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Die Macht der Sprache - · PDF file7 Vorwort Laura Hartz, Anita Boomgaarden „Die Macht der Sprache“ Teil II – Online Macht, Gewalt, Ohnmacht, Allmacht, Ermächtigung und Identität

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Die Macht der Sprache Teil II – Online-Publikation Herausgeber: Goethe-Institut Diese Publikation ist im Rahmen des Projekts „Die Macht der Sprache“ entstanden. Sie ergänzt die Buchpublikation: Prof. Dr. Jutta Limbach und Dr. Katharina von Ruckteschell (Hrsg.): „Die Macht der Sprache“. Langenscheidt KG/Goethe-Institut e. V. 2008, ISBN 978-3-468-49408-6. http://www.die-macht-der-sprache.de Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf deshalb der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Goethe-Instituts. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung überspielt, gespeichert und in ein Netzwerk eingespielt werden. Dies gilt auch für Intranets von Firmen und von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen. © 2008 Goethe-Institut e.V., München, www.goethe.de Redaktion: Anita Boomgaarden, Laura Hartz, Rolf Peter Layout: Anita Boomgaarden Bildnachweise: Titelbild: Erich Kapfenberger. Das Bild entstand im Rahmen des Fotowettbewerbs „Die Macht der Sprache im Bild“; Copyright: Goethe-Institut Foto Seite 79 Akademie der Künste: Babak Saed

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Die Macht der Sprache – Online-Publikation

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Laura Hartz, Anita Boomgaarden: „Die Macht der Sprache“ Teil II – Online......................... 7

Sprachbefunde

Ludwig M. Eichinger: Kultursprachen. Bemerkungen zur herrschenden Sprachenlage …… 10

Rainer Enrique Hamel: Sprachimperien, Sprachimperialismus und die Zukunft der

Sprachenvielfalt ………………………………………………………………………..... 15

Ulrich Ammon: Deutsch in der internationalen Wissenschaftskommunikation ………….… 47

Ralph Mocikat: Die deutsche Sprache in den Naturwissenschaften …………………..….… 60

Ulrich Ammon, Peter Eisenberg, Jochen Scholz: Die Rolle der europäischen Sprachen in der

Zukunft – Deutsch-russische Erfahrungen und Perspektiven. Drei Konferenzberichte ….66

Gertrud Reershemius: Jiddische Wörter in der deutschen Sprache ………………………… 75

Sprachprägungen

„After Babel“ – Eine künstlerische Intervention zur Macht der Sprache von Babak Saed … 80

Muttersprache – Vaterland. Zusammenfassung einer Podiumsdiskussion mit Krysztof

Czyzewski, Volha Hapayeva, Marius Ivaškevičiu und Andrej Kurkow; Moderation: Martin

Pollack ………………………………………………………………………………...… 81

Marica Bodrožić: Die Luft der Wörter – Über Sprache und Identität ……………………… 85

Joel Walters: Sprache und Identität im mehrsprachigen Israel …………………………….. 88

Die Macht der anderen Sprachen – Zum Einfluss multilingualer Medien. Beiträge aus einem

Podiumsgespräch mit Suliman Aktham, Astrid Frohloff, Sybille Golte und Oliver Hahn;

Moderation: Peter Koppen …………………………………………………….………... 96

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Sprachstrategien

Ján Figel: „Eine neue Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit“ – Arbeitsansätze der CICEB

…………………………………………………………………………………….……. 100

Die Globalisierung mit nationalen und regionalen Identitäten kompatibel machen – Welche

Rolle kann das Deutsche dabei spielen? Statements aus einem Podium mit Georg

Boomgaarden, Emil Brix, Gerhard Leitner und Georg Schütte; Moderation: Alfred

Eichhorn ……………………………………………………………………………….. 108

Hartmut Retzlaff: Integration durch Sprache – Interkulturelle Bildungsförderung in Europa.

Zusammenfassung eines Konferenzbeitrags ……………………………………...…… 110

Sprachenschutz in Frankreich und Deutschland. Beiträge zu einer Podiumsdiskussion mit

Jean-François Baldi, Jean-Claude Crespy, Jutta Limbach und Jürgen Trabant;

Moderation: Maik Meuser …………………………………………………………...… 112

Uwe Rau: „CIA – Hier können Sie Karriere machen“ – Sprachenpolitik in den USA fünf

Jahre nach dem 11. September 2001 ……………………………………………………120

Sprachvermittlungen

EUNIC Brüssel: Mehrsprachigkeit in Europa – hin zu einer besseren Praxis. Empfehlungen

zum Erlernen von Sprachen in der Europäischen Union …………………………….… 126

Heidi Byrnes: Wer hat Angst vor Englisch? Nachdenken über Deutschlehren und -lernen in

den USA ……………………………………………………………………………..… 132

„Soll die EU die englische Sprache zu ihrer einzigen Arbeits- und Verhandlungssprache

erklären?“ Beiträge der Landessieger im Wettbewerb „Jugend debattiert international“:

Denys Chernyshenko (Ukraine), Jakub Štefela (Tschechien), Milda Vikut÷ (Litauen) und

Inese Zepa (Lettland) ………………………………………………………………...… 140

Fumiya Hirataka, Katsumi Kakazu: Japanischunterricht in der globalen Gesellschaft von

heute ………………………………………………………………………………….... 142

Lachlan MacCallum: Staatsbürgerliche Erziehung – Erfahrungen aus dem National Centre for

Languages (CiLT) ………………………………………………………………..……. 150

Ana Maria Baracaldo: Mehrsprachig – the treasure I’ve found. Gewinnerrede des

Publikumswettbewerbs „Der Preis: Die Macht der Sprache“ (2. Platz) ……….……… 159

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Sprachanmerkungen

Autorenindex …………….………………………………………………………..……….. 161

Literaturhinweise ……………………………………………………………………….…. 168

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Vorwort

Laura Hartz, Anita Boomgaarden

„Die Macht der Sprache“ Teil II – Online

Macht, Gewalt, Ohnmacht, Allmacht, Ermächtigung und Identität im Kontext von Sprache;

diese und viele weitere Aspekte hat das Goethe-Institut gemeinsam mit dem Stifterverband

für die Deutsche Wissenschaft 2006 und 2007 in dem Projekt „Die Macht der Sprache“

aufgegriffen. In über zwanzig Projekten weltweit wurde das Thema in seiner jeweiligen

regionalen Bedeutung präsentiert.

Viele Beiträge aus diesen zwei Jahren intensiver Beschäftigung mit der Macht der Sprache

finden Sie nun auf diesen Seiten, ergänzend zu der im Langenscheidt Verlag erschienenen

Buchpublikation „Die Macht der Sprache“.

Professor Ralph Mocikat erläutert seine Argumente für Deutsch als Wissenschaftssprache,

Professor Peter Eisenberg von der Universität Potsdam setzt sich kritisch mit dem Thema

Sprachpflege auseinander und Sprachwissenschaftler aus aller Welt weisen auf die

sprachlichen Gegebenheiten in Ihrer Heimat hin. Die Kontroverse zwischen Muttersprache

und Vaterland, die besonders in Osteuropa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion

evident geworden ist, war Thema einer Podiumsdiskussion, die diese Publikation neben vier

weiteren Podien zusammenfassend aufgenommen hat.

Es ergeben sich Einblicke in die Sprachpolitik unterschiedlicher Länder. So fragt

beispielsweise Heidi Byrnes von der Georgetown University in ihrem Beitrag: „Wer hat

Angst vor Englisch? Wie und warum werden welche Sprachen in den USA gelernt?“. Die

Veränderungen in der amerikanischen Sprachenpolitik fünf Jahre nach 9/11 wurden in einem

Symposium in Nashville untersucht und hier zusammengefasst.

Beiträge aus Rom, Moskau und Brüssel befassen sich mit der komplexen Sprachlandschaft

Europas, unter anderem geht es um jiddische Wörter in der deutschen Sprache und die

Debatte um die europäische Mehrsprachigkeit.– etwa bei den Landessiegern von Jugend

debattiert international oder bei EUNIC, den European National Institutes for Culture in

Brüssel. Aber auch der Fremdsprachenunterricht aus Sicht der Japaner wird erläutert.

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Erleben Sie den Facettenreichtum der „Macht der Sprache“ nun also selbst!

„Mit allen Sprachen kann man sich in der Welt zurechtfinden, in der sie zu Hause sind. Die

Welt, in der Sprachen zu Hause sind, ist aber nicht nur nicht gleich, sondern geradezu

unvergleichlich.“

(Ludwig M. Eichinger)

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Kultursprachen

Bemerkungen zur herrschenden Sprachenlage

Ludwig M. Eichinger

Was macht eine moderne Sprache aus? Wie auf allen Märkten gibt es auch auf dem Markt für

Sprachen Angebote unterschiedlicher Art. Mit seiner Muttersprache hat man normalerweise

keine Wahl, aber wenn man die Wahl hat, dann gibt es in der heutigen Welt eine nicht allzu

große Gruppe von Sprachen, die sich insgesamt für die verschiedenen Ansprüche als

brauchbar erwiesen haben. Die größeren europäischen Sprachen gehören alle zu diesem Typ,

auch das Deutsche.

Auch Sprachen, die im Prinzip diese Anforderungen erfüllen, haben erkennbar einen

unterschiedlichen Geltungsbereich und verschiedene Gebrauchsschwerpunkte. So hatte das

Deutsche im 19. Jahrhundert einen herausgehobenen Ruf als Sprache der Wissenschaft, das

Französische als Sprache der Diplomatie. Der Aufstieg des Englischen als internationale

Verkehrssprache hat die Stellung der anderen Sprachen in dieser Hinsicht deutlich verändert.

Aber was sind die Voraussetzungen dafür, zum Club der modernen Sprachen zu gehören?

Sprachen sind vergleichbar

Für den Linguisten und für das Kind, das ohne Weiteres seine Muttersprache lernt, sind alle

Sprachen gleich gut. Sie haben alle das, was man von einer Sprache erwarten kann. Und das

gilt auch ganz unabhängig davon, ob es sich um Sprachformen handelt, die wir gemeinhin als

Sprachen bezeichnen, oder um Dialekte. Es ist nicht so, dass sich die Sprachen danach

unterscheiden ließen, ob sie von Haus aus besser oder schlechter dazu geeignet wären, sich

den Aufgaben zu stellen, deren Erfüllung man mit Fug und Recht von einer Sprache erwartet.

Sprachen, die uns Europäern fremd erscheinende Techniken benutzen – etwa große Zahlen

schwer überschaubar wirkender grammatischer Kategorien wie die afrikanischen

Klassensprachen –, erfüllen diese Anforderungen ebenso wie unsere europäischen Sprachen,

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auf die auch unsere grammatischen Beschreibungen in erster Linie ausgerichtet sind. Offenbar

sind Sprachen aber dennoch nicht gleich, sondern stellen unterschiedliche Ausformungen

dessen dar, was wir eine Sprache nennen. Und auch hier gibt es welche, die sich aus

verschiedenen Gründen ähnlicher sind als andere: nicht umsonst spricht man von

Sprachfamilien. Seit die Vielfalt der Sprachen in den Blick geraten ist, wird daher versucht, in

die strukturellen Unterschiede ein typologisches System zu bringen. Was Europa und den von

ihm historisch beeinflussten kulturellen Raum angeht, so kann man an dieser Stelle sogar

feststellen, dass sie sich ähnlicher geworden sind, als man das von ihrer genetischen Art her

vermuten würde.

Sprachen sind unvergleichlich

Mit allen Sprachen kann man sich in der Welt zurechtfinden, in der sie zu Hause sind. Die

Welt, in der Sprachen zu Hause sind, ist aber nicht nur nicht gleich, sondern geradezu

unvergleichlich. Der sprachliche Austausch in kleinen, in vielerlei Weise eng miteinander

verknüpften Gruppen, der zudem kaum auf schriftlichen Austausch angewiesen ist, mag in

mancherlei Hinsicht als die „dialogische“ Grundkonstellation gelten, von der wesentliche

Merkmale von Sprache und Sprachen geprägt werden. Von daher kann man ganz

grundsätzliche Dinge ableiten. Zum Beispiel, dass in irgendeiner Weise auf die beiden Partner

des Dialogs und das, worüber geredet wird, systematisch Bezug genommen werden kann, was

sich etwa im System der Personalpronomina oder entsprechender Flexionsendungen

niederschlägt.

Sprachen, die das Bild der heutigen Welt prägen, sind unterschiedlich weit, aber weit

davon entfernt, mit diesem Bild einer vermeintlich natürlichen Kommunikation angemessen

beschrieben werden zu können. So haben wir auch nicht zu Unrecht das Gefühl, Sprachen wie

das Deutsche bestünden eigentlich aus einer Menge von sprachähnlichen Erscheinungen, die

miteinander das Bild einer Sprache prägen. Diese Kultursprachen haben in dieser Hinsicht die

Gemeinsamkeit, dass sie eine eigene schriftsprachliche Form entwickelt haben, neben der in

unterschiedlicher Funktion gesprochene Varianten stehen.

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Sprachen haben ihren eigenen Charakter

Bei einem so gearteten Blick auf unsere Sprachen fällt auf, dass die Unterschiede nicht

hinreichend erfasst sind, wenn sie als unterschiedliche Ausprägungen sprachlicher Systeme

beschrieben werden. Und diese Art der Beschreibung reicht auch nicht, weil sie

verschiedenen Zwecken unterliegt. Wie „Sprachen“ eingeschätzt werden, hängt nämlich nicht

nur davon ab, welche strukturellen Eigenheiten sie haben und in welchen Kontexten sie

sinnvoll genutzt werden. Vielmehr werden sie als soziale Symbole eingeschätzt; sie

unterliegen der Einordnung in ein Normengefüge, das seinen Wert nur behält, wenn es in

vertretbarem Ausmaß geteilten gesellschaftlichen Vorstellungen entspricht. Und so machen

wir traditionell Unterscheidungen, die jeweils verschiedene Aspekte dieses Gefüges

aufnehmen. Welche Rolle dabei Fragen der Deutungsmacht und ihrer realen Voraussetzungen

spielen, lässt sich an der gern zitierten Äußerung ablesen, dass Sprachen Dialekte mit einer

Armee und einer Flotte seien. Dass diese die Objektivität solcher Termini relativierende

Äußerung ursprünglich auf Jiddisch formuliert wurde, passt zweifellos zum beschriebenen

Sachverhalt: „A shprakh iz a diyalekt mit an armey un a flot".

Moderne Charaktere

Sind dann Sprachen, die ein der Moderne angepasstes Wesen zeigen, einfach die Sprachen

mit den größeren Armeen und Flotten? Ja und nein: Natürlich spielt es eine Rolle, wie der

muttersprachliche Hintergrund einer Sprache aussieht. So ist es sicherlich mehr als Zufall,

dass das Lateinische, das Französische und das Englische ihre Bedeutung jeweils aus

historischen Konstellationen bezogen, hinter denen wohl gleichsam äußere Macht und

intellektuelle Kraft standen. Der Vergleich der heutigen Situation mit den früheren

Verhältnissen hinkt allerdings erheblich. Im Unterschied zu dem kulturellen Umfeld, in dem

die beiden genannten früheren Sprachen den Höhepunkt ihrer Geltung erreichten, ist in der

Zwischenzeit etwas geschehen, was einer größeren Zahl von Sprachen die gleichen

Möglichkeiten eröffnen würde. Die Emanzipation der (europäischen) Volkssprachen und ihre

Festigung als Nationalsprachen spiegelt die zunehmende Teilnahme ihrer Sprecher am

öffentlichen Diskurs. Für den zentralen europäischen Raum und seine Sprachen vom

Italienischen bis zum Schwedischen und vom Portugiesischen bis zum Russischen ist dieser

Zustand bis hin zum Ende des 19. Jahrhunderts hin abgeschlossen.

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Notwendige Erfahrungen

Solche Erfahrungen haben jene Sprachen gemacht, die man als „Kultursprachen des

europäischen Typs“ bezeichnen könnte. So lässt sich als eine der Voraussetzungen für

„moderne“ Sprachen festhalten, dass sie den unbestrittenen Status von Nationalsprachen

haben sollten. Nationalsprachen haben eine weitgehend normierte oder zumindest gut

beschriebene und tradierte schriftliche Form. Diese Eigenschaft sichert nicht nur die

Lernbarkeit einer Sprache, sie ist auch ein Garant dafür, dass die wichtigen Dinge unserer

Welt in dieser Sprache schon besprochen worden sind. Es muss sich daher nicht um eine Art

von Schreiben handeln, das mit verschiedensten Sachverhalten in verschiedensten Stilen fertig

werden kann. Am besten ist dieses Kriterium von den großen Sprachen des europäischen

Typs erfüllt worden, die mit der Entfaltung einer Welt von gedruckten Büchern, Zeitungen,

Zeitschriften und dergleichen selbst groß geworden sind. Doch was bei dieser Entwicklung

nebenher geschehen ist, ist nicht weniger wichtig: Beiläufig sind den großen Sprachen auf

diesem Wege geteilte Traditionen des Sprechens und ein im gegenseitigen Austausch

entwickelter gemeinsamer Wortschatz zugekommen. Das zeigt sich am deutlichsten in dem

Teil des Bildungswortschatzes, der uns eine Vielzahl wissenschaftlicher und fachlicher

Phänomene in der Form lateinisch-griechisch wirkender Wörter in den verschiedenen

Sprachen nahebringt, von „Hypersensualismus“ bis „Diskothek“. Zur Erlangung eines

adäquaten Grades von Modernität war auch wichtig, dass es in all diesen Fällen gelungen ist,

praktisch alle Muttersprachler an der Lese- und dann auch Schreibfähigkeit in der eigenen

Sprache in angemessener Weise zu beteiligen. Die Untersuchungen zu Briefen, die deutsche

Auswanderer im 19. Jahrhundert in die Heimat gesandt haben, zeigt deutlich, welch langer,

mühseliger und mäandernder Weg dabei zurückgelegt wurde. Die andere Seite dieser

Entwicklung ist, dass solche Sprachen eine der schriftlichen Form in weitem Umfang

entsprechende, vereinheitlichende Sprechform gefunden haben. Ob dazu im Einzelnen die

Sprachform einer dominanten Schicht oder Region (wie in England oder Frankreich) oder

eine Art Kompromissform gewählt wird, die einem bildungsbürgerlichen Konsens entstammt

(wie eher im Deutschen), ist zweitrangig. Diese Sprachform sollte zudem ihren problemlosen

Platz in den Medien haben – und zwar für Themen aller Art.

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Ein neues Problem

Um alle diese Anforderungen zu erfüllen, braucht es aber eine größere Gruppe an Menschen,

die eine Sprache als Muttersprache teilen, und es braucht ein gewisses Maß an Ausgreifen

dieser Sprachen in großräumigere Zusammenhänge. Das ist das Problem von

Minderheitensprachen, bei denen man sich recht häufig dazu gebracht sieht, außerhalb eines

engeren Alltags auf eine größere Sprache zurückzugreifen. Zum Beispiel im Sorbischen, bei

dem es ja nicht einmal an schriftsprachlichen Traditionen fehlt. Gab es aufgrund dieses

Zusammenspiels von Faktoren Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts einen im Prinzip

gleichwertigen, wenn auch in der Größe variierenden, Anteil an „Minderheitensprachen“ an

einem nationenübergreifenden Sprachenmarkt, so hat sich dies heute geändert. Aus

verschiedenen Gründen ist das damals alle Schichten prägende Modell der Mehrsprachigkeit

in den größeren europäischen Sprachen nicht mehr zeitgemäß.

An die Stelle eines einigermaßen eurozentrischen Modells von Eliten, deren

Mehrsprachigkeit sich auf einige dieser Kultursprachen bezog, ist ein Modell mit einer

Muttersprachebene und einem internationalen Englisch getreten. Das hat damit zu tun, dass es

nicht mehr nur um den geografischen Raum geht, der von diesen europäisch-amerikanischen

Sprachen abgedeckt wird. Drei Dinge sind in der derzeitigen Übergangsphase zu solch einem

Modell unklar. Zum einen ist das Englische, das unter anderem eine europäische

Kultursprache darstellt, im weltweiten Gebrauch zu einem sprachenübergreifenden

Passepartout geworden, das sich wegen der Reduktion auf diese Funktion von den kulturellen

Traditionen des Englischen gelöst hat. Zum anderen stellt sich die Frage, wie eine vernünftige

Mehrsprachigkeit auf dieser Basis aussehen könnte, wie die Rolle von Kultursprachen neben

und unter dem Englischen als Sprache der internationalen Kommunikation aussehen könnte.

Und drittens ist dadurch neu zu klären, wie man sich eine vernünftige funktionale Interaktion

zwischen den verschiedenen Sprachtypen vorstellen könnte.

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Sprachimperien, Sprachimperialismus und die

Zukunft der Sprachenvielfalt

Rainer Enrique Hamel

1. Sprache und Macht

Am 1. August 2010 wird ein Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, der unter dem

Namen „Amtssprachengesetz“ die Gleichstellung des Deutschen und Englischen als

Amtssprachen in der Bundesrepublik besiegeln soll. Paragraf 1 legt fest, dass in den

Verwaltungsbehörden von Bund, Ländern und Kommunen die deutsche und die englische

Sprache gleichgestellt werden. Die folgenden Paragrafen legen dieselbe Bestimmung für

Gerichte, Schulen, Wissenschaft und Forschung, Rundfunk und Fernsehen fest. Jede einzelne

Institution kann bestimmen, welche der beiden Sprachen in ihrem Wirkungsbereich

verbindlich zu benutzen ist, womit die Wahl wohlgemerkt nicht beim einzelnen Bürger liegt,

sondern letzten Endes wieder beim Staat. Eine Übergangsregelung in Paragraf 6 bestimmt,

dass Bürgerinnen und Bürger, die das 65. Lebensjahr vollendet haben, nach Inkrafttreten

dieses Gesetzes noch für die Dauer von fünf Jahren gegenüber Ämtern und Gerichten

berechtigt sind, die deutsche Sprache zu verwenden. Anfallende Übersetzungskosten haben

sie selber zu tragen. Obwohl in dem Gesetzeswerk sonst eigentlich die „freie“ Sprachwahl

festgelegt wird, deutet sich schon an, in welche Richtung die Sprachentwicklung läuft. Bald

wird die normale, praktisch unvermeidliche Amtssprache das Englische sein, und Deutsch

partizipiert nur noch als stigmatisierte, klar benachteiligte Minderheitensprache.

So steht es in dem Roman „Der verkaufte Mund“ von Kurt Gawlitta, Jurist, Pädagoge

und Sprachverteidiger, der für die allernächste Zukunft die Durchsetzung der englischen

Sprache mit allen Mitteln der medialen Persuasion bis hin zur kriminellen Brachialgewalt der

Multinational Corporations voraussagt. Literarische Fabel, Hirngespinst, Besessenheit eines

verschreckten, konkurrenzunfähigen Kleinbürgertums? Oder realistische Zukunftsperspektive,

ein Aufrütteln des Bewusstseins unserer Bürger, wie es der Roman beabsichtigt, um einer

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schleichenden, bösartigen Epidemie der sprachlichen Unterwanderung noch im letzten

Moment Einhalt zu gebieten? Im letzten Moment, so geschieht es in dem Roman, wird das

Gesetz im Bundestag nach einer Parlamentsschlacht mit mafiösem, zutiefst korruptem

Hintergrund gerade noch einmal abgeschmettert.

Liegt dem Weltbild des Autors ein vereinfachtes Verständnis sprachlicher

Verhältnisse zugrunde – so funktionieren Sprachverdrängungsprozesse nicht –, wie es manche

deutsche Linguisten dem Verein Deutsche Sprache e. V. vorwerfen, dessen prominenter

Vertreter Gawlitta ist? Müssen wir uns andere Verteidigungsmethoden einfallen lassen, falls

wir denn mit einem Monopol des Englischen nicht einverstanden sind? Oder sollten wir im

Gegenteil beherzt auf die Anglisierung unserer Welt zuschreiten, die das Stigma sprachlicher

Zweitklassigkeit und den Fluch babylonischer Sprachverwirrung von uns zu nehmen

verspricht? Endlich – wieder (?) – sich mit allen verständigen zu können! Sollten wir dem

Leitbild des englischen Sprachfuturologen David Graddol folgen, der im Auftrag des British

Council in seinem letzten Opus „English Next“ beschreibt, wie das Englische demnächst

aufhören wird, weltweit eine Fremdsprache zu sein – dann allerdings auch nicht mehr den

anglofonen native speakers gehören wird (Graddol 2006), die, sollten sie einsprachig bleiben

und sich auf die Macht „ihrer“ Weltsprache verlassen wollen, schon bald empfindliche

Nachteile verspüren werden?

In anderen Weltregionen mit scharfen wirtschaftlichen und politischen Kontrasten

stellen sich die Fragen der Sprachdominanz nicht unbedingt in der gleichen Weise. An der

US-mexikanischen Grenze – einer der dramatischsten Trennungslinien zwischen Erster und

Dritter Welt, dort wo die USA heute eine neue Berliner Mauer, so die Kritiker, aufzubauen

beginnen – stellt sie die Sprachenfrage ganz anders. Fast niemand auf der mexikanischen

Seite spricht Englisch, auf der US-amerikanischen jedoch sprechen Abertausende Spanisch.

Spanisch „erobert“, dank millionenfacher Migration von Arm nach Reich, die Südweststaaten

der USA, eine „reconquista lingüística y cultural“ der durch Krieg und Annexion im

19. Jahrhundert verlorenen Gebiete bahnt sich an.

Die Entwicklungstendenzen der Sprachen, so scheint es, sind wie so viele andere

Aspekte unserer Welt in den letzten Jahrzehnten außer Rand und Band geraten. Das heißt

zunächst einmal, dass unsere traditionellen Erklärungsmodelle nicht mehr hinreichen, den

rasanten und sich anscheinend ständig beschleunigenden Wandel adäquat zu erklären. Die

zentralen Fragen, die hinter der Dynamik von Sprachenvielfalt stehen, haben sie jedoch nicht

derart verändert. Eine, vielleicht nicht die einzige, bezieht sich auf die Ausdifferenzierung und

die Handlungsperspektiven von Menschen in ihrem sozio-kulturellen Lebenskontext, die

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wenigstens zum Teil in dem Kaleidoskop von Sprachen zum Ausdruck kommen: Wie können

wir, das heißt 6.500 Sprachgruppen, Ethnien, Minder- und Mehrheiten in einer Welt von

200 Nationalstaaten und den sich nur zögerlich entwickelnden regionalen

Integrationsgemeinschaften, jetzt und in Zukunft friedlich zusammenleben? Die

Zahlenrelation zwischen Sprachgruppen und Staaten zeigt unschwer auf, dass es heute fast

keine einsprachigen Nationalstaaten gibt und dass in den allermeisten unter ihnen

unweigerlich unterschiedliche Sprach- und Kulturgruppen lernen müssen, zusammenzuleben.

Dem steht jedoch das immer noch schwer auf uns allen lastende, sehr europäische Ideal des

homogenen und möglichst einsprachigen Nationalstaats des 19. Jahrhunderts entgegen, der

sich entweder vom Staat zur Nation wie in Frankreich oder von der Nation zum Staat wie in

Deutschland zu entwickeln hat.

Ereignisse in den letzten Jahren, so in Frankreich, Spanien und der Bundesrepublik

Deutschland, haben uns ja auf dramatische Weise gezeigt, bis zu welchem Grad ideologisch

bestimmte Annahmen über schon erfolgte Integrationsprozesse von einem Tag auf den

anderen zerstieben und rasch zur Makulatur werden. Wie viel Zeit haben wir verloren, weil

wir uns alle an lieb gewonnenen Illusionen der Vergangenheit orientierten? Das

Nationalstaatenkonzept wurde bekanntlich samt seiner ideologischen und kulturellen

Implikationen auch den ehemaligen Kolonien europäischer Imperien in Afrika, Asien und

Lateinamerika aufgebürdet, so dass dort zu den jeweils lokalen Schwierigkeiten die von

Europa importierten Probleme des Zusammenlebens in einer europäisch definierten Polis

noch hinzutreten.

In soziologisch definierten Organisationsformen zusammenzuleben bedeutet immer

auch, Macht auszuüben und Machtausübung zu verspüren. Welche Rolle spielen Sprache,

Sprechen, Diskursformen oder Mehrsprachigkeit im Kontext dieser Machtrelationen im

Zusammenleben zwischen Andersartigen, zwischen Identität und der anthropologisch

definierten Alterität? Die Hypothese einer Beziehung von Sprache und Macht geht auf eine

viel grundlegendere Annahme der reziproken Beeinflussung von Sprache und Gesellschaft

zurück. Oder, radikaler formuliert, ist Sprache nicht schon immer gesellschaftlich? Kann man

Sprache und (den Rest von) Gesellschaft überhaupt voneinander trennen oder sollten wir nicht

besser von einer Genese, einer interaktiven Konstitution von Sprache und anderen

gesellschaftlichen Phänomenen ausgehen?

Sprachdiffusion und Sprachverdrängung bis hin zum Sprachentod stellen heute die

hervorstechendsten Ausdrucksformen der weltweiten Sprachdynamik und Globalisierung dar.

Gleichzeitig gehören sie zu den klassischen Themen der Soziolinguistik und

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Sprachsoziologie. Im Zusammenhang unseres Themas können wir nun die Hypothese der

reziproken Beziehung und der gesellschaftlich-sprachlichen Konstitution von Wirklichkeit

genauer formulieren. Eine sprachsoziologische Hypothese besagt, dass die Ausbreitung einer

Sprache Ausdruck der hinter ihr stehenden Machtpotenziale ist. Imperiale Mächte zwingen

den von ihnen beherrschten Nationalitäten und Volksgruppen ihre Sprache auf.

Wenn die internationale Ausbreitung von Macht in der Entstehung großer Imperien

und der Entwicklung des Imperialismus zum Ausdruck kommt, welche Rolle spielen dann

imperiale Sprachen in der Ausbreitung und Stabilisierung von Imperien? Und umgekehrt,

welche Auswirkungen hat die Entwicklung von Imperien auf die Ausformung ihrer Sprachen?

Gibt es Imperien ohne Sprachdiffusion? Gibt es Sprachdiffusion ohne Imperien oder

Imperialismus? Gibt es heute einen modernen Imperialismus, der nicht mehr auf territorialer

Herrschaft und wirtschaftlicher Ausbeutung, sondern auf kultureller, ideologischer und

sprachlicher Dominanz aufbaut?

In der Diskussion um die Rolle der Sprache in der Entwicklung von Imperien ist der

Begriff des „Sprachimperialismus“ entstanden, der von Phillipson (1992), einem ehemaligen

Dozenten des British Council, für die Ausbreitung der englischen Sprache im Detail

entwickelt wurde. Dem Konzept des Kulturimperialismus ähnlich, bezieht er sich auf eine

bestimmte Facette oder Teilfunktion von imperialer Herrschaft oder Imperialismus. Aus

sprachsoziologischer Perspektive hat Achard (1988:1541) ein Imperium definiert als: “The

exercise of power from a given political unit over social formations which this political unit

considers both as ‘foreign’ […] and as globally submitted to the rule of the first society’s

power.” Sprachimperialismus ist für Phillipson (1997:238) “a theoretical construct, devised to

account for linguistic hierarchisation, to address issues of why some languages come to be

used more and others less, what structures and ideologies facilitate such processes, and the

role of language professionals.” Aus theoretischer Sicht haben diese Fragen eine große

Relevanz für die Formulierung politologischer und sprachsoziologischer Erklärungsmodelle

für die Sprachendynamik in der Welt (de Swaan 1993, 2001). Sollte sich herausstellen, dass

z. B. die Diffusion imperialer Sprachen völlig durch die Ausbreitung politischer,

wirtschaftlicher oder militärischer Macht determiniert wird, so hätte die Untersuchung der

sprachlichen Prozesse, und selbst der Begriff des Sprachimperialismus, keinen eigenen

wissenschaftlichen Erklärungswert. Sollten jedoch die Sprachprozesse eine signifikante

Eigendynamik besitzen und in relativ eigenständiger Weise zur Entwicklung und

Stabilisierung von Imperien – oder ihrem Zerfall – beitragen, so käme ihrer Untersuchung

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durchaus ein eigener Stellenwert zu. Wie wir noch sehen werden, besteht zu diesen Fragen

eine lebhafte und kontroverse Debatte.

2. Die Entstehung von Sprachimperien

Sehen wir uns skizzenhaft die Entwicklung der wichtigsten historischen Imperien Europas

hinsichtlich der Rolle und Dynamik ihrer Sprachen an. Das bedeutet in erster Linie, sich zu

fragen, inwieweit diese Imperien ihre Sprachen als Instrument der Machtausübung benutzten,

sie verbreiteten und den von ihnen beherrschten Völkern aufzwangen.

2.1. Das Römische Reich

Das Römische Reich – Imperium Romanum – steht am Anfang unserer Betrachtungsreihe.

Ihm verdanken wir den Begriff des Imperiums selbst, und die machtvolle Entwicklung einer

großen Zivilisationssprache lässt uns auf eine nahezu modellhafte, perfekte Ausbreitung des

Lateinischen schließen. Beim näheren Hinsehen stellen wir jedoch fest, dass dieser Anschein

trügt. Rom war von Anfang an bis zum Ende seiner Glanzzeit als Hauptstadt des Römischen

Reichs zweisprachig: Latein und Griechisch standen in einer doppelten Diglossie-Relation

zueinander und der gebildete Römer benutzte beide Sprachen in unterschiedlichen Kontexten.

Zum einen stand Griechisch als Sprache der Wissenschaft und Philosophie über dem

Lateinischen; zum anderen galt es auch als die Sprache vieler Sklaven aus dem Osten, und in

der Rolle der aus dem beherrschten Griechenland herbeigeholten Lehrsklaven für die

römischen Patrizierfamilien kam diese doppelte Dependenz – hier Wissenschaft und Kultur,

da politisch-militärische Herrschaft – deutlich zum Ausdruck. Zum Zweiten betrieb das

Römische Reich im Gegensatz zu landläufigen Ansichten keine systematische und massive

Verbreitung des Lateins in den besetzten Kolonien und Provinzen. Es versuchte vielmehr wie

andere Imperien nach ihm, unter den geringstmöglichen Kosten sein Herrschaftssystem

aufrechtzuerhalten und die erforderlichen Tribute einzutreiben (Kahane/Kahane 1979;

Auerbach 1958). Die Wiederbelebung des Lateinischen als Sprache der Herrschaft, Religion

und Kultur geschah erst nach dem Zerfall des Römischen Reichs im Mittelalter als zentraler

Baustein des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation; jedoch war Latein nun nicht

mehr die Muttersprache einer Volksgruppe, was, wie wir noch sehen werden, zentraler

Bestandteil einer imperialen Sprache zu sein scheint.

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20

2.2. Das Spanische Imperium (1492–1810) und die unabhängigen Staaten

Hispanoamerikas (ab 1810)

Während des Aufstiegs und der Glanzzeit des Spanischen Imperiums konsolidierte sich die

spanische Sprache im spanischen Mutterland selbst nicht vollständig, obwohl die Krone,

besonders im 17. und 18. Jahrhundert, große Anstrengungen unternahm, andere Sprachen zu

unterdrücken und zu assimilieren, was auch später selbst dem Faschismus nicht gelang. Und

wie wir wissen ist Spanien bis heute mehrsprachig und konsolidiert diesen Multilinguismus

juristisch als Bestandteil der Autonomien und sprachlich durch die Revitalisierung von

Katalanisch, Baskisch und Galizisch.

Zwei sprachpolitische Positionen von Krone und Klerus konkurrierten während der

fast dreihundertjährigen Kolonialzeit und später nach der Unabhängigkeit miteinander. Die

eine betrieb aktiv die Ausrottung der Indianersprachen und drang auf rasche Assimilation der

indianischen Bevölkerung; die andere bevorzugte die Tolerierung der Indianerkulturen und

förderte zum Teil ihre Sprachen. Bis zum Ende der Kolonialzeit schaffte es das Spanische

nicht, zur Muttersprache der Mehrheit der Bevölkerung in den wichtigsten und am dichtesten

besiedelten Regionen Hispanoamerikas zu werden. Das Spanische breitete sich erst nach dem

Ende der spanischen Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert massiv und intensiv in

Hispanoamerika aus und drängte die Indianersprachen in den meisten Ländern in die Rolle

relativ kleiner Minderheitensprachen zurück.

