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DIE LOGIK REINER FORMEN Modiano und die drei Funktionen des Namens nach Barthes Christina Pawlowitsch Patrick Modiano, La place de l‘étoile, Gallimard, 1968 Patrick Modiano, La ronde de nuit, Gallimard, 1969 Patrick Modiano, Villa Triste, Gallimard, 1975 Patrick Modiano, Rue des Boutiques Obscures, Gallimard, 1978 Patrick Modiano, Dora Bruder, Gallimard, 1997 Patrick Modiano, Accident nocturne, Gallimard, 2003 Patrick Modiano, L’herbe des nuits, Gallimard, 2012 Patrick Modiano, Encre sympathique, Gallimard, 2019 I. Die gesamte Suche nach der Verlorenen Zeit kommt – poetisch gesehen – aus den Namen, sagt Roland Barthes über Prousts Romanzyklus. 1 Barthes setzt als anerkannt voraus, dass Die Suche die Geschichte der Komposition eines Romans ist. »In drei Akten«, wie er präzisiert: Akt 1, der junge Erzähler erkennt in sich den Wunsch zu schreiben. Akt 2 – der Hauptteil dessen, was als die verlorene Zeit bezeichnet werden kann – handelt von der Unfähigkeit zu schreiben. Akt 3, als der Held das Vorhaben zu schreiben schon aufgegeben hat, und sich so desillusioniert auf die Matinée der Herzogin Guermantes begibt, findet er am tiefsten Punkt des Rückzugs, »durch eine wahrhaft dramatische Umkehrung«, wie 1 Roland Barthes: Proust et les noms, in: Le degré zéro de l’écriture suivi de Nouveau essais critiques, Editions du Seuil, Paris 1972 [im Lauftext beziehen sich Barthes Zitate, wenn nicht anders vermerkt, auf diesen Text, nach dieser Fassung, in eigener Übersetzung, mit Seitenzahl in Klammern], hier 124. Der Text erschien zuerst in: To Honor Roman Jakobson, Essays on the Occasion of his Seventieth Birthday, De Gruyter Mouton, Den Haag, 1967.

DIE LOGIK FORMEN Modiano und die drei Funktionen des ... · Proust hat, sagt Barthes, um Die Suche nach der Verlorenen Zeit schreiben zu können, selbst die Phasen einer solchen Initiierung

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  • DIE LOGIK REINER FORMEN

    Modiano und die drei Funktionen des Namens nach Barthes

    Christina Pawlowitsch Patrick Modiano, La place de l‘étoile, Gallimard, 1968 Patrick Modiano, La ronde de nuit, Gallimard, 1969 Patrick Modiano, Villa Triste, Gallimard, 1975 Patrick Modiano, Rue des Boutiques Obscures, Gallimard, 1978 Patrick Modiano, Dora Bruder, Gallimard, 1997 Patrick Modiano, Accident nocturne, Gallimard, 2003 Patrick Modiano, L’herbe des nuits, Gallimard, 2012 Patrick Modiano, Encre sympathique, Gallimard, 2019

    I. Die gesamte Suche nach der Verlorenen Zeit kommt – poetisch gesehen – aus den Namen, sagt Roland Barthes über Prousts Romanzyklus.1 Barthes setzt als anerkannt voraus, dass Die Suche die Geschichte der Komposition eines Romans ist. »In drei Akten«, wie er präzisiert: Akt 1, der junge Erzähler erkennt in sich den Wunsch zu schreiben. Akt 2 – der Hauptteil dessen, was als die verlorene Zeit bezeichnet werden kann – handelt von der Unfähigkeit zu schreiben. Akt 3, als der Held das Vorhaben zu schreiben schon aufgegeben hat, und sich so desillusioniert auf die Matinée der Herzogin Guermantes begibt, findet er am tiefsten Punkt des Rückzugs, »durch eine wahrhaft dramatische Umkehrung«, wie

    1 Roland Barthes: Proust et les noms, in: Le degré zéro de l’écriture suivi de Nouveau essais critiques, Editions du Seuil, Paris 1972 [im Lauftext beziehen sich Barthes Zitate, wenn nicht anders vermerkt, auf diesen Text, nach dieser Fassung, in eigener Übersetzung, mit Seitenzahl in Klammern], hier 124. Der Text erschien zuerst in: To Honor Roman Jakobson, Essays on the Occasion of his Seventieth Birthday, De Gruyter Mouton, Den Haag, 1967.

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    Barthes sagt, die Fähigkeit zu schreiben (le pouvoir d’écrire) – jener Teil des Romans, den Proust die Die Wiedergefundene Zeit nennt.2 Die Fähigkeit zu schreiben, so analysiert Barthes, eröffnet sich dem Helden durch eine Bewegung, die sich ebenso in drei Momenten vollzieht. Der erste Moment, in Barthes Zerlegung, zerfällt wiederum in drei Momente – drei Episoden des Aufblitzens der Erinnerungen (trois réminiscences), ausgelöst durch drei Zufälle bei der Ankunft des Erzählers im Stadtpalais der Guermantes (ein unebener Pflasterstein im Innenhof, den sein Fuß berührt; das Geräusch eines kleinen Löffels, der gegen einen Teller schlägt; eine Serviette, die ein Diener ihm reicht). Die dadurch ausgelösten Erinnerungen (der Markusdom; drei Bäume aus dem Zug betrachtet, die den letzten Anstoß dazu gegeben hatten, das Schreiben aufzugeben; Balbec, ein von Proust erfundener Ort am Meer in der Normandie) bescheren dem Erzähler Augenblicke des Glücks, die es nun zu verstehen gilt, so Barthes, »wenn man sie bewahren oder zumindest nach Belieben abrufen können möchte« (119). Der zweite Moment dieses Zur-Fähigkeit-des-Schreibens-Kommen besteht darin, dass sich der Erzähler der Suche nun daran macht, systematisch jene Zeichen, die er empfangen hat, zu verstehen, was ihn, in Barthes Interpretation, zugleich dazu bringt, »die Welt und das Buch – das Buch als Welt und die Welt als Buch« zu verstehen (119).3 Ein letztes Hindernis, so Barthes, stellt sich dem Erzähler der Suche aber noch: auf die geladenen Gäste blickend – die er seit einiger Zeit aus den Augen verloren hatte – merkt er, dass sie alle gealtert sind. Die Zeit, die ihm die Fähigkeit zu Schreiben gegeben hat, so fasst Barthes die Gedanken des Erzählers zusammen, droht im gleichen Moment, sie ihm zu entreißen: »Wird er lange genug leben, um sein Werk zu schreiben?« »Ja,« – und damit schließt sich die Bewegung – »wenn er sich dazu entschließt, sich von der Welt zurückzuziehen; sein mondänes Leben zu verlieren, um sein Leben als Schriftsteller zu retten« (119). Proust hat, sagt Barthes, um Die Suche nach der Verlorenen Zeit schreiben zu können, selbst die Phasen einer solchen Initiierung durchlaufen. Auf den Wunsch zu schreiben, im Lycée geformt, wäre, so Barthes, »eine lange Phase, gewiss nicht der Unmöglichkeit des Schreibens, wohl aber eines gewissen Herumtastens« (119) gefolgt. Viele der großen Einheiten dessen, was später Die Suche nach der Verlorenen Zeit werden sollte, wie etwa die Beziehungen zwischen den Charakteren und die Schlüsselmomente des Romans, erklärt Barthes mit Hinweis auf frühere Schriften Prousts, wären schon lange vorhanden gewesen. Es mangelte Proust aber für lange Zeit der, in Barthes’ Worten, »der alles begründende Akt«, der ihm schließlich erlauben würde von 1909 bis zu seinem Tod (1922), um den Preis eines Rückzugs ähnlich jenem, den der Erzähler ankündigt, die sieben Bände der Suche nach der Verlorenen Zeit zu schreiben. »Was also«, fragt Barthes, »ist jener Zufall, nicht biografischer sondern schaffender Natur, der ein Werk, das zwar schon entworfen und durchdacht, aber noch nicht geschrieben ist, zusammenfügt?«

    Was ist der neue Zement, der jenen vielen unstetigen, verstreuten Einheiten eine große, syntagmatische Einheit geben wird? Was ist es, das Proust erlaubt, sein Werk niederzuschreiben? Mit einem Wort, was ist es, das der Schriftsteller findet in Symmetrie zu den Erinnerungen, die der Erzähler auf der Matinée der Guermantes erkundet und ausschöpft? (120)

    Es sind, sagt Barthes, die Namen – die Eigennamen der Personen und Orte.

    2 Mit dieser Lesart schließt sich Barthes einigen der heute zu Klassikern gewordenen, zur Zeit des Entstehens des Textes aber durchaus neueren Auseinandersetzung mit Proust an; insbesondere jener von Gilles Deleuze in Proust et les signes (1964), die Barthes zitiert, aber auch jener von Jean Rousset in Forme et signification (1962), wie etwa Antoine Compagnon in »Proust et moi«, einem kurzen Aufsatz zu Barthes’ Proust Rezeption, (in: Autobiography, Historiography, Rhetoric. A Festschrift in Honor of F. P. Bowman, Rodopi, Amsterdam, 1994) ausführt. 3 Barthes verwendet gelegentlich große Anfangsbuchstaben, um hervorzuheben, dass ein Wort auf einen abstrakten Begriff verweist; hier: »le Livre, le Livre comme monde et le monde comme Livre«. Da eine solche Hervorhebung im Deutschen verschwindet, ist in der hier vorgenommenen Übersetzung das entsprechende Wort kursiv gesetzt.

