine weiteren Namen waren Richard und Oskar, nach meinen beiden Groß-vätern. Habers Namen zu tragen hat mir mein Leben lang etwas bedeutet: ein Geschenk und eine Last. Zugleich wiesen mein Vor- und mein Nachname auf unterschiedliche Ursprünge hin: Fritz ist jedenfalls sehr deutsch, während Stern erkennbar jüdisch ist.«

Dass der heutige Tag, Fritz Sterns 91. Geburtstag, genau die richtige Gelegenheit für eine Rückschau auf sein Leben und Wirken bietet, darin fühle ich mich mit Blick auf seine Autobiographie bestätigt, die 2005 unter dem Titel Fünf Deutschland und ein Leben er-schien. In der von mir zitierten Passage wird deutlich, wie unauflösbar Sterns Leben mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts verwoben ist. 1926 wurde er in Bres-lau geboren; 1938 konnte er mit seiner Familie in die USA fliehen, zwei Monate bevor in Deutschland die Synagogen brannten. Das Erlebnis der Weltkrise sollte Sterns persönliche und berufliche Entwicklung leiten. Aber auch die starke Prägung seiner Familie durch die Naturwissenschaften und die Medizin tritt in Fritz

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Sterns Erinnerungen deutlich hervor: Alle vier Urgroß-väter, die beiden Großväter sowie der Vater waren Ärzte, sein Patenonkel Fritz Haber sowie sein leiblicher Onkel Otto Stern Nobelpreisträger der Chemie bezie-hungsweise der Physik. Und sogar Albert Einstein be-riet Fritz Stern später in Berufsfragen. Ob zum Guten oder zum Schlechten, sei dahingestellt: Denn als der 18-jährige Stern gestand, dass er sich nicht schlüssig sei, welchen Beruf er ergreifen solle, riet Einstein ihm: »Das ist einfach: Medizin ist eine Wissenschaft und Geschichte nicht. Also Medizin.« Aber Stern folgte seinem Instinkt und entschied sich für die Geschichte, »die schließlich auch Wissenschaft ist«. Als Arzt könn-te ich nun bedauern, dass Stern mit der Familientradi-tion gebrochen hat, aber dass er den Mut dazu hatte, das freut uns in Jena umso mehr. Denn der Name Fritz Stern ist auf besondere Weise mit der Friedrich-Schil-ler-Universität verbunden, genauer noch: mit dem Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Verehrte, liebe Frau Sifton, verehrte Vortragende, liebe Gäste und liebe Freunde, ich begrüße Sie alle herzlich hier im Allianz Forum zu unserer Ehrenver-anstaltung in Erinnerung an Fritz Stern. Der heutige Nachmittag steht unter dem Titel »in memoriam«, und damit ist zugleich das Programm bezeichnet. Heute, so möchte ich sagen, geht es uns um die Frage nach der Präsenz des nun Abwesenden.

Als das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts im Januar 2006 eröffnet wurde, hielt Fritz Stern die Festrede – und sah in der Gründung »eine Notwendig-keit, eine Herausforderung und eine Verpflichtung«. Möglich gemacht wurde das Jena Center durch eine großzügige Spende des in der Schweiz und in den USA lebenden Ehepaares Dr. Christiane und Dr. Nicolaus-Jürgen Weickart. Ihnen möchte ich dafür meinen herz-lichsten Dank aussprechen. Ebenso danke ich meinem Kollegen Norbert Frei. Seinem Engagement verdan-ken wir nicht nur das Zustandekommen der heutigen Veranstaltung, sondern auch die Gründung des Jena

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Center und damit die institutionelle Anbindung Fritz Sterns an unsere Universität.

Der Stern’schen Forderung entsprechend, dass »Ge-schichte in ihrem globalen Kontext verstanden werden muss«, lenkt das Jena Center den Fokus seiner Arbeit auf die Verknüpfung unterschiedlicher historischer Deutungsansätze und internationaler Forschungsper-spektiven. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Folge-wirkungen in Deutschland und Europa – bis in die Ge-genwart hinein. Dafür bringt das Jena Center über eine internationale Gastprofessur und ein Gastdozenten-programm jedes Semester hochrangige Gelehrte und Geschichtsvermittler nach Jena: nicht nur akademisch tätige Historiker, sondern auch Journalisten, Doku-mentarfilmer, Publizisten, Lektoren und Archivare aus den USA, aus Großbritannien, Israel, Frankreich, Russ-land, den Niederlanden und aus Deutschland. Mehr als 80 Promovierende aus dem In- und Ausland sind seit 2006 Mitglied der Doktorandenschule des Jena Center gewesen. Sie alle haben in einer Atmosphäre der intellektuellen Lebendigkeit und akademischen Di-versität neueste Forschungsfragen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts diskutieren können. Einer, der als Gastprofessor unmittelbar zu dieser Atmosphäre bei-

Walter Rosenthal

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getragen hat – neben anderen wie Saul Friedländer, Mi-chael Stolleis, Volker Berghahn oder Mary Fulbrook –, war Fritz Stern.

In seiner Rede zur Eröffnungsveranstaltung des Jena Center mahnte Stern auf eindrucksvolle Weise: »Das 20. Jahrhundert lastet auf uns allen, wir leben in seinem Schatten und in seinem Schutt. […] Jena und seine Universität scheinen mir ein selten guter Ort für die Erforschung der Geschichte des 20. Jahrhun-derts zu sein.« Der erste dieser zwei Sätze – »das 20. Jahrhundert lastet auf uns allen« – spricht mich auch persönlich an. Er ruft mir die Geschichte meiner eigenen Familie ins Bewusstsein: die Bedrohung mei-ner Großeltern durch nationalsozialistische Nachbarn oder das Erlebnis meiner damals 10-jährigen Mutter, die 1938 die Synagoge in unserer Heimatstadt Siegen brennen sah. Dieses Erlebnis hat sich fest in unser Fa-miliengedächtnis eingeprägt. Derlei Erfahrungen und Berichte haben mir schon als Kind verdeutlicht, dass die Diktatur des Nationalsozialismus auch etwas mit mir zu tun hat.

Sterns Hinweis auf »Jena und seine Universität« hat mich aufhorchen lassen, weil er für unsere Universität eine Pflicht formuliert. Sie besagt, dass die in Weimar und Jena entwickelte Idee der Humanität und Welt-bürgerlichkeit, mit der die Namen Goethe und Schiller verbunden sind, heute auch vor dem Hintergrund des Scheiterns ebenjener Bildungstradition erforscht wer-den muss. Nicht nur Buchenwald, über der Kulturstadt Weimar gelegen, vergegenwärtigt uns die Mitschuld am Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts, auch die Friedrich-Schiller-Universität war nur allzu bereit, den Weg zu einer »SS-Universität« zu gehen. Gerade un-ter Berufung auf das Erbe Ernst Haeckels, der bis zu seinem Tod 1919 jahrzehntelang in Jena lehrte, ver-suchte sie, der menschenverachtenden Rassenlehre der Nationalsozialisten ein wissenschaftliches Fundament zu bieten. Es ging hier um nicht weniger als um einen Paradigmenwechsel im Wissenschaftsverständnis: An