Dies geschah sehr wirkungsvoll, weil die neuen spanischstämmigen und zum Teil

mestizischen Bourgeoisien der Criollos die Durchsetzung des Spanischen zum wichtigen

Motor der Entwicklung von homogenen Nationalstaaten nach europäischem Muster machten,

obwohl sie ansonsten Spanien ablehnten und sich kulturell viel eher an Frankreich und später

auch an England, Deutschland und den USA ausrichteten. Die massive Ausbreitung des

Spanischen im Übergang von den Kolonien zu den Republiken stellt einerseits, ähnlich wie

im Falle des Britischen Imperiums, den Oktroi der Herrschaftssprache für die anderssprachige

Indianerbevölkerung dar; andererseits bedeutet sie ebenso einen Aneignungsprozess des

Spanischen, der von den Herrschaftsschichten der neuen Republiken vorangetrieben wurde.

Im 19. Jahrhundert konsolidierten sich auch weitgehend die eigenen Normen des

Spanischen in Hispanoamerika als nationale Sprachen und in Abgrenzung vom kastilischen

Spanisch, sodass heute die spanische Sprache als weitgehend polyzentrisch in den

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Normorientierungen und dem Sprachbewusstsein ihrer Sprecher angesehen werden kann

(Oesterreicher 2001).

2.3. Das Französische Imperium

Die französische Sprache als Ausdruck des imperialen Frankreichs breitete sich, grob

gesehen, in drei Etappen aus. Zunächst entwickelte sich das Königreich der Bourbonen als

moderner, zentralistischer Staat und trieb die Verbreitung der Sprache der Île-de-France

voran. Bekanntlich übte das Französische einen starken Einfluss als Kultur- und

Kommunikationssprache Europas aus, besonders an seinen Herrscherhäusern und später auch

innerhalb der aufstrebenden Bourgeoisien.

Während der Kolonisierung in Nordamerika fasste das Französische, besonders durch

die massive Auswanderung französischer Bevölkerung, in dem neuen Kontinent Fuß. Nach

dem Verlust der Kolonien im 18. Jahrhundert an England überlebte es als Muttersprache einer

Mehrheit jedoch hauptsächlich in Quebec, während in den anderen ehemaligen Kolonien sein

Einfluss im Lauf der Zeit zurückging. Im Heimatland konsolidierte sich das Französische in

weitesten Teilen Frankreichs erst nach der Revolution, als die nordamerikanischen Kolonien

schon verloren waren; jedoch auch in Frankreich selbst führte seine massive Diffusion nicht

zur vollständigen Assimilation der Minderheitensprachen. Die dritte Etappe der Ausbreitung

des Französischen entsprach der Kolonialisierung in Afrika und Asien, besonders ab dem

18. Jahrhundert. Im Gegensatz zu den früheren Kolonien fand mangels Auswanderung auch

keine massive Ausbreitung des Französischen statt, das sich fast nur in der Verwaltung und

im kolonialen Erziehungswesen durchsetzte.

2.4. Das Britische Imperium

Auch hier können wir drei Phasen unterscheiden. Zunächst breitete sich das Englische auf den

Britischen Inseln aus, wo es die bestehenden Sprachen weitgehend verdrängte – bis auf das

Walisische, das heute zum Teil eine Stabilisierung und Revitalisierung erfährt. Die

Kolonialisierung in Nordamerika stellt zweifellos durch massive Einwanderung und die

weitgehende Vernichtung der Urbevölkerung einen Fall erfolgreicher Sprachdiffusion dar.

Diese Politik wurde nach der Unabhängigkeit durch die USA fortgesetzt und verstärkt.

Ähnlich wie im Falle Frankreichs fand während der Entstehung des großen britischen

Kolonialreichs in Afrika und Asien keine massive Einwanderung (außer in Rhodesien und

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Südafrika) statt; deshalb erfolgte auch keine umfassende Sprachdiffusion und das Englische

setzt sich nur auf der oberen Ebene von Verwaltung und Erziehung durch. Im Gegensatz zu

Frankreich betrieb Großbritannien keinen vergleichbaren Versuch der Sprachverbreitung, da

sein Konzept der Kolonialherrschaft weitgehend auf dem Prinzip der Home Rule basierte: Die

Kolonien sollten unter möglichst geringen Kosten verwaltet werden, was eine Beibehaltung

eingeborener Sozial- und Herrschaftsformen sowie deren Erziehungsverfahren beinhaltete.

Auch hier lassen sich jedoch zwei Tendenzen unterscheiden, die eher als

herrschaftsideologische Orientierungen denn als wirkliche Programme kolonialer Verwaltung

wirkten. Dem Orientalismus als Ausdrucksform einer Bewunderung des Orients, jedoch

gleichzeitiger kolonialer Beherrschung durch kulturelle Typologisierung, stand der

Anglizismus gegenüber, der sich für eine Durchsetzung der angelsächsischen Kultur und

Sprache gegenüber einer für minderwertig angesehenen lokalen Kultur aussprach (Said 1978,

1993).

2.5. Vorläufiges Fazit der Sprachenpolitik in den Kolonialreichen und der

Existenzformen des Sprachimperialismus

Eine erfolgreiche und massive Verbreitung der europäischen Kolonialsprachen fand vor allem

dort statt, wo sie mit einer massiven Emigrationspolitik in die Kolonien und der Ausrottung

der dortigen Urbevölkerung einherging. Dies trifft vor allem auf die am stärksten von Europa

beeinflussten und besiedelten Länder in Amerika zu: USA, Kanada, Uruguay, Argentinien,

Brasilien, Chile, Kolumbien, Venezuela, Costa Rica, Nicaragua und die spanischsprachige

Karibik. Paraguay gilt als das einzige Land Amerikas, das eine kollektive Zweisprachigkeit

(Spanisch und Guaraní) entwickelte.

In keinem der skizzierten Kolonialimperien konnten wir eine einfache, mechanische

und reziproke Relation zwischen der Entwicklung der Kolonialreiche und der Diffusion der

imperialen Sprachen feststellen (Hamel 2006 a). Einer simplistischen These der notwendigen

Korrelation, so wie sie Brutt-Griffler (2002) vertritt, werden die Fakten dementsprechend

nicht gerecht: nur wo eine massive, möglichst homogene und einem einzigen Modell folgende

Sprachdiffusion zu beobachten ist, will Brutt-Griffler die These der Existenz von

Sprachimperialismus gelten lassen. Wo jedoch andere, vielleicht raffiniertere und letztlich

erfolgreichere Modalitäten der Herrschaftsausübung mit Hilfe von Sprache auftreten, weigert

sich die Autorin, Sprachimperialismus zu erkennen. Als wichtigstes Phänomen und

Instrument imperialistischer Herrschaftsformen stellt sich in jedem der untersuchten Fälle

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eine Hierarchisierung der Sprachenverhältnisse heraus: Die Sprache des Imperiums nimmt in

den Kolonien und Exkolonien eine dominante, übergeordnete Position gegenüber den lokalen

Sprachen ein; zweitrangig ist, ob nun ein größerer oder geringerer Teil der Bevölkerung die

koloniale Staatssprache lernen muss – oder Zugang zu ihr hat.

In einigen Fällen, wie in den meisten frankofonen Kolonien Afrikas, wird der gesamte

Schulunterricht auf Französisch abgehalten – ob die afrikanischen Schüler und ihre Eltern

dieser Sprache mächtig sind oder meist eben nicht. Die Macht der imperialen Sprache kommt

hier in dem Aufzwingen, der obligatorischen Verwendung einer Sprache, die von der

Mehrheit der Bevölkerung nicht beherrscht wird und auch unter den gegebenen Bedingungen

kaum erfolgreich erlernt werden kann, samt ihrer Diskursstrukturen und Kulturmodelle zum

Ausdruck. Die Kolonialsprache, die die Herrschaft der lokalen, frankofonen Eliten und –

indirekt – die der Kolonialmacht absichert, bleibt z. T. bis heute unverzichtbares Medium für

spezielle Funktionen der Verwaltung, internationale Beziehungen, Erziehung und

Wissenschaft in den ehemaligen Kolonien.

Mit einer entgegengesetzten Strategie wurden im Südafrika der Apartheid die

ungleichen Herrschaftsverhältnisse abgesichert. Sprachliche Ausgliederung drückte sich

zusammen mit allgemeiner Segregation in einem Erziehungs- und Verwaltungssystem aus,

das der schwarzen Bevölkerung weitgehend den Zugang zum Englischen verweigerte, vor

allem in seinen höheren akademischen und berufsbildenden Institutionen. In jedem der

genannten Fälle führt eine Reihe komplementärer Maßnahmen dazu, dass das Prestige und die

tatsächlichen Kontrollfunktionen der kolonialen Sprache gesichert bleiben. Gleichzeitig

werden die Mythen ihrer Unersetzbarkeit für wichtige Staats- und Handelsfunktionen

perpetuiert, oder aber ihr massiver Verbreitungsgrad. So besteht bis heute vielerorts der

Mythos, dass in Indien, dem Kronjuwel des britischen Empires, der aufstrebenden Weltmacht

und dem technologischen Wunderland, ein Großteil der Bevölkerung Englisch spricht.

Tatsächlich beherrschen jedoch nur etwa drei bis fünf Prozent der Einwohner Indiens die

englische Sprache.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Sprachdiffusion imperialer Sprachen

natürlich stattfindet, jedoch nicht die Rolle eines Entscheidungskriteriums für das Vorliegen

von Sprachimperialismus spielt. Lokale ethnische Gruppen oder Völker entwickeln

Initiativen, um sich die imperialen Sprachen anzueignen, um Bürgerschaft (vgl. in Rom),

Macht, Elitestatus, beruflichen Aufstieg usw. zu erlangen. Die Analyse verschiedener

historischer Imperien zeigt, dass die Entwicklung von Sprachhierarchien zwischen

sämtlichen beteiligten Sprachen in allen Fällen von grundlegender Bedeutung war. Hierbei

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wirkten die Kolonialregierungen, später imperialistische Mächte und die lokalen

eingeborenen Eliten zusammen, um eine wechselseitige Beziehung zwischen Hegemonie der

imperialen und Subalternität der lokalen Sprachen herzustellen, was wir als eine moderne

Form von Sprachimperialismus ansehen können.

3. Reduktion von Sprachenvielfalt und Verschärfung asymmetrischer

Sprachenverhältnisse

Die Ausbreitung von Sprachimperien und von Kolonialreichen, die fortschreitende

Industrialisierung und vor allem die digitale Globalisierung haben eine weltweite

Sprachdynamik in Gang gesetzt. In den letzten Jahrzehnten lassen sich zwei miteinander auf

komplexe Weise verbundene Tendenzen erkennen. In beiden spielen asymmetrische

Machtverhältnisse zwischen den entsprechenden Sprachgruppen eine entscheidende Rolle.

3.1. Verdrängung vieler Sprachen der Welt und Globalisierung des Englischen

These 1: Sollten die gegenwärtigen Tendenzen der Sprachverdrängung anhalten, so werden

bis zum Ende des 21. Jahrhunderts 80 bis 90 Prozent der Sprachen der Welt aussterben (Hale

1992, Krauss 1992).

Diese Warnung publizierten angesehene Linguisten, sozusagen als Hilferuf, um die

Weltöffentlichkeit aufzurütteln, vor nun schon über zehn Jahren in einer Themennummer der

wohl prominentesten sprachwissenschaftlichen Zeitschrift „Language“. Als Gründe dieser

Tendenz werden zu kleine Sprechergruppen, fehlende gruppeninterne Sprachloyalität,

fehlende Anerkennung und externe (z. B. staatliche) Unterstützung angeführt. Andererseits

gelten auch die Globalisierung der dominanten Sprachen in Staat und Medien sowie die

Stigmatisierung und Unterdrückung der Minderheitensprachen als Ursachen. Vor allem sind

jedoch die Prozesse der rasant angewachsenen Kommunikation und der Kontakt historisch

isolierter Sprachgruppen verantwortlich für eine Entwicklung, die zwar schon seit

Jahrhunderten besteht, deren Beschleunigung jedoch gerade in den letzten Jahrzehnten rapide

zugenommen hat. Als Konsequenz des Aufrufs entwickelten sich seit den Neunzigerjahren

eine Vielzahl von Projekten, Organisationen und NGOs. Die bekannteste ist wohl

Terralingua, die sich dem Studium und, noch wichtiger, der Umkehrung der für viele

erschreckenden Prognose des Sprachentods widmete (Fishman 1991, 2001; Maffi 2001):

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Unter welchen Umständen verlieren Minderheitensprachen ihre für das Überleben

notwendigen Reproduktionsbedingungen, besonders die der Transmission als Muttersprache

von einer Generation zur anderen? Wie lässt sich die Sprachverdrängung aufhalten oder sogar

als Revitalisierung umkehren?

Die ungleiche Verteilung von Sprachen und Sprechern:

• Die Sprachen, die von 1 bis 10.000 Sprechern gesprochen werden, machen

52,1% der Sprachen der Welt aus.

• Die Sprecher dieser 52,1% der Sprachen der Welt entsprechen nur 0,002% der

Weltbevölkerung.

• Die Sprecher der 12 am meisten gesprochenen Sprachen machen fast 50% der

Weltbevölkerung aus.

These 2: Die Globalisierung der englischen Sprache: Das Englische hat eine weltweite

Vorherrschaft entwickelt, die nur noch durch ein „politisches Erdbeben“ erschüttert werden

kann (Crystal 1997). Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wird eine Sprache zur

globalen Sprache, die in (fast) jedem Land der Welt eine besondere Rolle spielt (Crystal 1997,

2004; Graddol 1997, 2006).

Der US-amerikanische, aus Indien stammende Sprachwissenschaftler Braj Kachru hat

ein relativ einfaches Modell entwickelt, das die Einflussbereiche und die

Ausbreitungsdynamik des Englischen in Form von drei konzentrischen Kreisen darstellt

(Kachru 1986):

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Abb. 1: Das Modell der drei konzentrischen Kreise (Kachru; Daten nach Crystal 1997):

Innerer Kreis: Englisch ist die Muttersprache der Mehrheit der Bevölkerung (GB, Irland,

USA, Kanada, Australien, Neuseeland); demografische und sozioökonomische Stärke.

Äußerer Kreis: Ehemalige Kolonien von GB, Englisch ist (ko-)offizielle Sprache (ca. 70

Staaten). Expandierender Kreis: Länder, in denen das Englische eine besondere Rolle spielt

(wichtigste Fremdsprache, Sprache für internationalen Handel, Wissenschaft usw.).

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These 3: Die Rolle einer Sprache als Weltsprache wird durch die Kombination der drei Kreise

bestimmt. Zur wirtschaftlichen, militärischen, politischen, kulturellen und demografischen

Macht des ersten Kreises tritt der Einfluss des zweiten und dritten Kreises, vor allem aber die

Dynamik ihrer Entwicklung. Besonders der dritte Kreis der Fremdsprachenbenutzer des

Englischen hat in den letzten Jahrzehnten enorm zugenommen und die Zahl der Sprecher aus

dem zweiten Kreis schon übertroffen.

These 4: Umgekehrt gilt: Der Schwund des zweiten und dritten Kreises ist ausschlaggebend

für den Verlust an Bedeutung einer Weltsprache (siehe Französisch, Russisch, Deutsch).

These 5: Als internationale Sprache hat das Englische eine eindeutige Vormachtstellung in

den strategischen Bereichen von Politik, Handel, Finanzen, Wissenschaft und Technologie

erreicht. Andere internationale Sprachen werden vom Englischen aus ihrer traditionellen

Rolle verdrängt. In mehreren dieser Bereiche stehen wir vor einem möglichen Übergang von

einer stark asymmetrischen Hegemonie innerhalb eines Mehrsprachigkeitsmodells hin zu

einem Monopol des Englischen. Sprachen, die einmal aus einem strategisch zentralen Bereich

ausgeschlossen sind (z. B. der Wissenschaft), können nur sehr schwer wieder Anschluss

finden.

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These 6: Die Globalisierung des Englischen steht in keinem kausalen Zusammenhang zum

Sprachentod vieler oder der Mehrzahl der bedrohten Sprachen in nicht anglofonen Ländern

(siehe These 1); es besteht eine komplexe Beziehung zwischen beiden Prozessen.

3.2. Konsequenzen der Verdrängung der meisten Minderheitensprachen

Die Verdrängung der Mehrzahl der Minderheitensprachen in der Welt mag für viele irrelevant

oder sogar wünschenswert erscheinen. Bei der erwähnten Verteilung von Sprachen und

Sprechern ist tatsächlich nur ein kleiner Teil der Weltbevölkerung direkt betroffen, denn über

80 Prozent der Erdbewohner hat keinen individuellen Kontakt zu den Sprechern von

Minderheitensprachen. Der Verlust einer großen Mehrzahl der Weltsprachen bedeutet jedoch

für viele eine sprachökologische Katastrophe und einen irreparablen Verlust menschlichen

Wissens und der Weltsichten, die in jeder Sprache verschlüsselt sind (Harmon 1996,

Skutnabb-Kangas 2000, Fishman 2001). Vor allem werden auch die grundlegenden

linguistischen Menschenrechte der betroffenen Bevölkerungsteile verletzt.

3.3 Konsequenzen der Globalisierung des Englischen

Eine große Gemeinschaft von Politikern, Führungspersönlichkeiten aus Wirtschaft, Erziehung

und Wissenschaft in vielen Ländern sieht vor allem Vorteile in der internationalen

Einsprachigkeit auf der Grundlage des Englischen, oder zumindest gehen sie davon aus, dass

die Vorteile ihre Nachteile wettmachen.

Internationale Einsprachigkeit führt diesen Stimmen zufolge zu problemloser

internationaler Kommunikation. Wissenschaft wird nur in einer Sprache produziert und von

allen verstanden; Wissenschaftler als Sprecher von Minderheitensprachen (Suaheli, Finnisch)

brauchen nur noch eine Fremdsprache zu lernen. Hinzu kommt, dass die Übertragung

internationaler Funktionen einen gewissen Druck von den Nationalsprachen nehmen könnte,

die dann wiederum in der Lage wären, ihren Verdrängungsdruck gegenüber den

Minderheitensprachen zu verringern. Tatsächlich ist es ja so, dass indianische

Sprachorganisationen in vielen Ländern der Dritten Welt gerade aus anglofonen Ländern

(USA, GB) Unterstützung erhalten. Ziel wäre es nach den Worten von David Crystal (1997),

des prominenten britischen Linguisten und Befürworters des Englischen als einzige globale

Sprache, eine allgemeine Zweisprachigkeit zu erreichen: Jeder Mensch spricht seine eigene

Sprache und die einzige Weltsprache Englisch.

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Auf der anderen Seite stehen die Kritiker einer Monopolstellung des Englischen in der

internationalen – und zunehmend auch innerstaatlichen – Kommunikation. Andere

Weltsprachen werden in der Tat schon seit langer Zeit aus wichtigen, historisch erworbenen

Funktionen und Sprachdomänen verdrängt, was ihre Rolle als Kultursprachen gefährdet. Die

Weltsprache Englisch, so die Kritiker, verstärke nur noch mehr die Dominanz der

angelsächsischen Welt aus Gründen der Sprachökonomie und der Sprachkompetenz im

Englischen, besonders in den strategischen Bereichen der Politik, des Handels, der

Wissenschaft und der Technologie. Gerade diese These wird von einem der britischen

Fachleute des British Council jedoch neuerdings angefochten (Graddol 2006). Und welche

Entwicklung würde gerade die wissenschaftliche Forschung nehmen, die nach Aussagen

vielen Fachleute gerade auf die durch Mehrsprachigkeit erzeugte Heterogenität und

Kreativität angewiesen ist, um neue Modelle zu bilden (Durand 2001, Hamel 2006 b)? Wie

könnten Wissenschaftler besonders der Sozial- und Humanwissenschaften ihre

sprachkomplexen und vielmals kulturspezifischen Forschungen entwickeln, wenn sie

eventuell von jungen Jahren an dazu gezwungen würden, in einer ihnen doch fremden

Sprache zu formulieren, und so gezwungenermaßen ihre Ansätze vereinfachen müssten?

Hinzu tritt das Problem der wachsenden Einsprachigkeit in den anglofonen Ländern. Viele

Staaten und Völker in der Welt, die der US-amerikanischen und britischen internationalen

Politik kritisch gegenüberstehen oder sich von den imperialen Ländern bedroht fühlen, sehen

in dem zunehmenden Monolinguismus der englischsprachigen Kernbevölkerung auch eine

wachsende Bedrohung des Weltfriedens.

4. Die Sprachmacht des Englischen

4.1. Definitionen und Erklärungsmodelle

Innerhalb der angelsächsischen Welt einschließlich ihrer ehemaligen Kolonien hat sich in den

letzten Jahren eine lebhafte, faszinierende Debatte über die Tendenzen der Weltsprache

Englisch entwickelt. Gerade die historischen Ursachen der Dominanz des Englischen, seine

fortschreitenden Ausdifferenzierung („many Englishes“) und die alte Frage – Wem gehört die

Sprache? – werden dort kontrovers diskutiert. Ich kann hier nur skizzenhaft auf diese Debatte

eingehen. Tatsache ist, dass diese Diskussion von den meisten Autoren, von einigen löblichen

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Ausnahmen abgesehen, völlig ohne Bezug auf die Diskussionen und die wissenschaftlichen

Publikationen außerhalb der angelsächsischen Welt geführt werden.

These 1: Die Dominanz des Englischen ist absolut und unausweichlich, sie gilt als ein

naturwüchsiger und positiver Prozess. Nur durch ein politisches „Erdbeben“ könnte die

Position des Englischen erschüttert werden (Crystal 1997). – Hierzu eine persönliche

Anmerkung: Als zentrale Aussage steht in Crystals einflussreichem Buch “The Globalisation

of English”, Englisch sei “a language which has repeatedly found itself in the right place at

the right time” (Crystal 1997:110). In einem Vortrag in England habe ich mir 2004 erlaubt,

auf diese These folgendermaßen zu antworten: „For many of us from outside the Anglosaxon

world, English – and its armies – have been in the past and are still very much today in the

wrong place at the wrong time.“ Tosender Beifall war die Antwort.

(Gegen-)These 2: Es gilt die Prognose, dass gegen 2050 die Monopolstellung des Englischen

auch ohne weltweite gewaltsame Veränderungen geschwächt werden könnte. Neue Rivalen

tauchen auf, der wahrscheinlichste Kandidat ist Chinesisch (Graddol 1997); auch Spanisch

könnte eine größere Rolle spielen (Graddol 2006).

These 3 (Imperialismus-These): Verschiedene Autoren üben eine grundlegende Kritik an

Crystals Position. Für sie ist die Globalisierung des Englischen nicht das Resultat eines

naturwüchsigen Prozesses, sondern Ausdruck und Instrument eines verschärften ökonomisch-

politisch-kulturellen Imperialismus (Phillipson 1992, 1997, 2003, Skutnabb-Kangas 2000,

Pennycook 1994, z. T. Wallerstein 1990). Die Ausbreitung des Englischen wurde durch

Agenturen und Agenten (British Council, USAID) und eine geplante Sprachenpolitik ganz

gezielt gefördert. Agency spielt im Gegensatz zur naturwüchsigen Globalisierung eine zentrale

Rolle. Bis heute kontrollieren vor allem zwei Staaten des ersten Kreises, Großbritannien und

die USA, sowohl die Normen als auch die systematische Ausbreitung des Englischen durch

die Organisation von Sprachunterricht, die Einrichtung von Prüfungen, die Ausbildung von

SprachlehrerInnen und die Erstellung von Lehrmaterial.

These 4 (Antithese zur Imperialismus-These): Die Rolle des Englischen steht in keinem

direkten Zusammenhang zur Rolle imperialer oder imperialistischer Staaten: Die Drittwelt-

Varietäten des Englischen (Indien, Hongkong, Singapur, Afrika) sind nicht koloniale

„Transplantate“, sondern eigene kreative Schöpfungen: „Englisch wurde einer Urbevölkerung

nicht aufgezwungen; es war vielmehr die aktive Aneignung des Englischen im Kampf gegen

den Imperialismus (in Indien usw.), die Englisch zu einer Weltsprache machte.“ (Brutt-

Griffler 2002)

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These 5: Als globale Sprache verliert das Englische seine ursprünglichen „Besitzer“. Die

Aneignung und Veränderung des Englischen durch die Bevölkerung der ehemaligen Kolonien

(äußerer Kreis), vor allem ihrer Eliten, schafft viele stark differenzierte Varietäten („many

Englishes“; Kachru 1986, Brutt-Griffler 2002); ebenso nehmen die Millionen Lerner und

Benutzer des expandierenden Kreises, die Englisch als Fremdsprache erwerben, Einfluss auf

die Entwicklung der Sprache. Diese Varietäten werden letzten Endes nicht mehr von den

ursprünglichen anglofonen Besitzer-Ländern kontrolliert (siehe eine Diskussion in Seidlhofer

2004).

4.2. Die internationalen Organisationen und das Geschäft mit dem Sprachunterricht

Die internationalen Lehrorganisationen der englischen Sprache agieren mehrheitlich als

Vertreter der These, dass die Ausbreitung des Englischen neutral, naturwüchsig und

unvermeidlich ist und allen Beteiligten Vorteile bringt. Diese Sprachmittler- und

Lehrerorganisationen (British Council, TESOL usw.) haben über Jahre hinweg Kriterien für

den angemessenen Englischunterricht im Kontext einer globalen Welt aufgestellt, die eine

Hierarchie unter den zu bevorzugenden Lehrverfahren beinhaltet:

1. Englisch wird am besten einsprachig unterrichtet.

2. Native speakers sind als Dozenten zu bevorzugen.

3. Der Englischunterricht sollte so früh wie möglich beginnen.

4. Das gleichzeitige Lernen anderer Fremdsprachen behindert die Erlernung des

Englischen.

5. Die gleichen Methoden und Lehrwerke sollten weltweit eingesetzt werden.

(Pennycook 1994, Phillipson 2003).

Mehrere der hier aufgestellten Prinzipien sind wissenschaftlich widerlegt worden, so zum

Beispiel Punkt 4 (Cummins 2000, Phillipson 1997). Die zwei zentralen Staaten des inneren

Kreises – Großbritannien und die USA – behalten bei Einhalten dieser Kriterien weitgehend

und weltweit die Kontrolle über Unterrichtsmethoden, Lehrmaterialen, Lehreraus- und -

fortbildung und das Prüfungswesen. Wir sollten nicht vergessen, dass der Englischunterricht

das zweitgrößte Exportgeschäft Großbritanniens darstellt und jährlich ca. 10 Milliarden Pfund

Sterling einbringt (Graddol 2006).

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4.3. Modelle der Sprachhierarchien in der Welt: de Swaans und Calvets

Gravitationsmodell

Auch von außerhalb der englischsprachigen Debatte sind Versuche unternommen worden, die

weltweite Dynamik der Sprachen zu erklären. Stellvertretend für andere Vorschläge skizziere

ich hier kurz das Modell des niederländischen Politologen Abram de Swaan (1993), das später

von dem französischen Soziolinguisten Louis-Jean Calvet (1999) aufgenommen und

weiterentwickelt wurde. Diesem Modell zufolge lassen sich die Sprachen der Welt in ein

Hierarchiegefüge einordnen, in dem jeweils die Sprachen auf einer niederen Ebene von einer

Sprache auf höherer Ebene angezogen werden (Gravitation) und in ihrem Einflussbereich

kreisen (Galaxie). Zwischen verschienen Sprachen und Sprachebenen besteht oft ein

Konkurrenzverhältnis, da höher angesiedelte Sprachen (z. B. Englisch) mit anderen Sprachen

auf den unteren Ebenen konkurrieren (de Swaan 1993, 2001, Calvet 1999, 2002).

NAME BESCHREIBUNG

Status und soziale Funktion

BEISPIELE

1

Globale Sprache(n)

(hyper-zentral)

zentrale Sprache in internationalen

Beziehungen, wichtige Rolle in (fast)

allen Ländern;

größter äußerer und expandierender Kreis

Englisch

2

Internationale

Sprachen

(super-zentral)

offizieller Status in einem oder mehreren

wichtigen Ländern;

breite internationale (interkontinentale)

Diffusion und Gebrauch;

großer äußerer und expandierender Kreis

Französisch, Spanisch,

Portugiesisch, Chinesisch,

Japanisch, Deutsch,

Italienisch, Russisch, …

3

Nationalsprachen

1. Grades

offizieller Status in einem oder mehreren

mittleren oder kleinen Staaten;

beschränkte internationale Diffusion;

kleiner äußerer und expandierender Kreis

Holländisch, Schwedisch,

... Norwegisch, Finnisch,

Hindi ? … (ca. 100

Sprachen)

4 Nationalsprachen

2. Grades

(ko)offizieller Status in einem oder

mehreren mittleren oder kleineren

Guaraní, Swahili, …

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Staaten;

mögliche Lingua franca in einer

supranationalen Region

5 Regionalsprachen infranationale Sprachen;

(ko)offizieller Status in einer Region

Quechua, Aimara, Maya,

Zapotekisch

6 Lokale Sprachen kein offizieller Status Hñähñú, Purépecha, usw.

Tab. 2: Sprachhierarchien, adaptiert und erweitert nach de Swaans (1993, 2001)

Gravitationsmodell

Hinzu treten mehrere Sprachfunktionen für die Sprecher, für die jeweils eine oder mehrere

Sprachen zuständig sein können. Für den Sprecher einer lokalen Indianersprache können

sämtliche von ihm ausgeübten Funktionen von einer unterschiedlichen Sprache

wahrgenommenen werden. Hingegen kann z. B. ein monolingualer englischsprachiger US-

Amerikaner sämtliche Funktionen durch seine eigene Sprache, das Englische, ausdrücken.

Zwischen den Sprachfunktionen treten ebenfalls Konkurrenzverhältnisse auf.

NAME BESCHREIBUNG BEISPIELE

1 Vernakuläre

Erstsprache

Mutter-/Erst-/Haussprache;

Primärsozialisation;

lokale orale Kommunikation in der

Gemeinde (und Kleinregion)

Hñähñú, Purépecha,

aber auch: Spanisch,

Englisch

2 Regionale

Verkehrssprache

Inter-Gruppensprache;

regionale Kommunikation;

mögliche Erstsprache einer Gruppe

Zapotekisch, Náhuatl,

Maya (Mexiko)

K’iche’, Mam, Q’eqchi’,

Kaqchikel (Guatemala)

auch: Spanisch, Englisch

3 Erziehung funktionale Fach- und Allgemeinsprache Hñähñú, Purépecha

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- primäre

- sekundäre

- tertiäre

des Unterrichts

auch: Spanisch, Englisch,

...

Spanisch K’iche’, Mam,

Q’eqchi’ Guaraní ?

Quechua?

Spanisch, Englisch

4 Massenmedien deckt Bedürfnisse in vier Arten von

Massenmedien ab: Zeitungen, Radio,

Fernsehen, Internet

(Hñähñú, Purépecha)

Spanisch, ...

Englisch

5 Professionen

innerstaatlich

Arbeitssprache in höheren Berufen,

Handel, Wissenschaft, Technologie

Spanisch, ...

Englisch

6 Offizielle

- lokal/regional

- national

deckt alle/manche mündlichen und

schriftlichen Verwaltungsbedürfnisse ab

Guaraní, Maya, Quechua

Spanisch,

Englisch

7 International

interkontinental

- bilateral

- multilateral

- global

deckt alle/manche mündlichen und

schriftlichen Kommunikationsbedürfnisse

in überstaatlichen Kontexten ab;

Fachsprachen-Funktionen: Handel, Politik,

Wissenschaft, Kunst, Unterhaltung

Englisch

Spanisch, Französisch

Deutsch? ...

Tab. 3: Soziale und individuelle Basisfunktionen der verbalen Kommunikation

4.3.1. Kriterien für die Wahl einer Fremdsprache

Das Erlernen einer Fremdsprache stellt eine langfristige, bedeutende Kapital- und

Bildungsinvestition dar. Deshalb gehen Sprachlerner bzw. die Entscheidungsträger (Eltern,

Institutionen) oft auf Nummer sicher und wählen eine möglichst eindeutig relevante Sprache.

Die wichtigsten Kriterien für die Wahl einer Zweit- oder Fremdsprache beziehen sich auf ihr

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Kommunikationspotenzial, die Verfügbarkeit des Unterrichts, ihr Prestige sowie oft auf den

komparativen Schwierigkeitsgrad des Erlernens in Bezug auf die Ausgangssprache.

Ist eine Sprache einmal auf einem fortgeschrittenen Kompetenzniveau erlernt worden,

so wollen die Sprecher auch Profit aus ihrer Investition schlagen und diese Sprache möglichst

effizient und gewinnbringend benutzen. So kommt es zu Trägheitserscheinungen, die die

soziale Relevanz einer ansonsten in ihrer Bedeutung schwindenden Sprache verlängern kann.

De Swaan (2001) zufolge trifft das heute auf das Französische zu.

4.3.2. Horizontaler und vertikaler Bilinguismus

Zwei- oder mehrsprachige Sprecher stellen das Verbindungsglied zwischen den

Sprachgruppen und Sprachhierarchien her. Falls sie Sprachen derselben Kategorie

beherrschen oder lernen, kann von einem horizontalen Bilinguismus gesprochen werden. In

dem Gravitationsmodell stellt jedoch die Beherrschung von Sprachen verschiedener Stufen

den typischen Fall dar, der als vertikaler Bilinguismus bezeichnet wird. Sprachlerner werden

sich in den meisten Fällen, vor allem wenn sich ihre Muttersprache auf einer niedrigen Stufe

der Hierarchie befindet, als Zweit- oder Fremdsprache eine Sprache auf einer höhern Stufe

auswählen. Aus der Anziehungskraft höher angesiedelter Sprachen erklärt sich das

überproportionale Anwachsen des expandierenden Kreises der als wichtig angesehenen

Sprachen. Häufig wird bei der Sprachwahl eine Stufe übersprungen: Polen lernen Englisch,

nicht die mögliche Regional- und Nachbarsprache Deutsch. Schweizer lernen oft Englisch,

statt Kenntnisse in den anderen offiziellen Landessprachen der Schweiz zu erwerben.

Flämische Belgier lernen Englisch, nicht Französisch, gegen das viele von ihnen negative

Spracheinstellungen hegen und das sie für zweitrangig neben dem Englischen halten. Nur sehr

selten kommt es vor, dass Lerner eine niedriger gelegene Sprache lernen, vor allem, wenn

ihnen andere Optionen offenstehen. Anglofone Muttersprachler hingegen können nur eine

niedriger gelegene Sprache erlernen, was zum Teil die geringe Quote beim

Fremdsprachenerwerb in angelsächsischen Ländern erklärt. Umgekehrt ist die sinkende

Attraktivität der super-zentralen, traditionellen internationalen Sprachen wie Französisch,

Deutsch oder Russisch dadurch bestimmt, dass ihr Abstand zum Englischen zunimmt und sich

die Vertikalität verstärkt.

Interessant gestalten sich die Auswahlprozesse, wenn der individuelle oder kollektive

Lernplan mehr als eine Fremdsprache umfasst, so wie es in der Europäischen Union – noch –

Norm in vielen ihrer Mitgliedsstaaten ist. Meistens wirken die objektiven und subjektiven

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Sprachhierarchien auch hier besonders in der Reihenfolge der zu erlernenden Fremdsprachen.

Meist wird die „wichtigste“ Sprache zuerst und am intensivsten gelernt; so ist fast überall

Englisch heute die erste Fremdsprache. Dass jedoch auch interessante andere Konstellationen

möglich sind, zeigt z. B. das bis in die neunziger Jahre gültige Schulsystem Uruguays und

z. T. Argentiniens, das zwei verschieden Fremdsprachen, eine in der Mittel- und die andere in

der Oberstufe lehrte. Oft wurde zuerst Französisch gewählt, weil man davon ausging, dass für

einen ausreichenden Erwerb des als „leicht“ eingestuften funktionalen Englisch auch die

Oberstufe ausreiche (zu den Debatten siehe Hamel 2003). Als allgemeines soziolinguistisches

Kriterium gilt in diesem Modell, dass bei starker Vertikalität, d. h. einem signifikanten

Asymmetriegefälle zwischen Sprachen, die Zweisprachigkeit oft nur ein Übergangsstadium

zur Einsprachigkeit in der dominanten Sprache darstellt. Deshalb muss jegliche

Sprachenpolitik und Sprachplanung, die auf die bestehenden Entwicklungstendenzen Einfluss

nehmen will, auf diese Vertikalität einwirken und Maßnahmen ergreifen, die den

Vertikalitätsgrad der Sprachrelationen verringern. Diese Interventionen können sich auf die

Prestigeplanung, Identitätsplanung oder Funktionserweiterung von Sprachen erstrecken, wenn

z. B. eine Indianer- oder Immigrantensprache als Unterrichts- und Schrifterwerbssprache in

der Schule eingeführt oder als Amtsprache verwendet wird.