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    Die drei Funktionen des Namens nach Barthes Barthes entwickelt diese Analyse – und darauf besteht er – nicht biographisch; nicht in, wie er sagt, »Analogie«, sondern in »Homologie« zu den Erfahrungen des Erzählers der Suche nach der Verlorenen Zeit. Der Erzähler der Suche, erklärt Barthes, ist jemand, der schreiben wird, und somit jemand, der in der Sphäre der Existenz und nicht in der Sphäre der Sprache verhaftet ist: »er ringt mit der Psychologie, nicht mit einer Technik«. »Marcel Proust hingegen« – und es ist nicht zufällig, dass Barthes an dieser Stelle den Autor der Suche bei seinem vollen Namen nennt – »schreibt: er ringt mit den Kategorien der Sprache, und nicht mit jenen des Verhaltens« (121). Die Erinnerung, behauptet Barthes, kann, da sie der Welt des Bezeichneten (und nicht des Bezeichnenden) angehört, nicht direkt als gestaltende Einheit des Diskurses dienen. Was Proust jedoch braucht, so Barthes, ist genau das: ein »wahrhaft poetisches Element« (in dem Sinn, den Jakobson diesem Begriff gegeben hat, wie er hinzufügt), das aber, wie die Erinnerung, die Kraft hat, »das Wesen der Bestandteile des Romans« (l’essence des objets romanesques) zu begründen. Es gibt, so schließt Barthes sein Argument, »eine Klasse von sprachlichen Einheiten, die jene konstitutive Kraft auf höchstem Niveau besitzt«: »Es ist jene der Eigennamen« (121). Der Eigenname, sagt Barthes, hat genau jene drei Eigenschaften, die der Erzähler der Suche der Erinnerung zugesteht:

    - Die Fähigkeit der Verwesentlichung (le pouvoir d‘essentialisation), da er nur ein einziges Bezeichnetes hat.

    - Die Fähigkeit zum Zitat (le pouvoir de citation), da man mit ihm die ganze Wesenheit, die

    er verkörpert, aufrufen kann.

    - Die Fähigkeit zur Erkundung (le pouvoir d‘exploration), da man ihn ebenso »entfalten« kann wie eine Erinnerung.

    Barthes schenkt dem letzten Punkt, der Fähigkeit zur Erkundung, besonderes Augenmerk. Der Eigenname ist nämlich, sagt Barthes, nicht nur ein Index (das heißt, ein Pfeil, der auf ein Bezeichnetes gerichtet ist), sondern, wie das gewöhnliche Wort, auch ein Zeichen. Und als Zeichen will der Name dechiffriert werden; bietet sich einer Erforschung an. Der Name, erklärt Barthes, bezeichnet einerseits immer ein milieu, »in das man eintauchen und in dessen Verheißungen man sich baden kann«. Der Name Guermantes etwa, sagt Barthes, »deckt mit einem Schlag alles ab, was die Erinnerung, der Gebrauch und die Kultur in ihn hineinlegen mögen«. Zugleich ist der Name, in Barthes Worten, aber auch »ein wertvolles Objekt, komprimiert und einbalsamiert, das geöffnet werden muss, wie eine Blume« (122). Das heißt für Barthes insbesondere – das folgt aus seinen weiteren Ausführungen – dass der Name eine onomatopoetische Einheit ist, die aus Silben, die einen bestimmten Klang haben, besteht, und die, oft vermittelt über ein Drittes, bestimmte Assoziationen hervorrufen kann (bei Proust sind es oft, wie Barthes bemerkt, die Farben). Der Name als Zeichen muss »entfaltet« werden, sagt Barthes, auf Prousts eigene Ausführungen in Gegen Sainte-Beuve verweisend.4 Proust hat – dieses faktische Detail muss mitgedacht werden – eine ganze Reihe der Namen in der Suche nach der Verlorenen Zeit erfunden. »Ob es Laumes, Argencourt, Villeparisis, Combray oder 4 Prousts kritische Schrift, die als theoretische Vorarbeit zur Suche verstanden werden kann.

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    Doncières wirklich gibt oder nicht«, führt Barthes aus, »sie repräsentieren nichtsdestoweniger (und das ist es, worauf es ankommt) was man als eine ›frankophonische Plausibilität‹ bezeichnen könnte: was sie tatsächlich bezeichnen ist: Frankreich, oder richtiger gesagt, eine gewisse ›Französischheit‹« (127). Der Erzähler der Suche nach der Verlorenen Zeit nimmt die Dechiffrierung der Namen praktisch auf. Seine Assoziationen zu dem Namen Guermantes (die mehrere Seiten einnehmen) kreisen um das Bild des Turmes eines mittelalterlichen Schlosses, das er in orange- oder gelbgetönten Lichtern evoziert. Das tatsächliche (das heißt, in der Fiktion tatsächliche) Stadtpalais der Guermantes erscheint ihm »lichtdurchströmt wie sein Name«. »Balbec« verbindet sich für ihn mit zwei Bedeutungen, die ihm – und das zeigt das Geschick Prousts, die Wesentlichkeit eines Namens zu erzeugen – aus Erzählungen in der Erzählung zugetragen werden: »Balbec« ist einerseits »ein von Stürmen heimgesuchter Ort am Ende der Erde«; andererseits, eine Kirche im halb gotischen, halb romanischen Stil. Eine semantische Monstrosität Der Eigenname bei Proust ist nach Barthes also auch Zeichen. Ein Zeichen besonderer Art aber, denn der Proustsche Name, sagt Barthes, »kennt keinerlei selektive Beschränkung, der syntagmatische Zusammenhang, in den der gebettet ist, ist ihm gleichgültig; er ist also, auf bestimmte Weise, eine semantische Monstrosität« (122). Die Entfaltung der Namen durch den Erzähler, vergisst Barthes nicht zu bemerken, verläuft in Wirklichkeit natürlich in umgekehrter Richtung zu jener Bewegung, durch die der Schreiber diese Namen gewählt hat: »der eine decodiert, der andere codiert, aber es handelt sich um das gleiche System, ein auf die eine oder andere Weise begründetes System, das sich auf ein Verhältnis der Imitation zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten stützt« (124-125). Das »semische Spektrum des Namens«, versichert Barthes, ist dabei natürlich variabel in der Zeit, »je nach der zeitlichen Verortung seines Lesers, der Bedeutungselemente hinzufügt und abtrennt, genauso wie die natürliche Sprache in ihrer Diachronie« (123). Diese doppelläufige Bewegung zwischen Autor und Erzähler, so könnte man hinzufügen, setzt sich natürlich auf den Leser fort. Und in der Tat sagt Barthes : »Der Name ist tatsächlich katalysierbar; 5 man kann ihn ausfüllen und verwässern, man kann die Ritzen seiner semantischen Panzerung mit unendlich vielen Hinzufügungen glätten«:

    Gerade weil sich der Eigenname einer Katalyse von unendlichem Reichtum darbietet, kann man sagen, dass – poetisch gesehen – die ganze Suche aus einigen Namen kommt. (124)

    5 In der Einführung in die strukturelle Analyse der Erzählung bezeichnet Barthes als Katalyse jene Elemente einer Erzählung, die der Welt des Erzählten angehören (also Handlungen oder Charaktereigenschaften der Akteure in der Erzählung), deren Funktion aber nicht, oder nicht nur, darin besteht, die Handlung (die Abfolge dessen, was Barthes die kardinalen Einheiten nennt) voranzubringen, sondern, die ihre Funktion vor allem darin haben, den Kontakt zwischen dem Erzähler und dem Leser zu nähren. Erwähnenswert im gegenwärtigen Zusammenhang (Proust et les noms erschien zuerst in einer Festschrift zu Ehren Roman Jakobsons) ist, dass Barthes diesen Begriff der Katalyse von Jakobsons phatischer Funktion der Sprache ableitet. Siehe: Roland Barthes: Introduction à l’analyse structural des récits, in Communications 8, Recherches sémiologiques (1966): 1-27 [Zitate im Lauftext in eigener Übersetzung nach dieser Fassung, unter Introduction mit Seitenzahl in Klammern]; hier 10. Siehe auch: Roman Jakobson: Linguistics and poetics, in: Style in Language, herausgegeben von T. Sebeok, 350-377, MIT Press, Cambridge MA, 1960.

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    II.

    Wenn man sagen kann, dass Prousts Suche nach der Verlorenen Zeit aus den Namen herauskommt, so kann man sagen, dass Modianos Romane auf dieses Prinzip reduziert sind; dieses Prinzip in reiner, minimalistischer Form vorführen. Bei Modiano sind die Namen – die poetische Operation, die sich über die Namen vollzieht – der wesentliche Bestandteil des Romans überhaupt. Es wird manchmal gesagt, Modiano würde immer den gleichen Roman schreiben: Ein Erzähler, der reminiszierend durch Paris geht, auf der Suche nach einer Person, oder besser im Aufspüren der Erinnerung an eine Person.6 In der Tat, es geht bei Modiano immer um eine Rückkehr, und das Beschreiten der Wege, die er, oder die Person, die er zu ergründen sucht, in der Vergangenheit zurückgelegt hat, soll ihm dem Verstehen dieser Person, oder dessen, was damals wirklich geschah, näher bringen. Es ist aber nicht immer, oder nicht nur, Paris.7 In Villa Triste ist der Schauplatz der Rückkehr eine Stadt an einem See an der französisch-schweizerischen Grenze; in Rue des Boutiques Obscures ist es Megève, in den französischen Alpen; in Dimanches d’août, Nizza und ein Ort an der Marne; in Voyage de Noces, Mailand und die Côte d‘Azur. In manchen Fällen weiß der Erzähler, dass die Person, der er nachgeht, aus dem Leben geschieden ist: Voyages de noces, Dora Bruder, Dans le café de la jeunesse perdue. In manchen Fällen ist dies eine Vermutung: Rue des Boutiques Obscures, Dimanches d‘août. In anderen Fällen geht der Erzähler in der Annahme – stillschweigend oder explizit – dass die Person, deren Beweggründe es aufzuspüren gilt, anderswo, oder unter einer anderen Identität, ihr Leben fortgesetzt hat: Quartier perdu, L’herbe des nuits. In manchen Fällen ist die Person, die er sucht, er selbst – er selbst unter einem anderen Namen, in einem früheren Leben, das er aus Gründen, die ihm selbst verborgen sind und über die er sich nun Klarheit verschaffen will, verlassen hat, oder zu verlassen gezwungen war. In deutlichster Form ist das so in Rue des Boutiques Obscures, wo der Erzähler, Guy Roland, als die Detektiv-Agentur, für die er gearbeitet hat, schließt, sich daran macht, in seinem eigenen Fall zu ermitteln, das heißt, herauszubekommen, wer er war, bevor er Guy Roland wurde. Gewiss aber, die Suche nach der anderen Person ist immer auch der Versuch, einen Teil seines eigenen Lebens, eines Teils dessen, was er geworden ist, zu verstehen. Und umgekehrt, dort wo die Suche nach sich selbst oder den Bedingtheiten seines eigenen Lebens im Zentrum steht, führt diese Suche über die Suche nach einer anderen Person oder anderen Personen: Rue des Boutiques Obscures, Quartier perdu, Accident nocturne. In manchen Fällen ist die Person, die er sucht, nie real für ihn gewesen, sondern existiert für ihn nur weil ihm ein Schnipsel aus der Vergangenheit, das von der Existenz dieser Person zeugt, in die Hände fällt: Dora Bruder und auch Encre sympathique. In Encre sympathique ist Teil des Rätsels gerade, ob er diese Person gekannt hat oder nicht – eine Motivation, die er erst nach und nach dem Leser, und, so könnte man meinen, auch sich selbst gegenüber zugibt. Und in der Tat gibt es 6 Patrick Modiano selbst hat sich manchmal in diesem Sinn geäußert. In einem Artikel in Le Monde, anlässlich des Erscheinens von Encre Sympathique, wird Modiano zitiert mit der Aussage »den Eindruck zu haben, immer ein bisschen das gleiche Buch zu schreiben« und dass man von seinen Romanen »die Titel unterdrücken und sie als einen langen Text publizieren könnte«. Siehe den Artikel von Raphaëlle Leyris, Patrick Modiano: »Je préfère écrire à la dérobée«, in Le Monde, Online-Ausgabe vom 2. Oktober 2019, aktualisiert am 3. Oktober 2019. 7 Der Rolle der Stadt Paris in Modianos Werk wurde vielfach Beachtung geschenkt. Siehe, zum Beispiel, Béatrice Commengé: Le Paris de Patrick Modiano, Alexandrines, Paris 2015; oder Gilles Schlesser: Paris dans les pas de Patrick Modiano, Parigramme, Paris 2019.

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    Hinweise darauf, dass der Erzähler von Encre sympathique in Fleisch und Blut die gleiche Person wie der Erzähler von Rue des Boutiques Obscures ist.8 Die drei Funktionen des Namens bei Modiano Modianos Erzähler sucht nicht das Schreiben. Er ist nicht jemand, der danach sucht, seine Erinnerungen auszudrücken: Er ist jemand, der seine Erinnerung überhaupt sucht. Genauer gesagt, jemand, der versucht, die Logik, oder wenn man so will, das System seiner Erinnerungen, und damit dessen, was er geworden ist, zu ergründen. Und dieser Prozess vollzieht sich für ihn ganz wesentlich über – die Namen. Wir, als Leser, wissen das durch die Wiederholung der Namen: weil diese Namen, an bestimmten Stellen der Erzählung, auf eine bestimmte Weise ausgesprochen und dann in eben dieser Form wiederholt werden. GAY ORLOW, eigentlich »Galina« Orlow, von der der Erzähler von Rue des Boutiques Obscures lange Zeit meint, dass sie seine Geliebte war. FREDDIE HOWARD DE LUZ, der er vielleicht selbst war. JIMMY PEDRO STERN, alias Pedro McEnvoy, der er am Ende meint, gewesen zu sein, womit nicht mehr Gay Orlow sondern DENISE COUDREUSE zu seiner früheren Geliebten wird. Diese Namen dienen dem Erzähler von Rue des Boutiques Obscures dazu, die Eckpunkte seiner Suche aufzuspannen. Für den Leser spielen sich im System dieser Namen die kardinalen Elemente der Erzählung ab. Diese Namen funktionieren wie eine Form (leer am Beginn), die der Erzähler mit sich durch die Erzählung trägt, und in die alles hinein- und abgelegt wird, was er im Laufe seiner Suche über diese Personen ausfindig machen kann – all das, wenn man so will, das ihre Wesentlichkeit ausmacht. Es ist diese Wesentlichkeit der Person, die erforscht wird, und der Name dient dazu dieser Wesentlichkeit, die sich im Laufe der Erzählung konstituiert, eine Form zu geben, durch die sie aufgefangen werden kann (eine Form, wie eine Schüssel), durch die sie aber auch immer wieder auf- und zurückgerufen werden kann. Mit einem Wort: Modiano benützt hier die ersten beiden Funktionen des Namens nach Barthes: die Fähigkeit, Wesentlichkeit auszurücken und die Fähigkeit zum Zitat. Zugleich bildet das wiederkehrende, innere Vorsagen und Aufrufen der Namen einen Rhythmus, der der Erzählung unterliegt. Der Name tritt bei Modiano in einer wahrhaft poetischen Funktion auf. Linguistisch, oder formal, ist die poetische Funktion des Namens bei Modiano dadurch gekennzeichnet, dass die Namen voll ausgesprochen werden: »Gay Orlow« – nicht »Gay«, »Denise Coudreuse« – nicht »Denise«. Wenn wir »Denise Coudreuse« lesen, wissen wir, dass hier nicht von der (in der Fiktion) realen Person Denise Coudreuse gesprochen wird, sondern von all dem, wofür dieser Name für den Erzähler steht – für die Wesentlichkeit der Person, und, mehr als das, auch für die Wesentlichkeit des Erzählers Erinnerungen an diese Person: in der Tat für die ganze Zeit in seinem Leben (die ganze »Epoche«), in der er diese Person gekannt hat, oder zumindest ihr Name ihn begleitet hat. Anders gesagt: »Denise Coudreuse« im Diskurs des erzählenden Erzählers hat eine andere Funktion als »Denise« im Mund des erzählten Erzählers, wenn dieser sich, zum Beispiel, mit jemandem über »Denise« unterhält, aber auch, wenn der erzählende Erzähler indirekt als der erzählte Erzähler spricht.

    8 Die Auswahl der hier erwähnten Romane Modianos ist nicht zufällig, doch aber den Umständen geschuldet. Dieser Artikel wurde im März 2020, in Wien, während der Zeit der Quarantäne geschrieben. Ich habe jene Romane herangezogen, die ich in meiner Wohnung hatte.

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    Der poetische und strukturgebende Effekt der Namen wird bei Modiano oft dadurch unterstützt, dass der Name in Großbuchstaben geschrieben wird, oder, stärker noch, in der Realität der Erzählung in Großbuchstaben geschrieben auftritt:

    C. M. HUTTE Private Ermittlungen

    Erfahren wir von dem Erzähler von Rue des Boutiques Obscures (Seite 14), steht an der Tür der Agentur, die nun geschlossen ist.

    Betrifft: ORLOW, Galina, genannt »Gay« ORLOW. Geboren: in Moskau (Russland), 1914, als Tochter von Kyril ORLOW und Irène GIORGIADZE. Staatsangehörigkeit: staatenlos. (Rue des Boutiques Obscures, 53)

    Steht in einem Brief, in dem Hutte ihn wissen lässt, was er über Gay Orlow herausfinden konnte. Es kommt also zu einer Ikonisierung der Namen. Ein anderes erzählerisches Mittel, das Modiano gerne einsetzt, ist, dass ein Name in der Erzählung buchstabiert wird:

    Ich war erleichtert, dass sie meinen Namen wiederholte, denn ich hatte ihn nicht richtig verstanden, als sie ihn zum ersten Mal ausgesprochen hatte. Ich wollte ihn auf der Stelle aufschreiben, aber ich war mir nicht sicher, wie man ihn schrieb. – Ich mag die Art und Weise, wie Sie meinen Namen aussprechen, sagte ich zu ihr. Das ist nicht so leicht für eine Französin ... Aber, wissen Sie, wie man ihn schreibt? [...] Ich hatte einen spielerischen Ton angeschlagen. Sie lächelte. – M ... C ... großes E ... V ... O ... Y, buchstabiert sie. (Rue des Boutiques Obscures, 119)

    Der Erzähler hat an dieser Stelle den Namen «McEvoy» zum ersten Mal gehört. War er dieser McEnvoy? Das Buchstabieren des Namens hat hier also nicht nur die phatische Funktion, den Namen »McEnvoy« hervorzuheben, sondern auch die kardinale Funktion, dass der Erzähler in den Besitz des Wissens um diesen Namen kommt. Bemerkenswert bei Modiano ist, dass die ersten beiden Funktionen des Namens – die Fähigkeit Wesentlichkeit auszurücken und die Fähigkeit zum Zitat – direkt in der Welt des Erzählten (und nicht im Diskurs des Erzählers) verankert sind: die Namen erfüllen diese Funktionen direkt für den Erzähler in seinem Verhältnis zu der in der Erzählung realen Welt – und dadurch erst übertragen sie sich auf den Leser. Anders, zunächst scheinbar, was die dritte Funktion des Namens nach Barthes betrifft: Modianos Erzähler (anders als Prousts Erzähler) betätigt sich nicht an der «Entfaltung» der Namen. Der Erzähler hat, wenn er sich den Namen DENISE COUDREUSE vorsagt, keine Assoziation zu dem Klang von »DENISE« oder »COUDREUSE«. Er leitet daraus auch keine Bedeutung ab, die mit der Herkunft oder Geschichte oder dem sozialen Hintergrund der Person zu tun haben könnte. Richtiger gesagt aber: die Entfaltung der Namen ist nicht Teil des Diskurses des Erzählers. Der Erzähler hat solche Assoziationen vielleicht, aber er sagt sie uns nicht. Er entfaltet sie nicht vor oder für uns. Damit ist diese Funktion aber (so wie die ersten beiden) einerseits komplett in die

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    Fakten des Erzählten gelegt, andererseits aber auch komplett (und stillschweigend) auf den Leser übertragen. Wenn es bei Modiano zu einer Auslegung oder Entfaltung der Namen kommt, dann ist diese in der Regel in die Erzählung eingebettet:

    – Das ist komisch, auf einmal fällt mir der Namen des Franzosen ein, den Gay in Amerika kennengelernt hatte. Wie hieß er? fragte ich mit zitternder Stimme. – Howard ... Das war sein Nachname ... nicht sein Vorname ... Warten Sie ... Howard »de« irgendwas .... Ich blieb stehen und beugt mich zu ihm. – Howard »de« was? ... – De ... de ... de Luz. L ... U ... Z ... Howard de Luz ... Howard de Luz ... der Name hat mich gewundert ... halb englisch .... halb französisch ... oder spanisch. – Und der Vorname? – Ja, das ... Er machte eine Geste, die zum Ausdruck brachte, das das über seinen Mächten stand. (Rue des Boutiques Obscures, 64)

    Hervorzuheben ist hier, dass es nicht der Charakter des Erzählers ist, der diese »Entfaltung« des Namens vornimmt, sondern der andere; der mit dem der Erzähler spricht. Seine Namen, Modiano muss sie gut gewählt – oder erfunden - haben.9 Denn wenn auch der Erzähler in Modianos Romanen sich nicht in der Entfaltung der Namen ausübt, so heißt das nicht, dass Patrick Modiano diese Namen nicht für ihren Klang oder die Assoziationen, die man in sie legen kann, gewählt hätte. Wenn auch der Erzähler in Modianos Romanen sich nicht in der Entfaltung und Erforschung der Namen betätigt, so heißt das nicht, dass der Leser es nicht tut, wenn ihm ein »entfaltbarer«, oder wie man mit Barthes sagen könnte, ein »katalysierbarer«, Name angeboten wird. Und Modiano weiß und antizipiert das. (Ob bewusst oder in seinem praktischen Wissen als Schreiber ist hier gleichgültig.) Modiano vertraut darauf, dass der Leser sich in der Entfaltung der Namen ganz automatisch, ohne das Zutun des Erzählers, engagiert; dazu keine Anleitung, kein Vorbild braucht. Modiano setzt, so könnte man auch sagen, auf die Unsichtbare Hand, die durch die Namen wirksam werden kann: GAY ORLOW – der Name alleine ruft natürlich immer wieder die Fakten, die wir über diese Person erfahren haben, auf: »geboren in Moskau, 1914«, »staatenlos«, »1936 aus den Vereinigten Staaten von Amerika nach Frankreich gekommen». GAY ORLOW steht »für ein bestimmtes Milieu«, um mit Barthes zu sprechen; aber auch für einen Teil Geschichte. DENISE COUDREUSE steht, um auch hier mit Barthes zu sprechen, für eine »gewisse Französischheit«, für ein bestimmtes Milieu, das hier aber nicht, wie bei Proust, die mit dem Boden verbundene Aristokratie, sondern die französische Mittelschicht ist. Modiano versteht es, das erzählerische Potential der Namen auch dadurch auszunützen, dass eine Person den Namen wechselt:

    HOWARD DE LUZ (Jean Simety) und Madame, geborene MABEL DONAHUE in Valbreuse, [...] (Rue des Boutiques Obscures, 74)

    9 »Man muss sie [die Namen] aber auch richtig wählen – oder finden,« sagt Barthes (124).

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    Diese Anzeige findet der Erzähler von Rue des Boutiques Obscures in einer der alten Ausgaben des Bottin mondain, die in der nun verlassenen Agentur von Hutte aufgestellt sind.10 »War das mein Vater?« fragt er sich in diesem Moment, in dem er immer noch meint, Freddie Howard de Luz gewesen zu sein. Diese Hypothese wird er später aufgeben, zu Gunsten jener, dass er Jimmy Pedro Stern ist, den er bisher für einen Freund seines früheren Selbst gehalten hat. Dank Huttes Beziehungen zur französischen Administration gelingt es ihm, mehr Informationen über Jimmy Pedro Stern zu bekommen:

    Betrifft: STERN, Jimmy, Pedro. Geboren: in Thessaloniki (Griechenland), am 30. September 1912, als Sohn von Georges STERN und Giuvia SARANO. Nationalität: griechisch. Heirat mit Denise Yvette Coudreuse, französischer Nationalität, am 3. April 1939, am Standesamt des XVII. Arrondissements in Paris. [...] In den Hotelregistern gibt es eine einzige Eintragung, aus dem Februar 1939, welche belegt, dass Monsieur Jimmy Pedro Stern zu jener Zeit an folgender Adresse wohnte: Hôtel Lincoln [...] Die Eintragung im Register der Hotels Lincoln führt folgenden Vermerk: Name: STERN, Jimmy, Pedro. Adresse: 2, Via delle Botteghe Oscure, Rom (Italien). Beruf: Schneider Monsieur Jimmy Stern soll 1940 verschwunden sein. (Rue des Boutiques Obscures, 179)

    Jimmy Pedro Stern wurde später jener MCEVOY, der 1943 genauso wie Denise Coudreuse bei dem Versuch, illegal die französisch-schweizerische Grenze zu übertreten, verschwand – das entschließt sich der Erzähler von Rue des Boutiques Obscures jedenfalls zu glauben. In manchen Fällen ist es bei Modiano aber auch gerade die Unauffälligkeit oder das Nicht-Beschrieben-Sein eines Namens, das als erzählendes Element wirkt: GUY ROLAND, der Erzähler von Rue des Boutiques Obscures trägt einen Namen, wie er für den Ort und die Zeit, in der der Charakter angesiedelt ist, belangloser nicht sein könnte. Dass das sein wahrer Name nicht sein kann, legt die Erzählung nahe. Das Faktum, einen belanglosen, durchschnittlichen, Namen gewählt zu haben, wird also zu einem erzählenden Detail. (Wer ist dieser Guy Roland aber wirklich? Wie ist er zu seinem Namen gekommen? Wie und warum ist der dazu gekommen, für Hutte zu arbeiten?) C. M. HUTTE: ein ungewöhnlicher Name, den man nicht einzuordnen weiß. Französisch? Aus der Schweiz? Aus Holland? Aus Deutschland? Die Abkürzung eines längeren Namens? Modiano verwendet die Differenz zwischen »Denise Coudreuse« und »Denise« auch als dynamisches Element: In dem Moment, als der Erzähler von Rue des Boutiques Obscures zu der Ansicht gekommen ist, dass er Jimmy Pedro Stern, alias Pedro McEvoy, war, meint er, Fetzen der Erinnerung wieder zu finden. Wenn er als die in diesen Erinnerungen handelnde, sehende, redende und denkende Person spricht, dann ist es »Denise«. (Wie zuverlässig sind diese Erinnerungen aber? Als er noch meinte, Freddie Howard de Luz gewesen zu sein, gab es Ansätze zu einem solchen Aufflackern von Erinnerungen beim Besuch des Hauses, in dem Freddie Howard de Luz als Kind gelebt hat – Empfindungen, die er später umdeuten musste.)

    10 Bottin mondain, jährliche Publikation, die Anzeigen über Familien, die einer bestimmten höheren Gesellschaft angehören, veröffentlicht.

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    Am Ende von Rue des Boutiques Obscures wird der Erzähler dazu gekommen sein, zu glauben, sich zu erinnern, was damals geschah: er geht mit einem der Männer, die sie über die Grenze bringen sollen; Denis mit dem anderen. Nach einer Weile bedeutet ihm der Mann, mit dem er durch den Schnee stapft, zu warten. Sie wären nahe der Grenze, er würde vorgehen, um zu sehen, ob die Luft rein wäre. Nach wenigen Minuten wird Jimmy Pedro Stern klar, dass der Mann nicht zurückkommen wird: »Warum habe ich Denise in diese Falle mit hineingezogen? Ich versuchte mit aller Kraft, den Gedanken zu unterdrücken, dass Wrédé sie auch zurücklassen würde und dass nichts von uns beiden übrig bleiben würde.« (Rue des Boutiques Obscures, 231) Am Ende von Rue des Boutiques Obscures steht eine Suche, die noch weiter zurückführen wird: Der Erzähler findet, wieder Dank Huttes Beziehungen, die Spur von Freddie Howard de Luz auf einer Insel im Pazifik. Als er dort ankommt, erfährt er, dass jener Mann, den er für seinen Freund in einem früheren Leben hält, seit einigen Tagen als vermisst gilt. Sein Boot wurde unbemannt an der Küste gefunden:

    Ich dachte an Freddie. Nein, er war sicher nicht im Meer verschwunden. Er hatte ohne Zweifel beschlossen, die letzten Taue zu kappen, und hielt sich auf einem der Atolle versteckt. Ich würde ihn letztendlich schon finden. Und dann blieb mir noch ein Weg, den ich versuchen musste: mich an meine alte Adresse in Rom, die Nummer 2 der Via delle Botteghe Oscure, zu begeben. (Rue des Boutiques Obscures, 251)

    Man kann auf Modiano direkt übertragen, was Barthes über Proust sagt:

    Das System der Namen in Händen zu halten, das kommt für Proust, und das kommt für uns, dem gleich, die wesentlichen Bedeutungen des Buches in Händen zu halten – das Gerüst seiner Zeichen, seine zu Grunde liegende Syntax. (128)

    Die Orte Was bei Modiano für die Namen von Personen gilt, gilt auch für die Namen von Orten – Straßen, Plätzen, und Gebäuden: la place des Pyramides, l’Hôtel-Dieu, la Voie-Verte, la porte d’Orléans, Jouy-en-Jossas, la rue du Docteur-Kurzenne, la place du Trocadéro – so die Stationen der Suche des Erzählers von Accident nocturne, vom Ort des Unfalls, über seine Erinnerungen an einen ähnlichen Unfall in seiner Kindheit, bis zu dem Ort, wo er die Fahrerin des Wagens, JACQUELINE BEAUSERGENT, wiederfindet. Wie die Namen der Personen sind die Namen der Orte nicht nur ein Index, der auf den bestimmten Ort verweist, sondern sie erhalten durch die Wiederholung eine poetische Funktion. Dieser Effekt wird, ähnlich wie für die Personen, dadurch verstärkt, dass der Name – sofern das zur Anwendung kommen kann, voll ausgesprochen wird: »Jouy-en-Jossas«, und nicht nur »Jouy«; »rue du Docteur-Kurzenne« und nicht nur »rue Kurzenne«; »la place du Trocadéro« und nicht nur »Trocadéro«.11 Die Orte sind für Modianos Erzähler ein Zeichen für eine Periode in der Vergangenheit, in der er, oder die Person, die er sucht, diese Orte beschritten hat. Das neuerliche Beschreiten dieser Orte (real oder in Gedanken) soll ihn auf die Spur führen, die ihm erlauben wird, die Logik dessen, was damals wirklich geschah, und damit eines Teils dessen, was er geworden ist, zu verstehen. 11 Jouy-en-Jossas und die rue du Docteur-Kurzenne, die in diesem Ort liegt, kommen in mehreren von Modianos Romanen und auch in seiner autobiografischen Schrift Un pedigree vor.