5. Zwei Strategien gegen Verdrängungs- und Globalisierungstendenzen

5.1. Uneingeschränkte Verteidigung aller bedrohter Sprachen vor dem Sprachentod

Diese Position (Fishman 1991, 2001; Skutnabb-Kangas 2000; Terralingua) ist in der

Diskussion weitgehend bekannt und kann deshalb hier ganz kurz abgehandelt werden. Sie

betreibt eine schon erwähnte radikale Verteidigung aller Minderheitensprachen und fordert

die uneingeschränkte Achtung sprachlicher Menschenrechte: Jeder Mensch hat das

Grundrecht, in seiner eigenen Sprache staatliche Erziehung zu erhalten, seine Sprache

respektiert zu wissen und mindestens eine der offiziellen Landesprachen zu erlernen. Die

wichtigsten Gruppen dieser Ausrichtung verknüpfen biologische und sprachliche Ökologie

miteinander. Als Aktionsprogramme gegen die Sprachverdrängung schlagen sie eine

zweisprachige, auf Spracherhalt und Spracherweiterung ausgerichtete Erziehung

(„maintenance bilingual education“) bzw. sprachliche Revitalisierungsprogramme vor und

fordern staatliche und private Unterstützung von ethnischen und sprachlichen Minderheiten.

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5.2. Eindämmung der totalen Hegemonie des Englischen (Nationalsprachen-Position)

Zu den Akteuren und expliziten oder impliziten Vertretern dieser Position gehören unter

anderem die Organisationen der Frankofonie, andere romanischsprachige Staaten, Gruppen,

Organisationen (z. B. L’Union Latine) und Intellektuelle (Calvet 1999) in anderen zentralen

europäischen und iberoamerikanischen Staaten, die eine der super-zentralen Sprachen

sprechen. Insgesamt handelt es sich um einen heterogenen Kreis, deren Vertreter nicht

unbedingt die hier aufgeführten Thesen insgesamt befürworten.

These 1: Das Englische ist auf dem Wege, sämtliche super-zentralen (supranationalen)

Sprachen auf die Ebene von einfachen Nationalsprachen zu reduzieren und damit die

Mehrheit ihrer transnationalen und z. T. auch innerstaatlichen Sprachfunktionen zu

übernehmen (Calvet 1999, Hamel 2008).

These 2: In einzelnen Bereichen (Wissenschaft) besteht die Gefahr, dass die

Hegemonieposition des Englischen zu einer Monopolposition ausgebaut wird. Dadurch würde

ein wichtiges Prinzip des Pluralismus und der Sprachenvielfalt (Diversität) mit verheerenden

negativen Folgen für andere wichtige Kultursprachen außer Kraft gesetzt.

These 3: Der Hauptwiderspruch besteht zwischen dem Englischen und den großen,

internationalen Sprachen, nicht zwischen dem Englischen und den lokalen, z. T. vom

Sprachentod bedrohten Minderheitensprachen.

These 4: Nur die großen, internationalen Sprachen und ihre Staaten (Französisch, Spanisch,

Portugiesisch, Chinesisch, Hindi usw.) können nationale und regionale (supranationale)

Barrieren gegen das Vordrängen des Englischen aufrichten. Wichtige Bereiche liegen in

Politik, Industrie und Handel, Wissenschaft, Erziehung, Kultur (z. B. Film), den

Massenmedien und dem Internet.

These 5: Die uneingeschränkte Verteidigung von Minderheitensprachen „hilft“ der weiteren

Dominanz des Englischen (Sprachimperialismus), weil sie die großen und mittleren

Nationalsprachen auf ihrem eigenen Territorium und auch international schwächt (Calvet,

zitiert in Hamel 2003).

Beispiele: Das Spanische wäre ohne sein hispanoamerikanisches „Reservoir“ durch

das Erstarken des Katalanischen, Baskischen und Galizischen in Europa längst zu einer

zweitrangigen Regionalsprache degradiert worden. Die Europäische Union ist heute ein

Nationalstaatenbund mit formaler Gleichberechtigung seiner Staatssprachen. Durch ihre

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Erweiterung und besonders die Stärkung ihrer Regionalsprachen könnte sich die EU in einen

Bund von etwa 50 Nationalitäten verwandeln, dem dann nur noch das Englische als

gemeinsame Sprache diente.

These 6: Der Sprachtod von „kleinen“ Minderheitensprachen ist bedauerlich, aber

unvermeidlich.

These 7: Unterricht in Minderheitensprachen wird oft von den Minderheiten selbst abgelehnt

und kann ein bestehendes sprachökologisches Gleichgewicht negativ beeinflussen.

Implizit oder explizit verteidigen die Vertreter dieser Position ein Ideal der Einsprachigkeit

für bestimmte Staatsräume, Institutionen oder Personen (Frankreich, Quebec usw.). Es gilt,

die „großen europäischen Kultursprachen“ zu retten. Als Konsequenz ergibt sich die

Ablehnung von Sprachrechten für Minderheiten und der Anerkennung eines offiziellen Status

(z. B. als Amtsprache) von Minderheitensprachen. Die Nationalsprachenposition befürwortet

die sprachlich-kulturelle Assimilation von autochthonen und Immigrantenminderheiten und

lehnt eine zweisprachige, auf Spracherhalt abzielende Erziehung (Ausnahme: zweisprachige

Erziehung als rasche Überleitung zur Staatssprache) mit dem Argument ab, es sei im Interesse

der Minderheiten, sich zu assimilieren, um ihre Integration und ihren sozialen Aufstieg zu

ermöglichen. Die „historisch rückschrittliche ethnische“ Fragmentierung wird als Gefahr der

Balkanisierung und des Separatismus an die Wand gemalt. Stattdessen wird eine Stärkung der

Nationalsprachen und internationale Kooperation gefordert (z. B. Frankofonie, Hispanofonie,

Lusofonie, Romanik, usw.).

Diese sehr holzschnittartig skizzierte Argumentationsweise der von mir unter dem Begriff der

„Nationalsprachen-Position“ gebündelten Orientierungen wird den oft sehr viel

differenzierteren Debatten sicherlich nicht gerecht. Ich habe sie deshalb hier auf Thesen

reduziert, um ihre eigene Logik und die Konsequenzen für eine Sprachenpolitik aufzuzeigen.

Sie stellen jedenfalls eine wichtige, zentrale Position in europäischen und außereuropäischen

Debatten dar, die auf eine, wenn auch beschränkte, Sprachenvielfalt abzielt und sich gegen

jedwedes Monopol einer einzigen Sprache wendet. Ich werde im Folgenden einige

Konsequenzen dieser Debatten aufzeichnen und auf einige Perspektiven eingehen, die sich

aus der Macht von Sprachen und für die Sprachen der Macht ergeben.

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6. Ausblick und Perspektiven: Die Zukunft der Sprachenvielfalt und der Dominanz

von Weltsprache(n)

6.1. Globalisierung und Sprachimperien: Der Vormarsch des Englischen

Wir hatten uns eingangs gefragt, welche Dimensionen eine sich stark beschleunigende

Sprachendynamik in der Welt annimmt. Hier die massive Globalisierung einer einzigen

Weltsprache Englisch und die Zurückdrängung anderer internationaler Sprachen, dort der

imminente Sprachentod einer Mehrzahl der Sprachen der Welt – zwei Tendenzen, die zu einer

zunehmenden Polarisierung der Sprachenverhältnisse führen. Die Debatten über die

dramatische Veränderung hinsichtlich der Rolle internationaler Sprachen und besonders die

Entwicklung des Englischen zur einzig wirklich hegemonialen Sprache der Globalisierung

haben Sprachfuturologen auf den Plan gerufen, Zukunftsvisionen und mögliche Szenarien der

zukünftigen Sprachkonstellationen zu entwerfen. Relative Einmütigkeit herrscht in der

Prognose, dass ein Großteil der Minderheitensprachen, das heißt folglich eine Mehrzahl der

Sprachen dieser Welt, das 21. Jahrhundert nicht überleben wird. In der Beurteilung dieses

Faktums und besonders in den zu ergreifenden Maßnahmen jedoch gehen die Stimmen weit

auseinander: Laissez-faire und induzierte Assimilation stehen dem Ruf nach

Sprachverteidigung gegenüber.

Bei der Beurteilung der Zukunft der „großen“ Sprachen und besonders der

internationalen Rolle der Weltsprachen besteht, wie wir gesehen haben, kein vergleichbarer

Konsens. Kritiker zeigen auf, dass ein zentrales internationales Konfliktfeld in dem Bestreben

der anglofonen Welt zu sehen ist, die super-zentralen Sprachen, das heißt vor allem die

traditionellen internationalen Sprachen, auf die Rolle von simplen Nationalsprachen zu

reduzieren (Calvet 1999, 2002). In einem weiteren Schritt sehen einige Kritiker wie Gawlitta

(2004) voraus, dass das Englische vor den staatlichen Grenzen nicht haltmachen werde,

sondern im Gegenteil selbst innerhalb derart starker Nationalstaaten wie Deutschland die

Nationalsprache aus öffentlichen Bereichen verdrängen könnte. Die folgenden Fragen haben

sich dementsprechend als zentrale Diskussionspunkte herauskristallisiert: Wird die Welt in

Zukunft von einer einzigen globalen Sprache regiert werden oder von mehreren? Welche

anderen Sprachen könnten eine Monopolstellung des Englischen verhindern oder aufbrechen?

Welche Rolle kommt den anderen super-zentralen und den allgemeinen Nationalsprachen zu?

Welche Konsequenzen werden diese möglichen Zukunftsszenarien im Zusammenhang mit

der allgemeinen ökonomischen, technologischen und politischen Entwicklung für die

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Menschen dieser Welt haben? Inwieweit werden Veränderungen in der Sprachenvielfalt oder

in der Rolle globaler Sprachen viel mehr als in der Vergangenheit in das tägliche Leben der

Bevölkerung weltweit einwirken?

Wie wir gesehen haben, sehen eine Vielzahl nicht nur angelsächsischer Experten,

sondern auch Fachleute aus vielen anderen Sprachräumen der Welt in der Hegemonie,

vielleicht sogar dem Monopol des Englischen ein unabwendbares und in der vorhersehbaren

Zukunft kaum zu veränderndes Faktum. Graddol, der einflussreiche Experte aus dem Umfeld

des British Council, siedelte jedoch schon 1997 in seiner Prognose der Sprachhierarchien für

das Jahr 2050 Chinesisch, Englisch, Hindi-Urdu, Spanisch und Arabisch auf der obersten

Ebene an, ohne interne Rangunterschiede festzulegen. Mit seiner Hypothese, dass im

21. Jahrhundert keine Sprache eine derart hegemoniale Position einnehmen werde wie das

Englisch im 20. Jahrhundert, setzt er sich von vielen anderen Analytikern innerhalb und

außerhalb der angelsächsischen Gemeinschaft ab.

Um die jetzigen und zukünftigen Entwicklungslinien auch nur annähernd beurteilen zu

können, stellten wir uns die Frage nach den erkennbaren Ursachen und Mechanismen von

sozialem Sprachwandel in Vergangenheit und Gegenwart. Sprachverdrängung und

Sprachentod treten, so zeigen verschiedene Studien auf (siehe dazu Hamel 1988), nicht als

quasi automatische Folge von Sprachkontakt zwischen Sprachen unterschiedlicher

Rangordnung an sich ein. Erst wenn markante Asymmetrien zwischen Sprachen und ihren

Sprechergruppen (Prestigegefälle, Funktionsräume, positive und negative Konnotationen) zu

einer psychosozialen, kulturellen Umorientierung der Sprecher von den subalternen hin zu

den dominanten Sprachen eintritt, setzt sich die Dynamik von Sprachaufgabe, fehlender

Transmission zur nächsten Generation und schließlich Sprachentod in Gang.

Eine historische Betrachtung der Herausbildung von Sprachimperien zeigte uns, dass

Imperien sehr wohl zur Ausbreitung ihrer Sprachen und zur Herausbildung großer

Sprachräume und Sprachenfamilien wie der des Romanischen beigetragen haben. Sicherlich

wichtiger als die quantitative Sprachdiffusion selbst kristallisierte sich jedoch eine

Hierarchisierung der Sprachenverhältnisse als zentrales Charakteristikum von

Sprachimperien und als Instrument imperialistischer Herrschaftsformen heraus. Dies zeigte

sich an der z. T. gegensätzlichen Sprachenpolitik Frankreichs und Großbritanniens in ihren

afrikanischen und asiatischen Kolonien, die jedoch zu vergleichbaren sprachlich-kulturellen

Machtverhältnissen führte. Entscheidend für den Erfolg imperialer Sprachenpolitik stellte sich

die aktive Beteiligung eingeborener Eliten an diesem Prozess heraus, mit dem Ziel, sich die

imperialen Sprachen anzueignen, um Bürgerschaft, Macht oder sozialen Aufstieg zu erlangen.

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In dem dialektischen Zusammenspiel beider Seiten bei der Entwicklung von Hegemonie

imperialer und Subalternität autochthoner Sprachen, das heißt in der Kooperation bei der

Erstellung von Hierarchien als Machtrelationen, liegt sicherlich, wie wir gesehen haben, ein

Schlüssel zur Erklärung des Erfolgs imperialer Sprachen und von Weltsprachen schlechthin.

Diese Schlussfolgerung lässt die Thesen einer Loslösung des Englischen von seinen

Ursprungsländern (Brutt-Griffler 2002) oder gar eine radikale Deterritorialisierung von

Sprachen und Kommunikationsmedien allgemein – wie in der Imperiumshypothese von Hardt

und Negri (2000) vertreten – als fragwürdig erscheinen, da sie die grundlegende Beziehung

zwischen Sprachmacht und anderen Machtfaktoren außer Acht lässt oder verschleiert.

Agency, das heißt kollektives und gezieltes Handeln der an einem Prozess Beteiligten, spielt

trotz gegenteiliger Behauptungen sicherlich auch eine wichtige Rolle für die Herausbildung

von Sprachrelationen, besonders der Hegemonieposition des Englischen.

6.2. Drei Faktoren in der Entwicklung von dominanten Sprachen

Welche Bedeutung könnten diese Ausführungen für unsere Diskussion der Rolle

internationaler Sprachen zweiter Ordnung wie des Deutschen und Spanischen haben? Ob wir

uns nun mit Begriffen wie „Sprachimperien“ oder sogar einem tabuisierten Terminus wie

„Sprachimperialismus“ anfreunden wollen oder nicht; eine wissenschaftlich und allgemein

politisch genügend belegte Tatsache ist, dass Sprache(n) der Macht und Macht der

Sprache(n), konkreter, dass Macht durch Sprache(n) ausgeübt wird und diese Praxis

wiederum bestimmten Diskursformen der Sprache und Sprachen insgesamt als

Handlungssystemen und Bezugspunkten von Sprachbewusstsein Machtfunktionen zuordnen.

Begriffe wie „Sprache der Macht“ müssen hier immer als Metonymien verstanden werden,

denn wir meinen natürlich immer ein pars pro toto, ein rhetorischer Mechanismus, der

Bezüge durchaus verschleiern kann: Nicht Sprachen an sich haben oder üben Macht aus, nicht

Sprachen stehen in Kontakt oder Konflikt zueinander, sondern immer die Sprechergruppen,

die sie benutzen oder als Objekt von Auseinandersetzungen anderer Art verwenden. Diese

Relation ist jedoch meist komplexer, als der erste, an der Oberfläche verhaftete Blick uns zu

vermitteln scheint.

In unserer Diskussion haben sich zumindest drei Aspekte als relevant herausgeschält:

die Rolle von Sprachhierarchien, zielorientiertes Handeln, also Agency, und der interaktive,

kooperative oder auch im Konflikt erwirkte Aufbau von Machtrelationen. Im Übergang von

einer allerdings auf wenige Sprachen beschränkten Mehrsprachigkeit in der internationalen

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Politik, Diplomatie, in Handel, Wissenschaft, Technologie und Kultur hin zur Hegemonie

einer einzigen globalisierten Sprache, die das 20. Jahrhundert charakterisiert, spielen alle drei

Faktoren eine Rolle. Zwischen dem Englischen und den anderen internationalen Sprachen

entstand oder verschärfte sich eine Hierarchierelation, die das ganze System und die Rolle

vieler anderer Sprachen veränderte. Obwohl zweifelsohne der relativ reibungslose Übergang

der Sprachmachtträgerschaft von Großbritannien auf die USA und deren Entwicklung zur

Weltmacht als wichtigste Ursache der heutigen Vorherrschaft des Englischen zu sehen ist, so

lässt sich doch die Hypothese einer naturwüchsigen, quasi automatischen Entwicklung nur

schwer aufrechterhalten. Zu klar tritt hier das Zusammenspiel vor allem britischer

Institutionen der Sprachverbreitung und einer Sprachpraxis beider Länder hervor, die davon

ausgeht, dass man in den internationalen Beziehungen einfach Englisch spricht und die

Benutzung anderer Sprachen, etwa mit der Beharrlichkeit der Franzosen, als ein allgemeines

Ärgernis anzusehen ist. Drittens hat zum Erfolg des Englischen die aktive Beteiligung der

anderen beigetragen. Sei es im Kontext kolonialer Unterdrückung oder militärischer

Besetzung, im kooperativen Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg unter

Führung der USA oder auf einem internationalen Kongress – immer waren es auch die vielen

nicht anglofonen Beteiligten, die zu einer Durchsetzung des Englischen nolens volens

beitrugen. Ohne eine aktive Beteiligung deutscher, italienischer oder holländischer

Wissenschaftler oder Europafunktionäre wäre eine Durchsetzung des Englischen als einzige

oder vorherrschende Wissenschafts- oder Arbeitssprache in ihrer jetzigen Form kaum zu

denken.

Hierzu am Rande eine kleine persönliche Anekdote. In den Jahren 2001 und 2002

arbeitete ich als Gastprofessor an der Universität Mannheim, als Romanist am Romanischen

Seminar. Im Verlauf der Vorverhandlungen teilte mir meine Gastgeberin und Freundin, die

dortige Lehrstuhlinhaberin Christine Bierbach, mit, das Rektorat mache es zur Bedingung

meiner Einstellung, dass ich im Zuge der „Internationalisierung der Mannheimer Lehre“ in

jedem der Semester zumindest eine Vorlesung auf Englisch halte. Am Romanischen Seminar!

Die Entrüstung meiner romanistischen Kollegen ist leicht zu verstehen, das Rektorat ließ

jedoch nicht locker. So hielt ich denn eine Vorlesung zum Thema „Language Globalization

and Linguistic Diversity“ und erklärte meiner durchaus internationalen Hörerschaft auf

Englisch, warum es eigentlich nicht sinnvoll sei und einer Politik der „linguistic diversity” in

der Wissenschaft widerspreche, dass ich diese Vorlesung auf Englisch hielt.

Sprachhierarchien, also die asymmetrische Distribution von Sprachdomänen und

Sprachfunktionen zwischen „hohen“ und „niedrigen“ Sprachen, erweisen sich als wichtiger

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für die Rolle einer Sprache als ihre quantitative Verbreitung und Benutzung. Deshalb sind

zentrale, mit Prestige ausgestattete Sprachräume und Funktionen hochgradig relevant für die

Macht und die Dynamik (Ausbreitung oder Verdrängung), die einer Sprache zugeordnet

werden.

Nehmen wir als Paradebeispiel die Lage des Spanischen in den USA. Allgemein

bekannt ist, dass die hispanische Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten durch

millionenfache Immigration aus dem Süden und überdurchschnittliche Geburtenraten

dramatisch zugenommen hat. Der US-Zensus von 2000 zählt über 33 Millionen

Lateinamerikaner, von denen schätzungsweise 22 bis 25 Millionen Spanisch sprechen (zu den

ausführlichen Debatten über die neue Migration und die Rolle des Spanischen in den USA

siehe Hamel 1997, 1999; Roca 2000). Die große Frage ist nun, ob sich Spanisch endgültig in

den USA etablieren wird. Im Grunde geht es in der heutigen Auseinandersetzung darum, ob

die USA weiterhin als ein auf kulturelle und sprachliche Assimilation ausgerichtetes

Immigrationsland der Verschmelzung bestehen bleiben kann, oder ob es sich unwiderruflich

in eine multikulturelle, möglicherweise definitiv mehrsprachige Nation verwandelt. Auf

keinen Fall wollen jedoch die konservativen Kräfte z. B. ein permanent und offiziell

zweisprachiges Kalifornien zulassen – das kanadische Quebec steht ihnen als

Schreckgespenst vor den Augen.

Der springende Punkt nun, ob sich Spanisch als dauerhafte Sprache in den USA

etablieren wird oder nicht, hängt nach Einschätzung vieler Beobachter nicht so sehr von der

absoluten Zahl der Spanischsprecher ab, sondern vielmehr davon, inwieweit es dem

Spanischen gelingt, die bestehenden Sprachhierarchien (Englisch oben, Spanisch unten) zu

durchbrechen und in die Prestigedomänen von Erziehung, Wissenschaft, öffentlichen

Institutionen, Medien und Politik einzudringen. Wie viele Lateinamerikaner in ihrem

täglichen Leben, zu Hause und auf der Straße, Spanisch reden, ist nicht unwichtig, jedoch

zweitrangig. Hier setzen die traditionellen, konservativen Kräfte an, die sich zunehmend in

ihrer amerikanischen Identität bedroht fühlen, wie ihr prominenter Wortführer Samuel

Huntington (2004) warnt. Schon in den achtziger Jahren brachen sie einen wahren Sprachen-

und Kulturkrieg gegen die Hispanics vom Zaun, um das Spanische durch rechtliche Schritte

und politische Maßnahmen aus diesen Prestigebereichen zu vertreiben oder von Anfang an

fernzuhalten. Die Konzentration auf die Sprache, so die Hispana Ana Celia Zentella (1997)

aus New York, soll nur den zugrunde liegenden Rassismus der dominanten, weißen

Gesellschaft verschleiern. In einem Bundesstaat nach dem anderen wurde Englisch per Gesetz

zur offiziellen Sprache erklärt („English only“; „Official English Movement“), um dem

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Spanischen den Zugang zu den Institutionen zu verwehren. Die Konservativen hebelten die

verbreitete „bilingual education“ aus, rotteten den Begriff selbst mit Stumpf und Stil aus und

ersetzten ihn durch das Konzept des „English as a second language for low English

proficiency students“. Ob diesen Maßnahmen ein dauerhafter Erfolg beschert sein wird,

erscheint fraglich. Tatsache ist, dass hier zwei der führenden Weltsprachen, das hyper-

zentrale Englisch und das super-zentrale Spanisch, in einen offenen Konflikt um Territorien

und Domänen im mächtigsten Land der Erde verwickelt sind, in dem die Frage von

Sprachhierarchien und Prestigefunktionen eine entscheidende Rolle spielt.

6.3. Die Sprachenpolitik von Fremd- und Zweitsprachen

Wir hatten festgestellt, dass die Macht einer Sprache im internationalen Kontext zu einem

erheblichen Teil von ihrer Legitimität und faktischen Verwendung in Prestigedomänen

besonders auch in ihrem dritten Kreis, den Ländern der Fremdsprachenbenutzer, bestimmt

wird. Hier kommt die Politik der Wahl von Fremd- und Zweitsprachen zum Zuge. De Swaans

und Calvets Gravitationsmodell entwarf das Bild einer hierarchisch angeordneten Galaxie, in

der auf verschiedenen Ebenen im Gravitationsfeld einer starken Sprache eine Schar von

Planetensprachen niederer Ordnung kreisen. In der Rolle zwei- oder mehrsprachiger

Individuen verbinden sich kleine Sprachgruppen gleicher oder unterschiedlicher Ordnung,

wodurch entweder ein horizontaler oder vertikaler Bilinguismus – oder eine Kombination

beider Achsen – entsteht.

Für eine erfolgreiche Fremdsprachenpolitik stellt sich nun zunächst die Aufgabe, jede

der beteiligten Sprachen angemessen innerhalb der Galaxie und ihrer Ränge einzuordnen. Das

erweist sich nicht immer als ganz einfach, da ja die diskutierte Dynamik von Sprachen

Veränderungen in den Feldern, der Schwerkraft und dem Anziehungspotential der diversen

Sprachen beinhaltet. Die Galaxie ist in Bewegung und verändert ihre Konstellationen

permanent. Deutsch und Französisch sind im Hierarchiensystem zweifelsohne abgesunken,

haben an Anziehungskraft verloren und ihr dritter Kreis hat sich verkleinert. Umgekehrt hat

die Anziehungskraft des Englischen zugenommen, oft auch über verschiedene Sprachenringe

hinweg. Wo steht heute die deutsche Sprache in diesem Gravitationsgefüge? Wir hatten

gesehen, dass bei der Wahl von Fremdsprachen vorzugsweise eine Sprache aus einer höheren

Statusgruppe ausgewählt und dadurch ein vertikaler Bilinguismus aufgebaut wird, weil eben

diese höhere Sprache Anziehungskraft, das heißt positive Erwartungen und Kalküle, die sie

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hervorruft, auf die Sprecher der niederen Sprachen ausübt. Anziehungskraft besteht jedoch

auch zwischen Sprachen gleicher Rangordnung.

Auf welche Sprecher und Sprachräume kann die deutsche Sprache Anziehungskraft

ausüben? Eine sorgfältige Analyse ihres Potenzials, das je nach Region und

Konkurrenzsituation zu anderen Sprachen variiert, muss einer realistischen Sprachenpolitik

zugrunde liegen. Sicherlich hat Deutsch in Europa und in anderen Kontinenten vor allem als

zweite Fremdsprache eine sinnvolle Chance. Wo es wie in den deutschen Begegnungsschulen

im Ausland erste Fremdsprache ist, muss der Lehrplan sicherstellen, dass Schüler in Englisch

als zweiter Fremdsprache ein hohes Kompetenzniveau erreichen. Deutsche Schulen betreiben

in Lateinamerika oft Werbung als dreisprachige Lehrinstitutionen. Der Erfolg eines derartigen

Ansatzes setzt in jedem Fall eine Mehrsprachenpolitik voraus, die über das reduktionistische,

auf die Dominanz des Englischen ausgerichtete Modell von Zweisprachigkeit

angelsächsischer Provenienz (Crystals Ideal: Jeder spricht seine Muttersprache und die

Weltsprache Englisch) hinausweist.

6.4. Perspektiven einer pluralistischen Mehrsprachenpolitik

Kommen wir zum Schluss auf unsere eingangs gestellt Frage zurück: Wie können wir, als

Mitglieder einer von 6.500 Sprachgruppen in einer Welt von 200 Nationalstaaten und einigen

wenigen Staatenbünden, jetzt und in Zukunft friedlich zusammenleben? Wenn

Interkulturalität, also gegenseitiges Verständnis, Interesse, Kennenlernen-Wollen, Akzeptanz

der Sprachen und Kulturen anderer und der Abbau von Ungleichheit eine wichtige Rolle für

eine derartige Lebensperspektive spielen, so muss eine integrative, umfassende

Sprachenpolitik aller Beteiligten dieses Verständnis organisieren und den verschiedensten

Identitäten und Alteritäten eigene und gemeinsame Räume schaffen. Unmöglich lässt sich in

einem komplexen Mosaik von Mehrsprachigkeit wie in den großen Metropolen, wo mehrere

hundert Sprachen gesprochen werden, jeder Sprachgruppe in traditioneller Manier ein

Territorium zuweisen. Sprachenpolitik sollte dazu beitragen, einen Orientierungswechsel von

einem monolingualen Ideal und einer negativen Einschätzung der ‚Mehrsprachigkeit als

Problem’ hin zu einer pluralistischen Orientierung herbeizuführen, die im Plurilinguismus

eine Bereicherung der Gesellschaften und der Individuen erkennt. Das bedeutet, dass die

Vertikalität, also das Gefälle zwischen Sprachen, durch verschiedene Maßnahmen

(Sprachausbau, Verwendung in Prestigefunktionen) reduziert und horizontale Beziehungen

verstärkt werden. Gemeinsame, mehrsprachige Kommunikations- und Diskursräume sind

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vonnöten, in denen nicht eine Sprache weichen muss, weil eine andere auf den Plan tritt.

Letzten Endes wird eine auf Sprachenvielfalt und Pluralismus von Kulturen und Sprachen

ausgerichtete Politik des besseren Zusammenlebens auch davon abhängen, ob wir es

erreichen, dass Fremdsprachenlernen viel mehr als bisher als eine sinnvolle individuelle und

gemeinschaftliche Investition angesehen wird, die zu einer persönlichen und kollektiven

Bereicherung führt und Berufschancen signifikant verbessert. Wir müssen viel mehr und viel

besser Fremdsprachen lernen als in der Vergangenheit. Und wir sollten Sprachenvielfalt und

Sprachenlernen auch dazu einsetzen, unsere komplexe Welt besser zu verstehen und zu einer

globalen Verringerung von Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Krieg und der Verletzung von

Menschenrechten beizutragen.

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Deutsch in der internationalen

Wissenschaftskommunikation

Ulrich Ammon

1. Der Anteil von Deutsch an den wissenschaftlichen Publikationen weltweit

Deutsch, Englisch und Französisch waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts die drei am

weitesten verbreiteten internationalen Wissenschaftssprachen. International kommunizierende

Wissenschaftler mussten in der Regel mindestens eine davon auf hohem Niveau aktiv

schriftlich beherrschen und die beiden anderen lesen können. Die drei Sprachen hatten eine

ungefähr gleich starke Stellung als internationale Wissenschaftssprachen, mit Unterschieden

zwischen verschiedenen Disziplinen. So war Deutsch vor allem in einigen

Naturwissenschaften vorherrschend.

Als Indikator für den internationalen Rang von Wissenschaftssprachen wird gerne ihr

Anteil an den weltweiten wissenschaftlichen Publikationen herangezogen. Ich habe in

meinem Buch „Ist Deutsch noch internationale Wissenschaftssprache?“ mit dem Untertitel

„Englisch auch für die Lehre an den deutschsprachigen Hochschulen“, aber auch in anderen

Publikationen, zahlreiche Daten dazu vorgelegt. Sie zeigen die Entwicklung im Verlauf des

20. Jahrhunderts. Zusätzliche Daten zur internationalen Rezeption von Texten in den

wichtigsten internationalen Wissenschaftssprachen sowie weniger repräsentative Daten zur

Funktion bei internationalen Konferenzen stimmen mit den Publikationsanteilen in hohem

Maße überein.

Auf der Basis einer viel zitierten, aber unübersichtlich dargestellten Erhebung von

Minoru Tsunoda (1983) habe ich ein ebenfalls häufig abgedrucktes Liniendiagramm erstellt,

das die Entwicklung veranschaulicht. Dazu habe ich das ungewogene arithmetische Mittel für

jedes von Tsunoda ausgewertete Jahrzehnt errechnet, und zwar in zwei Schritten: zunächst

getrennt für jede der 5 von ihm berücksichtigen Wissenschaften über alle Datenbanken der

von ihm einbezogenen Länder und dann zusammen für die 5 Wissenschaften. Außerdem habe

ich die Erhebung Tsunodas fortgeführt bis 1996 und neuerdings für einen Teil der

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Wissenschaften bis 2006. Nur habe ich die neuesten Daten noch nicht ganz aufgearbeitet.

Man ersieht aus Abb. 1 mit einem Blick, dass Deutsch, Englisch und Französisch zu Beginn

des 20. Jahrhunderts ungefähr gleichrangig sind, aber Englisch im weiteren Verlauf immer

mehr an Boden gewinnt und Deutsch und Französisch verlieren.

Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gewinnen Russisch und Japanisch Anteile hinzu, haben

sie aber inzwischen weitgehend wieder eingebüßt; Nummer 2 ist heute Chinesisch, mit

anhaltendem Zuwachs. Der Abstand zu Englisch bleibt gewaltig, hat sich aber in manchen

Fächern verringert (vgl. Tab. 1). Vermutlich fungiert Chinesisch jedoch ansonsten – also z. B.

als Zitatenquelle oder auf Konferenzen – kaum als internationale Wissenschaftssprache,

sondern dient hauptsächlich zur Kommunikation in der eigenen riesigen Sprachgemeinschaft.

Auch alle anderen Sprachen dürften international nur eine marginale Rolle spielen. Falls und

insoweit diese Annahme stimmt, handelt es sich beim Anteil an den Publikationssprachen

eben um einen ungenauen Indikator der internationalen Stellung von Wissenschaftssprachen.

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Jahr 2000 Jahr 2003 Jahr 2006

Englisch 82,9 85,2 81,0

Chinesisch 6,6 6,0 10,1

Japanisch 4,3 3,9 3,5

Russisch 2,7 2,0 2,0

Deutsch 1,2 0,9 1,4

Französisch 0,4 0,3 0,2

Tab. 1: Sprachanteile in „Chemical Abstracts“ (CAS) in den Jahren 2000, 2003 und 2006 in

Prozent (Daten von Karin Faerber, Regional Marketing Manager CAS)

Gegen die Zuverlässigkeit dieses Indikators gibt es noch einen weiteren Vorbehalt. Die

Sprachanteile sind periodischen Gesamtbibliografien oder bibliografischen Datenbanken für

die einzelnen Disziplinen entnommen. Früher wurden solche Bibliografien in verschiedenen

Ländern erstellt, vor allem in Deutschland, Frankreich, Russland und einzelnen

angelsächsischen Ländern. Heute haben die angelsächsischen Länder darin fast eine

Monopolstellung, und in ihren Bibliografien werden nachweislich (Ammon 1991:253f.;

1998:143; Sandelin/Sarafoglou 2004) englischsprachige Publikationen bevorzugt erfasst. Die

daraus ermittelten Sprachanteile sind also zugunsten des Englischen verzerrt, in welchem

Ausmaß ist allerdings nicht bekannt. Trotzdem freilich bestehen – auch aufgrund anderer

Daten – am tatsächlichen überwältigenden Vorrang des Englischen als internationale

Wissenschaftssprache keine ernsthaften Zweifel.

Die Ursachen für den Stellungsgewinn von Englisch und erst recht für den

Stellungsverlust von Deutsch liegen auf der Hand. Sie lassen sich andeuten mit Stichworten

wie Weltkriege, Nationalsozialismus und zeitweiliger Ruin der deutschsprachigen Länder,

USA als Weltwirtschafts- und Weltwissenschaftsmacht, überlegene finanzielle Ausstattung

der US-Universitäten und fortdauernder Braindrain aus aller Welt in die USA. Hinzu kommen

weniger bekannte Vorgänge wie speziell bezüglich Deutsch der von Frankreich und Belgien

angezettelte, erfolgreiche systematische Boykott gegen Deutsch als internationale

Wissenschaftssprache nach dem Ersten Weltkrieg, den Roswitha Reinbothe (2006) in seinen

Einzelheiten untersucht hat.

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2. Englisch als Publikationssprache deutschsprachiger Wissenschaftler und die

Flucht nicht-deutschsprachiger Wissenschaftler aus Deutsch als Publikationssprache

Dass deutsche Wissenschaftler teilweise zum Englischen als Publikationssprachen

übergegangen sind, wird seit den 1980er Jahren thematisiert. Es ist belegt in einem

Sammelband von Harald Weinrich und Hartwig Kalverkämper (1986) oder von Sabine

Skudlik (1990). Tab. 2 verrät die Sprachumstellung deutscher Wissenschafter für die Biologie

und die Mathematik anhand einer von mir durchführten Analyse bibliografischer

Datenbanken (Näheres in Ammon 1998:154). Die jeweils letzte Zeile zeigt einerseits den

wachsenden Anteil der Autoren aus Deutschland an den englischsprachigen Beiträgen –

bedingt durch ihren Wechsel zum Englischen als Publikationssprache.