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    Dass die Namen der Orte bei Modiano eine wichtige Rolle spielen, ist auch dadurch ausgedrückt, dass drei seiner Romane als Titel die Namen von Orten tragen: La place de l’étoile, Rue des Boutiques Obscures, und Villa Triste. Ebenso wenig wie die Namen der Personen »entfaltet« Modianos Erzähler aber die Namen der Orte. Und auch hier ist das gewiss nicht der Fall, weil die Namen keine entfaltbare Bedeutung hätten. La place de l’étoile, »der Platz des Sterns«, das ist ein Ort in Paris. Das kann aber auch den Ort bezeichnen, wo der Stern angebracht werden musste – die Stelle am Körper – oder der Ort der damit als gesellschaftliche Konzeption geschaffen und dem Individuum zugewiesen wurde.12

    Umschlag der Literaturzeitschrift Botteghe Oscure , XX, 1957.

    La via delle Botteghe Oscure – »la rue des Boutiques Obscures« – oder auf Deutsch, »die Gasse der dunklen Stätten« oder »Werkstätten« – ist eine Gasse in Rom, die ihren Namen daher hat, dass unter ihr die, zu seiner Zeit schon halbunterirdischen, Gewölbe eines antiken Theaters liegen, in denen im Mittelalter tatsächlich fensterlose – also »dunkle« Werkstätten eingerichtet waren. In dieser Gasse war lange Zeit aber auch der Sitz der Italienischen Kommunistischen Partei. Und, von 1948 bis 1959 gab es ein Literaturmagazin, Botteghe Oscure, das in dieser Gasse seinen Sitz hatte. Villa Triste – »traurige Villa« – wurde in Italien im Zweiten Weltkrieg verwendet, um jene Gebäude zu benennen, in denen systematisch Folterungen stattfanden. »Villa triste« klingt aber auch wie »vie à triste« – »trauriges Leben«. In Modianos Roman ist Villa Triste der Name einer verlassenen Villa in einem Ort am See, wo sich der Erzähler als junger Mann unter dem falschen Namen »Victor Chmara« – »Graf Victor Chmara« – aufhält. Den Schlüssel zum Hause am See hat Chmara vom Besitzer des Hauses selbst, René Meinthe – »Dr. René Meinthe«, der oft über lange Strecken aus der Stadt am See verschwindet, um »Geschäften« nachzugehen. Meinthe, der sich selbst auch als »die Königin der Belgier« bezeichnet, ist ein undurchdringbarer, exzentrischer bis zwielichtiger Charakter, der sich Chmara gegenüber aber wohlwollend verhält. Je nachdem, ob ein Leser die historische Bedeutung von »Villa Triste« kennt oder nicht, wird er den Roman, anders lesen und

    12 Die Schreibweise mit kleinem Anfangsbuchstaben von »étoile« – La place de l’étoile (und nicht La place de l’Étoile) – bedeutet streng genommen, dass der Titel nicht den geographischen Ort in Paris meint, sondern für den abstrakten Begriff »der Platz des Sterns« steht.

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    auszuwerten wissen. Modiano lässt diese Variabilität zu, indem er die historische Bedeutung des Namens »Villa Triste« eben nicht ausspricht. Wie für die Namen der Personen setzt Modiano auf das geschriebene Wort (das in der Welt des Erzählten geschriebene Wort) um die poetische Funktion des Namens zu unterstreichen. Der Name »Villa Triste« taucht in der Erzählung zum ersten Mal auf, als der Erzähler zum ersten Mal das Haus betritt:

    Auf das Einfahrtstor, von dem der weiße Lack absplitterte, hatte Meinthe (das hat er selbst mir gestanden) in schwarzer Farbe – von linkischer Hand – geschrieben: VILLA TRISTE. (Villa Triste, 150)

    Im Haus angekommen, bemerkt der Erzähler:

    In der Tat, diese Villa strahlte keine Fröhlichkeit aus. Nein. Dennoch fand ich zunächst, dass ihr die Bezeichnung »triste« schlecht stand. Letztendlich habe ich aber verstanden, dass Meinthe Recht gehabt hatte, wenn man nämlich in dem Klang des Wortes »triste« etwas Zartes und Kristallenes finden konnte. (Villa Triste, 150)

    Wir finden den Erzähler hier also – rar bei Modiano – explizit bei der Interpretation eines Namens. Was aber sagt uns die Tatsache, dass der Erzähler sich hier in der onomatopoetischen Interpretation dieses Namens ausübt? Sagt uns dies nicht vielmehr, dass der Erzähler nichts über die historische Bedeutung des Namens weiß? Meinthe hingegen, der »VILLA TRISTE« in schwarzer Schrift auf das Tor geschrieben hat, scheint diese Bedeutung des Namens zu kennen. Diese Interpretation ist zumindest möglich. Wenn man sie zulässt, dann sieht man, dass die onomatopoetische Entfaltung des Namens hier nicht l’art pour l’art ist, sondern ein funktionales Element in der Erzählung – weil sie dazu dient, einen gewissen Wissenszustand oder eine gewisse Haltung der handelnden Personen anzudeuten.

    III. Die drei Funktionen des Namens – die Fähigkeit zur Verwesentlichung, die Fähigkeit zum Zitat und die Fähigkeit zur Entfaltung – man erinnert sich, Barthes stellt sie in »Homologie« zu den drei Funktionen auf, die Proust (sein Held) in der Erinnerung findet. Modiano hat – praktisch – den Beweis erbracht, dass nicht nur der Name, sondern jedes sprachliche Schnipsel diese drei Funktionen erfüllen kann, wenn es richtig eingebettet ist. Das des Namens fähige sprachliche Schnipsel Am deutlichsten ist das in Dora Bruder ausgeführt, wo die Suche – und damit die Erzählung – durch den Fund eines solchen Schnipsels überhaupt erst ausgelöst wird. Der Erzähler stößt beim Durchblättern einer alten Ausgabe von Paris-Soir, der Ausgabe vom 31. Dezember 1941, auf folgende Anzeige:

    »GESUCHT WIRD ein Mädchen, Dora Bruder, 15 Jahre, 1 m. 55, ovales Gesicht, grau-braune Augen, grauer Herbstmantel, weinroter Pullover, dunkelblauer Rock und Hut, braune

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    Halbschuhe. Um Hinweise wird erbeten an Monsieur und Madame Bruder, 14, Boulevard Ornano, Paris.«

    Der Erzähler ist Dora Bruder real nie begegnet. Sie entsteht für ihn nur aus diesem Zeugnis der Geschichte. Sie ist für ihn nur dieser Name und diese Beschreibung. Diese Anzeige spannt für ihn in der Tat eine kleine Erzählung auf, wie man – Barthes paraphrasierend – sagen könnte, und er macht sich daran, diese Erzählung sozusagen zu vervollständigen.13 Dora Bruder, das sei angemerkt, hat in Wirklichkeit gelebt, und auch diese Anzeige hat es tatsächlich gegeben. Warum springt dem Erzähler (warum springt Patrick Modiano) diese Anzeige beim Durchblättern jener alten Ausgabe von Paris-Soir in die Augen? Ist es der Name »Dora Bruder«? Etwas in der onomatopoetischen Qualität dieses Namens? Etwas in seiner Bedeutung? Ein Leser, der die Bedeutung des deutschen Wortes »Bruder«, oder auch nur desselben Wortes in einer dem Deutschen verwandten Sprache, kennt (in der Tat erfährt der Leser, dass Dora Bruders Vater aus Wien kommt), wird diesen Namen nicht lesen können, ohne an die Bedeutung des Wortes zu denken. Kennt, ahnt, spürt der Erzähler (Patrick Modiano) diese Bedeutung? Wenn ja, er sagt sie uns nicht. Und er buchstabiert auch nicht die Bedeutung aus, die man in »Dora« erkennen könnte: Dora – d’ora – aus Gold – »Du, meine liebe«, »Du, mein lieber Bruder«: »Dora Bruder« – »Du, mein liebes Geschwister«. Auch in Accident nocturne spielt ein solches sprachliches Schnipsel eine zentrale Rolle: »ein Auto der Marke Fiat, blass-grüner Farbe« – »une automobile de marque fiat, couleur vert d’eau«, wie es in dem Unfallbericht, der dem Erzähler von einem Unbekannten gereicht wird und den er unvorsichtigerweise unterschreibt, heißt. »Fiat couleur vert d’eau« wird, wie »Jacqueline Beausergent« oder »rue du Docteur-Kurzenne«, durch seine Wiederholung in den Stand eines poetischen Elements gehoben.

    Die Farbe »vert d’eau«. Bild: Christina Pawlowitsch

    Der Erzähler sagt uns nicht wie »Fiat couleur vert d’eau« für ihn klingt. So wie er sich diese Worte vorsagt, scheint für ihn aber auch von ihrem Klang eine gewisse Faszination auszugehen. Ist es das »vert d’eau«? »Vert d’eau«, das auch wie »verre d’eau« – ein Glas Wasser – klingen kann? Gewiss ist: es ist Patrick Modiano, der diesem Auto seine Farbe gegeben hat. »Fiat couleur vert« hätte nicht die gleiche poetische Kraft.14

    13 »Die Erzählung ist ein langer Satz, so wie jeder Satz, auf seine Weise, der Entwurf einer kleinen Erzählung ist«, sagt Barthes (Introduction, 4); siehe Anmerkung 5. 14 »Vert d’eau« ist als Farbbezeichnung im Französischen seit über hundert Jahren gebräuchlich. So wird es etwa in einem Katalog zur Bestimmung der Farben von Pflanzen, Blättern und Früchte aus dem Jahr 1905 als ein sehr helles Grün, »das an die mehr oder weniger durchsichtige Farbschattierung von großen Massen klaren Wassers erinnert« beschrieben. Siehe: Henri Dauthenay, Répertoire de couleurs pour aider à la détermination des couleurs des fleurs, des feuillages et des fruits : publié par la Société française des chrysanthémistes et René Oberthür ; avec la collaboration principale de Henri Dauthenay, et

    Vert d’eau

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    Dass »Fiat couleur vert d’eau« in Accident nocturne als poetisches Element funktioniert ist aber auch linguistisch-pragmatisch markiert, ähnlich wie das für die Namen durch das volle Aussprechen von Vorname und Zuname passiert, dadurch nämlich, dass der Erzähler auch dort diese Phrase verwendet, wo »Fiat« alleine oder »Auto« reichen würde (weil durch den Kontext schon festgelegt ist, dass es um dieses Auto geht). Eine bemerkenswerte Umkehrung tritt hier aber ein: »Fiat couleur vert d’eau« ist nicht bloß des Zitats fähig, wie der Name: es ist ein Zitat – aus dem Bericht! Dieses Zitat funktioniert hier als sprachliche Form (als Gefäß), in die die ganze Bedeutung des Unfalls – die nämlich ist, die Erinnerung an diesen früheren Unfall erweckt zu haben – hineingelegt und damit immer wieder abgerufen werden kann. Es ist mit einem Wort hier also so, dass das Zitat des Namens fähig wird. Wert festgehalten zu werden ist auch, dass in beiden der hier besprochenen Fälle, Dora Bruder und Accident nocturne, die jeweilige sprachliche Einheit, die die Suche auslöst, dem Erzähler tatsächlich auf einem Stück Papier in die Hände fällt: die Anzeige in der Zeitung, der Unfallbericht. Diese sprachlichen Schnipsel existieren also in einer gegenständlichen Form. Und damit ist mehrerlei erreicht: Erstens, es ist gerade diese materielle, vergegenständlichte Form über die sie ihre Wirkung – nämlich die Suche auszulösen – ausüben. (In Dora Bruder ist das ganz offensichtlich so. Aber auch in Accident nocturne: der Erzähler selbst nämlich hat keine Erinnerung an die Marke oder die Farbe des Autos.) Zweitens aber auch: Wir als Leser lesen diese Worte im Buch zum ersten Mal, als der Erzähler in der erzählten Welt, sie von dem Stück Papier liest; wir lesen sie sozusagen mit ihm von diesem Stück Papier. Und daher eigenen sich diese sprachlichen Schnipsel so gut zur Katalyse: Wenn der Erzähler diese Worte in Gedanken wiederholt, dann ist es auch für uns ein echtes Wiederholen, ein Erinnern an den Moment, in dem wir diese Worte zum ersten Mal in dem Buch, das wir in Händen halten, gelesen haben. Einfaltung statt Entfaltung Ganz gleich ob es sich um die Namen von Personen oder die Namen von Orten oder um solche zum Namen gewordene sprachliche Schnipsel handelt: die Funktion der Entfaltung verläuft bei Modiano immer in umgekehrter Richtung relativ zu jener, in der Barthes diese Operation sich bei Proust vollziehend sieht. Bei Modiano wird die Bedeutung nicht entfaltet, zumindest nicht im Diskurs des Erzählers, sondern es wird dem Leser das Material gegeben (nämlich die Welt des Romans), das ihm erlaubt, eine gewisse Bedeutung in diese Namen und sprachlichen Schnipsel zu legen; das heißt also, diese Bedeutung nicht zu entfalten, sondern einzufalten. Eine doppelte Umkehrung also: vom Erzähler auf den Leser, und von der Entfaltung zur Einfaltung. Die Kehrseite der semantischen Monstrosität – und die Rolle des Romans »Fiat couleur vert d’eau« hat in Accident nocturne aber auch die kardinale Funktion, dass dieses Auto der Schlüssel ist, um diese Frau wiederzufinden.15 In der Tat wird der Erzähler den Satz: »AUTO DER MARKE FIAT, BLASS-GRÜNER FARBE« – »VOITURE FIAT COULEUR VERT D’EAU« – einem Papagei in einem Restaurant in dem Viertel, von dem er meint, dass Jacqueline

    celle de MM. Julien Mouillefert, C. Harman Payne, Max Leichtlin, N. Severi et Miguel Cortès, vol. 2, Paris, Librairie horticole, 1905, 252. 15 Zum Begriff der kardinalen Funktionen siehe Barthes’ Einführung in die strukturelle Analyse der Erzählung (Introduction, 6-11); Anmerkung 5.

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    Beausergent dort wohnt (das Viertel um den Trocadéro), beibringen. Und es wird tatsächlich in jenem Viertel sein, dass er Jacqueline Beausergent schließlich finden wird – ein Finden aber, das nicht die Erkenntnis bringt, die er erhofft hatte: Jacqueline Beausergent ist viel jünger als er dachte; zu jung, um die Frau zu sein, die an jenem ersten Unfall – in Jouy-en-Jossas in der rue du Docteur-Kurzenne – beteiligt war.

    La place du Trocadéro in Paris. Foto: Christina Pawlowitsch

    Das Restaurant in dem der Papagei saß, die »Closerie de Passy«, so sagt uns der Erzähler, gibt es nicht mehr. Aber, so fügt er hinzu:

    Papageien werden sehr alt. Vielleicht sitzt dieser hier, mehr als dreißig Jahre später, auf einem Sprösschen in einem anderen Café, in einem anderen Viertel, und wiederholt immer noch meinen Satz, ohne dass ihn jemand verstehen oder ihm auch nur zuhören würde. (Accident nocturne, 109)

    Patrick Modiano zeigt hier – in der Praxis des Romans – im sprachlichen Schnipsel die umgekehrte Seite dessen auf, was Barthes dem Namen als »semantische Monstrosität« bescheinigt: seine semantische Panzerung, seine Abgeschlossenheit. Denn: genauso wie der Name, wie Barthes sagt, durch den Kontext nicht modifiziert wird, sondern beharrlich auf diese eine Wesentlichkeit verweist, genauso kann der Name, oder eben das sprachliche Schnipsel, das für eine bestimmte Wesentlichkeit zu stehen gekommen ist, diese Wesentlichkeit letztendlich nicht erzeugen. Die Wesentlichkeit, auf die ein Name oder ein im Rang des Namens stehendes sprachliche Schnipsel zeigt, bleibt dem verschlossen, der von dieser Wesentlichkeit nichts weiß. Was Modiano mit seinen Romanen tut, könnte man sagen, ist genau diese Wesentlichkeiten zu produzieren – jene Wesentlichkeiten, auf die die Namen und die im Rang des Namens stehenden sprachlichen Schnipsel am Ende des Buches verweisen werden. Modiano hat den Roman auf diese Operation heruntergerbrochen. Und damit seine eigene Form des Romans geschaffen. Das Material dieser Produktion, das sollte nicht vergessen werden, ist die Sprache allein. Wie Barthes in der Einführung zur strukturellen Analyse der Erzählung sagt:

    Die Leidenschaft, die uns beim Lesen eines Romans entzünden mag, ist nicht die einer »Vision« (in der Tat »sehen« wir nichts), es ist die der »Bedeutungen« [...] Was in der Erzählung »passiert« ist, vom (realen) referentiellen Standpunkt aus gesehen, streng genommen: nichts. Was »stattfindet« ist die Sprache allein, ... (Introduction, 26-27)

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    Der Roman als großes sprachliches Schnipsel In einer Reihe von Modianos Romanen gibt es faktische Hinweis darauf, dass der Erzähler, in der Welt des Erzählten, jemand ist, der schreibt, berufsmäßig sozusagen. Oft steht diese schreibende Existenz des Erzählers in einer gewissen Distanz zu der schreibenden Existenz des Autors, Patrick Modiano. In Quartier Perdu etwa ist der Erzähler Autor von Kriminalromanen; in Voyage de noces, Reisereporter. In L‘herbe des nuits, erfahren wir, dass der Erzähler als junger Mann, wie er als Charakter in der Erzählung vorkommt, ein Manuskript geschrieben hat (das verloren gegangen ist). Die schreibende Existenz des Erzählers ist bei Modiano (anders als bei Proust) aber nicht das Problem des Romans, zumindest nicht im Diskurs des Erzählers. Modianos ist ein ›stiller‹ Erzähler. Genauso wie er sich nicht an der Entfaltung der Namen betätigt, teilt er sich in der Regel auch nicht über das Schreiben mit. Wenn Gedanken oder Bekenntnisse über das Schreiben vorkommen, dann sind diese – wie auch die Entfaltung der Namen – in der Regel in das Erzählte eingebaut: »Zerbricht Dir nicht den Kopf, Jean. Sie werden Dein Manuskript schon wiederfinden«, sagt die junge Frau, die er immer nur bei ihrem Vornamen nennt, zu dem Erzähler von L’herbe des nuits:

    Und sie fügte hinzu, dass ich mir wirklich umsonst zu viel Mühe gab. Es würde genügen, in den Schachteln der Buchhändler an der Seine zu wühlen, und einen dieser alten Romane herauszuziehen, deren wenige Leser schon seit langem tot waren, und von deren Existenz kein Lebender auch nur eine Ahnung hatte. Und sie dann abzuschreiben, mit der Hand, und zu sagen, dass man der Autor davon war. (L’herbe des nuits, 167)

    Wenn sie – »Dannie«, die er, wie er erklärt, aus Vorsicht nur bei ihrem Vornamen nennt – am Schluss gegangen sein wird, wird sie ihm einen Brief durch den Schlitz unter der Tür in sein Hotelzimmer geschoben haben, auf dem steht:

    Jean

    Ich gehe dieses Mal, und es ist wahrscheinlich, dass wir uns lange nicht mehr sehen werden. Ich sage Dir nicht, wohin ich gehe, denn ich weiß es selbst nicht. Dort, wo ich hingehe, wirst Du mich nicht finden. Ich werde sehr weit weg sein – jedenfalls nicht in Paris. Wenn ich nun gehe, dann ist es, weil ich Dich nicht in Unannehmlichkeiten mithineinziehen will ...