Biological Abstracts 1980 1984 1988 1992 1995

An deutschsprachigen Beiträgen 22,0 23,6 26,7 10,7 77,2

An englischsprachigen Beiträgen 0,7 3,0 3,1 1,4 5,3

MathSci Disc 1980 1982 1983 1985 1990 1995

An deutschsprachigen Beiträgen 2,1 4,4 27,7 38,8 51,2 58,0

An englischsprachigen Beiträgen 6,0 6,2 10,2 12,2 12,1 12,3

Tab. 2: Anteile von Autoren aus Deutschland in „Biological Abstracts“ und „MathSci Disc“

(Prozent)

Die jeweils mittlere Zeile zeigt andererseits den dramatischen Anstieg des Anteils von

Autoren aus Deutschland an den deutschsprachigen Publikationen. Diese Tendenz lässt sich

nur erklären als Flucht der Autoren nicht-deutschsprachiger Länder aus Deutsch als

Publikationssprache. Vermutlich verläuft diese Entwicklung nicht in allen Fächern

gleichartig, womit ich auf Fächerunterschiede zu sprechen komme.

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3. Unterschiede zwischen den Fächern

Die folgenden Unterschiede zwischen den Fächern wurden vor allem von Sabine Skudlik

(1990) formuliert und teilweise empirisch nachgewiesen. Ich habe sie durch eigene

Untersuchungen (Ammon 1998) teils bestätigt, teils differenziert. Am stärksten dominiert

Englisch in den theoretischen Naturwissenschaften, etwas weniger in den angewandten Natur-

und in den Sozialwissenschaften und noch weniger in den Geisteswissenschaften. In letzteren

haben Deutsch und andere Sprachen, vor allem Französisch, Spanisch, Italienisch und sicher

auch Russisch, noch eine gewisse internationale Stellung.

Für die Fächerunterschiede gibt es vor allem folgende Gründe:

• Die Themen der theoretischen Naturwissenschaften sind von universellem, die der

Sozial- und Geisteswissenschaften öfter eher von nur partikularem, regionalem

Interesse. Dem entspricht die Wahl von Englisch gegenüber weniger weitreichenden

Sprachen.

• Die fachliche Spezialisierung ist in den Naturwissenschaften weiter gediehen als in

den Sozial- und Geisteswissenschaften. Um mit Fachleuten desselben Gebiets zu

kommunizieren, müssen globale Kontakte gepflegt werden, wozu sich Englisch am

besten eignet.

• Die Naturwissenschaften arbeiten mit formalen Sprachen, die Sozial- und vor allem

die Geisteswissenschaften mehr mit der Gemeinsprache, was die Verwendung einer

Fremdsprache oder die Sprachumstellung von traditionellen Wissenschaftssprachen

erschwert.

• In den angewandten Wissenschaften ist wegen der Kommunikation mit Laien die

Verwendung von Fremdsprachen hinderlich.

Trotzdem dominiert Englisch auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Dies zeigen

deutlich genug die Zahlen in Tab. 3. Dabei handelt es sich jeweils um die Anteile an den

weltweiten Publikationen, wie sie in den größten bibliografischen Datenbanken für die Fächer

Soziologie, Geschichte und Philosophie bzw. Biologie, Chemie, Physik, Medizin und

Mathematik aufscheinen, und zwar für das Jahr 1996. (Vorliegende ähnliche Zahlen für

andere Jahre sind nicht unmittelbar vergleichbar, weil sie in den Jahreszahlen gegeneinander

verschoben sind.)

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Englisch Französisch Deutsch

Geistes- und Sozialwissenschaften 82,5 5,9 4,1

Naturwissenschaften 90,7 1,3 1,2

Tab. 3: Weltweite Anteile der Sprachen an den Publikationen in den Geistes- und

Sozialwissenschaften im Vergleich zu den Naturwissenschaften im Jahr 1996 (Prozent der

Mittelwerte, nach Ammon 1998:167 bzw. 152)

Der leichte Vorsprung des Französischen vor dem Deutschen ist vermutlich hauptsächlich

darauf zurückzuführen, dass die deutschen Wissenschaftler sich schon mehr dem Englischen

als Publikationssprache zugewandt haben als die französischen. In einigen

Naturwissenschaften überwiegen allerdings die deutschsprachigen Publikationen (vgl. z. B.

für die Chemie Tab. 1).

4. Nischenfächer für Deutsch

Sabine Skudlik (1990:215f.) spricht von Nischenfächern, „in denen die deutsche Sprache auch

international noch eine gewisse Rolle spielt“. Nach dem Gesagten kommen hierfür in erster

Linie Geisteswissenschaften in Frage. Ungefährdete Nischen gibt es indes kaum, entgegen der

Suggestion der Metaphorik des Terminus. Sogar in der deutschesten aller Wissenschaften, der

germanistischen Literaturwissenschaft, war Mitte der 90er Jahre nur noch 80% der

Forschungsliteratur in Deutsch und schon 12,8% in Englisch – außerdem 3,3% in Französisch

und je 1% in Italienisch und Russisch (Collins/Rutledge 1996:76f.).

Für die Nischenfächer des Deutschen hat sich bei meiner eigenen Untersuchung unter

Anwendung verschiedener Methoden (Ammon 1998:170-179) die folgende Rangordnung

ergeben (1 = relativ stärkste Stellung von Deutsch, / = Gleichrangigkeit):

1. Klassische Archäologie/Klassische Philologie

2. Evangelische Theologie

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3. Musikwissenschaft

4. Christliche Theologie insgesamt

5. Philosophie

6. Ägyptologie/Vorderasiatische Archäologie/Vor- und Frühgeschichte

7. Kunstgeschichte

8. Judaistik

9. Orientalistik

Als Datenquelle diente mir unter anderem eine Anleitung zur Ausstattung von US-

Hochschulbibliotheken mit Handbüchern (Sheehy 1976/1980/1982). Die Anzahl solcher

Handbücher pro Sprache wurde dabei als Indikator für die internationale Stellung der

Sprachen interpretiert. Bei der Auswertung einer weiteren, neueren Anleitung dieser Art

ergaben sich die in Tab. 4 wiedergegebenen Sprachenanteile. Auch danach hat Deutsch in

Archäologie und älterer Geschichte sowie in einigen Philologien oder Sprachwissenschaften

die relativ stärkste Stellung.

Religion

Engl. Deutsch Franz. Span. Italien. Russ. Andere

General Works 90 4 2 - - 1 2

The Bible 93 2 2 - - - 4

Christianity

(einschl. Lutheran)

86 4 4 - 2 - 4

Lutheran 100 - - - - - -

Languages/

Linguistics/

Philology

Slavic Languages 43

21 - - - 21 14

Indo-Iranian and other

Indo-European Languages

71 29 - - - - -

Music 83 8 5 2 1 1 2

General

History

Archeology

and

Ancient

History

General

Works

74 19 3 - - 3 -

Classical

Studies

83 10 3 3 - - -

Ancient

Egypt

83 17 - - - - -

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Tab. 4: Anteile der Sprachen an für US-Hochschulbibliotheken empfohlenen Handbüchern

(Prozent, nach Balay et al. 1996)

5. Einführung von Englisch als Sprache der Lehre an deutschen Hochschulen

Schon lange werden im Hochschulunterricht in den deutschsprachigen Ländern, wie

allenthalben in der Welt, englischsprachige Texte und Lehrmaterialien verwendet. Dabei gibt

es vermutlich zwischen den Fächern ähnliche Unterschiede wie bei der Sprachwahl von

Englisch und Deutsch für wissenschaftliche Publikationen.

Im Jahr 1997/98 wurde ein weiterer Schritt vollzogen: An den Hochschulen in

Deutschland wurden sogenannte Internationale Studiengänge in englischer Sprache eingeführt

(vgl. Ammon 1998; Motz 2005). Sie waren anfangs hauptsächlich gedacht für die Fächer

Wirtschaftswissenschaften, Ingenieurwissenschaften (einschließlich Informatik), Mathematik

und Naturwissenschaften, wurden aber bald auf andere Fächer ausgeweitet, sogar auf manche

der oben genannten Nischenfächer. Im Studienjahr 2006/7 gab es an 102 Hochschulen in

Deutschland insgesamt rund 680 solcher Studiengänge (geschätzt aufgrund der Liste von 85

Seiten à durchschnittlich ca. 8 Studiengänge: in DAAD 2006/07 – dankenswerte Zusendung

durch Werner Roggausch). Natur-, ingenieur- und wirtschaftswissenschaftliche Fächer

überwogen dabei zwar, aber geisteswissenschaftliche Fächer waren durchaus auch vertreten.

Diese Studiengänge sollen Ausländern ohne Deutschkenntnisse den Zugang zu deutschen

Hochschulen erleichtern. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), der die

Einführung dieser Studiengänge gefördert hat, erwartet und wünscht sich, dass während des

Studiums nebenbei Deutsch gelernt wird – außer in kurzen Aufbaustudiengängen. Dann

könnten der deutschen Sprache mit diesen Studiengängen letztlich sogar neue Lerner

zugeführt werden. Inwieweit jedoch tatsächlich Deutschkenntnisse vermittelt und vor allem

für den Studienabschluss auch verlangt werden, ist mir nicht bekannt. In der aktuellsten

Broschüre zu diesen Studiengängen heißt es dazu nur pauschal: „The language of instruction

is English and, to some extent, German.“ (DAAD 2006:7).

Aber sogar bei strenger, allgemeiner Durchsetzung von Deutschkenntnissen bliebe das

Problem der potentiell demotivierenden Wirkung für das Deutschlernen im Ausland. Wozu

soll man schon im Heimatland Deutsch lernen, wenn man in Deutschland auf Englisch ein

Studium zumindest beginnen kann? Wäre das Deutschlernen während des Studiums

obligatorisch, so wäre man allerdings durch den Erwerb schon im Heimatland von

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zusätzlichem Sprachlernen neben dem Studium entlastet. Beim Verzicht auf obligatorische

Deutschkenntnisse wäre die Wirkung der Studiengänge auf das Deutschlernen im Ausland

aber sicher abträglich. Sie würden dann mit der Zeit den Abteilungen für Deutsch als

Fremdsprache im Ausland das Wasser abgraben. Mir scheint, dass – so gesehen – Schaden

(oder in volkswirtschaftlicher Terminologie „Kosten“) und Nutzen dieser Studiengänge für

die deutsche Sprachgemeinschaft bislang nicht sorgfältig genug gegen einander abgewogen

wurden.

6. Auswirkungen auf deutsche Wissenschaftsverlage

Gemeint sind die Auswirkungen der starken Stellung von Englisch als internationale

Wissenschaftssprache. Sie zeigen sich darin, dass die angelsächsischen Wissenschaftsverlage

heute den Weltmarkt beherrschen. Beachtliche Marktanteile haben auch kleinere

germanophone Länder wie die Niederlande gewonnen, die sich schon früh dem Englischen als

internationale Wissenschaftssprache verschrieben haben. Verbliebene große deutsche

Wissenschaftsverlage wie z. B. Julius Springer haben weit mehr englischsprachige als

deutschsprachige Titel im Sortiment.

Vor allem wird der wissenschaftliche Zeitschriftenmarkt von angelsächsischen

Verlagen dominiert. Die in den deutschsprachigen Ländern verlegten wissenschaftlichen

Zeitschriften haben nur dann noch eine beachtliche Auflagenhöhe, wenn sie auf Englisch als

Publikationssprache, meist sogar als einzige Publikationssprache, umgestellt wurden.

Außerdem wurden die einst weltweit führenden deutschen bibliografischen

Datenbanken großenteils von ihren angelsächsischen Konkurrenten übernommen, z. B. das

„Chemische Zentralblatt von Chemical Abstracts“ oder die „Physikalischen Berichte von

Physics Abstracts“. Von den größeren Organen hält sich nur noch das „Zentralblatt der

Mathematik“ weiter neben „Mathematical Reviews“ (Einzelheiten in Ammon 1998:140-142).

Wiederum ist die Lage bei den geisteswissenschaftlichen Verlagen etwas anders als

bei den naturwissenschaftlichen. Viele anwesende Kolleginnen und Kollegen werden aber –

wie ich – ein Lied davon singen können, dass auch die geisteswissenschaftlichen Verlage

meist lieber auf Englisch als auf Deutsch publizieren. Ausgenommen sind nur vielleicht die

Nischenfächer und die für die Lehre gedachten Publikationen.

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7. Auswirkungen auf den Ausbau der deutschen Wissenschaftsterminologie

Die Terminologie wird in den deutschsprachigen Ländern in den meisten Wissenschaften

hauptsächlich durch Entlehnungen aus dem Englischen weiter ausgebaut – in den

Naturwissenschaften wiederum durchgreifender als in den Geisteswissenschaften.

Gelegentlich kommt es dabei zu verändernden Rückübersetzungen aus dem Englischen (z. B.

in der behavioristischen Psychologie: Bekräftigung > reinforcement > Verstärkung). Häufiger

ist aber die Ersetzung einst etablierter deutschsprachiger Termini durch englische (z. B. in der

Mathematik: Zusammenhangsproblem > connection problem). Meist werden englische

Schreibung und Lautung – in der Anwendung häufig mit deutschem Akzent – beibehalten und

nur grammatische Systemanpassungen an die deutsche Sprache vorgenommen

(Substantivgenus, Flexionsformen). Dabei wird bisweilen auch größere Missverständlichkeit

im Vergleich zu deutschsprachigen Alternativen in Kauf genommen. Ein Beispiel ist die

sprachliche Gender-Forschung, die Uneingeweihte als ‚Genusforschung’ missverstehen

können, denn gender bedeutet herkömmlich nur ‚Genus’, während Geschlecht problemlos als

grammatisches, biologisches oder das hier gemeint soziale (oder soziologische) spezifiziert

werden kann. Sprachliche Geschlechterforschung wäre also wenigstens nicht ausdrücklich

irreführend.

Ein Großteil der Entlehnungen aus dem Englischen sind allerdings – entsprechend der

europäischen Wissenschaftstradition – auf griechischer und lateinischer Grundlage gebildet

und somit für deutschsprachige Wissenschaftler nicht völlig fremd.

8. Lässt sich die Stellung von Deutsch als internationale Wissenschaftssprache

wieder stärken?

Die nachhaltige Stärkung in bedeutendem Ausmaß erscheint mir sehr schwierig. Ich möchte

hierfür einige wenige Gründe nennen, die diese Schwierigkeit vielleicht ermessen lassen,

ohne dem komplexen Thema gerecht zu werden. Diese Gründe gelten ähnlich auch für

Russisch.

1) Nicht nur die anglofonen Wissenschaftler bedienen sich des Englischen als

Wissenschaftssprache, sondern auch ein großer Teil der Wissenschaftler in den meisten nicht-

anglofonen Ländern, für die Englisch die Wissenschaftssprache mit dem weitaus höchsten

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Prestige ist. Weltweit sind in vielen Wissenschaften gründliche Englischkenntnisse für eine

internationale Wirkung und für den beruflichen Erfolg unverzichtbar. Prestige und Nutzen

von Deutschkenntnissen sind vergleichsweise bescheiden, abgesehen vielleicht von

Nischenfächern und natürlich der Germanistik.

2) Der Wert von Deutsch als Wissenschaftssprache hängt ab vom Erfolg und Ansehen der

Wissenschaften in den deutschsprachigen Ländern. Sie sind wiederum abhängig von der

finanziellen Ausstattung. Die anglofonen Länder verfügen aber über eine erheblich größere

Wirtschaftskraft, sogar die USA allein, als die deutschsprachigen Länder. Zudem können

gerade die USA aufgrund einer traditionell härteren Sozialpolitik auch proportional mehr

Geld für die Wissenschaft freisetzen als die deutschsprachigen Länder, die mehr Mittel für

soziale Zwecke aufwenden. Der Rückstand der deutschsprachigen Länder in der

wissenschaftlichen Konkurrenz tritt zutage bei der Vergabe der Nobelpreise oder in den

globalen Rangordnungen der Universitäten. Möglicherweise verzerren solche Indikatoren die

tatsächlichen Verhältnisse zugunsten der USA oder der anglofonen Länder, aber sicher nicht

in eine völlig falsche Richtung. Außerdem wirken sie als ständige Imageverstärker.

3) Die meisten Wissenschaftler sind durch fachliche Anforderungen stark gefordert und haben

nur begrenzte Kapazität zum Sprachenlernen. Außerdem wird die Motivation zum Erlernen

weiterer Sprachen nach Englisch dadurch gebremst, dass in der zweiten Reihe eine ganze

Anzahl annähernd äquivalenter Sprachen zur Auswahl stehen, nämlich außer Deutsch und

Russisch zumindest Französisch, Italienisch, Spanisch, Japanisch und Chinesisch. Und jede

dieser Sprachen erschließt im Vergleich zu Englisch nur eine relativ periphere aktuelle

Wissenschaftsgemeinschaft (scientific community).

4) Diese Bedingungen verlocken zumindest nicht zum Erwerb aktiver Sprachfähigkeiten in

anderen Sprachen als Englisch, ich betone: aktiver Fähigkeiten. Denn die Anforderungen sind

im Falle von Wissenschaftssprachen sehr hoch – auch, entgegen verbreiteten Klischees, in

den Naturwissenschaften. So sind z. B. die aktiven Fähigkeiten deutscher Wissenschaftler im

Englischen oft beachtlich. Der Anglist Claus Gnutzmann (mündliche Mitteilung) schätzt sie –

aufgrund von Beobachtungen – bei vielen deutschen Naturwissenschaftlern höher ein als bei

manchen Hochschul-Anglisten. Trotzdem sehen sich die deutschen Wissenschaftler oft

pauschal dem unsinnigen Vorwurf ausgesetzt, sie bewegten sich auf dem Niveau eines

Pidgin-Englisch. Kein Wunder, dass sie vor allem ihre Englischkenntnisse weiter verbessern

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möchten – durch möglichst viel Übung, und sei es unter deutschen Kollegen. Zum Erlernen

auch noch weiterer Fremdsprachen ermutigt solche Kritik jedenfalls nicht. Entsprechendem

Druck sehen sich vermutlich auch Wissenschaftler anderer Muttersprachen ausgesetzt, was

ihre Motivation zum Erlernen zusätzlicher Fremdsprachen, eben auch Deutsch,

beeinträchtigen könnte. Der stärkste Druck, sich ganz auf die Verbesserung der

Englischkenntnisse zu kaprizieren, kommt allerdings letztlich von den anglofonen

Wissenschaftlern und ihren Institutionen einschließlich ihrer Verlage, sei es aufgrund

unreflektierter muttersprachlicher Normvorstellungen oder weil sie wissenschaftliche

Konkurrenz von außen auch durch Sprachrichtigkeitsanforderungen abzuwehren suchen.

9. Auswirkungen auf Deutsch als Fremdsprache

Die Auswirkungen dieser Konstellation auf das Lernen von Deutsch als Fremdsprache oder

anderer Sprachen außer Englisch können nur negativ sein. Ich erwähne lediglich die

ernüchternden Erfahrungen russischer Besucher mit guten Deutsch- und schlechten

Englischkenntnissen auf internationalen Konferenzen, die mir häufig geschildert wurden.

Bleibt die Frage, welche Motive zum Deutschlernen der Bereich Wissenschaft dennoch

weiterhin bietet.

Ein Lichtblick ist die Nutzbarkeit für Studierende. Für viele von ihnen sind die

Hochschulen der deutschsprachigen Länder nach wie vor attraktiv, weil Kosten und Nutzen in

einem günstigen Verhältnis stehen. Solange die Studiengebühren niedrig bleiben, können die

deutschen Hochschulen mit den Hochschulen angelsächsischer Länder konkurrieren – trotz

schlechterer Betreuungsrelation und bescheidenerer Ausstattung. Ein Abschluss an deutschen

Hochschulen hat international immer noch beachtlichen Wert. In den meisten Studiengängen

sind gute Deutschkenntnisse nach wie vor erforderlich oder zumindest vorteilhaft, und ihr

Erwerb ist in nicht wenigen Berufen eine Zusatzqualifikation. Deutschlernen lohnt sich also

für junge Menschen, die später in einem deutschsprachigen Land studieren möchten.

Ähnliches gilt für Menschen, die in einem deutschsprachigen Land auf der Grundlage einer

wissenschaftlichen Ausbildung arbeiten möchten – vor allem in Fachgebieten mit akutem

Arbeitskräftemangel wie in vielen Hochtechnologien. Die Gehälter sind im internationalen

Vergleich relativ hoch.

Deutschlernen lohnt sich ferner in allen Nischenfächern, zumindest der Erwerb von

Lesefähigkeiten, denn der deutschsprachige Anteil an der Fachliteratur ist dort noch

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beachtlich. Die Fächer Germanistik und Deutsch als Fremdsprache sind natürlich besondere

Fälle.

Ferner lohnt sich das Deutschlernen, vor allem der Erwerb von Lesefähigkeiten, für

Wissenschaftler so gut wie aller Fachrichtungen, die sich für die Geschichte ihres Faches

interessieren, denn für fast jedes Fach liegen in deutscher Sprache klassische, oft

bahnbrechende Arbeiten vor, die nicht immer übersetzt sind und deren Übersetzungen schon

bestimmte Interpretationen beinhalten.

Vor allem aber ist der über Deutschkenntnisse erleichterte Zugang zu Technologien

nach wie vor ein Anreiz zum Deutschlernen. Dass die deutschsprachigen Länder hier etwas zu

bieten haben, verrät schon die Tatsache, dass Deutschland weltweit Nr. 1 im Güterexport ist.

Der Grund ist technologischer Vorsprung, auch in den Herstellungsverfahren, und nicht

niedriger Lohn. Dies haben Länder wie z. B. China oder Ägypten verstanden, wo das

Deutschlernen noch im Aufwind ist. Jedoch führt diese Überlegung schon weiter zum Thema

Sprache und Wirtschaft, worüber ich hier lieber gesprochen hätte, wenn sich die

Tagungsorganisatoren mich nicht so nachdrücklich um das Thema Wissenschaft gebeten

hätten.

Vor allem ist ein Ende von Deutsch als nationaler Wissenschaftssprache bislang nicht

abzusehen. Allerdings sind heute Englischkenntnisse für alle Wissenschaftler, die

international kommunizieren und zur Kenntnis genommen werden wollen, so gut wie

unerlässlich. Durch sprachliche Defizite im Englischen, wie sie bei Fremdsprachen im

Gegensatz zur Muttersprache typisch sind, bleiben dabei deutschsprachige – wie alle nicht-

anglofonen – Wissenschaftler gehandicapt (vgl. z. B. Lee La Madelaine 2007). Deutlich

abgeschwächt würde dieses Handicap erst dann, wenn Internationales Englisch (Seidlhofer

2003; Beiträge in Gnutzmann/Intemann 2005) – oder mit meinem eigenen

Terminologievorschlag – Globalish (Ammon 2006: 25-27) durchgesetzt werden könnte statt

der bisher obwaltenden Kontrolle, welche die führenden angelsächsischen Länder über die

Sprachnormen des Englischen ausüben.

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Die deutsche Sprache in den Naturwissenschaften

Ralph Mocikat

Ich möchte mich zunächst für die Einladung zu dieser Veranstaltung bedanken sowie für die

Gelegenheit, einige Gedanken zum Thema „Deutsche Sprache in den Naturwissenschaften“

zu äußern. In dieser Runde bin ich als einziger Naturwissenschaftler wohl ein Außenseiter,

aber ich werde versuchen zu zeigen, dass das Thema auch in meiner Disziplin höchst virulent

ist. Ich möchte meine Erfahrungen in einer biomedizinischen Forschungseinrichtung

wiedergeben, die sich mit Fragestellungen im Umkreis von Molekularbiologie, Immunologie

und experimenteller Krebstherapie befasst. Die Biomedizin ist eine Disziplin, in der die

klassische Trennung zwischen Medizin und naturwissenschaftlichen Grundlagenfächern

aufgehoben ist, in der also grundlagenwissenschaftliche Arbeiten, z. B. im Bereich der

Molekularbiologie, unmittelbar in die Anwendung, in diesem Falle also in Diagnostik und

Therapie am Patienten, einfließen.

Dass sich Englisch als internationales Verständigungsmedium für die weltweite

Kommunikation unter Wissenschaftlern längst durchgesetzt hat, ist jedem bekannt. Um

etwaigen Missverständnissen von Anfang an vorzubeugen: Ein solches internationales

Verständigungsmedium ist zwingend erforderlich, und dass das Englische die Funktion

übernommen hat, die in früheren Jahrhunderten dem Lateinischen zukam, soll hier nicht

hinterfragt werden. Wie weit jedoch die englische Sprache in den Naturwissenschaften und in

der Medizin in den letzten Jahren selbst unseren internen Wissenschaftsbetrieb vereinnahmt

hat, wie weit in vielen Bereichen die deutsche Sprache bereits zu Grabe getragen worden ist

und welch groteske Situationen sich daraus oft ergeben, ist den Vertretern

geisteswissenschaftlicher Disziplinen oder gar einer breiteren Öffentlichkeit möglicherweise

gar nicht bekannt. Daher zunächst eine kurze Bestandsaufnahme:

Wissenschaft lebt vom internationalen Gedankenaustausch. Das war schon früher so,

und das muss auch so bleiben. Der Austausch erfolgt durch Publikationen und auf

Kongressen. Während vor nicht allzu langer Zeit die Publikationen in den

Naturwissenschaften in mehreren Sprachen möglich waren – es reichte früher nicht aus, wenn

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ein Wissenschaftler nur eine einzige Sprache beherrschte –, sind die Veröffentlichungen nun

ausschließlich in englischer Sprache; auch die deutschen Zeitschriften im Bereich etwa der

Biochemie, Molekularbiologie oder Immunologie haben innerhalb der letzten 20 Jahre

ausnahmslos auf die Publikationssprache Englisch umgestellt – anderssprachige Artikel

werden überhaupt nicht mehr akzeptiert. Die Verlage tun dies, weil sie unter dem Druck

stehen, in den Zeitschriftenindex des US-amerikanischen Institute for Scientific Information

aufgenommen zu werden. Dieses bewertet die Zeitschriften anhand der Häufigkeit, mit der

ihre Artikel von anderen Autoren zitiert werden. Ob jedoch durch den Übergang zur

einheitlichen Publikationssprache tatsächlich das intendierte Ziel erreicht wird, nämlich

erhöhte internationale Sichtbarkeit, ist fraglich. Es wurde nämlich gezeigt, dass aus Europa

stammende Arbeiten von US-amerikanischen Wissenschaftlern auch nach dem Wechsel der

Publikationssprache wenig zur Kenntnis genommen und zitiert werden.

So viel zum internationalen Austausch in der Wissenschaft. Ich glaube, dass die hier

obwaltenden Gepflogenheiten jeder Wissenschaftler akzeptiert hat. In den letzten 10 bis 15

Jahren beobachtet man jedoch, dass man auch dann den Schein der Internationalität aufbauen

will, wenn man unter sich ist. Inzwischen ist es nämlich so, dass auf Tagungen ohne jede

internationale Beteiligung, in internen Seminaren oder in alltäglichen Laborbesprechungen oft

nur noch englisch gesprochen wird, auch wenn niemand anwesend ist, der des Deutschen

nicht mächtig wäre. Viele Forschungsförderungsanträge, z. B. beim

Bundesforschungsministerium, dürfen von deutschen Wissenschaftlern nur noch auf Englisch

eingereicht werden. Immer mehr Lehrveranstaltungen für deutsche Studenten werden auf

Englisch angeboten. Die Anglomanie in der Biomedizin geht so weit, dass ich schon mitunter

verwundert erleben konnte, wie zwei deutsche Kollegen selbst über private Dinge sich

englisch unterhalten.

Welche Folgen hat es, wenn wir auch im internen Wissenschaftsbetrieb unsere

Landessprache so konsequent verdrängen? Eine Weiterentwicklung fächerspezifischer

Terminologien findet im Deutschen überhaupt nicht mehr statt, auch immer mehr etablierte

deutsche Fachbegriffe geraten in Vergessenheit. Langfristig wird sich das Deutsche also aus

ganzen Wissensgebieten zurückziehen. Dass dies unabsehbare Folgen für den Kontakt

zwischen Wissenschaft und Gesellschaft hat, für den Diskurs ethischer und ökonomischer

Aspekte wissenschaftlichen Handelns sowie für den Transfer von Ergebnissen der

Grundlagenforschung in die Anwendung, z. B. also auch für die Anwendung neuer

Therapieverfahren durch die praktisch tätigen Ärzte, möchte ich an dieser Stelle nur andeuten

und nicht weiter vertiefen. Wichtig ist Folgendes: Wenn eine Sprache nicht mehr alle

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Bereiche der Wirklichkeit, insbesondere nicht mehr die innovativen und zukunftsweisenden

Bereiche, abzubilden vermag, wird sie einen erheblichen Statusverlust im Inland wie im

Ausland erleiden. Ich behaupte: Dies wird irgendwann eine tote Sprache sein. Man kann jetzt

schon sehen, dass das Deutsche nicht nur aus dem rein fachlichen Diskurs verdrängt wird,

sondern – ausgehend hiervon – aus immer mehr Domänen: Ich möchte als Beispiel die

Wissenschaftsverwaltung als nächstes Einfallstor nennen. Es wird gefordert, dass

Arbeitsverträge in unseren Forschungseinrichtungen in englischer Sprache verfügbar sein

müssen, die Juristen in den Personalabteilungen müssen Englisch lernen, die Sekretärinnen

ohnehin – usw. usw. Da verwundert es auch nicht mehr, dass der Schulunterricht in den

naturwissenschaftlichen Fächern immer häufiger ausschließlich in englischer Sprache erfolgt

– als sogenannter bilingualer Unterricht, der in Wahrheit jedoch monolingual englisch ist.

Wenn die Vorlesungen an den Universitäten englisch sind, wird es irgendwann keine Lehrer

mehr geben, die in der Lage wären, deutschsprachige Fachterminologien an die Schüler

weiterzugeben. Da ist es nur konsequent, wenn auch schon in der Grundschule englisch

gesprochen wird. – Und genau dies ist ja selbst schon im Heimatkundeunterricht mancher

Grundschulen bereits der Fall.

Ich kehre zurück zur Wissenschaft. Inwiefern schaden wir der Wissenschaft ganz

konkret, wenn wir die Muttersprache aus dem täglichen Diskurs verbannen? Ich möchte vier

Punkte hervorheben.

1. Viele meiner Kollegen verstehen Sprache nur als ein Werkzeug zur Weitergabe

vorgefertigten Wissens. Sie verkennen dabei, dass Sprache auch ein Instrument zur

Gewinnung von neuer Erkenntnis darstellt. Ich behaupte, dass dies nicht nur in den Geistes-

und Kulturwissenschaften so ist, die ja stets einen kulturell-historischen Hintergrund haben,

sondern auch in den Naturwissenschaften. Auch wenn die experimentellen Methoden

natürlich sprachunabhängig sein sollen, bleibt doch die Herangehensweise gegenüber offenen

Fragen, das Auffinden von Hypothesen, die Heuristik stets in dem Denken verwurzelt, das die

Muttersprache mitbedingt. Auch in den Naturwissenschaften spielt für die

Erkenntnisgewinnung rhetorisches Argumentieren eine Rolle, die meist unterschätzt wird.

Sprache und Denken beeinflussen sich wechselseitig. Und die Wissenschaft benötigt das

alltagssprachliche Umfeld für das Hervorbringen und die erstmalige Benennung von Neuem.

Nur die Muttersprache stellt die schlüssigsten Bezeichnungen und die treffendsten Metaphern

bereit. Auch für Wissenschaftler, die das Englische exzellent beherrschen, bleibt Englisch

doch eine Fremdsprache insofern, als neue Sachverhalte niemals so treffsicher, stilistisch so

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nuanciert und so bildhaft wiedergegeben werden können wie in der Muttersprache. Es kommt

hinzu, dass das Englische, das in der wissenschaftlichen Kommunikation verwendet wird,

wenig gemein hat mit jener elaborierten und subtilen Sprache, wie sie nur englische

Muttersprachler beherrschen, sondern sich eingeengt hat auf eine schmale Funktionssprache

mit reduziertem Vokabular und formelhaften Wendungen. Echtes kreatives Denken mit Hilfe

eines solchen erstarrten Idioms ist schlechterdings nicht möglich. Es deuten sich Parallelen an

zur lateinischen Wissenschaftssprache zur Zeit der Scholastik. Die Preisgabe der

Muttersprache hat im Übrigen auch erhebliche Auswirkungen auf den inter- und

transdisziplinären Dialog, denn dieser ist in besonderer Weise auf alltagssprachlich

verwurzelte Terminologien angewiesen.

2. Das Gesagte gilt auch für die Weitergabe von fertigem Wissen in Lehrveranstaltungen

und in Seminaren. Immer wieder muss ich schmerzlich erleben, wie viele Missverständnisse

entstehen, wenn deutschsprachige Wissenschaftler über ihr Fach auf Englisch sprechen zu

müssen glauben. Fast täglich kann ich beobachten, wie das inhaltliche Niveau leidet, wie

kontroverse Diskussionen regelrecht abgewürgt werden, wenn neueste Ergebnisse oder die

Planung von Experimenten auf Englisch besprochen werden. Warum eine immer weiter

zunehmende Komplexität wissenschaftlicher Inhalte mit einer Flucht aus derjenigen Sprache,

in der man sich am differenziertesten auszudrücken versteht, beantwortet werden soll, bleibt

ein Rätsel. Wohlgemerkt: Ich spreche hier nur von solchen Veranstaltungen, in denen

deutschsprachige Wissenschaftler unter sich sind.

3. Das führt mich zum dritten Punkt: Jede Sprache bildet die Wirklichkeit in einer

spezifischen Weise ab. Auch in den Naturwissenschaften kann keine Sprache allein die

Gesamtheit der Wirklichkeit abbilden, jede bietet eine andere Brille für das sinnliche

Wahrnehmen und die Beschreibung der Welt. Nur durch Bewahrung der Plurilingualität und

nicht durch sprachliche Gleichschaltung kann die Vielzahl der Betrachtungsweisen erhalten

werden, welche für die Beschreibung einer hoch komplexen Wirklichkeit sowie für

wissenschaftliche Abstraktion unabdingbar ist. Jede Sprache birgt ein eigenes

Erkenntnispotenzial, das nicht aufgegeben werden darf.

4. Ich möchte noch auf die Frage zu sprechen kommen, wie die Flucht aus unserer

eigenen Wissenschaftssprache von Ausländern wahrgenommen wird. Die Anglomanie in

unseren Forschungszentren wird ja oft gerechtfertigt mit der Rücksichtnahme auf unsere

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ausländischen Gastwissenschaftler. Dazu ist festzuhalten, dass der Austausch von

Gastwissenschaftlern und Gaststudenten keineswegs etwas Neues ist. Der Unterschied zu

früher ist nur folgender: Bis vor 10 bis 5 Jahren mussten die Austauschakademiker Deutsch

lernen, ehe sie ihre Tätigkeit aufnahmen. Heute erlebe ich es immer wieder, dass sie von den

deutschen Arbeitsgruppenleitern geradezu davon abgehalten werden, Deutsch zu lernen, dass

ihnen konsequent die englische Sprache aufgenötigt wird, selbst wenn sie sich schon zwei,

drei oder sechs Jahre sich bei uns aufhalten. Eine Integration auch in das soziale Leben ihres

Gastinstitutes gibt es praktisch nicht. Viele Ausländer verstehen das nicht. Denn viele

interessieren sich für deutsche Sprache und Kultur und für unsere Wissenschaftstraditionen,

die nicht zuletzt an sprachlichen Eigenheiten abzulesen sind. Von vielen habe ich Befremden

darüber gehört, dass wir unsere Wissenschaftssprache so konsequent verleugnen. Oft nehmen

sie den Eindruck mit nach Hause, dass wir mit der Preisgabe unserer Wissenschaftssprache

auch den Anspruch aufgegeben haben, Gedanken als Erste auszusprechen. Aufschlussreich

sind in diesem Zusammenhang Umfragen unter Stipendiaten der Humboldt-Stiftung. Die

meisten bedauern es, dass sie während ihres Aufenthaltes so wenig an die deutsche Sprache

herangeführt wurden. Langfristige Bindungen, die auch nach der Rückkehr der

Gastakademiker in ihre Heimatländer Bestand haben und die in unserem eigenen Interesse

liegen sollten, werden auf diese Weise mit Sicherheit nicht hergestellt werden können.