    P.S.: Ich habe Dir eine kleine Lüge erzählt, die mich belastet. Ich bin nicht, wie ich Dir gesagt habe, 21. Ich bin 24. Du siehst also, ich werde bald alt sein. (L’herbe des nuits, 168)

    Diesen Brief, das sagt uns der Erzähler, hat sie abgeschrieben – aus einem alten Buch, das sie eines Nachmittags bei einem der Buchhändler an der Seine gekauft hatten. Steht dieser Brief tatsächlich in einem alten Buch, das Patrick Modiano bei einem der Buchhändler an der Seine gefunden hat? Und hat dieser Fund vielleicht sogar diesen Roman ausgelöst? Kommt der ganze Roman aus der Ambition, diesen erzählerischen Zug umzusetzen, dieses poetische Element einzubetten? Was man sagen kann ist, dass es ein meisterhaftes poetisches Manöver ist. Und, mehr als das, ein poetisches Manöver, das unbedingt die Romanform braucht, das in keiner anderen Form umgesetzt werden könnte, und damit zur Zelebration dieser Form überhaupt wird. Was steckt aber, bei genauem Hinsehen, in der Idee, dass es reiche alte Bücher abzuschreiben, von denen niemand mehr weiß? Spielt der Roman hier nicht die gleiche Rolle wie der Satz im Mund des Papageis? Denn gewiss, wenn niemand mehr von ihnen weiß, dann heißt das auch, dass niemand mehr weiß, wofür sie stehen, einmal gestanden haben. Der Roman selbst also,

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    wenn man so will, als ›großes sprachliches Schnipsel‹, als eine ›große semantische Monstrosität‹, als ein ›großer Name‹. »Dannie« erlaubt uns noch einmal zu bewundern, wie Modiano den Namen als erzählerisches Mittel einsetzt. Gleich zu Beginn von L’herbe des nuits vertraut der Erzähler uns an, dass er »zögere, ihren Nachnamen voll wiederzugeben«:

    Vielleicht trägt sie ihn heute wieder – nach so vielen anderen Namen – und ich möchte keine Aufmerksamkeit auf sie lenken, für den Fall, dass sie irgendwo noch lebt. [...] An dem Tag, als wir uns kennenlernten, hatte ich zuerst »Dany« in mein Notizbuch geschrieben. Sie selbst war es gewesen, die mit meinem Stift die richtige Schreibweise ihres Vornamens korrigiert hatte: Dannie. Später habe ich bemerkt, dass dieser Vorname »Dannie« der Titel eines Gedicht war – von einem Schriftsteller, den ich zu jener Zeit bewunderte, und den ich manchmal sah, wenn er das Hotel Taranne verließ und auf den Boulevard Saint-Germain trat. (L’herbe des nuits, 16-17)

    IV. Modiano ist einer jener Schriftsteller, die gerne mit ihrer ›Stimme‹ identifiziert werden. Diese Stimme – Modiano hat sie aber nicht von Beginn an gehabt. Er hat sie, wenn man so will, erst finden müssen. Jemand, der nur Modianos ersten Roman La place de l’étoile und seinen bisher zuletzt erschienen Roman Encre sympathique liest, wird die Behauptung, Modiano würde immer denselben Roman schreiben, mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Die Stimme von Modianos erstem Roman, La place de l’étoile, ist eine radikal andere als die, die man heute als die typische Modianische Stimme erkennt. Der Erzähler von La place de l’étoile ist ein geschwätziger, getriebener, übersteigerter und unzuverlässiger Erzähler. Er begibt sich auch nicht praktisch auf eine Rückkehr. Seine Rückkehr ist alleine in seinem Diskurs – ist eine fantasierte, was logisch, und das ist interessant, tatsächlich aus der Übertreibung und Übersteigerung folgt. Dieses Abarbeiten am Klischee, die Übersteigerung, und vor allem diese Hast in der Stimme sind dem späteren Erzähler von Modiano fremd. Der Erzähler, den man heute als den typischen Modiano Erzähler erkennt, ist ein ›ruhiger‹ Erzähler, der dem individuellen, scheinbar belanglosen Detail, verhaftet ist, das er, gerade durch die Aufmerksamkeit, die er ihm schenkt, aus dieser Belanglosigkeit heraushebt. Wo im Werk von Modiano ist der Übergang von der einen Stimme zur anderen? Es ist ein Wechsel, der sich bereits in Modianos zweitem Roman La ronde de nuit ankündigt – durch ein Aufblitzen dieser neuen, ruhigeren Stimme – und der mit Modianos viertem Roman, Villa Triste, als vollzogen betrachtet werden kann. Jenseits des Inhaltes – denn gewiss, letztendlich geht es immer um eine Form des Sich-Aneignens der Erinnerung, ob nun mittels eines verlässlichen oder unzuverlässigen Erzählers – gibt es im Werk von Modiano aber auch eine formale Kontinuität: es ist die Rolle der Namen. Die Namen funktionieren bei Modiano jedes Mal als generierendes System, auch wenn das konkret auf verschiedene Weise passiert, angepasst nämlich an die jeweiligen Stimme.

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    La place de l‘étoile: die Namen als Klischee Was in La place de l’étoile ›passiert‹ ist im Wesentlichen der Diskurs des Erzählers, Raphaël Schlemilovitch, der uns einen Abriss seiner Karriere als Intellektueller, der sich jüdischer Wurzeln rühmt, darbietet. Raphaël Schlemilovitch berichtet über seine intellektuellen Rivalitäten, Auseindandersetzungen und Begegnungen mit einer Reihe von schillernden Persönlichkeiten, wie Léon Rabatête, dem Doktor Bardamu, Maurice Sachs, Otto Abetz, dem Vicomte Charles Lévy-Vendôme, Brasillach, Drieu la Rochelle, dem Kapitän Dreyfus, dem Doktor Freud, Hitler, Eva Braun ... »Schlemilovitch«, das ist natürlich nicht nur ein Name, sondern, um mit Barthes zu sprechen, auch Zeichen. Modiano – und darin wird eine Kontinuität bestehen – entfaltet dieses Zeichen nicht für uns. In der Tat, die Bedeutung des Namens als Zeichen ist hier so offensichtlich, ist nämlich Klischee, so dass jede Entfaltung ein Zuviel wäre. Wir als Leser lesen die Zeichen des Romans natürlich immer als doppelte: als Zeichen, wie sie in der Welt des Fiktion erscheinen; und als Zeichen, wie sie auf der Ebene der Metafiktion erscheinen, auf der wir wissen, dass der Roman ein Kunstgegenstand der realen Welt ist, in dessen Interpretation daher immer auch das Wissen eingeht, dass die in der fiktiven Welt auftretenden Personen ihre Eigenschaften, und also auch ihre Namen, von dem Autor erhalten haben. »Schlemilovitch« – das ist Programm, vor allem nämlich in seiner Funktion als Klischee, durch die angezeigt wird, dass der Diskurs des Erzählers sozusagen als großes – langes – Klischee gelesen werden soll. Maurice Sachs, Otto Abetz, Brasillach, Drieu la Rochelle, Dreyfus, Freud, Hitler, Braun ... die Namen dieser historischen Persönlichkeiten sind natürlich nicht nur des Zitats fähig, sondern sind Zitat, sind auch Klischee.16 Der Erzähler arbeitet sich an diesen zu Klischees gewordenen, bekannten Namen ab. Es ist eine Art übersteigertes, historisches name dropping, das unter anderem gerade durch die Tatsache, dass eine reale Begegnung mit allen diesen Persönlichkeiten, so wie sie in der Erzählung erscheinen, von der historischen Zeit her nicht möglich ist, den Diskurs des Erzählers als fantastischen markiert. Die Namen sind hier also höchst funktional: nicht nur in dem Sinn, dass der ganze Roman ›aus den Namen kommt‹, die Namen sind hier auch Mittel, den Diskurs des Erzählers in seiner Intention, sozusagen das Vorzeichen des Romans, und damit also auch die Form überhaupt, zu bestimmen. Die Technik als Kontinuität Trotz des markanten Unterschiedes in der Stimme, findet man in La place de l’étoile, was das erzähltechnische Manövrieren mit den Namen anbelangt, schon so manches Mittel, das für Modiano typisch werden sollte. In der Tat beginnt der Roman damit:

    16 Was Verwunderung hervorrufen kann, ist, dass Modianos sechster Roman, Rue de Boutiques Obscures (1978), von jemandem ins Deutsche übertragen wurde, der sich perfekt in die Gesellschaft von Sachs, Abetz, Brasillach und Drieu la Rochelle einreihen würde, Gerhard Heller, der von 1940-1944 als Sonderführer der Propagandastaffel in Paris für die literarische Politik der Besatzung zuständig war (Patrick Modiano, Die Gasse der dunklen Läden, Aus dem Französischen von Gerhard Heller, Suhrkamp, Berlin 1988).

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    Es war zu jener Zeit, als ich meine Venezuelanische Erbschaft verbrauchte. Manche sprachen nur noch von meiner schönen Jugend und meinen schwarzen Locken; andere überhäuften mich mit Beleidigungen. Ich lese noch einmal den Artikel, den mir Léon Rabatête in einem Sonderheft von Ici la France widmete: » ... Wie lange noch müssen wir den Eskapaden des Raphaël Schlemilovitch beiwohnen? Wie lange noch wird dieser Jude ungestraft seine Neurosen und epileptischen Anfälle quer durch das Land, von Touquet zum Kap d’Antibes, von La Baule nach Aix-les Bains, spazieren führen? [...] « (La place de l’étoile, 13)

    Es ist dies der erste Absatz des Romans, mit dem – das sollte mitgedacht werden – nicht nur der Erzähler dieses Romans, sondern Modiano als Schriftsteller zum ersten Mal auftritt. Der Ton ist Provokation. Ist so laut, dass man mitunter gar nicht merkt (und das ist gut so), was auf der Ebene der Transaktion zwischen Schreiber und Leser passiert: Es ist nicht so, dass sich der Erzähler selbst als »Raphaël Schlemilovitch« vorstellt. Nein, wir erfahren, dass das angeblich sein Name ist, indirekt, indem er uns sagt, dass ein anderer ihn angeblich so nennt. Und zwar in einem Artikel, das heißt also: gedruckt, auf einem Stück Papier. Und damit hat uns Modiano sofort in den Bereich der Sprache gezogen. Er hat, wenn man diese Metapher verwenden kann, ›unseren Blick gelenkt‹, aber eben nicht bloß auf irgendein einfaches Ding, oder die physische Besonderheit eines Dings, sondern auf einen Text – einen Text im Text, und damit sind wir, wie man mit Barthes sagen könnte, im »Abenteuer der Sprache«. Ganz Modiano auch schon, wie Schlemilovitch die Bekanntschaft von Charles Lévy-Vendôme macht:

    Gut vierzehn Tage nach meinem Ausscheiden aus dem Lycée, war ich gerade dabei, meine letzten Geldscheine im Restaurant Dubern auszugeben, als sich ein Mann an meinen Nebentisch setzte. [...] Während des Mahls, ließ er seinen Blick nicht von mir ab. Er rief den Kellner mit einer eigenartigen Handbewegung herbei: man hätte meinen können, sein Finger würde eine Arabesque in der Luft zeichnen. Ich sah ihn einige Worte auf eine Visitenkarte schreiben. Er zeigt mit seinem Finger auf mich, und der Kellner brachte mir die kleine weiße Karte, auf der zu lesen war:

    VICOMTE CHARLES LÉVY-VENDÔME

    Unternehmerischer Geist, wünscht Ihre Bekanntschaft zu machen.

    (La place de l’étoile, 89)

    Diese Art des Erzählens, als ›erzählendes Ding‹ in der Welt des Erzählten ein Stück Papier, auf dem etwas geschrieben oder gedruckt steht, aber auch ein Türschild, oder eine Aufschrift, vorkommen zu lassen, ist eine Kontinuität in Modianos Werk; eine Methode, der sich Modiano von seinem ersten bis zu seinem bisher zuletzt geschriebenen Roman bedient. Der Übergang Es ist nicht zufällig, dass in Modianos zweitem Roman, La ronde de nuit, neben der Stimme, die den Roman eröffnet und die den übersteigerten Ton von La place de l’étoile fortsetzt, eine zweite, neue, ruhigere, Stimme auftritt: der Erzähler von La ronde de nuit arbeitet als verdeckter Informant für einen »Monsieur Philibert«, scheinbar der Polizeichef der Stadt, in einem Paris, das dem Paris der Okkupation im Zweiten Weltkrieg ähnelt. Die Stimme, die man als jene von La place de l’étoile wiedererkennt, erzählt weniger, als dass sie stichwortartig zur Protokoll gibt, was der Erzähler bei seinen Besuchen in der konfiszierten Villa im noblen 16. Arrondissement, wo Monsieur Philibert sein Büro eingerichtet hat, fetzenartig

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    wahrnimmt: das Treiben einer Abendgesellschaft – La ronde de nuit – während im Keller gefoltert wird.17 Auf Seite zwanzig dann, erscheint diese neue, ruhigere Stimme. Sie markiert dort, auf Seite zwanzig, einen Szenenwechsel, aber auch einen Wechsel in der Haltung, oder besser Betrachtungsweise, des Erzählers. Der Erzähler ist nicht mehr in der Villa, sondern im Bois de Boulogne bei einem Nachmittagskonzert. Es ist die Stimme des Erzählers, wenn er Abstand zu den Ereignissen hat, wenn er sozusagen alleine mit sich selbst ist. Diese Stimme ist nicht mehr eine laute und hastige; es ist eine ruhige, ernste und reflektierende Stimme, auch wenn sie sich in einem gewissen Pathos und Selbstmitleid ergeht. Es ist eine, auf eine gewisse Weise, zuverlässige Stimme, in dem Sinn nämlich, dass in ihr der Erzähler zu uns als sich selbst spricht, und nicht als eine gewisse ›öffentliche Person‹, die er vorgibt zu sein – was interessanterweise gerade durch das Selbstmitleid ausgedrückt wird. Das Auftreten dieser neuen Stimme ist in La ronde de nuit natürlich hoch funktional, weil sie die Ambivalenz und Zerrissenheit des Charakters transportiert. Diese Stimme sitzt auf einem Charakter, der eigentlich ›zu schmal‹ für diese Stimme ist. Modiano wird später seine Erzähler von der Last befreien, unsympathische Charaktere zu verkörpern. Es ist diese Stimme aber, die in La ronde de nuit auf Seite zwanzig zum ersten Mal auftritt, aus der die typische Stimme von Modiano herauskommen wird. Diese in La ronde de nuit noch neue Stimme – interessanterweise – sagt uns etwas über die Namen:

    Coco Lacour rauchte seine Zigarre. Esmeralda trank artig eine Limonade. Sie sprachen nicht, und das war es, wofür ich sie liebte. Ich hätte sie minutiös beschreiben wollen. Coco Lacour: ein rothaariger Riese mit seinen Augen eines Blinden, die von Zeit zu Zeit von einer unendlichen Traurigkeit erleuchtet wurden [...] Esmeraldas Alter? [...] Ich könnte über die beiden eine unglaubliche Masse an rührenden Details zusammentragen. Erschöpft, gebe ich auf. Coco Lacour, Esmeralda, diese Namen genügen Ihnen, so wie mir ihre stille Präsenz an meiner Seite genügt (La ronde de nuit, 20-21).

    Eine Erkenntnis, die Modianos Erzähler seitdem stillschweigend befolgt hat. Modianos dritter Roman, Les boulevards de ceintures, steht auf seine Weise auch auf einem Übergang. Nicht weil man zwei Stimmen darin finden würde. Les boulevards de ceintures wird von einer durchgehen fließenden Stimme getragen. Doch diese Stimme, so kann man im Rückblick sagen, fließt zwischen jener von La place de l’étoile und jener, die später zu der Stimme Modianos geworden sein wird. Der vollzogene Übergang Mit Villa Triste hat sich der prahlerische, gehastete, sich-mokierende Ton in der Stimme verloren. Und man findet auch schon die Form, die von nun an die für Modiano typische werden sollte: ein Erzähler, der mit einem Abstand von ein paar Jahren an den Ort einer Erinnerung zurückkehrt. Hier, der Ort am See, an der Französisch-Schweizerischen Grenze:

    Sie haben das Hotel Verdun zerstört. [...] Das Hermitage und das Windsor beherbergen nur noch Appartements. [...] Es ist sehr spät, im Winter. Man sieht kaum das andere Ende des Sees; die verschwommenen Lichter auf der Schweizer Seite. (Villa Triste, 7-10)

    17 Ein weiterer Hinweis also, dass der Name »Villa Triste«, der Modianos viertem Roman den Titel geben wird, nicht ohne Kenntnis der historischen Bedeutung dieses Namens gewählt wurde.

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    Was machte ich mit achtzehn Jahren am Ufer des Sees, in diesem Luxuskurort? Nichts. [...] Ich hatte Paris verlassen, in dem Glauben, dass die Stadt für Leute wie mich zu gefährlich würde. Es herrschte eine Polizei-Staat-Stimmung dort. Zu viele Verhaftungen für meinen Geschmack. Bomben explodierten. Ich würde gerne einen Hinweis zur Chronologie geben, und da Kriege die besten zeitlichen Orientierungspunkte sind: Um welchen Krieg handelte es sich eigentlich? Um jenen, dem man, um ihn zu benennen, die Vorsilbe Algerien gab, ganz zu Beginn der sechziger Jahre. (Villa Triste, 14)

    Wir haben hier einen ruhigen, ›ernsten‹ Erzähler vor uns, der mit der Autorität der Distanz spricht. Jedenfalls, das Übersteigerte am Ton, der den Diskurs des Erzählers als einen unzuverlässigen markiert, ist verloren. Bei genauerer Betrachtung, beim Weiterlesen von Villa Triste, merkt man aber: der laute Ton ist zwar aus dem Diskurs des Erzählers verschwunden, er ist aber nicht ganz aus dem Roman verschwunden. Er ist von dem Erzähler auf einen anderen Charakter in der Erzählung übergegangen: René Meinthe, jener, der sich »Die Königin der Belgier« nennt und »VILLA TRISTE« auf das Tor des Hauses geschrieben hat. Und vielleicht findet man auch in dem Namen, mit dem der Erzähler auftritt, »Cômte Victor Chmara«, noch eine Spur der Unzuverlässigkeit und des Fantastischen, das Raphaël Schlemilovitch ausgezeichnet hat. Warum dieser Übergang im Werk, von einer Stimme zur anderen? Vielleicht ist das einer jener Punkte, wo die Biographie des Autors ein erklärendes Element liefern kann. In einem Interview anlässlich der Publikation von Encre sympathique, im Herbst 2019, erzählt Patrick Modiano, »gegen 16, 17«, einen ersten Roman geschrieben zu haben, dessen Manuskript aber verloren ging: »Ich sollte in ein neues Pensionat kommen und wollte mein Manuskript nicht mitnehmen. Also habe ich es im Haus von Leuten gelassen, die ich mehr oder weniger gut kannte. Sie haben es ohne Zweifel verschlampt. Jedenfalls, habe ich es nicht wieder gefunden, als ich zurück kam. Es war ein Text, der sehr geprägt war von den Romanen, die mich damals beindruck haben, Le Diable au corps und Manon Lescaut, Geschichten von sehr jungen Männern, die Begegnungen mit Frauen haben.« La place de l’étoile, mit seinem »Aspekt eines Pamphlets«, sagt Modiano, hätte »nichts gemein« gehabt mit diesem ersten Manuskript. »Ich frage mich,« fährt Modiano fort, »ob das, was ich später geschrieben habe, nicht eher in der Linie dieses fehlenden Romans war. Ich frage mich, ob ich in den folgenden Romanen nicht versucht habe, diesen Verlust zu kompensieren«.18

    2. Mai 2020

    Dank an Markus Grass und Matin Riedl, für Kommentare und Diskussionen.

    18 Siehe den in der Fußnote 6 bereits zitierten Artikel von Raphaëlle Leyris in Le Monde vom 3. Oktober 2019.