Was ist zu tun? Um es noch einmal zu sagen: Es geht nicht darum, das Englische als

internationales Verständigungsmedium infrage zu stellen: Es geht in erster Linie darum, das

Potenzial verschiedener Sprachen auch in den naturwissenschaftlichen Disziplinen zu nutzen.

Daher sollten auf internationalen Tagungen Vortragende nicht zu einer Einheitssprache

verpflichtet werden, sondern es sollten auch andere Sprachen zugelassen werden, die als

Wissenschaftssprachen Tradition haben. Simultanübersetzung ins Englische muss natürlich

gewährleistet sein. Bei uns im Inland muss natürlich Deutsch als Wissenschaftssprache

gepflegt und weiterentwickelt werden. Anderenfalls wird die Wissenschaftstauglichkeit der

deutschen Sprache irgendwann nicht mehr gegeben sein. Es ist also erforderlich, dass man im

Laboralltag, in internen Seminaren und auf Tagungen ohne internationale Beteiligung

selbstverständlich sich der Landessprache bedient. Dazu gehört weiterhin, dass

Förderungsanträge bei deutschen Drittmittelgebern in deutscher Sprache verfasst werden, und

ganz wichtig ist es, dass unsere Gastwissenschaftler wieder darin unterstützt werden, Deutsch

zu lernen, es sei denn, sie halten sich nur wenige Wochen oder Monate bei uns auf. Es sollte

nämlich in unserem Interesse liegen, sie auch sozial und kulturell zu integrieren, damit sie

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langfristige Bindungen zu ihrem Gastland aufbauen. Ständig sollte man sich über

landessprachliche Fachtermini Gedanken machen und diese benutzen. Wenn all dies nicht

gelingt, so fürchte ich, wird unsere Wissenschaft weltweit immer weniger ernst genommen.

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Die Rolle der europäischen Sprachen in der Zukunft

Deutsch-russische Erfahrungen und Perspektiven

Ulrich Ammon, Peter Eisenberg, Jochen Scholz

Einleitung

Deutsch und Russisch als große Kultursprachen sind bisher für alle gesellschaftlichen

Lebensbereiche von Relevanz. Die Zahl der in diesen Sprachen erscheinenden

wissenschaftlichen Publikationen geht allerdings konstant zurück. Ist dieser

Bedeutungsverlust nur ein oberflächliches, dem Wandel unterworfenes Phänomen oder

Ausdruck eines im Zeitalter der Globalisierung tiefer gehenden Veränderungsprozesses?

Diesen und ähnlichen Fragen ist eine Konferenz vom 24. bis 25. Mai 2007, veranstaltet vom

Goethe-Institut Moskau und dem Puschkin-Institut Moskau, nachgegangen. Ziel der

Konferenz war es, das Bewusstsein für den Funktionswandel einer Sprache und seine

gesellschaftlich-politischen Wirkungen zu schärfen, einen Informations- und

Erfahrungsaustausch unter Vertretern zweier großer europäischer Sprachen zu initiieren und

gemeinsam Strategien zu entwickeln, wie sich konstruktiv mit den Entwicklungen umgehen

lässt.

Prominente Wissenschaftler – Linguisten und Naturwissenschaftler aus Deutschland

und Russland – gingen in ihren Vorträgen auf die Rolle von Deutsch und Russisch als

Wissenschaftssprachen, auf den angeblichen Sprachverfall, auf die Rolle der

Mehrsprachigkeit, aber auch auf die Unterschiede in der Einschätzung der Situation für

Deutsch und Russisch ein. Deutlich wurden das Facettenreichtum und die Lebenskraft der

beiden großen europäischen Sprachen.

Der Austausch zu diesen Fragen, die von wissenschaftlichem, aber auch von

allgemein-gesellschaftlichem Interesse sind, wurde in Arbeitsgruppen vertieft, an denen

russische und deutsche Experten teilnahmen. Die Arbeitsgruppe zum Thema „Sprachverfall

und Sprachentwicklung“ wurde von Professor Peter Eisenberg (Potsdam) geleitet, die

Arbeitsgruppe zum Thema „Wissenschaftssprache“ von Professor Ulrich Ammon (Duisburg),

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die Arbeitsgruppe zum Thema „Mehrsprachigkeit – auch als politische und wirtschaftliche

Aufgabe“ von Jochen Scholz vom Verband der deutschen Wirtschaft in der Russischen

Föderation. Im Folgenden haben die Leiter der Arbeitsgruppen die jeweiligen Ergebnisse

zusammengefasst.

I. Sprachverfall und Sprachentwicklung des Deutschen und Russischen

Mit dem Thema „Sprachverfall und Sprachentwicklung“ waren der Arbeitsgruppe zwei

Begriffe vorgegeben, die das Verhältnis von Sprachwissenschaft und Öffentlichkeit betreffen.

Sprachwissenschaftler tun sich im Allgemeinen schwer damit, vom Verfall einer Sprache zu

sprechen und sind deshalb auch skeptisch, wenn über Maßnahmen zur Sprachpflege beraten

wird. Der Begriff Sprachverfall ist jedoch von großer Wichtigkeit für den öffentlichen

Sprachdiskurs und spielt damit auch eine bedeutende Rolle für die Sprachwahrnehmung der

Öffentlichkeit.

Die Sprachwissenschaft hat sich an diesem Diskurs zu beteiligen. Ihr Beitrag besteht

darin, den Diskurs zu versachlichen und über Sinn wie Erfolgsaussichten sprachpflegerischer

Maßnahmen Auskunft zu geben. In diesem Sinn kommt es darauf an, in einem ersten Schritt

Klarheit über Sprachveränderungen zu gewinnen. Erst im zweiten Schritt können diese

bewertet und praktisch gewendet werden. Zu berücksichtigen ist dabei:

1. Im öffentlichen Sprachdiskurs wird zu wenig zwischen Sprache und Sprachgebrauch

unterschieden. Sowohl das Russische als auch das Deutsche verfügen heute über

Ausdrucksmöglichkeiten, die allen denkbaren Anforderungen gerecht werden. Bedrohliche

Verfallsszenarien beruhen häufig darauf, dass ein mangelhafter Sprachgebrauch mit der

Sprache selbst gleichgesetzt wird. Umgekehrt haben sprachpflegerische Maßnahmen

allenfalls dann Aussicht auf Wirkung, wenn sie am Sprachgebrauch ansetzen.

2. Was Sprachveränderungen betrifft, ist strikt zwischen lexikalischen und strukturellen

Veränderungen zu unterscheiden, wobei lexikalische natürlich auch strukturelle bewirken

können. Lexikalische Veränderungen sind andererseits zu einem erheblichen Teil marginaler

Natur, sie sind bestimmt von Sprachmoden und reflektieren in zahlreichen Fällen unmittelbar

sprachexterne Gegebenheiten. Insofern sind sie sowohl ephemer als auch schwer zu

beeinflussen, denn gesellschaftliche Veränderungen wird man kaum am sprachlichen

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Symptom kurieren können. Das gilt ausdrücklich auch für die Zunahme von

Internationalismen, die sich im Russischen wie im Deutschen als Folge von

Globalisierungsprozessen finden.

3. Als wesentliche Sprachveränderung werden in der Öffentlichkeit Verschiebungen von

Diskursgrenzen wahrgenommen, wie sie ebenfalls im Russischen und im Deutschen zu

beobachten sind. So werden Tabus für den Gebrauch eines ‚niederen Vokabulars‘ teilweise

aufgehoben, Begriffe des politischen oder ökonomischen Gegners werden vereinnahmt und

Wörter werden durch andere ersetzt (Euphemismen) oder aus dem Vokabular gestrichen.

Vorgänge dieser Art haben beide Sprachen in ihrer jüngeren Geschichte immer wieder erlebt.

Sie zeigen auch, was durch Eingriff möglich wird.

4. Zu den strukturellen Veränderungen lässt sich im groben Überblick das Folgende

sagen. Sowohl das Russische als auch das Deutsche hat nach der Fixierung eines

geschriebenen Standards mit einem verlangsamten phonologischen Wandel zu rechnen. Der

Standardisierungsprozess selbst war in beiden Sprachen mit erheblichen morphologischen und

syntaktischen Veränderungen und natürlich mit Herausbildung einer Orthografie verbunden.

Im Zusammenhang dieser Prozesse kam es tendenziell zu einer Vereinfachung der

Morphologie und einer Komplizierung der Syntax. Das häufig gezeichnete Bild von einer

Vereinfachung der Sprachen durch Übergang zum analytischen Sprachbau ist unzutreffend.

5. Strukturelle Veränderungen, die sich gegenwärtig beobachten lassen, sind in beiden

Sprachen nicht hinreichend erforscht, sind aber aufgrund der vorhandenen technischen

Möglichkeiten (elektronische Korpora) prinzipiell zugänglich. Mit besonderer Sorgfalt ist

dabei zu klären, welche Veränderungen einem Kontakt mit dem Englischen geschuldet sein

könnten. Für das Deutsche kommen hier etwa Veränderungen der Wortprosodie durch das

Auftreten nichtsilbischer Flexionssuffixe (s-Plural, nichtsilbischer Genitiv) in Betracht, für

das Russische das Auftreten nichtflektierter nominaler Formen in Komposita und

Attributstrukturen. Von Bedeutung für das Russische kann mittelfristig auch die zunehmende

Verwendung des lateinischen Alphabets etwa in der Werbesprache sein. In den genannten und

weiteren während der Tagung angesprochenen Bereichen besteht Klärungsbedarf, wenn man

sich ein realistisches Bild von der erwartbaren Entwicklung des Russischen und des

Deutschen machen möchte.

(Bericht von Peter Eisenberg)

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II. Deutsch und Russisch als Wissenschaftssprachen

Die Arbeitsgruppe „Deutsch und Russisch als Wissenschaftssprachen“ hat zunächst innerhalb

ihres Themenkomplexes vier Teilthemen identifiziert, die im Hinblick auf das Anliegen der

Konferenz wichtig erschienen, und beschlossen, zu erkennbaren Problemen jeweils auch

Lösungsansätze zu formulieren. Dabei sollten die russischen und die deutschen Verhältnisse

durchgehend gesondert betrachtet werden. Beide Nationen waren in der Arbeitsgruppe durch

mehrere hoch qualifizierte Fachleute vertreten, von denen hauptsächlich die folgenden

landesspezifischen Einschätzungen stammen.

1. Terminologie

1.1. Russische Situation

Für Russland ist es, wie es scheint, von geringer Bedeutung, aus welcher Sprache die Termini

stammen. Dringlich ist dagegen, dass die wissenschaftliche Terminologie überhaupt

ausgebaut, modernisiert, in Wörterbüchern kodifiziert und konsequent verwendet wird.

1.2. Deutsche Situation

Hierzu wurden zwei divergierende Auffassungen vertreten, für die kein Konsens gefunden

wurde. Übereinstimmung bestand nur in der Einschätzung, dass die englische Terminologie

für die internationale Kommunikation unverzichtbar ist. Dagegen hielt die eine Seite den

Ausbau einer deutschsprachigen Terminologie auch bis in die feinsten Verästelungen der

Wissenschaften für unabdingbar (zwecks Kommunikation mit der eigenen Gesellschaft) und

auch für realisierbar. Die andere Seite befürchtete dagegen, dass zwei Mengen von Termini

(deutsche und englische) für die WissenschaftlerInnen mancher Disziplinen eine zu große

Belastung darstellen, und fand die Verwendung englischer Termini in ansonsten deutschen

Texten nicht allzu problematisch. Die Frage der Belastbarkeit mit zwei Mengen von Termini

wurde von beiden Seiten als ein Forschungsdesiderat gesehen.

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2. Textsorten / Diskurstypen

2.1. Russische Situation

Für die russische Seite wurde es wieder als unproblematisch eingeschätzt, wenn traditionelle

russische Ausprägungen wissenschaftlicher Textsorten („polemische Form“) allmählich durch

angelsächsische zurückgedrängt werden („additive Form“).

2.2. Deutsche Situation

Für die deutsche Seite wurde beklagt, dass die unzureichende Beherrschung angelsächsischer

Textsorten zur Ablehnung von Beiträgen seitens der dominierenden anglofonen

Wissenschaften beitrage und die Wirkung wissenschaftlicher Texte mindere. Während eine

Seite zur Lösung des Problems die Notwendigkeit und auch Möglichkeit besserer

Beherrschung der angelsächsischen Textformen betonte, forderte die andere Seite mehr

Publikationsmöglichkeiten für deutschsprachige Texte durch Öffnung bestehender oder durch

Gründung neuer Zeitschriften. Wiederum wurde die gründlichere empirische Untersuchung

als bisher gefordert, und zwar sowohl der deutschen und angelsächsischen wissenschaftlichen

Textsorten als auch der durch die Unterschiede verursachten Schwierigkeiten für deutsche

Wissenschaftler.

3. Sprachwahl

3.1. Russische Situation

Betont wurde die Wichtigkeit der fortdauernden Verwendung von Russisch für jegliche Art

wissenschaftlicher Kommunikation, die aber derzeit auch nicht als gefährdet gilt, da russische

WissenschaftlerInnen unter sich stets und nur auf Russisch kommunizieren. Allerdings sollten

zukünftige Entwicklungen sorgfältig beobachtet werden.

3.2. Deutsche Situation

Hier wurde die verbreitete Verwendung von Englisch durch deutsche WissenschaftlerInnen,

auch in der internen Kommunikation unter sich (informell oder auf Konferenzen) als Problem

gesehen, die am ausgeprägtesten bei NaturwissenschaftlerInnen festzustellen ist. Dadurch

wird oft auch ausländischen Lehrenden oder Studierenden das Deutschsprechen verwehrt.

Gefordert wurde im Hinblick darauf:

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• die Sensibilisierung der deutschen WissenschaftlerInnen für das Problem, auch durch

Veranstaltungen wie „Die Macht der Sprache“

• dass ausländische GastwissenschaftlerInnen bei einem längeren Aufenthalt ermutigt

werden, zuvor Deutsch zu lernen (z. B. in Deutschland beim Goethe-Institut, mit

deutscher Finanzhilfe)

• dass in den neuen englischsprachigen Internationalen Studiengängen an deutschen

Hochschulen der Erwerb gründlicher Deutschkenntnisse während des Studiums

konsequent obligatorisch gemacht wird und auch deutschsprachige Studienanteile

absolviert werden müssen (außer bei Kurzstudien).

4. Bekanntmachung nicht-englischsprachiger wissenschaftlicher Publikationen

Sowohl die russische als auch die deutsche Seite hielten es für wichtig, dass nicht

russischsprachige bzw. nicht deutschsprachige WissenschaftlerInnen regelmäßig über auf

Russisch bzw. Deutsch verfasste wissenschaftliche Veröffentlichungen informiert werden.

Hierzu eignen sich schriftliche und mündliche Kurzberichte auf Englisch (Zeitschriftenartikel

bzw. Vorträge), die vielleicht auch das Interesse am Russisch- bzw. Deutschlernen wecken.

(Bericht von Ulrich Ammon)

III. Mehrsprachigkeit – auch als politische und wirtschaftliche Aufgabe

Das Thema „Mehrsprachigkeit – auch als politische und wirtschaftliche Aufgabe“ wurde

anhand von fünf Thesen bearbeitet und diskutiert:

1. Deutsch im Ausland – Fremdsprachen in Deutschland! Eine Aufgabe der

Bildungspolitik und der Wirtschaft?

Wenn wir erwarten, dass im Ausland die deutsche Sprache zumindest den zweiten Platz hinter

Englisch in der Auswahl der zu erlernenden Sprachen einnehmen soll, müssen wir Deutsche

zeigen, dass auch wir bereit sind, selbst andere Sprachen, außer Englisch, zu erlernen.

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2. Öffentlichkeitsarbeit, Werbung, Vermarktung – Nutzen aufzeigen!!!

Nicht der Staat/die Regierung entscheidet in Russland, welche Sprachen benötigt und damit

auch nachgefragt werden. In der Schule sind es in der Regel die Eltern, welche entscheiden,

was für eine Sprache das Kind erlernen soll. Danach entscheidet die Person selbst, lässt sich

aber immer vom praktischen Nutzen des Zeit- und Kraftaufwandes zum Erlernen einer

Fremdsprache leiten.

Die Bewerbung der deutschen Sprache muss den Nutzen für jede einzelne Zielgruppe

aufzeigen. Dazu zählen wir die Eltern, die Lehrer, die Hochschuldozenten und die Lernenden

selbst. Jeder muss individuell angesprochen werden.

Das Goethe-Institut und das Puschkin-Institut sollten noch mehr als bisher

Informationen über Lernangebote in die Öffentlichkeit tragen. Dies gilt in Russland vor allem

für die regionale Arbeit. In Deutschland würden wir eine Ausweitung der Arbeit der Filialen

des Puschkin-Instituts in andere Bundesländer begrüßen.

3. Schule – Studium – Beruf: Veränderungen von Platz und Rolle des Erlernens

einer Fremdsprache im Leben.

Die deutsche Sprache im Ausland, Beispiel Russland, verliert gerade in der Schule immer

mehr an Bedeutung, da die Nachfrage und der Wunsch, vor allem der Eltern, nach Erlernen

der deutschen Sprache immer weiter und teilweise gravierend zurückgeht. Ein besonderes

Problem in Russland stellt die Stellung des Bildungsministeriums zum

Fremdsprachenunterricht dar. Zwar ist das Erlernen einer Fremdsprache obligatorisch, das

Lernen weiterer Sprachen wird allerdings nur empfohlen. Bedauerlich ist dies auch deshalb,

weil die LehrerInnen für die deutsche Sprache nachweislich die am besten ausgebildeten und

motiviertesten Lehrkräfte sind. Ganz sicher spielt dabei die Lehrerfortbildung des Goethe-

Instituts eine nicht unwesentliche Rolle.

Die Nachfrage nach der deutschen Sprache steigt während des Studiums wieder an. In

der Hochschulausbildung wird eine zweite Fremdsprache gefordert. Motivierend kommt dazu,

dass viele Studienaustausch- und Ergänzungsprogramme über deutsche Stiftungen und den

DAAD die deutsche Sprache als Voraussetzung erwarten bzw. einfordern. Diese Programme

sind gerade in Russland sehr beliebt.

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Mit der großen Anzahl deutscher Unternehmen in Russland – verschiedene Quellen

sprechen von 3.000 bis 4.000 – wächst der Bedarf an Deutsch sprechenden Mitarbeitern und

die Möglichkeit, in deutschen Unternehmen eine Anstellung zu finden.

4. Wachsende Bedeutung der Mehrsprachigkeit im Berufsleben

Große Unternehmen, die international agieren, versuchen das Problem der internen

Kommunikation durch die Nutzung der englischen Sprache als Unternehmenssprache zu

lösen. Aber schon auf der Ebene des mittleren Managements funktioniert dies nur noch mit

Schwierigkeiten. Werden Produktionsstätten in anderen Ländern eröffnet, ist die

Beherrschung der jeweiligen Landessprache unabdingbare Voraussetzung für wirtschaftlichen

Erfolg.

Entscheidende Bedeutung hat die Mehrsprachigkeit in mittelständigen Unternehmen.

Erfahrungen in Russland zeigen, dass immer mehr Mitarbeiter gesucht werden, die über

deutsche Sprachkenntnisse verfügen und damit in der Lage sind, mit dem Mutterhaus in

Deutschland und vor allem deren Mitarbeitern in der jeweiligen Landessprache zu

kommunizieren.

Seit 1997 bietet Deutschland im Rahmen des sogenannten „Präsidentenprogramms“,

eines russischen Weiterbildungsprogramms für Nachwuchsführungskräfte, Praktika für

Absolventen dieses Programms in Deutschland an. Wer für zwei bis drei Monate in deutschen

Unternehmen aktiv am Wirtschaftsleben teilnehmen will, muss Deutsch sprechen.

Seit 2006 gibt es auch ein Praktikum für junge deutsche Führungskräfte in Russland.

Die russische Sprache ist noch nicht Voraussetzung. Kenntnisse der Sprache würden aber

helfen, nicht nur die fachlichen Inhalte, sondern auch die mentalen Hintergründe besser zu

verstehen.

5. Mehrsprachigkeit muss zur Normalität werden – Muttersprache plus 2

Fremdsprachen

Die englische Sprache wird als Mittel zur Kommunikation weltweit sicher zur beherrschenden

Sprache. Trotzdem halten wir es für notwendig, dass in der Schule, während des Studiums

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und im Berufsleben eine weitere Sprache in Abhängigkeit von den persönlichen Interessen

ihren Platz finden muss.

(Bericht von Jochen Scholz)

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Jiddische Wörter in der deutschen Sprache

Gertrud Reershemius

„Maloche“, „Schlamassel“, „meschugge“ – bei einigen Wörtern ist uns die Verbindung zur

jüdischen Kultur mit ihren Sprachen Jiddisch und Hebräisch bewusst, bei der „Mischpoche“

etwa, der „Chuzpe“, oder wenn uns etwas nicht ganz „koscher“ vorkommt. Bei anderen

nehmen wir dies kaum noch wahr, beim „Malocher“ aus dem Ruhrpott zum Beispiel, bei der

„Macke“, die jemand hat, beim „miesen“ Wetter, beim „Schmusekurs“ der Regierung oder

beim Nachbarn, der gut „betucht“ ist.

1.100 Wörter jiddischer Herkunft hat der Sprachwissenschaftler Hans Peter Althaus in seinem

Lexikon deutscher Wörter jiddischer Herkunft zusammengetragen, darunter alte Bekannte wie

der „Großkotz“ oder das „Schmiere stehen“, aber auch solche im Deutschen exotisch

anmahnenden wie „Machascheife“ („Hexe“) oder „Besomenbüchse“ („Riechsalzdose“,

„Parfümflasche“), die lediglich in einigen deutschen Dialekten, Fach- oder Geheimsprachen

vorkommen.

Entwicklung des Jiddischen

Was tun solche Wörter im Deutschen? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich die

deutsche Sprachgeschichte des Mittelalters genauer ansehen. Denn es gab nicht nur in

Osteuropa, sondern auch im deutschen Sprachgebiet Juden, die Jiddisch sprachen. Die

Sprache entstand vor ungefähr 1.000 Jahren aus althochdeutschen Varietäten, vermutlich

entweder in der Gegend um Speyer und Worms am Rhein oder um Regensburg an der Donau.

Die mittelalterlichen Juden legten den Grundstein für die Entwicklung des Jiddischen, indem

sie die gesprochenen Sprachen ihrer Umgebung aufgriffen, mit hebräischen Elementen

versahen, Entlehnungen aus romanischen Sprachen integrierten und durch überregionale

Kontakte verschiedene Merkmale althochdeutscher Dialekte mischten.

Spätestens ab 1500 kann man das Jiddische als eine vom Deutschen zu

unterscheidende Sprache betrachten. Jiddisch diente als gesprochene Sprache in der

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traditionellen jüdischen Gesellschaft der Aschkenasim, der „deutschen“ Juden, wie sie sich

selbst nannten. Zusätzlich lernte jeder jüdische Knabe seit früher Kindheit Hebräisch, um

durch Gebet, Gesang, Kenntnis und Kommentieren der heiligen Schriften seine Religion

praktizieren zu können. Hebräisch war außerdem die Sprache der Rechtsprechung und der

gelehrten Korrespondenz. Für die Mädchen und Frauen wurden Gebet- und Erbauungsbücher

und auch schon einmal Unterhaltungsliteratur auf Jiddisch verfasst.

Geheimsprache der Vaganten als Vehikel

Trotz Diskriminierung, Verfolgung, Ausweisungen und oft genug Pogromen lebte eine

jüdische Minderheit durch die Jahrhunderte hindurch auf deutschem Sprachgebiet, und auch

wenn die Kontakte zu den christlichen Nachbarn zeitweise sporadisch gewesen sein mögen,

so hat es sie doch gegeben. Juden, denen in den meisten Staaten und Kleinstaaten des

Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation Landbesitz und Mitgliedschaft in den

Handwerkszünften verwehrt war, verdienten ihren Lebensunterhalt traditionell im Geldverleih

und im Handel, und in diesen Zusammenhängen kam es zu sprachlichem Kontakt mit der

christlichen Mehrheit. Oft wird das „Rotwelsche“, die Geheimsprache der Vaganten, als das

Vehikel beschrieben, durch das jiddische Wörter in die deutsche Sprache einflossen.

Zu den obdach- und heimatlos gewordenen Gruppen von Außenseitern, die seit dem

ausgehenden Mittelalter auf der Suche nach Überlebensmöglichkeiten, nicht immer legaler

Art, die Lande durchstreiften, gehörten durchaus auch Juden. Und tatsächlich bediente sich

das „Rotwelsche“ unter anderem einiger Ausdrücke hebräischen Ursprungs. Die Rolle, die

ihm bei der Entlehnung jiddischer oder hebräischer Wörter beigemessen wurde, wird jedoch

vermutlich weit überschätzt. Viel wahrscheinlicher ist, dass die jiddischen Worte durch

Alltagskontakte mit jüdischen Händlern und Schlachtern, den vorherrschenden Berufen unter

den Landjuden, herrühren. Diese Berufsgruppen hatten zudem Fachsprachen entwickelt, die

Anleihen vor allem bei der hebräischen Komponente des Jiddischen machten. In den Städten

gab es auch nach dem Ende der jüdischen Ghettos Kontakt mit Jiddischsprechern. Wenn auch

das Jiddische im Westen seit der Aufklärung zunehmend an Boden verlor, so gab es in

Großstädten wie Berlin seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Gruppen ostjüdischsprachiger

Immigranten. In Osteuropa hatte sich seit dem Mittelalter die Sprache der aus deutschen

Gebieten eingewanderten Juden zu einer äußerst vitalen Kultursprache entwickelt.

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Verwendung jiddischer Worte im Deutschen

Wie wurden und werden jiddischstämmige Worte – die meisten aus der hebräischen

Komponente der jiddischen Sprache – im Deutschen verwendet? Deutsche Schriftsteller des

19. und beginnenden 20. Jahrhunderts charakterisierten jüdische Figuren – oft in

antisemitischer Absicht – manchmal über ihre sprachlichen Eigenheiten, also durch

lexikalische oder grammatische Merkmale des Jiddischen. Die jiddischen Wörter waren

demzufolge als solche bekannt. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden jiddische Worte

zu antisemitischer Propaganda eingesetzt oder durften nicht benutzt werden, mit dem Erfolg,

dass sie den Nachkriegsgenerationen zum Teil unbekannt waren oder dass die vor dem Krieg

bekannten Konnotationen kaum noch existierten. Seit den 80er-Jahren erfreut sich eine

Handvoll jiddischer Worte wieder zunehmender Beliebtheit und ist heute fester Bestandteil

vor allem der Zeitungssprache.

Ein Beispiel, zitiert nach Hans Peter Althaus’ Buch „Zocker, Zoff und Zores“ (2002):

„Kneipenzoff endete in blutigem Zweikampf in der Saarstraße”. Bemerkenswert und bei

Althaus nachzulesen ist die durchaus unterschiedliche Geschichte einzelner jiddischer Wörter

und ihrer Bedeutung im Deutschen. Lesen Sie die ruhig einmal nach, wenn man „Tacheles“

mit Ihnen geredet hat, wenn Sie „angeschickert“ nach Hause gekommen sind oder ein

„Ganove“ Ihnen zu Leibe rücken wollte.

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ICHDEUTSCHSPRECHENPERFEKT

Für die Installation, die sich der babylonischen Sprachenvielfalt als Identität stiftendes

Medium widmet, bediente sich Babak Saed den Sprachen jener Länder, in denen Goethe-

Institute vertreten sind. Das Konzept hat lediglich einen Satz zum Inhalt, der in jeder der

benutzten Sprachen leicht variiert wurde. Inhaltlich bringt jeder Satz zum Ausdruck, dass

der Sprecher die jeweilige Sprache perfekt beherrscht. Allerdings beinhalten die Sätze

grammatikalische Fehler, sodass unmittelbar ein Widerspruch erkennbar wird. Dieser

Widerspruch verbildlicht die Situation des Fremden: Einerseits strebt er ein gewisses

Heimatgefühl in der ihm neuen Kultur an. Andererseits möchte er den eigenen kulturellen

Hintergrund nicht restlos aufgeben.

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After Babel

Eine künstlerische Intervention zur Macht der Sprache von

Babak Saed

Die Installation „AFTER BABEL“ des Konzeptkünstlers Babak Saed auf der

Außenfassade der Akademie der Künste und im Inneren auf den Glassegmenten des

Skulpturengartens fordert eine besondere Aufmerksamkeit für das geschriebene Wort, denn

der Künstler iranischer Herkunft arbeitet ausschließlich mit Großbuchstaben ohne

Interpunktion und Leerzeichen. Diese WORT-AN-WORT-Sprache, die ein unbeteiligtes

Lesen erschwert, fordert vom Betrachter ebenso Konzentration wie eine kritische

Auseinandersetzung mit dem Betrachteten ein. Die Sprache erscheint zunächst

unverständlich, kann sich aber als decodierbar entschlüsseln oder ein Rätsel bleiben.

Die Installation hat zum Thema, inwieweit Sprache als ein Mittel der Ausgrenzung

Fremder oder aber ihrer Annäherung an die Einheimischen dient. Was passiert, wenn der

Fremde zu sprechen beginnt und sich als solcher zu erkennen gibt? Die Begegnung von

Menschen unterschiedlicher Sprachherkunft zeichnet im besonderen Maße die gegenwärtige

Zeit aus. Ausgehend davon, dass Sprache – auch die Muttersprache – einem kontinuierlichen

dynamischen Prozess unterworfen und somit nie vollendet ist, lässt die Schlussfolgerung zu,

dass das Ideal einer vollständigen Beherrschung auch nur einer Sprache eine Illusion bleiben

muss.

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Muttersprache – Vaterland

Zusammenfassung einer Podiumsdiskussion

Krzysztof CzyŜewski, Volha Hapeyeva, Marius Ivaškevičius, Andrej Kurkow

Moderation und Zusammenfassung: Martin Pollack

Am 15. Juni 2007 fand in Berlin auf dem Festival „Die Macht der Sprache“ eine

Podiumsdiskussion zum Thema „Muttersprache – Vaterland“ statt, deren Verlauf im

Folgenden zusammengefasst vorliegt.

Andrej Kurkow betont eingangs, dass es in der Ukraine stets eine Tradition der

russischsprachigen Literatur gab, wie Isaak Babel oder Nikolaj Ostrovskij, zu der auch er

selber sich bekennt. Er hatte nie ein Problem mit seiner Identität, obwohl man ihm immer

wieder sagte, wenn er ein ukrainischer Schriftsteller sein wolle, müsse er Ukrainisch

schreiben. Doch er wollte sich kulturell nie assimilieren, auch nie seine russische

Muttersprache aufgeben, obwohl er sich in Russland als Fremder fühlt, doch emotionell

empfindet er sich als Ukrainer.

Marius Ivaškevičius hat es als litauischer Autor in dieser Hinsicht einfacher: Er

schrieb immer Litauisch, obwohl er teilweise weißrussische Wurzeln hat. Doch auch in

Litauen gab es in der Vergangenheit Bestrebungen, die litauische Sprache als wichtiges

Instrument für die Findung der nationalen Identität zu betrachten – in diesem Sinne galt es als

unpatriotisch, polnisch oder russisch zu sprechen. Obwohl das, gerade in Hinblick auf die

Literatur, oft geradezu absurd anmutet, wie Ivaškevičius am Beispiel des polnischen

Nationaldichters Adam Mickiewicz darlegt. Um Mickiewicz streiten Weißrussen, Litauer und

Polen, er ist im heutigen Weißrussland geboren, schrieb Polnisch und fühlte sich der

polnischen Kultur zugehörig, doch sein berühmtes Versepos „Pan Tadeusz“, gern als

polnisches Nationalepos bezeichnet, beginnt mit der Zeile: „Litauen, mein Vaterland“.

Ivaškevičius: „Wir haben unser sprachliches Erbe und den alten litauischen Staat, aber in

diesem wurden immer schon verschiedene Sprachen gesprochen. Jiddisch, Polnisch, Russisch.

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Litauisch als allgemeine Sprache gab es genau genommen nicht. Im kulturhistorischen und

politischen Kontext sind die anderen Sprachen heute verschwunden, unsere Kultur ist dadurch

ärmer geworden.“

Volha Hapeyeva weist auf die schwierige Lage der belarussisch schreibenden Autoren hin,

die gegenüber der von den offiziellen Stellen unterstützten russischen Literatur stark

benachteiligt werden. Die Literatur in Belarus ist gespalten in eine russischsprachige, die von

den offiziellen Stellen unterstützt und gefördert wird, und eine belarussische, die nach

Möglichkeit unterdrückt wird.

Volha Hapeyeva: „Früher konnten wir noch Lesungen in Buchhandlungen abhalten, das wird

nun oft verboten, wir haben also im eigenen Land große Probleme, unsere Literatur bekannt

zu machen.“

Die belarussischen Autoren bemühen sich daher verstärkt um Zusammenarbeit mit dem

Ausland, um auf diesem Weg ihre Literatur zu verbreiten. Das mag auch ein Grund dafür

sein, dass die meisten belarussischen Autoren gleichzeitig auch Übersetzer sind. Ein

besonderes Problem, so Volha Hapeyeva, liegt darin, dass die Mehrheit der Bevölkerung von

Belarus Russisch und nicht Belarussisch spricht und dass der Buchmarkt mit billigen

russischen Büchern überschwemmt wird, während die Verleger belarussischer Werke mit

großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, nicht zuletzt finanziellen, die schon beim Vertrieb

beginnen.

Ganz anders ist die Situation in Polen, das seit Jahren so etwas wie eine

Brückenfunktion zwischen den deutschsprachigen Ländern und Ländern wie der Ukraine,

Belarus, aber auch Litauen erfüllt: Viele Werke ukrainischer oder litauischer Autoren

gelangten auf dem „Umweg“ über Polen zu deutschsprachigen Verlagen. Krzysztof

CzyŜewski und das von ihm geleitete unabhängige Kulturinstitut „Pogranicze“ haben sich in

dieser Vermittlungsarbeit große Verdienste erworben.

Es ist schon richtig, so CzyŜewski, dass Polnisch und Deutsch, aber auch Russisch als

weit verbreitete Sprachen die Rolle von „Fenstern“ spielen können, gleichzeitig besitzen sie

jedoch das Potenzial, andere, kleinere Sprachen zu dominieren, was in der Vergangenheit

auch oft der Fall war. Der Sprache kommt auch eine wichtige Rolle beim Aufbau der Kultur

und Zivilisation zu. Eine Sprache hat in der Regel einen regionalen Charakter, sie ist

einzigartig, und deshalb müssen wir uns bemühen, sie zu erhalten.

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CzyŜewski: „Es ist einfach, sich europäisch zu geben, wenn man sich auf ein gemeinsames

Erbe beziehen kann: Wir alle schätzen die Beatles oder Mozart, aber kaum einer weiß über

Baranauskas oder Čiurlionis oder andere litauische Autoren und Komponisten Bescheid. Wir

sagen: Europa, ja, wunderbar, aber Litauisch bei uns in der Schule? Niemals!“

Daneben wolle er noch über eine andere Sprache, eine Metasprache, reden: Die Sprache des

Dialogs, die uns leider verloren ging. Nach CzyŜewski ist es die wichtigste Aufgabe der

Kulturvermittler, diese verlorene Sprache wieder zu entdecken. Eine Art Parallelsprache,

Worte, die nicht gegen andere eingesetzt werden, sondern dem Dialog dienen. Als Beispiel

nennt er Paul Celan: Er schrieb Deutsch, auch nach dem Holocaust, obwohl er sehr gut

Rumänisch, Ukrainisch und Französisch sprach. Dennoch entschied er sich für Deutsch, weil

er diese Sprache nach allem, was geschehen war, wieder neu beleben wollte.

Jemand aus dem Publikum richtet an CzyŜewski die Frage, welche Rolle die Literatur

beim Prozess des nation building in Mittelosteuropa spiele.

Literatur, so CzyŜewski, war immer wichtig für diesen Prozess, das gilt auch heute

noch, wie das Beispiel von Belarus zeigt. In anderen Ländern, wie etwa Polen oder Litauen,

sei man schon einen Schritt weiter, dort könne man neben nation building auch über

civilisation building nachdenken. Natürlich gebe es in den Ländern Ostmitteleuropas auch

Rückschläge in diesem Prozess: Alte Ideologien tauchen wieder auf und schüren Ängste

gegen gewisse Entwicklungen, auch gegen die EU. Bei vielen Menschen werden auch Ängste

wach (oder bewusst geweckt), sie könnten in diesen globalen Prozessen ihre nationale

Identität verlieren, was von manchen Politikern ausgenützt wird.

Volha Hapeyeva weist darauf hin, dass sich das Thema „Nation“ naturgemäß auch in

der Literatur widerspiegelt. „Das Stück, an dem du arbeitest, soll universale Probleme

ansprechen, aber auch einzigartig sein, also relevant für deine Region und gleichzeitig

interessant für andere Leser.“

Ivaškevičius betont den Unterschied zwischen demokratischen oder autoritären

Gesellschaften. In autoritären Gesellschaften ist die Literatur wie eine Polizei, die auf die

verordnete Wahrheit achtet, sie hat nicht nur ästhetische Qualitäten. Manchmal sei er

geradezu eifersüchtig, wenn er in Belarus das riesige Interesse des Publikums an Literatur

sehe. Andererseits könne er sich nicht mehr vorstellen, als Autor in einer autoritären

Gesellschaft tätig zu sein. „Für mich ist die ästhetische Funktion der Literatur wichtiger.“

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Abschließend erläutert Krzysztof CzyŜewski, was er unter Metasprache versteht: Es

geht um Einzelheiten, um einzelne Wörter. Der Name des Kulturzentrums „Progranicze“ zum

Beispiel bedeutet nicht nur „etwas an der Grenze“, sondern auch „innere Grenze“. Innere

Grenzen, wo Leute unterschiedliche Assoziationen, geprägt durch ethnische Herkunft und

Familie, in sich tragen. Dieses Wort war viele Jahre eliminiert aus der Sprache des

Grenzlandes. Wenn man jemanden einen „Menschen des Grenzlands“ nannte, sagte das etwas

Negatives über ihn aus. Jemand, der nicht weiß, wer er ist, eine Mischung. Man musste ein

richtiger Pole, ein richtiger Litauer, Jude oder Deutscher sein. CzyŜewski und seine

Mitstreiter haben versucht, diesem Wort einen neuen Sinn zu verleihen, und das ist auch

gelungen.

CzyŜewski: „Heute sagen die Leute stolz: Ich bin ein Grenzbewohner, ich habe litauische

Wurzeln, ebenso wie polnische oder jüdische. Ohne diesen Begriff ‚Menschen des

Grenzlands’ wären wir nicht, was wir sind. Ohne diesen Begriff wären wir Invaliden, fehlte

uns ein Teil des Körpers.“

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Die Luft der Wörter

Über Sprache und Identität

Marica Bodrožić

Wörter sind Archive des Lebens. Sich an die Wörter zu halten, an das Wort zu halten, ist

immer auch eine Haltung zur Welt, ein Weltwerden, eine Schöpfung. In den Wörtern, ja sogar

im Semikolon – das die Sätze in einen Atemfluss, einen Atemzusammenhang bringt – wohnen

Gedächtnisse.

Der Mensch ist nichts ohne seine Erinnerung. Zum einen braucht er sie wie Brot, um

sich selbst zu erkennen; zum anderen muss er hin und wieder auf sie verzichten und auch im

Unwägbaren gehen. Die Sprache gibt ihm die Macht, sich und andere in Vergangenheit,

Gegenwart oder Zukunft zu sehen. Die inneren Bilder sind dabei wie kleine

Brückenübergänge an die Wörter gekoppelt.

Wo fängt der Fuß des Ichs an, wo die Fingerkuppe der Biografie? Wo enden sie? Welchen

Weg auch immer wir einschlagen, wir kommen um unsere schöpferische Macht nicht herum.

Diese wird uns zwar nicht in die Wiege, aber mit jedem neu erlernten Wort ins innere Gebiet

und dann auch in die eigene Stimme gelegt.

Sprechen ist par excellence ein Werden. Sprache ist stets Bewegung. Sie kann gar nichts

anderes sein. „Bewege Dich, so wirst du schön“, hat einmal der Schriftsteller Peter Altenberg

geschrieben. Nur das, was wir zu sagen vermögend sind, macht uns aus, macht etwas in und

mit uns zu einer Bewegung. Ein neuer Wind zieht in die Lunge ein, ein neuer Wolkenzipfel

Seele, wenn wir auf die Wörter als Waffen verzichten. Und uns nur im Sein bewegen. Das

Ich, die eigene Innerlichkeit sind aber auch nur Randdistrikte eines viel größeren Gebietes,

dem alle Menschen angehören. Auch die Natur wohnt in diesem Menschengebiet, ist

manchmal zuständig für die Stille und Würde der Wörter. Gleichsam wie in einem Wald wirkt

auch in den Buchstaben eine Form von Natur, die sich ihre eigenen Farben und Farbnuancen

ausdenkt. Und den Gebrauch der Wörter zu beschützen sucht. Ist das Ich hart wie Kernseife,

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kann es nur mit Wörtern schrubben, es kann nicht weich sein und verliert den Bezug zum

Inneren.

Liebenden geschieht das bewusste Sein immer von selbst. Wenn man liebt, hat man

keine Hand frei, um mit Steinen zu werfen, man braucht beide Hände, um aus dem Vollen zu

schöpfen. Liebe erträgt man nicht, man lebt sie mit seinem ganzen Wesen und ist dem

Anderen ebenbürtig, hat die gleichen Rechte, den gleichen Genuss, jedenfalls ist die Natur

jeder wahren Begegnung so angelegt. Der Andere braucht nicht nur unseren Respekt, so

erträgt man den Anderen nur. Es ist gegen die Würde des Menschen, dass man ihn nur erträgt.

Jeder Mensch benötigt das Ganze, den offensten Blick, die größtmögliche Zuneigung. Ob als

Individuen oder als Völker, Nationen, Länder, wir brauchen eben die ganze Zärtlichkeit des

Auges, die ganze Aufmerksamkeit: und diese wurzeln nur im Verstehen, im sprachlichen

Zugehen auf den Anderen. Wie kann man auf einen Anderen zugehen, ohne sich selbst

mitzunehmen? Das geht nicht. Das ist keine Bewegung.

Identität ist nichts anderes als die Fähigkeit, sich im eigenen Inneren erinnernd zu

bewegen. Was vermag ein Wesen zu tun, im Leben, für sich, für Andere, wenn es keine

Wörter zu Freunden hat? Wenn es nicht lesen kann, wenn es die eigenen Buchstabenflüsse,

Wörtermoore und Satzseen nicht kennt? Was vermag ein Wesen dann eigentlich überhaupt?

Was ist sein Sagen? Seine Welt? Seine Menschenwiese?

Flüsse, Moore, Seen sind weiche, wenngleich auch unwägbar tiefe Gebiete. Das

eigene Gehen darin will geübt sein – und muss eben auch, wenn die Kieselsteine aufhören, ein

gekonntes Schwimmen werden. Geben wir Anderen die Macht über unsere eigenen Sprach-

und Lebensbewegungen, und beides gehört verfugt zusammen, sind wir vom Urgrund her

gefährdet. Wir können nicht anders als unterzugehen. In Diktaturen ist dieses Phänomen bei

jedem Schritt der Menschen in ihrem Alltag zu beobachten. So sie sich sprachlich der

offiziellen Doktrin, und jede Sprachverordnung ist eine Doktrin, anheimgegeben haben,

verlieren sie die Grundlage ihrer eigenen inneren Balance. Und dann hat das Ich keine eigene

Luft, dann haben die Wörter keine eigene Luft, keine Ich-Luft, keine Herzluft, keine Seeluft,

überhaupt keine Luft. Keinen Atem. Wir haben, so wir unachtsam mit dem Erbe und dem

Archiv der Wörter umgegangen sind, alles abgegeben, was wir je hatten. Uns selbst haben wir

dann abgegeben, weil wir ohne die Wörter niemand sind.

In der sichtbaren Welt haben wir nichts. Es sieht nur so aus, als seien wir hier und dort

Besitzer. Passbesitzer, Hausbesitzer, Adressenbesitzer. Wirkliches Haben bewegt sich aber

nur in der unsichtbaren Welt, wird verwaltet auf einem unsichtbaren Sprachkonto, das

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seismografisch genau all unsere Bewegungen verzeichnet. Wir alle haben nur unsichtbare, nur

unbeweisbare Köfferchen, Wörter, Winde, Wirkungen – wir können sie nur in uns, nur in der

Sprache tragen. Selbst dann, wenn unsere Sprache die reine Stille wäre.

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Sprache und Identität im mehrsprachigen Israel

Joel Walters

„Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“

(Johann Wolfgang von Goethe)

Jeder Beitrag über „Die Macht der Sprache“ in Israel muss, wenn auch nur als

Erwähnung, mit den tiefen Wurzeln von Sprache und Rede in biblischen Quellen und

dem Talmud beginnen. Adams Begegnung mit Gott im Garten Eden, Moses’ verbaler

Totschlag eines Ägypters, der einen jüdischen Sklaven getötet hatte, das

ohrenbetäubende Schweigen von Aaron dem Priester nach dem Tod seiner beiden

Söhne und Dutzende von Aussagen über Sprache als das, was Menschen von anderen

Arten unterscheidet, sind nur Fragmente des Hintergrunds, der notwendig ist, um das

multikulturelle, polyphone Israel von heute zu verstehen. Dieser kurze Beitrag beginnt

mit etwas Demografie und einer Einführung in das Konstrukt der Identität, danach

stellt er drei Arten vor, wie Linguisten Sprache als Fenster zur Identität betrachten:

durch Namen, Pronomen und Diskursmarker.

Die Wiederbelebung des modernen israelischen Hebräisch stand im

Mittelpunkt des Prozesses der Nationenbildung, der 1948 in der Staatlichkeit

kulminierte. Über drei kurze Generationen hinweg gelang es dieser Sprache, die

Muttersprache der meisten Einwanderer als Sprache zur allgemeinen Verständigung

zu ersetzen. Nichtsdestotrotz ist sie heutzutage immer noch die Muttersprache von nur

einer kleinen Minderheit der 7,2 Millionen Einwohner Israels.

Zusätzlich zum Arabischen, das 1,5 Millionen Muttersprachler zählt (1 Million

Muslime, eine halbe Million Juden aus Nordafrika, Jemen und Irak, 150.000 Christen

und 120.000 Drusen) und zum Russischen (1.000.000 Muttersprachler), gibt es jeweils

mehr als 200.000 englische, rumänische und jiddische Muttersprachler. Eine weitere

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halbe Million ist Muttersprachler in elf verschiedenen anderen Sprachen (Amarisch,

Bukarisch, Deutsch, Dschidi/Jüdisch-Persisch, Französisch, Georgisch, Juhuri/Judeo-

Tat, Ladino, Polnisch, Spanisch und Ungarisch), und es gibt 14 weitere Sprachen mit

5.000 bis 50.000 Muttersprachlern (Armenisch, Bulgarisch, Chinesisch, Ga,

Griechisch, Holländisch, israelische Gebärdensprache, Italienisch, Portugiesisch,

Tagalog, Thai, Tigrigna, Tschechisch, Türkisch). Dies verleiht Israel eine enorme

mehrsprachige Vitalität und macht Hebräisch, auf eine merkwürdige Art, zur

Minderheitensprache innerhalb seiner eigenen Grenzen.

Der folgende Auszug aus einem Dialog zwischen zwei Studierenden ist

bezeichnend:

Nein, ich sage dir, einmal, das ist eine wahre Geschichte, war ich auf dem Weg

zum Haus einer Freundin. Von meinem Haus zu ihrem Haus ist es ein Weg von

20 Minuten, und ich sage dir, ich bin an Leuten vorbei gegangen und habe nur

fremde Sprachen gehört, ich hörte Russisch, ich hörte Französisch, ich hörte

Spanisch, aber ich hörte kein Hebräisch. Ich kam bei meiner Freundin an und

sagte, „Sag mal, in welchem Staat lebe ich eigentlich?!“ Ich meine, aber auf

der anderen Seite kann man das gar nicht sagen, weißt du was, weil ich

dasselbe vor Kurzem noch zu meiner Schwester gesagt habe und sie zu mir

meinte: „Moment mal, wie kommt’s, dass du nichts über Oma sagst?“ Meine

Großmutter ist Marokkanerin und sie spricht nur Marokkanisch. „Warum sagst

du nichts über Oma?“ – Also, was kann ich tun?

Die Analyse von Identität verläuft durch eine breite Vielfalt von Disziplinen, sie speist

sich aus der Psychologie, Soziologie, Anthropologie, Politologie, Geschichte, Literatur

und anderen mehr. Ihre Anwendung ist ebenso bedeutsam für die Welt von

Therapeuten wie von Politikern. Der hier gewählte Ansatz setzt voraus, dass

sprachliche Formen wie Namen von Personen und Orten, Pronomen („wir“/„sie“;

„uns“/„euch“) und Diskursmarker (englisch: „well“, „ya’ know“, „okay“, „sure“;

deutsch: „also“, „ja“, „doch“) Fenster zu kollektiven, interpersonalen und

individuellen Identitäten sind. Der Rest dieses Beitrags wird versuchen, diese Fenster

zu öffnen und manche der Arten zu zeigen, wie Sprache Identität ausdrückt.

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1. Sprache und Gefühl in israelischer Sprache: Namen, Orte und pulsa

d’nura

Vor einem binationalen Projekt zur Identität von früheren sowjetischen jüdischen

Einwanderern nach Israel und Berlin (1997–2000) führten wir eine explorative Studie

mit Tatiana, einer 18-jährigen russischen eingewanderten Erwachsenen durch, die

1989 im Alter von 14 Jahren mit ihren Eltern von Leningrad nach Israel kam. Wir

fassten die Identität des Mädchens als ausgeprägt russisch, mäßig israelisch und

negativ jüdisch zusammen. Ihre sich entwickelnde russisch-israelische Identität fand

den deutlichsten Ausdruck in ihrem Sprechverhalten (Personen- und Ortsnamen,

Begrüßungen und Diskursmarker). Diese linguistischen Indikatoren deckten sich nicht

immer mit den Einstellungen, die sie inhaltlich in Interviews und auf

Einstellungsfragebögen äußerte. Sie war Tanya aus Petersburg für ihre

russischsprachigen Freunde, aber eine sozial distanziertere Tatiana aus Leningrad für

ihre gebürtig israelischen Altersgenossen. Sie verspottete die israelische Kultur, sprach

aber umgangssprachliches Hebräisch genau wie ein gebürtiger Israeli. Das binationale

Projekt mit Arbeitsgruppen der Bar-Ilan Universität und der Freien Universität Berlin

zeigten die gleiche Komplexität im Wiedergeben multidimensionaler jüdischer,

russischer, deutscher und israelischer Identitäten – manchmal hinsichtlich der

Nationalität, manchmal politisch, weniger oft religiös und immer als Einwanderer.

Namensänderungen bei israelischer Identität

Israel ist sowohl Goldmine als auch Katastrophengebiet für die Onomastik, die

Wissenschaft der Namen. Viele Einwanderer wählten in den frühen 1950ern

hebräische/israelische Familiennamen. Namensänderungen waren sogar verpflichtend

für diejenigen, die in den Staatsdienst eintraten. Aus der Perspektive der sozialen

Integration kann die Namensänderung sowohl als Ablehnung der Vergangenheit als

auch als Zeichen der Assimilierung verstanden werden, wie hier ein Interview mit

einem kürzlich eingewanderten Russen illustrieren soll:

I wollte, wollte wirklich meinen Namen ändern, meinen Familiennamen wie

auch meinen Vornamen. Aber, äh … Ich wollte mir einen israelischen Namen

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geben, Arik Barak. Arik Barak. Wirklich schön. Barak, das ist … ja, das ist ein

richtiger israelischer Name … ja, ich wollte mehr verbunden sein mit … mit

dem Land …

[Letztendlich weigerte sich seine Frau].

Aber Namensänderungen erschweren es, die Genealogie sowie religiöse und ethnische

Distinktionen zurückzuverfolgen, und tragen sicherlich nicht zum Pluralismus bei;

originale Namen sind vielmehr ein wertvoller Teil der israelischen mehrsprachigen

Landschaft. Trotz assimilativer Praktiken unter Immigranten sind Namen

Unterscheidungsfaktoren zwischen aschkenasischen und sephardischen Juden, wie

auch unter christlichen und muslimischen Arabern, Drusen und Tscherkessen. Und

sogar über religiöse Linien hinweg lassen sich Familiennamen wie „Sayag“/„Saiegh“

und „Haddad“ genauso bei christlichen wie bei arabischen und marokkanischen Juden

finden.

Pulsa d’nura

Über Namen von Personen und Orten hinaus hat der öffentliche Diskurs in Israel eine

lange Tradition nur schwer festzumachenden symbolischen Sprechens. Der pulsa

d’nura (ein Fluch aus dem Talmud), der der Ermordung des Premierministers Yitzhak

Rabin 1995 vorausging, war ein sprachlicher Vorfall, der den religiös-säkularen

Konflikt zur gewalttätigen Katharsis brachte. Er brach jährlich jeden November, im

Monat der Gedächtniszeremonien, aus. Im diesem Jahr (2007) übertönten Fußballfans,

viele von ihnen auf dem politischen Schlachtfeld der rechtsgerichteten Arbeiterklasse

zugehörig, die Schweigeminute für Rabin, eine Zeremonie, die vor den Spielen

abgehalten wird. Der Vorfall dominierte die Zeitungen, Talkshows, Webseiten und

endete mit der kollektiven Strafe, dass die Mannschaft zwei ihrer Spiele vor einem

leeren Stadion spielen wird, eine poetische Stille, die scheinbar als Ersatz für das

gedacht ist, was für vor dem Spiel geplant war.

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2. Pronomen der Identität: Wir und sie, uns und euch

Auszüge einer Gruppendiskussion mit acht israelischen arabischen College-

Studentinnen und -Studenten – Mitglieder der größten eingeborenen Minderheit, vier

Männer und vier Frauen Mitte 20 aus Nordisrael – verdeutlichen, wie Pronomen als

Marker für kollektive Identität verwendet werden und zwischen den arabischen

Sprechern und den jüdischen Gesprächsinhalten Grenzen ziehen. Das erste Beispiel

dreht sich um die Arabischkenntnisse der jüdischen Bevölkerung. Es wurde von der

Gesprächsleiterin, auch eine israelische Araberin, als Gesprächsthema eingeführt. Sie

fragte: “Ist es wünschenswert, dass die Minderheitensprache (Arabisch) von der

Mehrheit (Juden) gesprochen wird? Was können sie durch dieses Wissen gewinnen?”

Die Diskussion führte zum Thema Arabistik an jüdischen Schulen (anhand der Fragen,

ob die Teilnehmer der Gruppendiskussion wollten, dass jüdische Schulen Arabisch

lehrten, und welches Niveau der Sprache sie erreichen sollten).

N: Wir, als in Israel lebende Araber, wenn Juden anfingen, perfektes Arabisch zu

sprechen, was würde es uns nützen?

Q: Es gibt das Sprichwort „Wer nur London kennt, kennt London nicht“. Lass sie

weiter Hebräisch sprechen, wo ist das Problem?

Eine entgegengesetzte Meinung aus der gleichen Gruppendiskussion kam bei der

Erörterung der Frage, ob es weiterführende Schulen geben sollte, die auf Arabisch

unterrichten, zur Sprache. Die folgende Antwort wurde auf das Argument eines

Teilnehmers gegeben, dass israelische Araber niemals richtig probiert hätten, auf

Arabisch in weiterführenden Schulen zu lernen, und dass sie es versuchen sollten.

R: Ich denke, dass wir noch nicht wirklich klar gemacht haben, dass wir in

einem jüdischen Staat und nicht in einem anderen Staat leben. Das bedeutet,

dass jeder Brief, den du bekommst, auf Hebräisch sein wird. Wenn wir das

Hebräische nicht benutzen, sind wir nicht in der Lage, uns mitzuteilen.

S: Aber das ist etwas, das uns aufgezwungen wurde!

R: Keiner kann dich davon abhalten, mit deinem Freund arabisch in einer

Vorlesung zu sprechen, aber da es eine hebräischsprachige Universität ist, wo

alle Dozenten Hebräisch sprechen, solltest du Hebräisch sprechen.

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Und im folgenden Beispiel aus der großen Minderheit russischer Einwanderer betonen

eine Differenzierung zwischen „wir“ und „mein“ und die Wiederholung der

Bezeichnung der russischen Identität die Leidenschaft des Sprechers für seine

russische Kultur.

… weil wir aus der russischen Kultur kommen, das … da kann man nichts

machen … es wird meinem Zionismus, meinem Zionismus nicht helfen, wir

sind Russen, weil wir mit der russischen Kultur aufgewachsen sind, und ich

denke, das wird bis ans Ende unseres Lebens so bleiben.

3. Diskursmarker: kleine Fenster zu den Intentionen der Sprecher

Jede Sprache enthält zwischen 50 und 100 kleine Wörter, die, überall in die

gesprochene Rede eingestreut, eine Vielzahl von Funktionen übernehmen. Sie zeigen

etwa Themenwechsel an, verbinden Sätze miteinander, strukturieren die Konversation,

stellen – auf psycholinguistischer Ebene – Beziehungen zwischen Sprecher und

Zuhörer her, zeigen Affekt und Gefühl und geben dem Sprecher Zeit, den

Gesprächsfluss während seiner Entstehung zu planen und zu überwachen. Der

folgende Auszug stammt von einem 45-jährigen Biologen aus Moskau, der in einem

Interview zwei Studierenden der Universität seine Einwanderungsgeschichte erzählt.

Seine Rede ist voller Affekt, hier hervorgehoben durch die begleitenden

Diskursmarker.

[1] ja, ich weiß, er war nebenbei bemerkt war äh obwohl er war in meinem

Alter,

[2] er war mein erster Hebräischlehrer, in Hebräisch

[3] und auch mein erster Lehrer in jüdischen Fächern,

[4] und ich wu-wur-wurde nicht zu einem äh religiösen Mann

[5] vielleicht hatte ich nicht genug Kraft

[6] aber äh nicht wie Barux,

[7] äh, aber ah, dennoch, aber ich [bin], wie sie es nennen, traditionell,

[8] und das ist nebenbei bemerkt wegen äh Barux.

[übersetzt aus dem Hebräischen]

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Bemerkenswert in dem oben stehenden Auszug ist der defensive Kommentar im

Segment [5], gekennzeichnet durch den Diskursmarker „vielleicht“, und der repetitive,

stotterhafte Gebrauch von „aber“ und „dennoch“ in Segment [7], in dem der Sprecher

seine Identität benennt. Der Gebrauch von „nebenbei bemerkt“ in Segment [8],

begleitet von der Anerkennung, die er seinem ersten Lehrer zukommen lässt, könnte

Ambivalenz anzeigen, möglicherweise einen Konflikt zwischen seiner Identität und

seiner Dankbarkeit.

Linguisten ringen darum, die strukturellen, funktionalen und affektiven

Eigenschaften dieser ‚kleinen Wörter’ auszumachen und bieten mehr als zwanzig

verschiedene Begriffe zur Bezeichnung einer Klasse von weniger als 100 Elementen

an, darunter Diskursmarker, Diskursmodifikatoren, Kursmarker, Satzverknüpfer,

Konjunktionen; pragmatische Marker, focus particles, Beiworte, Interjektionen,

Vokative, Mittel mit Illokutionspotential, Absicherungen, Adverbialmodifikatoren;

Füllworte, Sprachkompetenzmarker; Umgangssprache und slovaparasita (russisch).

Der Großteil dieser Begriffe zeigt eine gewisse sprachliche Hilflosigkeit in der

linguistischen Wissenschaftsprosa.

Koda

Und am Ende dieses kurzen Beitrags wäre es intellektuell unehrlich, zu vermeiden, die

Macht anzusprechen, die der Holocaust immer noch über die israelische Bevölkerung

hat. Die Anrede als „Nazi“ kommt von Zeit zu Zeit in den höchst schmerzlichen

Zerwürfnissen vor – zwischen Juden und Muslimen, zwischen Einwanderern und im

Land geborenen Bürgern, zwischen Religiösen und Säkularen. Und ein Beispiel wie

„mashtap“ (Kollaborateur), ein hebräisches Beiwort, das als Beleidigung unter

Arabischsprechenden benutzt wird, ist eine subtile, aber schmerzvolle Erinnerung an

den Gebrauch des Wortes „Judenrat“ von Juden.

Mehrsprachigkeit war von den Gründern des Staates nicht zwingend

vorgesehen, als sie 1948 sowohl Arabisch als auch Hebräisch als Amtssprachen des

Landes gesetzlich festhielten. Auch dachten die jüdischen Flüchtlinge, die aus Europa,

Nordafrika und dem Mittleren Osten kamen, kaum, sie würden an einen Ort kommen,

der für seinen Pluralismus bekannt wäre. Aber die Jahre seit der deutschen ‚venda’

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weisen einen unübertroffenen demografischen Wandel von Einwanderungs- und

Geburtenraten bei Muslimen und religiösen Juden auf, weit über die der säkularen

Bevölkerung hinaus – zu einem Punkt, dass Israel heute als eine Nation gesehen

werden kann, die darum ringt, eine sehr komplexe kollektive Identität zu klären.

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Die Macht der anderen Sprachen

Zum Einfluss multilingualer Medien

Suliman Aktham, Astrid Frohloff, Sybille Golte, Oliver Hahn

Moderation: Peter Koppen

Die folgenden Redebeiträge entstammen einem Podiumsgespräch auf dem Festival „Die

Macht der Sprache am 15. Juni 2007 in Berlin in der Akademie der Künste.

Sybille Golte: Wir bei der Deutschen Welle setzen auf Veränderungen und Dialog. Deshalb

gehen wir in Krisenregionen, deshalb ist die regionale Sprache wichtig, um die Leute

authentisch anzusprechen und nicht auf Englisch, denn damit erreichen wir nur eine

Minderheit. Englisch ist zwar in Asien weit verbreit, aber wir senden in Mandarin, Hindi oder

Urdu, also den Regionalsprachen, nicht weil wir Propaganda machen, sondern weil wir einen

Dialog führen wollen.

Astrid Frohloff: Durch Al-Dschasira ist eine große Erleichterung entstanden, als endlich ein

überregionaler Sender technisch empfangen werden konnte, der über die Grenzen hinaus

informierte. Das war ein Pendant zu den anderen Auslandssendern wie CNN und BBC, die

aber keine so hohe Glaubwürdigkeit in diesem Teil der Welt haben, wie man sich leicht

vorstellen kann. Da funktioniert Al-Dschasira als Ausgleich.

Suliman Aktham: Es ist nicht damit getan, dass man das Geld hat und die Sprache spricht.

Wir haben schon viel in der Redaktion diskutiert, aber die englische Sprache in der Redaktion

zwingt mich, mir andere Gedanken zu machen. Das fängt bei Definitionen von Begriffen an.

Aber wir richten uns an die Leute in ihrer Sprache, bis hin zum Kampf gegen die westliche

Agentursprache, die man ja kennt: Iran ist automatisch Hisbollah.

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Suliman Aktham: Ein Journalist ist nicht nur eine Informationsquelle, sondern auch einer,

der die Dinge interpretiert, ihnen einen Sinn gibt und sie in einen Rahmen stellt.

Fragt mehr nach den Gründen und was etwas bedeutet! „Die Demonstranten haben

den Zaun überwunden.“ Das ist alles. Welchen Zaun? Wo? Warum Gewalt? Und keiner fragt

nach, was das heißt. Aber ohne Hintergrund ist das eine Null-Information.

Sybille Golte: Auch sprachlich hat man vorsichtig zu sein. Man muss immer seine Quellen

benennen, z. B.: „Dieses Bild stammt vom amerikanischen Militär für die Öffentlichkeit.“

Oder: „Nach Angaben des US-Militärs hat sich dies und jenes an jenem Krisenpunkt

ereignet“. Als Journalist ist man nicht in der Lage, die Wahrheit herauszufinden; das ist im

Irak-Krieg ganz deutlich.

Oliver Hahn: Aber als Journalist muss man sich, bei allen Zeit- und sonstigen Zwängen, über

jedes Wort Gedanken machen. Was bedeutet „gezielte Tötungen“ und sind alle „Terroristen“

wirklich Terroristen? Oder vielleicht doch „Rebellen“ oder „Freiheitskämpfer“? Wegen des

Zeitdrucks gibt es natürlich immer wieder Fehler, und dass beim 11. September auch im

deutschen Journalismus so viel schief lief, ist auch klar, wegen des Zeitdrucks. Aber erfahrene

Kriegsberichterstatter wissen damit umzugehen. Über die Sprache schleichen sich spezielle

Ansichten ein, die man als Hörer oder Leser eventuell nicht erkennt.

Sybille Golte: Da gibt es etwas, das mir sehr aufstößt, Bilder im Internet, auf denen

Menschen enthauptet werden – und alle Journalisten reden von „Hinrichtungen“. Dieses Wort

enthält immer noch die Wurzel „Recht“, aber es handelt sich doch um Ermordungen. Da muss

man die Sprache überwachen: Welche Klischees diese transportiert. Man soll sich nicht selbst

zensieren, aber stark kontrollieren.

Oliver Hahn: Wie bezeichnet man Attentäter? Das hängt natürlich von der Perspektive ab: In

vielen arabischen Medien werden sie als „Märtyrer“ bezeichnet, weil man einen anderen,

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religiösen Hintergrund hat. Aber in westlichen Ohren klingt das sofort Partei ergreifend.

Deshalb sind auch Al-Dschasira Vorwürfe gemacht worden, einseitig zu berichten. Bei all

dem – und dem Kuschelwort „Dialog“ – gibt es auch die Kehrseite des Kontexts. Medien

arbeiten immer in einem kulturellen und damit sprachlichen Kontext. Wenn ein arabischer

Nachrichtensender einen Kunstbegriff für Selbstmordattentäter erfinden würde, würde er

nicht mehr mit der Sprache seines Zielpublikums arbeiten. In unserem westlichen kulturellen

Kontext heißt „Märtyrer“ etwas religiös völlig anderes. Häufig findet man keine

Übersetzungsäquivalenzen, wie man in der Übersetzungswissenschaft sagt. Hier ist

interkulturelle Medienkompetenz von den Journalisten gefordert. Da tun wir auch als

Universitäten zu wenig, und auch als Rezipient muss man eine solche vermittelt bekommen –

vielleicht sogar in Schulen, damit man die Kontexte unterscheiden kann.

Suliman Aktham: Das ist aber ein Konfliktfeld. Der Westen nennt jeden Freiheitskämpfer

einen „Terroristen“, und uns wird vorgeworfen, alle Selbstmordattentäter als „Märtyrer“ zu

bezeichnen.

Die arabischen Sender haben immer von einem „verhassten Feind“ gesprochen – es

gibt aber gar keinen geliebten Feind, das gibt es nicht. Aber was mich unruhig macht, ist, dass

im Westen diese Sprache zurückkehrt, im Rahmen der Political Correctness kommt das

zurück – z. B. „Vergeltungsanschlag“, was heißt das? Und nach welchem Recht gilt die

„Vergeltung“? Wenn ich jemanden auf der Straße umbringe, weil er versucht, mich

umzubringen? In einem Rechtsstaat gibt es keine Vergeltung.

Suliman Aktham: Wenn ein Außenminister sagt, die Anschläge auf deutsche Soldaten sind

ein „feiger Akt“, darf man diese Sprache nicht übernehmen. „Sogenannter Terrorismus“ sagt

man. Wir nennen ihn „sogenannt“, weil wir ihn nicht als Terrorismus ansehen. Mit

„sogenannt“ sagen wir aber, dass es nicht immer Terrorismus ist, aber sein kann. Uns hat

keiner eine Definition geliefert – und für mich ist immer noch nicht klar, was Terrorismus ist.

Warum sagt man nicht, auch über die UNO, das sind „Angriffe auf Zivilisten“?

Jeder instrumentalisiert das, wie er will. Der Begriff „Antiterrorkrieg“ hat rechtlich gar

keine Bedeutung: Es gibt keinen „Antiterrorkrieg“, so interessant das klingt.

„Vergeltungsanschläge“ gibt’s nicht, „Terrorismus“ per se gibt’s nicht.

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„Eine neue Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit“

Arbeitsansätze der CICEB

Ján Figel

Wir arbeiten für ein Europa, das offen ist für Sprache und Kultur; ich meine damit: offen für

Vielfalt, denn es ist die Vielfalt, die Europa zu Europa macht. Sie prägt uns und schafft eine

Gemeinschaft, die versteht, respektiert und verbindet. Das ist leicht gesagt, doch ist es nicht

so einfach zu erreichen. Aber es ist möglich und es muss auch möglich bleiben in einer Zeit,

in der die Komplexität und Probleme zunehmen. Die Globalisierung ist eine Tatsache und die

Vielfalt wird zunehmend sichtbarer, nicht nur in der Europäischen Union als Gemeinschaft

mit einer wachsenden Zahl von Staaten, sondern in allen Ländern und Gesellschaften.

Ich möchte ein Lob aussprechen für diese Konferenz, die von der Vereinigung der

nationalen europäischen Kulturinstitute in Belgien (CICEB) organisiert wurde. Es ist wichtig,

dass dazu beigetragen wird, Verbesserungen oder Antworten in Bereichen einzubringen, die

nicht nur für die Regionen von Bedeutung sind, sondern für den gesamten Kontinent – ich

würde sagen, für die ganze Welt.

Gestern sprach ich mit Menschen aus der Grenzregion zwischen Brandenburg und

Polen. Es gibt viele gute Beispiele, wie die Vergangenheit durch das Bauen neuer Brücken

überwunden wurde. Das ist eine wesentlich bessere Antwort, als stets an vergangene Kriege

zu erinnern, nun, da wir in einer Gemeinschaft zusammen leben.

Ich möchte die CICEB auch dafür loben, dass sie sich, seitdem ich zu diesem Ressort

kam, stets weiter entwickelt und erweitert hat. Eines der guten Beispiele ihrer Arbeit ist

“Märchen kurz vor Abflug” (“Fairy Tales before Take-off”). Dieses Erzählprojekt, das durch

das Sokrates-Programm unterstützt wurde, fand in internationalen Flughäfen Europas statt.

Die Geschichtenerzähler bekamen enthusiastische Reaktionen von den wartenden Passagieren

und ich bin sicher, dass CICEB weiterhin einfallsreiche und unterhaltsame Wege finden wird,

um Menschen zu motivieren, Sprachen zu erlernen. Mit ihren Aktionen, ihrer

Zusammenstellung und Philosophie steht CICEB für “Einheit in Vielfalt”.

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Die Vielfalt nimmt zu – von 15 zu 25 Mitgliedsstaaten, und es werden mehr werden,

von 11 zu 20 Sprachen, und es werden mehr werden. Wir müssen unsere Einheit stärken,

denn Vielfalt und Einheit sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Aus diesem Grund müssen

wir uns für die Mehrsprachigkeit einsetzen und sie als Weg für die Zukunft sehen, um Einheit

zu verstehen, zu fördern und zu stärken – und die Zukunft beginnt heute oder sogar gestern.

CICEB hat eine Menge konkreter Beiträge geleistet, wie Mehrsprachigkeit in der

Europäischen Union funktionieren kann, und ich möchte dazu gratulieren.

Ihre Aufgabe ist von zentraler Bedeutung für Europa. Ich glaube, sie berührt den Kern

Europas. Es begann mit Kohle und Stahl. Manchmal wird um Energie, Wettbewerbs- oder

andere Wirtschaftsfragen gefeilscht, aber die Menschen diskutieren viel mehr über

unkonkrete und politisch sensible Dinge wie Identität, Sprachen, die Grenzen Europas,

Staatsbürgerschaft, Dinge, die entscheidend für unsere Zukunft und das gegenseitige

Verständnis sind.

In der nun 50 Jahre alten Gemeinschaft – nächstes Jahr feiern wir ihren Geburtstag –

bin ich der erste Kommissar für Mehrsprachigkeit und zum ersten Mal wird Mehrsprachigkeit

auf die politische Agenda gebracht. Ich denke, dass Mehrsprachigkeit dazu beitragen kann

und sollte, dass die Europäische Union zu dem wird, was sie ausmacht: eine friedliche

Koexistenz von Menschen aus vielen verschiedenen Sprachgemeinschaften. Andere Sprachen

zu sprechen und zu lernen, lässt uns offener und toleranter gegenüber der Kultur und

Perspektive anderer werden. Bürger mit guten Sprachkenntnissen sind besser in der Lage, die

Vorteile der freien Ortswahl zu nutzen und in einem anderen Mitgliedsstaat zu leben. Man

kann mit Sicherheit behaupten, dass es ohne Zweisprachigkeit oder Dreisprachigkeit keine

echte Mobilität geben kann. Bei mangelnden Sprachkenntnissen ist die Mobilität

notwendigerweise eingeschränkt.

Das heutige Thema ist ein wichtiges für Europa; es berührt den Kern und das Wesen

Europas. Mehrsprachigkeit trägt dazu bei, Europa zu dem zu machen, was es ist; die

friedliche Koexistenz von Menschen aus vielen verschiedenen Sprachgemeinschaften ist ein

zentraler Bestandteil des Integrationsprozesses. Andere Sprachen zu lernen und zu sprechen,

lässt uns offener und toleranter gegenüber anderen, ihren Kulturen und Sichtweisen werden.

Und Bürger mit guten Sprachkenntnissen sind eher in der Lage, von der Freiheit zu

profitieren, in einem anderen Mitgliedsstaat arbeiten oder studieren zu können. Im Grunde

lässt sich sogar sagen, dass es ohne echte Mehrsprachigkeit keine echte Mobilität geben kann.

Mehrsprachigkeit wirkt auf zwei Ebenen:

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1. Sie bringt die Europäischen Institutionen näher an die Bürger heran. Praktizierte

Mehrsprachigkeit garantiert, dass sich Einzelpersonen, Unternehmen, Organisationen und

andere Einrichtungen in ihrer eigenen Sprache an die Institutionen der EU wenden und

Einblick in die Entscheidungen und Informationen über den EU-

Entscheidungsfindungsprozess erhalten können.

2. Im weitesten Sinn bringt Mehrsprachigkeit auch die Bürger untereinander näher

zueinander. Sie überwindet Barrieren und stellt Verbindungen zwischen Einzelpersonen

und Gruppen her. Unsere Verantwortung ist es, diesen Prozess zu unterstützen, eine

verbesserte Verständigung und Kommunikation zwischen den Bürgern und

Bevölkerungen zu fördern und gleichzeitig ihre kulturelle Identität und sprachliche

Vielfalt zu schützen.

Die Kommission ist der Meinung, dass es für EU-Bürger nicht ausreicht, nur eine einzige

Lingua franca zu lernen. Ein EU-Bürger, der oder die sich darauf beschränkt, eine Lingua

franca zu lernen, wird nicht die interkulturellen Kompetenzen erwerben, die das Lernen einer

Fremdsprache eingebettet in ihren kulturellen Kontext mit sich bringt. Es werden im Rahmen

der heutigen Konferenz ein paar interessante Modelle zu mehrsprachigen europäischen

Staaten diskutiert werden, darunter, wie ich mit Freude feststelle, aus der Slowakei, dem

Land, dass ich am besten kenne. Letzte Woche war ich in der Schweiz – ein Land in der Mitte

Europas, für das wir einen Platz freihalten, wo ich viele interessante Dinge über

Mehrsprachigkeit lernte. Wenn wir klug sind, können wir eine Menge wichtiger Lektionen

sowohl von innerhalb als auch von außerhalb der EU lernen.

“Eine neue Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit”

Im November vergangenen Jahres, am ersten Geburtstag der Barroso-Kommission,

veröffentlichte die Kommission ein Kommuniqué über “Eine neue Rahmenstrategie für

Mehrsprachigkeit”. Zum ersten Mal wurde Mehrsprachigkeit als solche als eine politische

Linie definiert – was die Bedeutung unterstreicht, die ich dieser Angelegenheit beimesse,

besonders im Hinblick auf die Phase nach der Erweiterung. Die Strategie legt den weiteren

Weg fest und schlägt neue Maßnahmen vor, die sowohl von der Kommission als auch von

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den Mitgliederstaaten umgesetzt werden sollten. Ich werde nun in wenigen Worten den

Kontext beschreiben, in dem die Strategie wirken wird.

Zuallererst haben wir die Angelegenheit der Mehrsprachigkeit in den Institutionen der

Europäischen Union. Die Europäische Union wird Gesetze verabschieden, die für ihre

Bürger, Unternehmen und Gerichte direkt verbindlich sein werden. Das bringt die

Verantwortung mit sich, allen Bürgern zu ermöglichen, mit ihren Institutionen in einer

Sprache zu kommunizieren, die sie verstehen und ebenso Gesetze in Sprachen zu

veröffentlichen, die die Bürger verstehen. Das wäre unmöglich zu erreichen, ohne ordentlich

ausgebildete Konferenzdolmetscher und Übersetzer. Die Kommission kooperiert sehr eng mit

Universitäten, um sicherzustellen, dass berufsbezogene Ausbildung von höchster Qualität

stattfindet.

Der zweite der drei Bereiche betrifft die mehrsprachige Wirtschaft. Die Bedeutung

von Sprachen und Mehrsprachigkeit für die europäische Wirtschaft wird oftmals nicht

vollständig erkannt. Das jährliche Budget mancher unserer Sprach- und Kulturinstitute

beträgt mehrere hundert Millionen Euro. Ganz zu schweigen von all den anderen

sprachbezogenen Wirtschaftszweigen wie Dolmetschen, Übersetzen, Redigieren,

Terminologie, Sprachtechnologien etc. Die Sprachwirtschaft ist ein nicht zu unterschätzender

Arbeitgeber und ein bedeutender Faktor in der Wirtschaft der EU. Dazu kommt der

Tourismus, der zunehmend mit Sprachen zu tun hat.

Der dritte Bereich ist der bei weitem umfassendste – der, in dem wir versuchen, eine

mehrsprachige Gesellschaft zu schaffen. Aktiv mehrsprachige Gesellschaften sind von

zentraler Bedeutung für die Zukunft der Europäischen Union und ermuntern alle Bürger dazu,

während ihres gesamten Lebens eine Reihe von Sprachkenntnissen zu erwerben und

anzuwenden.

Die Europäische Kommission arbeitet auf Mehrsprachigkeit in der Gesellschaft auf etlichen

Wegen hin:

• An erster Stelle gibt es Förderprogramme;

• dann gibt es unseren Kooperationsprozess mit den Mitgliedsstaaten namens “Bildung und

Ausbildung 2010”, der Ziele, Maßstäbe und regelmäßige Berichte beinhaltet und der sehr

wirksam den Fortschritt in den Mitgliederstaaten vorantreibt;

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• sowie, drittens, den Aktionsplan der Kommission zur “Förderung des Sprachenlernens

und der Sprachenvielfalt”.

Die Förderprogramme

Ich habe bereits die Sokrates-Förderung für das CICEB-Projekt “Märchen kurz vor Abflug”

als Beispiel für ein innovatives und attraktives Projekt erwähnt, das die Kommission

unterstützt. Tatsächlich investiert die Europäische Kommission durch die Sokrates- und

Leonardo-Programme über 30 Millionen Euro im Jahr in praktische Projekte, die die

Begeisterung von Sprachschülern und ihren Lehrern wecken sollen (Schüleraustausche,

Sprachassistenzen, Lehrerfortbildungen, bewusstseinsbildende Maßnahmen etc.). Ganz zu

schweigen von den enormen Investitionen in die Mobilität durch Erasmus, die

Jugendprogramme und Städtepartnerschaften. Mobilität ist Europa in Bewegung. Sie ist ein

Schlüsselfaktor, um Menschen dazu zu bewegen, ihre Nachbarn kennenzulernen und ihre

Sprachen zu lernen – erinnern wir uns an das Ziel “1 + 2” Sprachen für alle EU-Bürger.

Mobilität wird daher für die Europäische Kommission beim neuen Programm für

Lebenslanges Lernen, das 2007 starten wird, weiterhin hohe Priorität haben.

“Bildung und Ausbildung 2010”

Hinsichtlich unserer Arbeit mit den Mitgliederstaaten im Rahmen des Prozesses zu “Bildung

und Ausbildung 2010” wünschen sich unsere Staatsoberhäupter, dass die Union “bis zum Jahr

2010 die wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaft der Welt” werden

soll. Außerdem wollen sie, dass “Europas Bildungs- und Ausbildungssysteme bis 2010 ein

weltweiter Wertmaßstab” werden. Zusammen mit den Mitgliederstaaten brachten wir eine

Gruppe nationaler Experten aus dem Sprachbereich zusammen. Die Expertengruppe kam

darin überein, zusammenzuarbeiten:

• um politische Vorgaben und Verfahren zu vergleichen und

• um von guten Beispielen in anderen Mitgliedsstaaten zu lernen.

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Diese Gruppe hat sich die letzten Jahre hindurch regelmäßig getroffen und den

Mitgliedsstaaten eine Reihe von Empfehlungen zur Verbesserung von Sprachfähigkeiten und

-leistungen ausgesprochen. Dazu gehörte:

• das Bewusstsein für die Bedeutung von Sprachenvielfalt zu fördern,

• klar formulierte Ziele für den Sprachunterricht vorzugeben,

• transparente Zertifizierungssysteme basierend auf den Maßstäben des Gemeinsamen

Europäischen Referenzrahmens zu schaffen und

• sicherzustellen, dass die allgemeine Bildung regionale sowie Minderheiten-, Nachbar-

und Migrantensprachen berücksichtigt.

Aktionsplan zur “Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt”

Im Aktionsplan zur “Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt” verpflichtete

sich die Kommission zu 45 Maßnahmen auf der europäischen Ebene zwischen 2004 und

2006. Er beschrieb drei breit gefächerte Aktionsfelder, die wir für entscheidend erachten:

• Erstens die Vorteile des Sprachenlernens auf alle Bürger ausweiten (von

frühkindlicher Spracherziehung durch die Schulzeit bis zur Erwachsenenbildung);

• zweites die Qualität des Sprachunterrichts verbessern und

• drittens durch Verbesserung des Sprachbewusstseins durch die Medien und der

Verbesserung der Möglichkeiten zum Sprachenlernen ein sprachenfreundlicheres

Umfeld schaffen, das alle Sprachen einbezieht. Zur Implementierung des

Aktionsplans finanzierte die Kommission mehrere strategische Studien und eine Reihe

von wichtigen Konferenzen zu Schlüsselthemen des Sprachenlernens. Diese

behandelten CLIL, regionale und Minderheitensprachen, Sprachen für Schüler mit

Behinderungen, Lehrerausbildung, erfolgreiche Methoden zur Motivierung von

Sprachschülern, Hindernisse bei der Mobilität von Sprachlehrern und erfolgreiche

Grundlagen der frühkindlichen Spracherziehung. Des Weiteren traf ich mich mit der

Intergruppe für regionale und Minderheitensprachen des Europäischen Parlaments.

Und im Jahr 2007 wird die Kommission an den Aktionsplan anknüpfen, indem sie in einer

ministerienübergreifenden Konferenz darüber Bericht erstattet, was sie und die

Mitgliedsstaaten bei der Förderung des Sprachenlernens und der Sprachvielfalt erreicht

haben.

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Die Zukunft

Europa hat ein riesiges Potential und ein enormes Erbe in den Händen. Die Zukunft unserer

Arbeit betreffend, möchte ich zwei besondere Bestandteile der Strategie herausstellen.

Große Priorität hat in der nächsten Zukunft der Europäische Indikator für

Sprachkompetenz, der von einer Gruppe von Regierungsexperten der Mitgliedsstaaten

entwickelt wird. Da es keine standardisierte europaweite Erhebung von Sprachkenntnissen

gibt, ist es notwendig, genaue und aktuelle Daten zur Effektivität der verschiedenen

Methoden des Fremdsprachenunterrichts zu sammeln. Das geschieht anhand des Indikators,

der uns den allgemeinen Stand der Fremdsprachenkenntnisse in den Mitgliedsstaaten zeigen

wird und Aufschluss darüber gibt, wie nahe wir dem Ziel sind, Europas Bürger mehrsprachig

zu machen.

In allen Mitgliedsstaaten werden eigens konzipierte Tests zur Sprachkompetenz mit

einer stichprobenartigen Auswahl von Schülern in Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen

durchgeführt. Der Indikator soll die Kenntnisse der Schüler in mindestens zwei

Fremdsprachen neben der Muttersprache messen. Er wird Politikern aller Mitgliedsstaaten,

die den Fremdsprachenunterricht und das Fremdsprachenlernen verbessern wollen,

unschätzbare strategische Informationen an die Hand geben.

Eine andere Priorität in den kommenden Monaten wird die Arbeit der Expertengruppe

„Mehrsprachigkeit“ haben, bei deren Treffen ich den Vorsitz halten werde. Die

Expertengruppe wurde gegründet, um die Diskussion über Mehrsprachigkeit voranzubringen.

Die Mitglieder der Gruppe kommen aus verschiedenen Ländern, sind politisch unabhängig

und repräsentieren nicht die Interessen einzelner Staaten oder Sprachgemeinschaften.

Das erste Treffen findet nächsten Monat statt und die Gruppe hat ein arbeitsreiches

Jahr vor sich. Ich habe ihr vorgeschlagen, eine Reihe von Themen zu berücksichtigen, die

außerhalb des normalen Fokus der Gruppen von Regierungsexperten zu Sprachfragen liegen

und von denen möglicherweise alle europäischen Sprachen profitieren. Dazu gehören

Forschung über Mehrsprachigkeit, Sprachen und die Medien, Wirtschaftssprachen und

Strategien zur Förderung von Spracherwerb. Die Empfehlungen der Expertengruppe werden

am Europäischen Tag der Sprachen 2007 vorgestellt, und ich bin zuversichtlich, dass sie

einen entscheidenden Beitrag zur Förderung und zum Erhalt von Europas reichem

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mehrsprachigen Erbe leisten wird. Die Empfehlungen werden im Anschluss in eine

Ministerkonferenz über Sprachen eingebracht.

Einheit in Vielfalt sagt sich leicht, ist aber nicht so einfach zu erreichen. Das Europa,

das wir uns für uns selbst in der Zukunft wünschen, ist ein Europa, das den vielfältigen

Reichtum all seiner Sprachen und Kulturen wertschätzt. Wir müssen die Botschaft vermitteln,

dass die sprachliche Vielfalt der Union eine Stärke ist, auf die wir besonders stolz sind. Wir

müssen Bildungssysteme schaffen, die sprachenfreundlich sind. Mit unser aller Engagement

kann diese Entwicklung erfolgreicher werden.

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Die Globalisierung mit nationalen und regionalen

Identitäten kompatibel machen

Welche Rolle kann das Deutsche dabei spielen?

Georg Boomgaarden, Emil Brix, Gerhard Leitner, Georg Schütte

Moderation: Alfred Eichhorn

Die folgenden Statements stammen aus Podiumsbeiträgen zum Abschluss der

Wissenschaftssektion „Sprachenpolitik“ auf dem Festival „Die Macht der Sprache“ am

16. Juni 2007 in Berlin.

Emil Brix: Die Globalisierung bedeutet, dass man sich auf weniger Sprachen als

Kommunikationssprachen konzentriert. Die Öffnung Ost-/Mitteleuropas hat Deutsch wieder

zu einer regionalen Kommunikationssprache im mitteleuropäischen Raum gemacht. So haben

wir profitiert von dieser europäischen Globalisierung.

Georg Schütte: Wenn wir in der Humboldt-Stiftung die Wissenschaftlerinnen und

Wissenschaftler in Deutschland befragen, nach dem Erfolg ihres Aufenthaltes, wenn diese

Personen ein, eineinhalb Jahre in Deutschland waren, dann stellen wir fest: Das hängt

hochgradig mit der Sprachkompetenz zusammen. Diejenigen, die sich der Mühe unterziehen,

Deutsch zu lernen, die fühlen sich hier auch wohl und die sagen hinterher: Dieser Aufenthalt

war auf der ganzen Linie ein voller Erfolg.

Gerhard Leitner: Bei uns gibt es eher eine Beängstigung oder Verängstigung, unter dem

Druck des Englischen etwas zu verlieren. Da geht dann, ich sage das jetzt als Anglist, die

Möglichkeit oder die Sicht verloren, dass man ja auch dadurch sehr viel gewinnt.

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Georg Boomgaarden: In der EU haben wir natürlich die Notwendigkeit, gemeinsames

Handeln zu organisieren, und gelegentlich müssen wir dafür gemeinsame Worte finden. Und

diese gemeinsamen Worte, die wir finden, die passen in keine Sprache ganz. Wir werden in

internationalen Organisationen immer mit einem Minimalbestand arbeiten müssen – für die

Verständigung. Für die internationale Kultur geht das leider nicht.

Georg Schütte: In anderen Ländern gibt es eine andere Gelassenheit im Umgang mit

Mehrsprachigkeit. Ich glaube, da lohnt es sich hinzuschauen und einiges davon zu lernen.

Emil Brix: Ich glaube, es ist schon für uns ganz gut, ein normales Selbstbewusstsein zu

entwickeln: Sprachpolitik soll nicht unbedingt Nationalitätsstolz herstellen oder das

Abendland retten; aber es soll doch so etwas wie ein wichtiges Merkmal von Gemeinschaft

sein.

Georg Boomgaarden: Pleşu hat auch in seiner wunderbaren Rede eingefordert, dass wir die

Pflicht haben, uns mit größtmöglicher Sorgfalt um unsere eigene Sprache zu kümmern, sie zu

erhalten, ohne sie verknöchern zu lassen, sie zu erneuern, ohne sie zu entstellen. Wenn Politik

hier Wege öffnen kann, Möglichkeiten zur Begegnung, Möglichkeiten zum Lernen öffnet,

dann ist das die beste Sprachenpolitik.

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Integration durch Sprache

Interkulturelle Bildungsförderung in Europa

Hartmut Retzlaff

Der folgende Beitrag ist die Zusammenfassung eines Vortrags, der auf der Konferenz

„Integration durch Sprache – Bildungspolitische Gesichtspunkte“, veranstaltet vom Goethe-

Institut am 10./11. Mai 2007 in Rom, gehalten wurde.

In den letzten Jahren haben sich die Mehrsprachigkeit der künftigen Bürger Europas wie auch

die Integration von Migrantenkindern als zwei zentrale Fragestellungen im europäischen

Bildungswesen herauskristallisiert. Mit beiden Themen sind Schulen und Lehrer, aber auch

andere Bildungsträger täglich konfrontiert.

• Obwohl Mehrsprachigkeit, als wesentliches Element der europäischen Integration,

eine zentrale europäische Forderung an die schulische und außerschulische Bildung ist

(Lissabon-Prozess), bleibt sie im einzelnen nationalen Kontext vielfach ein Desiderat,

dessen Umsetzung in der Realität auf vielfältige Hindernisse stößt, die es kreativ zu

überwinden gilt.

• Integration von Migrantenkindern: Die offensichtliche Benachteiligung dieser

schulischen Teilpopulation (Delphi-Studie 1996–1998, PISA-E-Studie) widerspricht

nicht nur dem Gebot sozialer Gerechtigkeit, sondern beraubt die Gesellschaft

wesentlicher kultureller und intellektueller Ressourcen; diese sozial- und

bildungspolitische Problematik ist von gesamteuropäischer Brisanz.

Die Gebrauchsregeln der Sprache erschließt sich das Kind im Erwerb der Regeln, die seine

alltäglichen Verrichtungen präjudizieren. Sprachliches und praktisches Lernen sind

untrennbare Komponenten der psycho-physischen Entwicklung des Individuums. Die

kindliche und jugendliche Entwicklung sind also sprachlich verfasst.

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Nimmt man nun diesen Grundeinsichten die Erkenntnis hinzu, dass sozial prekäre

Verhältnisse in den städtischen Vierteln mit starkem Migrantenanteil Diskrepanzen zwischen

Selbst und Selbstvorstellung evozieren, ergibt sich zwingend, dass die Reaktion auf die bei

sich selbst festgestellten Kompetenzdefizite, fehlende Anerkennung und eigenes Ungenügen

das Individuum vor eine kritische Alternative führt:

• Entweder erwirbt es kulturelle oder attitudinale Kompetenzen bzw. verfügt über sie,

um durch Lernen oder Anpassung die eigenen Versagenserlebnisse zu überwinden,

• oder aber es kompensiert diese Erlebnisse durch leere Selbstbehauptung und

aggressives Auftrumpfen.

Ist letztere Lösung gewaltindiziert, so bedarf erstere eines positiven kollektiven wie

individuellen Identitätsaufbaus. So halten etwa David Peck, Leiter der Moseley School

Birmingham, oder Helmut Hochschild, Interims-Rektor der Neuköllner Rütli-Schule und jetzt

Schulrat in Neukölln, diesen Aufbau von positiver Identität für unabdingbar für jede

pädagogische Intervention. Auf der Konferenz des Goethe-Institut vom 10./11. Mai 2006 in

Rom äußerte sich David Peck folgendermaßen:

“Wenn ein junger Mensch die Schule betritt und diese als feindseliges Umfeld wahrnimmt,

wird er sich eher aufs Überleben konzentrieren als auf Erfolge. […] Wenn ein junger Mensch

die Schule betritt und diese als Umgebung wahrnimmt, wo seine Ethnie, sein Glaube, die

Sprache und Kultur seines Elternhauses mit Respekt behandelt werden, kann er sich auf

Erfolge konzentrieren.“

Und von Helmut Hochschild finden sich im „Tagesspiegel“ vom 28.10.2006 folgende Zitate:

„Die Schüler wissen aber auch, dass sie bei sich selbst anfangen müssen.“

„Die große Diskussion um die Schule hat zu einer Welle der Hilfsbereitschaft geführt,

die auch viele gute Ideen in die Schule spülte. Viele kreative Projekte sind entstanden. Dazu

gehört, dass die Schüler jetzt ihre eigene Kleiderkollektion, die ‚Rütli-Wear’, herstellen, was

in eine eigene Schülerfirma münden soll. Es gibt eine Schülerband. Und endlich auch einen

besseren Kontakt zu der benachbarten Realschule, um gemeinsame Aktivitäten anzustoßen.“

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Nun gibt es auch in Deutschland sog. „Reformschulen“, die auf die skizzierte Situation mit

einer Veränderung ihrer Kernstruktur reagieren, worauf auf der Konferenz des Goethe-

Instituts in Rom auch Rudolf Messner von der GhK-Universität Kassel hingewiesen hat:

„Deutlich ist zu spüren, dass sich die Institution von einer ‚Belehrungsanstalt’ in Richtung

eines ‚Lern- und Erfahrungsraumes’ zu verändern versucht.“

Dies bedeutet aber ein verändertes Anforderungsprofil, dem sich Lehrer in einer veränderten

Schulwirklichkeit stellen müssen, da es über die Erkenntnis der objektiven Notwendigkeiten

hinaus auch des subjektiven Willens bedarf, diesen Notwendigkeiten gerecht zu werden.

Was benötigen also Lehrer, um ihren Unterricht weiterzuentwickeln? Fortbildung

stellt darin nur einen Baustein dar, der nicht unabhängig von anderen Bedingungen der

Unterrichtsentwicklung wie z.B. Kooperation, Schulleitungshandeln etc. zu betrachten ist.

Das rückt das Augenmerk allerdings dann weniger auf unmittelbare Wirkungen (etwa von

Fortbildung) als vielmehr auf effektive (schulinterne und -externe) Prozesse.

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Sprachenschutz in Frankreich und Deutschland

Beiträge zu einer Podiumsdiskussion

Jean-François Baldi, Jean-Claude Crespy, Jutta Limbach, Jürgen Trabant

Moderation: Maik Meuser

Die folgenden Beiträge stammen aus einer Podiumsveranstaltung, die am 6. Juni 2007 im

Goethe-Institut München im Rahmen des Projekts „Die Macht der Sprache“ in Kooperation

mit dem Deutschen Sprachrat zu Fragen politischer Eingriffs- und Gestaltungsmöglichkeiten

im Feld des Sprachgebrauchs veranstaltet wurde.

Jean-François Baldi: Wir haben in Frankreich eine gesetzliche Regelung mit

außergewöhnlichem Charakter. Diese betrifft nicht die französische Sprache an sich, sondern

den Gebrauch derselben. Vorrang hat die Ausdrucksfreiheit, man hat das Recht, jederzeit die

Sprache zu verwenden, die man bevorzugt. Der Gesetzgeber war der Auffassung, dass es

wichtig sei, ein Recht auf die französische Sprache zu schützen. Hier wird die Délégation

Générale à la langue française et aux langues de France tätig. In Frankreich ist in der

Verfassung festgelegt, dass Französisch die Sprache der Republik sei. Dieser Umstand bringt

rechtliche Konsequenzen mit sich. Bei dem Toubon-Gesetz von 1994 handelt es sich um ein

Gesetz zum Gebrauch der französischen Sprache. Es garantiert ihn in bestimmten Bereichen,

z. B. dem Konsum: Vorschrift ist z. B., dass die Produktinformation auf Französisch sein

muss. In Frankreich vertritt man nicht die Auffassung, dass man die Sprache schützen und

fördern müsse, weil es sich um einen Schatz handele, sondern einfach, weil sie ein

Kommunikationsmittel ist. Dieser Gesetzestext ist somit ein Garant demokratischer Rechte

und kann außerdem die Integration von Einwanderern in unserem Land einfacher gestalten.

Wir sind der Meinung, dass die Integration dieser Einwanderer durch die französische

Sprache ermöglicht werden kann – unter Achtung ihrer Muttersprachen.

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Jürgen Trabant: Ich bin eher dafür, dass man die Sprache selbst schützen und pflegen muss.

Der Begriff der Pflege ist mir lieber. Seitdem Kultur sich mit Sprache beschäftigt, wird sie

gepflegt. Es ist der alte Begriff der cura linguae, etwas, was den Humanisten am Herzen lag.

Weil Sprache von Menschen gemacht wird, wurde sie immer gepflegt. Mit der Pflege hängt in

der europäischen Kultur auch die Liebe zur Sprache zusammen. Cura linguae und amor

linguae gehen in unserer Kultur zusammen. In dieser Tradition müssen wir sehen, was die

Franzosen machen, und was auch die Deutschen früher taten. Für Bildung und Ausbildung ist

Französisch in Frankreich die einzig legitime Sprache. Man lässt sich die Bildung der Jugend

nicht aus der Hand nehmen. Sprache ist nicht nur Kommunikationsmittel, sondern ein

„trésor“, ein Schatz. Sie ist ein Kulturgegenstand, was in der loi Toubon nur sehr indirekt

anklingt. Neben Kommunikation und Kultur geht es auch um die nationale Identität: „La

langue de la Republique Française et le Français.“ Das ist der Satz in der Verfassung. Es

wurde auch in Deutschland diskutiert, ob man einen solchen Satz in unsere Verfassung

schreiben sollte.

Jutta Limbach: Ich kann für mich sagen, dass der Vorschlag, ins Grundgesetz zu schreiben,

dass in Deutschland Deutsch gebraucht werde, von mir nicht hochgehalten wird. Mag man es

tun, aber ich verspreche mir davon nichts. Ich verstehe wohl aber die Verve an den

Universitäten, dass Wissenschaftler nicht nur Englisch sprechen und schreiben sollten, um

anderswo zitiert und wahrgenommen zu werden, sondern dass man sich in der Wissenschaft

die Fähigkeit erhalten sollte, der Gesellschaft in der Landessprache mitzuteilen, was mit ihren

Steuergeldern erforscht und was an Erkenntnis gewonnen wurde. Es ist aber fraglich, ob dazu

eine Änderung des Gesetzes gebraucht wird.

Jean-Claude Crespy: Das Wesentliche scheint mir zu sein, dass nicht die Sprache als solche

geschützt werden sollte. Es geht nicht um die ‚Reinheit’ der Sprache, sondern es geht in der

loi Toubon um den Schutz des Bürgers. Ich glaube, es ist ein elementares Recht in einer

Demokratie, dass der Bürger weiß, worum es geht; die Sprache ist das dafür wichtigste

Element. Es ist daher nötig, dass neue Begriffe der Technik, der Medizin, der Wirtschaft, der

Informatik usw. in die Sprache übersetzt werden. Eine Sprache muss die Wirklichkeit

wiedergeben können! Wenn sie die Wirklichkeit nicht mehr wiedergibt und man statt ihrer

eine andere Sprache benutzen muss, hat man den Kontakt mit der Wirklichkeit verloren. Das

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führt zu einer Art Schizophrenie, in der sich einerseits die sprachliche Identität in Wörtern aus

alten Handwerkstraditionen ausdrückt, man andererseits Englisch reden muss, um die

Modernität zu beschreiben. Ich glaube, diese Schizophrenie ist gefährlich für die Identität.

Jean-François Baldi: Der Unterricht findet in Frankreich mit wenigen Ausnahmen sowohl

auf schulischer als auch universitärer Ebene auf Französisch statt. Zieht man einen Vergleich

mit anderen Ländern, wo ganze Studiengänge auf Englisch stattfinden, beispielsweise in der

Medizin, dann drängt sich die Frage auf: Wenn die künftigen Mediziner in Englisch

ausgebildet werden, in welcher Sprache kommunizieren sie mit ihren Patienten? Wir finden es

gefährlich, wenn man in der eigenen Sprache nicht mehr über die nötigen Wörter verfügt, um

etwas auszudrücken. Deshalb gibt es in Frankreich einen gesetzlichen Mechanismus zur

Begriffsschöpfung. Für uns gibt es zwei Grauzonen, in denen wir derzeit zwei große

Untersuchungen starten: Zum einen der Gebrauch von Französisch in den Unternehmen. Ein

anderer Bereich ist die Wissenschaft: Natürlich ist bekannt, dass Englisch die wichtigste

Kommunikationssprache unter Forschern und in den Naturwissenschaften ist, aber die

Situation gestaltet sich in einigen Wissenschaften doch anders. So spielt Französisch in den

Geisteswissenschaften nach wie vor eine bedeutende Rolle.

Jürgen Trabant: Bei uns findet genau das statt, eine Trennung zwischen Experten und

Nicht-Experten, es findet – auch wenn es sprachpuristisch klingt – eine hässliche Mischung

zwischen Englisch und Deutsch statt. Die Schule ist also zunehmend kein Ort mehr für das

Erlernen des Deutschen, sondern der große Hype (so sagt man ja auf Deutsch) heißt „Content

Language Integrated Learning“, CLIL für die Eingeweihten. Das heißt, Naturwissenschaften,

Politik, Geschichte werden auf Englisch gelehrt – in den Schulen! Das heißt, dass alle

wichtigen Gegenstände in unserer Sprache schon in den Schulen nicht mehr in der

Muttersprache verfügbar sind. Und ich sehe damit die Gefahr, die Crespy beschreibt, Tatsache

werden. In Deutschland wird der Wald geschützt, nicht die Sprache.

Man versucht nicht mehr, das, was die Sprachen sich erobert hatten, diese

wunderbaren, hohen Diskursdomänen der Wissenschaft, ins Deutsche zu transportieren. Es ist

zudem undemokratisch, weil es denjenigen, die alles bezahlen, dem Volk, die Teilnahme an

Wissenschaft und etwas komplizierteren Diskursgegenständen verwehrt.

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Jutta Limbach: In der Sorge um die deutsche Sprache schwinge ich mit Ihnen auf einer

Welle. Ich denke nur, dass wir Deutsche in einer anderen Situation sind. Wir neigen – wegen

Diktaturen, die sich oft an der Sprache vergreifen – nicht dazu, das Deutsche nationalistisch

zu übersteigern. Aber dass die Sprache soziale Bindekraft hat und uns von Kindesbeinen an in

dieser Welt zu Hause werden lässt, da bin ich mit Ihnen einer Meinung.

Jean-Claude Crespy: Sie sagen, Frau Limbach, dass es in Deutschland eine andere Tradition

gebe, und Sie hätten es nicht gewagt, das Deutsche so wie die Franzosen zu verteidigen. Man

sollte aber nicht vergessen, dass Frankreich Sprachen einfach vernichtet hat. Frankreich ist

früher ein mehrsprachiges Land gewesen, wo man Baskisch, Bretonisch und Okzitanisch

gesprochen hat und wo das Französische durch eine gewaltsame Politik in die dominante

Position gebracht wurde, indem die anderen Sprachen in der Schule verboten wurden. Wir

haben erst spät entdeckt, dass man die Sprache am besten verteidigt, wenn man die

Mehrsprachigkeit verteidigt. Eine Sprache verteidigt sich nicht durch sich selbst, sondern mit

der Kompetenz anderer Sprachen. Wir wenden uns jetzt wieder den anderen Sprachen zu. Ich

glaube, das ist die Lösung. Das Problem ist hochaktuell, in der Europäischen Kommission ist

es brennend. Die Debatte über Sprachenschutz hängt auch damit zusammen, dass wir in einer

globalisierten Gesellschaft leben. Nun müssen wir die Wahl treffen: Sprechen wir alle

Englisch oder versuchen wir, eine Mehrsprachigkeit einzuführen, was auch zu einer anderen

Sprachpolitik führen wird? Die Frage ist: Wie können wir Mehrsprachigkeit fördern?

Jean-François Baldi: Das Toubon-Gesetz verfügt über eine relativ wenig bekannte

Bestimmung: Wenn eine öffentliche Einrichtung, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts

eine Übersetzung zum Beispiel in einer Informationsschrift oder im Internet anbietet, muss

dies in mindestens zwei Fremdsprachen geschehen. In unserem Fachjargon nennen wir dies

„Verpflichtung zur Dreisprachigkeit“. Die Übersetzung ist also unerlässlich. In der EU wurde

der freie Waren- und Personenfluss mehr oder weniger perfekt vollzogen; es ist nun an der

Zeit, den Austausch von Ideen und Konzepten zu fördern. Nichts ist hierfür besser geeignet

als die Übersetzung, sie gestattet die Verbreitung und Bereicherung der Ideen und ist viel

mehr als nur die Simultanverdolmetschung bei technischen und politischen Treffen der

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Europäischen Kommission, sondern ein Instrument, welches das Zugehörigkeitsgefühl zu

Europa – unter Achtung der Sprachenvielfalt – stärken kann.

Jutta Limbach: Die EU hat eine Bestimmung in dem noch nicht ratifizierten

Verfassungsvertrag, die da sagt: „Die Union schützt die Vielfalt der Kulturen und der

Sprachen und fordert sie.“ Die Sprachprobleme, die Sie hinsichtlich Frankreichs und seiner

indigenen Sprachen erwähnten, sind Probleme eigenständiger sprachlicher Minderheiten.

Diese spielen in Deutschland keine große Rolle. Unser eigentliches Problem sind die

eingewanderten Minderheiten. Darüber streiten in Deutschland zwei Meinungen: Die einen

sagen, dass in der Schule – mit Schulpflicht – nur Deutsch gelernt wird, und die anderen

sagen, dass sie ihren Kindern ihre eigene Identität und Bindung zu ihrem Herkunftsland

aufrechterhalten wollen. Das heißt für das Schulsystem, dass die Kinder z. B. Türkisch lernen

können müssen.

Jürgen Trabant: Wir müssen praktikable Lösungen finden, dass wir eine oder mehrere

Sprachen für die internationale Kommunikation verwenden. Ich plädiere für mehrere und

nicht nur für eine. Der Mehrsprachigkeitsweg war einmal der deutsche. Deutschland hat in der

Sprachphilosophie die Mehrsprachigkeit entdeckt – ihre Heroen sind Herder und Humboldt.

Diese haben die Sprachen als Kulturgüter und wichtige philosophische Themen zum

Gegenstand gemacht. Um auf die türkische Frage zu kommen: Man muss die Dialektik

zwischen National-, Umgangs- und Kultursprache und den autochtonen, den „kleineren“

Sprachen (dazu gehört in Deutschland das Türkische, obwohl es eine riesige Sprache ist) an

unserer Tradition orientieren.

Ich bin als Romanist sehr sensibel, wenn in den Schulen Englisch als Universalsprache

durchgesetzt wird. Englisch im Kindergarten, in der Elementarschule; CLIL wird

weitergeführt, sodass das Deutsche am Ende nur noch eine folkloristische Position hat. Es ist

unerträglich, dass in Baden-Württemberg gefordert wurde, das Englische als

Unterrichtssprache an den Schulen in Deutschland durchzusetzen; das Deutsche wird damit

zur „Familiensprache“ degradiert. Man kann den Werbeslogan der Schwaben nehmen: „Wir

können alles außer Hochdeutsch“, d. h. niemand kann mehr Deutsch; da haben wir die

Arbeitssprache Englisch – und den Dialekt: Das Hochdeutsche wird zum „Sandwich“

zwischen Englisch und Dialekt.

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Jean-Claude Crespy: Die Sprachgesetze in Frankreich haben der Integration nicht

weitergeholfen. In Frankreich ist die Situation anders, weil wir die Bevölkerungen, aus denen

die rebellierenden Jugendlichen kommen, kolonisiert haben. Das ist ein Verhältnis, in dem

Revanche eine gewisse Rolle spielt. Es ist immer problematisch, sich die Sprache einer

ehemaligen Kolonialherrschaft anzueignen. Die Deutschen haben die Türken nie kolonisiert

und diese sind nie kolonisiert worden. Ihre Identität ist keine beleidigte Identität. Da war das

osmanische Reich mit einer prächtigen Vergangenheit, und sie fühlen sich gleichwertig – und

deshalb zögern sie, die deutsche Sprache anzunehmen.

Jutta Limbach: Ich halte es für selbstverständlich, dass ich, wenn ich deutscher Staatsbürger

werden will, die Landessprache beherrschen muss. Dafür machen wir die Integrations- und

Sprachkurse für diejenigen, die mit uns arbeiten, die Schule besuchen und Deutsch sprechen

müssen.

Wir leben in einer entgrenzten, globalisierten Welt, sodass man – vor allem wenn man

sich über die Grenzen hinweg bewegen will – nicht nur die Muttersprache, sondern auch

andere Sprachen sprechen muss und von daher im Schulsystem die Verantwortlichkeit für das

Erlernen von Fremdsprachen besteht.

Jürgen Trabant: Ich möchte noch einmal auf das Gesetz zurückkommen. Ich bin nicht für

eine gesetzmäßige Regelung in Deutschland, stimme aber Ihrer politischen Diagnose zu, dass

hier Spaltungen entstehen. An dieser Stelle müssen demokratische Aktionen in Gang

kommen, zivilgesellschaftliche Aktionen, Vereine, Vorträge usw. Außerdem müssen wir auf

die Schulen achten, damit dort eine vernünftige Sprachpolitik gemacht wird. Die Schulpolitik

passiert – das ist das Problematische an der föderalen Struktur – unter Ausschluss der

Öffentlichkeit. Es wird nicht diskutiert, in welchen Sprachen der Unterricht stattfindet oder

wie die Pädagogik sein soll zwischen Dialekt und Hochdeutsch, oder die Frage „Wie viel

Englisch brauchen wir eigentlich?“ Das wird in den Ländern einfach dekretiert.

Bis zum 16. Jahrhundert galt Latein versus Volkssprachen, dann fand ein

jahrhundertelanger Prozess statt, in dem die Volkssprachen sich durchgesetzt haben und damit

einen allmählichen Übergang von der Spaltung in die Allgemeinverfügbarkeit schafften. Kant

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hat nicht mehr Lateinisch geschrieben, sondern Deutsch. So kann am Ende auch ein

Dialektsprecher, der in der Schule Deutsch gelernt hat, Kant lesen. Das ist der Kern des

Modernisierungsprozesses und es geht mir darum, dass das nicht abhanden kommt. Dass Kant

nicht anfängt, auf Englisch zu philosophieren, also in dem ‚neuen Latein’, sondern weiter auf

Deutsch schreibt. Es muss der politische Wille da sein, diese Spaltung nicht noch tiefer

werden zu lassen, sondern dieses europäische Kontinuum zu bewahren.

Jean-Claude Crespy: Früher gab es noch viel Mehrsprachigkeit, dazu die Kenntnis der

Dialekte und Regionalsprachen; und auch immer Latein: Drei- oder Viersprachigkeit war

durchaus üblich. Dies muss wieder hergestellt werden, wenn wir gegen die Allmacht des

Englischen Bestand haben und die Sprachen retten wollen.

Beitrag aus dem Publikum:

Wenn wir den Gedanken „zivilgesellschaftliche Initiativen“ aufgreifen, bevor wir über

Verbote nachdenken, sollte man auch über die Schönheit der deutschen Sprache, die in der

Literatur verwirklicht wird, nachdenken.

Jutta Limbach: Das sehen wir durchaus so. Unsere heiteren Wettbewerbe mit der Suche

nach dem „Schönsten deutschen Wort“ oder nach „Ausgewanderten“ und bald auch

„Eingewanderten Wörtern“ folgten eben diesem Ziel, die Liebe zur deutschen Sprache zu

bestätigen. Wir haben den Eindruck, dass wir hier etwas in der Bevölkerung berühren, was

sehr positiv aufgenommen wird. So schönes Deutsch wurde noch nie von so vielen Personen

gesprochen wie in unserer Zeit. Der Glaube, dass vor 100 Jahren die Bevölkerung in der

deutschen Hochsprache bewanderter und artikulierter gewesen sei, der ist naiv. Ich glaube, es

hat noch nie eine Bevölkerung gegeben, die in der Mehrheit so sprachtüchtig war.

Jean-François Baldi: Die Anmerkung in Bezug auf die Literatur ist völlig zutreffend: Die

stärksten Verfechter einer Sprache sind die Schriftsteller. Des Weiteren will ich noch

hinzufügen, dass es im Bezug auf die soziale Verantwortung sehr wichtig ist – Gesetz hin

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oder her – dass die Menschen ihrer Sprache Vertrauen entgegen bringen. Wenn man

Vertrauen zu seiner eigenen Sprache hat, dann öffnet man sich leichter den anderen Sprachen.

Maik Meuser: Zuletzt möchte ich Ihnen einen Satz des ‚Hausherrn’ mitgeben: „Die Gewalt

einer Sprache ist nicht, dass sie das Fremde abweist, sondern dass sie es versteht.“

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„CIA – Hier können Sie Karriere machen“

Sprachenpolitik in den USA fünf Jahre nach dem

11. September 2001

Uwe Rau

Wenn über die „Macht der Sprache“ diskutiert wird, darf das Thema „Sprachenpolitik

weltweit“ nicht fehlen. Auf dem Berliner Festival kamen auch Vertreterinnen des Faches

Deutsch zu Wort, die unermüdlich Lobbyarbeit für das Deutschlernen leisten. Das ist keine

leichte Aufgabe in einem Land, in dem nur 43 Prozent aller Schüler überhaupt eine

Fremdsprache lernen, und davon nur 2,1 Prozent Deutsch. Eine wirkliche nationale

Sprachenpolitik mit Bildungsanspruch gibt es nicht. Dennoch kann man feststellen, dass das

öffentliche Fremdspracheninteresse in den letzten Jahren gestiegen ist.

Beim Durchblättern des Programmkatalogs 2005 für den größten

Fremdsprachenkongress in den Vereinigten Staaten, der Jahrestagung des American Council

on the Teaching of Foreign Languages (ACTFL), findet man eine ganzseitige Anzeige der

CIA. Dort wird unter anderem auf Chinesisch, Arabisch, Farsi und Koreanisch, aber auch auf

Deutsch für eine berufliche Laufbahn beim US-amerikanischen Nachrichtendienst geworben:

„Hier können Sie Karriere machen“. Die Anzeige richtet sich an Fremdsprachenlehrer und

beschreibt den Auftrag der CIA, wie man ihn wohl in dieser Form nicht erwarten würde:

Foreign Language Instructors. One of the most important contributions you can make to

meeting the mission of the CIA is enabling others to understand world cultures.

Die Anzeige zeigt symptomatisch den derzeitigen Status von Fremdsprachenkenntnissen in

den USA. Die Ereignisse vom 11. September 2001 haben die Bedeutung des Erlernens von

Fremdsprachen sowie der Kenntnis anderer Kulturen erhöht. Medien und Politik widmeten

dem Thema in den letzten zwei Jahren mehr Aufmerksamkeit als in den 20 Jahren zuvor;

beides wird jetzt deutlich als eine Notwendigkeit in direktem Zusammenhang mit nationalen

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Sicherheitsinteressen betrachtet. Der Bedarf nach Sprechern fremder Sprachen ist erkannt und

zieht besondere Rekrutierungsprogramme nach sich.

Bisher hat das neue Interesse allerdings nur zu spontanen Aktionen der Regierung

geführt. Kritiker sprechen von „Band-aid-policies“ (Symptombehandlung). Die langfristigen

Sprachenprobleme des Landes würden so nicht gelöst. Nach wie vor gehört der

Fremdsprachenerwerb nicht zu den schulischen Pflichtfächern in den öffentlichen

Highschools. Trotz großer öffentlicher Aufmerksamkeit und positiver Rhetorik ist die

finanzielle Förderung für Sprachen und internationale Bildung durch die amerikanische

Bundesregierung weder konsequent noch ermutigend.

Ein Jahr nach dem Erscheinen der oben zitierten Anzeige hat das Goethe-Institut New

York erstmals für die ACTFL-Jahrestagung im November 2006 eine Sonderveranstaltung zu

diesem Thema angeregt und organisiert. Vor mehr als 200 Teilnehmern diskutierten

prominente Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Sprachwissenschaft kritisch darüber, wo das

Thema Fremdsprachenlernen tatsächlich auf der Agenda amerikanischer Sicherheitspolitik,

ökonomischer Entwicklung, der Gesetzgebungsinitiativen und betriebswirtschaftlicher

Interessen zur Bildung eines globalen Arbeitskräftepotenzials steht.

Alfred Mockett, Vertreter des Unternehmens Motive, Inc. und Vorstandsmitglied des

wichtigen Committee for Economic Development in Washington DC, betonte die Virulenz

für die Wirtschaft in so zuvor nie vernommener Deutlichkeit: „The business community is in

desperate need of cross cultural competence – a combination of foreign language skills,

cultural knowledge, and international experience.“ Am Ende seines Beitrags stand ein

leidenschaftliches Plädoyer für den internationalen Dialog:

„Die Welt war besorgt um Amerika […]. Nie zuvor haben wir eine so große Konzentration

von wirtschaftlicher Macht, politischer Macht und militärischer Macht in den Händen von so

wenigen erlebt […]. Wir aus den Bereichen Wirtschaft und Bildung können zusammen dazu

beitragen, dass dieses Problem angepackt wird. Unser wirtschaftlicher Reichtum und unsere

nationale Sicherheit hängen wesentlich davon ab, wie gut wir heute unsere Studenten

ausbilden, die die Wissensvermittler, internationalen Führungskräfte der Wirtschaft,

Wohltäter und Weltbürger von morgen sein werden.“

Professor Heidi Byrnes von der Georgetown University führte in ihrem Beitrag überzeugend

an, dass eine kohärente Sprachenpolitik in den USA nicht vorhanden sei. Im Zentrum der

Regierungsinitiativen der letzten Jahre stehe die Hinwendung zu einigen wenigen Sprachen,

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den sogenannten critical languages oder security languages, zu denen in erster Linie das

Arabische und Chinesische gehören. Die Unterstützung dieser Sprachen sei ausschließlich

pragmatisch, nämlich sicherheitspolitisch und ökonomisch, motiviert.

Überspitzt gesagt, dienen Fremdsprachenkenntnisse so nur dazu, besser gegen den

Feind im „Krieg gegen den Terror“ und den ökonomischen Konkurrenten gewappnet zu sein.

Sprache wird auf ihre strategische Funktion reduziert und dient dann nur als Instrument für

die Durchsetzung eigener Interessen. Ein solch reduzierendes Verständnis von Sprache hält

Heidi Byrnes für nicht zukunftsfähig. Ihre Schlussausführungen wandten sich dann auch sehr

engagiert gegen diese Vereinfachungen und stießen bei den Teilnehmern auf große

Zustimmung:

„Die Macht der Sprache besteht ganz wesentlich in der Fähigkeit, die Welt deuten zu können

und in einem Verhältnis zu anderen zu stehen. Es ist eine semiotische Fähigkeit damit

gemeint, nämlich sich im Dialog zu befinden, sei es im Rahmen derselben Sprache oder über

mehrere Sprachen hinweg, im Hier und Jetzt oder über Raum und Zeit hinweg, innerhalb ein

und derselben Landesgrenze oder aber über nationale Grenzen hinweg im globalen Kontext.

Es ist eine Macht, die nur in dem Ausmaß bestehen kann, wie die grundlegenden

Voraussetzungen von Vertrauen und Verständnis standhalten, […] und zwar sowohl, wenn

Frieden geschlossen wird, wie auch bei der Kriegsführung, wenn Geschäftsabkommen

getroffen und wenn Geschäftsabkommen nicht eingehalten werden, wenn Kunst entsteht und

wenn unser ästhetisches Einfühlungsvermögen verändert wird, wenn wir etwas über uns

selbst oder über andere lernen. Doch wenn wir aus den vielfältigen Möglichkeiten, die

unserem Leben Gestalt geben, absichtlich die dialogische Fähigkeit des Verstehens entfernen

und diese mit dem monologischen Interesse unserer eigenen, egozentrischen Sicherheit

ersetzen, wird die Sprache alle ihre magische Macht verlieren und zu nichts als einem leeren

Geräusch werden. Was auch immer Sprachpolitik in diesem Land bewirken kann, beginnt und

endet hier.”

Der Vertreter der amerikanischen Bundesregierung, Robert Slater vom National Security

Education Program, hatte den Vorrednern wenig entgegenzusetzen. Interessant war sein

Hinweis auf den partei(un)politischen Charakter der sprachpolitischen Initiativen. Sowohl

Vertreter der Demokraten als auch der Republikaner sind auf diesem Gebiet aktiv. Aus seinen

Erfahrungen mit Sprachen leitet der Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums die These ab,

Sprachinteresse komme in Wellen, welche die Folge einer Krise sind. An der Welle des

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11. September sei beachtlich, dass diese schon lange anhalte. Als positiv sei die klare

Anerkennung der Wichtigkeit von Sprache von Seiten der Politiker zu verzeichnen.

Heute, Anfang 2007, stehen darum die Zeichen für eine weiterreichende

Sprachenpolitik in den Vereinigten Staaten nicht schlecht. Der neue Kongress hat sich der

Notwendigkeit angenommen, eine „Sprachenstrategie“ für die USA zu entwickeln. Kürzlich

fand dazu eine Expertenanhörung unter dem Titel „Lost in Translation: A Review of the

Federal Government's Efforts to Develop a Foreign Language Strategy” statt. Es bleibt zu

wünschen, dass der Appell von J. David Edwards, Geschäftsführer des Joint National

Committee for Languages (JNCL), dabei auf offene Ohren trifft:

„Wir sind uns jetzt dessen bewusst, dass Sprachen wichtig sind und dass wir eine nationale

Sprachkrise haben, und dennoch werden keine langfristigen Maßnahmen ergriffen. Obwohl

Sprachen als Sicherheitsfaktor angesehen werden, schätzt man sie nicht als Bildungsfaktor.

Bevor die Entscheidungsträger nicht den Zusammenhang von Bildung und wahrer Sicherheit

erkennen, werden wir wohl keinen ernst zu nehmenden Wandel erleben, dergestalt, dass sich

das Sprachenlernen in den Vereinigten Staaten verbessert und unsere Bürger in den Stand

versetzt werden, mit dem Rest der Welt umgehen zu können.”

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Mehrsprachigkeit in Europa – hin zu einer besseren

Praxis

Empfehlungen zum Erlernen von Sprachen in der Europäischen

Union

EUNIC Brüssel

Dieser Beitrag war Teil der von EUNIC Brüssel am 21. September 2006 organisierten

Konferenz zum Thema „Mehrsprachigkeit in Europa – hin zu einer besseren Praxis“. EUNIC

Brüssel (European National Institutes for Culture) war bis 2006 als CICEB (Consociatio

institutorum culturalium europaeorum inter belgas) bekannt.

Die Kultureinrichtungen, die EUNIC Brüssel bilden, blicken alle auf eine lange Erfahrung

und Expertise im praktischen Sprachenunterricht zurück. Die Arbeit mit Lehrern, Lernenden

und Verantwortlichen für die Ausbildungspolitik soll zum einen den Unterricht in den

einzelstaatlichen Systemen in ganz Europa unterstützen und zum anderen außerhalb des

formellen Unterrichtssystems Sprachenunterricht in eigenen Fortbildungszentren und -

programmen bereithalten. Die Mitglieder von EUNIC Brüssel besitzen ebenfalls eine

langjährige Erfahrung mit Programmen, die Brücken zwischen Sprache und Kultur schlagen,

beispielsweise durch Literatur oder die darstellenden Künste.

Vor diesem Erfahrungshintergrund werden die nachstehenden Empfehlungen

vorgelegt. EUNIC Brüssel nimmt für sich nicht in Anspruch, eine wissenschaftliche

Institution zu sein. Allerdings möchten wir darauf hinweisen, dass im Vorfeld Wissenschaftler

konsultiert wurden und mitgewirkt haben.

Empfehlungen

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1. Bei jeder Diskussion über das Thema der Mehrsprachigkeit in Europa sollten folgende

Aspekte berücksichtigt werden:

a. Es wird nicht allgemein wahrgenommen, dass die sprachliche Vielfalt Europa

bereichert. Sie ist jedoch ein Teil des gemeinsamen europäischen Kulturerbes, für

das die Menschen gekämpft haben, daher sollte sie nicht als selbstverständlich

angesehen werden. Viele der europäischen Landessprachen sind erst im 19. und

20. Jahrhundert anerkannt worden und entstanden, als die Nationalstaaten errichtet

wurden. Nationale Sprachen haben eine zentrale Rolle in der Entwicklung und

Herausbildung der Demokratie in den Staaten Europas gespielt, deren Aufbau

unterstützt und eine aktive Teilhabe in demokratischen Systemen ermöglicht.

b. Das Hervortreten der englischen Sprache als dominante Lingua franca in Europa in

den vergangenen fünfzig Jahren wurde durch zwei wesentliche historische

Ereignisse in Europa begünstigt, nämlich das Ende des Zweiten Weltkriegs und

den Fall des Eisernen Vorhangs 1989.

c. Die Rolle der Europäischen Union in den Bereichen Kultur und Ausbildung geht

auf den Maastrichter Vertrag aus dem Jahr 1992 zurück, der die EU-Kommission

erstmals ermächtigte, Geld für Kultur- und Ausbildungsprojekte zu verwenden.

Die “1 plus 2”-Empfehlung (= Muttersprache/erste Sprache + zwei weitere

Sprachen) in Bezug auf das Erlernen von Fremdsprachen geht darauf zurück. Sie

wurde erstmals im Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung unter dem

Titel “Lehren und Lernen – Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft” (1996)

veröffentlicht (http://europa.eu.int/comm/education/doc/official/keydoc/lb-de.pdf).

d. Mehrsprachigkeit ist ein wesentlicher Teil unserer europäischen Identität, die

weiterhin gefördert werden sollte. Falls einer Lingua franca eine Vorherrschaft

eingeräumt wird, besteht das Risiko, dass andere Landessprachen einen

Funktionsverlust erleiden werden (z. B. weniger geschriebene Texte). Zur

Vermeidung einer solchen Entwicklung ist es wesentlich, unsere Bemühungen zur

Förderung der Mehrsprachigkeit zu intensivieren.

2. Wir anerkennen und würdigen, dass die Europäische Union mit der Förderung aller

offiziellen Sprachen der EU (einschließlich finanzieller Unterstützung, wo dies

zweckmäßig ist) gleichzeitig die Mehrsprachigkeit fördert. Wir empfehlen, diese Praxis

fortzusetzen. Allerdings raten wir im Hinblick auf umfassenderen Erfolg, dass die

Europäische Union größere Ressourcen für diese Aufgabe bereitstellt, ihre Presse- und

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Informationsarbeit verbessert und die Verfahren bei der Beantwortung von Aufrufen bzw.

bei der Einreichung von Projektvorschlägen vereinfacht.

3. Wir loben die Europäische Union für ihre Praxis, den Bürgern Informationen in allen

offiziellen Sprachen verfügbar zu machen. Wir empfehlen, hinreichende Mittel

bereitzustellen, die die Fortsetzung dieser Vorgehensweise gewährleisten, um die Kluft

zwischen den EU-Institutionen und den Bürgern Europas zu schließen und eine Art

europäische Identität – neben nationalen und regionalen Identitäten – zu fördern.

4. Sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten sollten die Verantwortung für die

Unterstützung von Ausbildungsinitiativen übernehmen, die sicherstellen, dass alle Bürger

eine sehr hohe Kompetenz in ihrer Muttersprache/ersten Sprache haben, da dies die

notwendige Grundlage für ein erfolgreiches Erlernen einer zweiten und dritten Sprache

schafft.

5. Es ist zu beachten, dass der Begriff "erste Sprache" verschiedene Dinge bezeichnen kann.

Es kann sich um eine offizielle EU-Sprache handeln bzw. um eine minoritäre europäische

Sprache oder auch um eine nicht-europäische Sprache, die von Immigranten-

Gemeinschaften gesprochen wird. Es muss außerdem berücksichtigt werden, dass für

viele europäische Bürger vielleicht nicht eindeutig ist, welche Sprache ihre erste ist, z. B.

für Kinder aus mehrsprachigen Familien oder Immigranten-Familien.

6. Wir empfehlen, dass die EU-Kommission die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu

größeren Anstrengungen bei der Implementierung der “1 plus 2”-Empfehlung auffordert,

die 2002 auf der Sitzung des Rates der Europäischen Union in Barcelona vereinbart

wurde. Hierzu gehört die Gewährleistung, dass die Mitgliedstaaten dieses Modell in ihre

eigenen politischen Maßnahmen übernehmen.

Vor diesem Hintergrund und angesichts des Umstands, dass die "1 plus 2"-Empfehlung

eine Zielmarke für alle Bürger Europas ist, möchten wir anmerken, dass diese leichter zu

erreichen ist und von den Mitgliedstaaten eher als Zielsetzung für ihre

Ausbildungssysteme festgeschrieben werden wird, wenn sie eindeutig definiert wird. Wir

empfehlen daher, dass die Europäische Union für alle Mitgliedstaaten als Ziel festschreibt,

dass alle Schüler beim Abschluss der Sekundarstufe II (d. h. im Alter von ca. 18 Jahren)

die Anforderungen des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens Niveaustufe B2

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erfüllen und zusätzlich zu ihrer Muttersprache/ersten Sprache zwei Fremdsprachen

beherrschen.

7. Während es sich bei dem ‘1 plus 2’-Modell um ein wünschenswertes Ziel handelt, sollten

die Mitgliedstaaten jedoch vorrangig sicherstellen, dass die europäischen Bürger zuerst

ihre erste Sprache fließend lesen und schreiben können, selbst wenn diese erste Sprache

keine offizielle Sprache des betreffenden Landes ist. In solchen Fällen müsste die erste

erlernte Fremdsprache die offizielle Sprache des betreffenden Landes sein. Um dies zu

verwirklichen, sollten die Mitgliedstaaten die angemessenen Mittel bereitstellen, die einen

erfolgreichen Unterricht ihrer offiziellen Sprachen sowie der Sprachen ihrer Minoritäten

und Immigranten gewährleisten.

8. Der gemeinsame europäische Referenzrahmen ist ein ausgezeichnetes Instrument zur

Förderung des Sprachenlernens und der Standardisierung der Zielstufen. Seine

Verwendung sollte durch die Entwicklung angepasster Versionen für alle offiziellen EU-

Sprachen gefestigt werden. Darüber hinaus sollte er auf die wesentlichen

Regionalsprachen (z. B. Katalanisch) und die von zahlenmäßig großen Gruppen von EU-

Bürgern gesprochenen Immigranten-Sprachen angepasst werden.

Das heißt, die Verwendung des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens sollte eine

größere Transparenz bei der Prüfung und Zertifizierung von Sprachkenntnissen (z. B.

mittels einer Akkreditierung der Prüfungen durch den Europarat) bewirken.

9. Die Existenz eines zuverlässigen Instruments zur Messung der Fremdsprachenkompetenz

der Bürger eines Mitgliedstaates ist von grundlegender Bedeutung. Die aktuelle

Eurobarometer-Untersuchung ist zweckdienlich, aber nicht hinreichend, da sie auf der

Selbsteinschätzung der Befragten hinsichtlich ihrer Kommunikationsfähigkeit beruht.

10. Innerhalb der Mitgliedstaaten sollte der Austausch erfolgreicher Methoden und Praktiken

des Fremdsprachenerwerbs besser gepflegt werden, damit sowohl politische

Entscheidungsträger als auch mit Fremdsprachenlernen und -lehren befasste Institutionen

davon profitieren können. Die EU-Kommission sollte diesen Austausch aktiv

unterstützen. Zu den auf der Konferenz von EUNIC Brüssel geäußerten Anregungen

gehören:

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a. Förderung von frühem Fremdsprachenlernen (außerschulisch, im Kindergarten

und in der Primarschule).

b. Es sollte Forschung betrieben werden, um festzustellen, in welchem Umfang der

gleichzeitige Unterricht zweier Fremdsprachen in jungem Alter (10-11 Jahre) sich

als erfolgreich erwiesen hat.

c. Die Reihenfolge, in der Fremdsprachen erlernt werden, sollte geprüft werden, und

Forschungsarbeiten sollten die Effektivität der verschiedenen Ansätze

untersuchen.

Konkrete Vorschläge:

- Die erste zu erlernende Fremdsprache hat eine komplexe Grammatik/einen

komplexen Satzbau, weil dann das Erlernen weiterer Fremdsprachen erleichtert

wird.

- Die erste Fremdsprache gehört einer anderen Sprachenfamilie an als die

Muttersprache/erste Sprache (z. B. germanische, romanische, slawische

Sprachen); die zweite zu erlernende Fremdsprache gehört wiederum zu einer

anderen Sprachenfamilie.

- Englisch wird nicht als erste Fremdsprache unterrichtet, um die Motivation für

das Erlernen von mindestens zwei Fremdsprachen aufrechtzuerhalten.

d. In breiterem Umfang sollte Inhalt- und Sprachenintegriertes Lernen (Content and

language integrated learning; CLIL) ab der Grundstufe (ab einem Alter von 7

Jahren) eingesetzt werden.

e. Die Lehreraus- und -fortbildung und die Aus- und Fortbildung der Fortbildner,

einschließlich der Entwicklung von international vergleichbaren Standards

(Referenzrahmen), müssen stärker fokussiert werden.

f. Weitere Anstrengungen sollten zur Erzielung von Synergien (d. h. Einsatz der

Kenntnisse der ersten Fremdsprache für das Erlernen der zweiten Fremdsprache)

bei Sprachschülern unternommen werden, wenn zwei oder drei Fremdsprachen

unterrichtet werden.

11. Es sollte der Situation Rechnung getragen werden, dass die englische Sprache als Lingua

franca Englischsprachige daran hindert, andere Fremdsprachen zu lernen. Auf der

Konferenz wurden als mögliche Lösungen vorgeschlagen:

a. Aktive Kampagnen, die das Erlernen von Fremdsprachen attraktiv machen und die

Sensibilität für die mit dem Erlernen verbundenen Vorteile erhöht. Insbesondere

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sollte das Erlernen von Sprachen als Weg zu interkulturellem Lernen und

Austausch dargestellt werden, der eine Reflexion über die eigene Kultur und

Identität eröffnet. Die Kampagnen sollten sich auf politische Entscheidungsträger,

Fachleute und Sprachschüler aller Altersgruppen einschließlich der Eltern von

Sprachschülern ausrichten.

b. Aktive Kampagnen zur Förderung des Erlernens von “Nachbar-Sprachen” (z. B.

Niederländisch in Nordwestdeutschland oder Italienisch in Südostfrankreich)

c. Weiterentwicklung des von Professor Sabatini von der Accademia della Crusca in

Florenz vorgeschlagenen Modells, in dem sich die europäischen Bürger

• zuerst auf ihre Muttersprache konzentrieren sollten: la lingua madre,

• dann eine andere Sprache erlernen sollten, zu der sie einen Bezug

empfinden: la lingua sposa

• und schließlich die Sprache erlernen sollten, die am nützlichsten für sie

ist: la lingua segretaria.

12. Die Rolle von Kultur, kulturellen Veranstaltungen und der sich mit kulturellen

Beziehungen befassenden Organisationen für die Förderung der Mehrsprachigkeit sollte

anerkannt werden. Wir empfehlen daher, dass in den Programmen der EU-Kommission,

die sich mit dem Erlernen von Fremdsprachen oder dem lebenslangen Lernen befassen,

die Verbindung zwischen Mehrsprachigkeit und Kultur besonders hervorgehoben wird.

Das jüngste Projekt von EUNIC Brüssel innerhalb des Sokrates-Lingua-Programms

„Märchen kurz vor Abflug“ ist ein Beispiel. Ein weiterer Vorschlag für die Verbindung

von Mehrsprachigkeit und Kultur ist eine verstärkte Verwendung von Untertiteln bei

fremdsprachigen Spielfilmen und Fernsehprogrammen, anstatt diese in der Landessprache

zu synchronisieren.

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Wer hat Angst vor Englisch?

Nachdenken über Deutschlehren und -lernen in den USA

Heidi Byrnes

Sinnvolle Sprachenpolitik ist nur dann möglich, wenn von Anfang an so genau wie möglich

Kontexte und Kapazitäten, sowie der Wissensstand um Sprachlehren und -lernen, dazu die

Prozesse, Inhalte und möglichen Ergebnisse erfasst werden. Es geht um Deutschlehren und

Deutschlernen in den USA. Dieser Kontext scheint einerseits besonders negativ besetzt zu

sein, andererseits trägt er Kennzeichen, die sich moderne Gesellschaften sprachenpolitisch

zunehmend zu eigen machen müssen.

Deutschlehren und -lernen in den USA heißt, sich mit dem Deutschen in einem vom

Englischen dominierten Land zu befassen, das sich zudem als Welthegemonialmacht fühlt,

was sich auch durch die Dominanz der Sprache ausdrückt. Einem Erwerb des Deutschen kann

überdies in den meisten Fällen kein unmittelbar ersichtlicher Stellenwert zugesprochen

werden. Und schließlich wird Deutsch in einem Umfeld gelehrt und gelernt, innerhalb dessen

sich eine Vielzahl von Sprachen Gehör verschaffen wollen. Möglich ist das vor allem

deswegen, weil ein Sprachenpluralismus zumindest als abrufbare Ideologie angenommen und

in der gesellschaftlichen Praxis akzeptiert wird. Diese Konstellation ist für das Deutsche

zunächst weder positiv noch negativ. Somit bietet sie einen guten Ausgangspunkt für

Betrachtungen zu einer Auslandssprachenpolitik, die lokale Gegebenheiten dynamisch für

sich nutzen möchte.

Der Lehr- und Lernbetrieb des Deutschen in den USA

Fünf Herangehensweisen geben dem Lehr- und Lernbetrieb des Deutschen in den USA eine

besondere Note, bestimmen seine Präsenz und geben Denkanstöße für empfehlenswerte

Maßnahmen im Inland.

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1. Alle Entscheidungsträger im Land, bis zum Klassenlehrer, sind gefordert, zu

überlegen, wie und wo man für das Deutsche einen gesellschaftlichen Platz kreieren kann. Ich

sage „kreieren“ nicht „finden“, um zu betonen, dass in einer vom Englischen dominierten

Umgebung zunächst gewisse unabdingbare Voraussetzungen geschaffen werden müssen.

Dazu gehören:

- Sicherstellen eines breiten Zugangs zum Deutschunterricht;

- Erwecken und Erhalten von Interesse, wobei die Gründe für das Erlernen des

Deutschen weitgehend persönlich-affektiv und nicht instrumental besetzt, also

kaum flächendeckend steuerbar sind;

- genaue Spezifizierung von realistisch erzielbaren Lernergebnissen;

- einheitliche Festlegung curricularer Inhalte und Progressionen;

- pädagogisch-methodologische Herangehensweisen, die größtmöglichen Konsens

genießen;

- der Wille, öffentlich „lesbare“ und mitteilbare Nachweise zu Lernergebnissen zu

erbringen und aus Erfolgen sowie Misserfolgen zu lernen;

- öffentliche Formen der Anerkennung für besondere Anstrengungen und erzielte

Ergebnisse auf beiden Seiten, der Lehrenden und der Lernenden.

Selbst dieser Kurzkatalog macht klar, dass jeder Lehrende gefordert ist, den Willen und die

Fähigkeit zu entwickeln, im öffentlichen Diskurs fundamentale Themenkreise der

Sprachenpädagogik informiert und überzeugend darstellen zu können. Man mag darüber

denken wie man will, aber wenn effektives Werben diese Fähigkeiten beinhaltet, dann wird

das Werben zu einer besonderen Form der Weiterbildung, die sowohl Lehrenden als auch

Lernenden die Möglichkeit anbietet, ein differenziertes und selbstbewusstes Selbstverständnis

der jeweils anfallenden Aufgaben zu entwickeln.

2. Zum Zweiten sind die USA ein Land, das keine offizielle Sprachenpolitik besitzt und

dessen Bildungswesen föderativ ausgerichtet ist. Diese föderative Struktur endet nicht auf

Länderebene, sondern dringt bis in den einzelnen Schulbezirk vor. Hier zeigt sich, dass lokale

Gegebenheiten nicht von vornherein Formen des Sprachenlehrens und -lernens

vorherbestimmen. Allerdings werden sie vor allem dann positive Auswirkungen haben, wenn

sie durch Aktivismus dem System abverlangt werden.

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3. Ein dritter Punkt ist, dass die gewünschte Nische für das Deutsche nur unter

Berücksichtung der Anteile anderer Sprachen entstehen kann, allen voran des Spanischen, das

die weitaus höchste Lernerzahl verzeichnet und ganze Schulbezirke dazu veranlasst, kaum

noch andere Sprachen anzubieten. Wenn man in Europa eine „English only“-Bewegung als

unmissverständlichen Beweis für den unaufhaltsamen Vormarsch des Englischen betrachtet,

dann sollte dennoch auch berücksichtigt werden, dass sich in vielen Teilen des Landes der

Status des Spanischen als Fremdsprache in den einer Zweitsprache umwandelt, womit sich die

Position aller Sprachen ändert.

In dieser fluktuierenden Situation haben sich alle Fremdsprachenverbände zu einem

kooperativen Nebeneinander entschieden. Die Wahl einer Fremdsprache hängt nämlich so

sehr von lokalen oder persönlichen, nicht genauer kontrollierbaren Faktoren ab, dass es nur

darum geht, dass Fremdsprachen überhaupt angeboten und gelernt werden. Für das Deutsche

ergibt sich damit häufig der Status einer Drittsprache. Das hat im Erwachsenenbereich

weitgehend Vorteile, solange man sie lernerzieherisch erkennt und effizient nutzt (siehe

http://www3.georgetown.edu/departments/german/programs/curriculum/index.html).

4. Fremdsprachenunterricht und damit Deutschunterricht findet in einem Land statt, in

dem Spracherwerb keinen gefestigten Platz in der schulischen Ausbildung hat. Wenn zum

Beispiel aus finanziellen oder curricularen Gründen Engpässe entstehen, sind Sprachen und

musische Fächer die ersten Opfer. Daher ist im tertiären Bereich oft das nachzuholen, was auf

der Primär- und Sekundarstufe nicht stattgefunden hat. Gleichzeitig schrumpfen die lange Zeit

üblichen viersemestrigen language requirements vieler Colleges, und zwar nicht, weil man

den Wert von Sprachen nicht anerkennt, sondern weil sie ihre Bildungsaufgaben anders sehen

müssen als früher: Sie werden stärker berufsqualifizierend statt bildend. Sprachunterricht ist

inhärent kostspielig: Die Universitäten haben Schwierigkeiten, alles vom Anfänger- bis zum

Unterricht für weit Fortgeschrittene anzubieten, und das in einer Palette von Sprachen, die

sich immer schneller wandelt. Ohnehin verkürzt die anscheinend unüberbrückbare Kluft

zwischen „Sprachunterricht“ und literarisch-kulturellem Unterricht inhärent den Bildungswert

eines Programms. Der Aktivismus der universitären Germanistikprogramme in den USA ist

unter diesen Vorzeichen zu verstehen.

5. Dieser offenen Situation haben die amerikanischen Fremdsprachenorganisationen und

die Lehrenden überraschend viele positive Seiten abgerungen. Einige Stichworte:

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Sie haben Lehrer und das Lehren, Lerner und das Lernen in den Vordergrund gestellt.

Das bedeutet, dass Lehrerfortbildung und eine breite Palette von Fortbildungsmöglichkeiten

im Vordergrund stehen und dies innerhalb einer landesweiten Fachorganisation, der American

Association of Teachers of German, AATG, die auch international verknüpft ist. Außerdem

verwendet man ein Multiplikatorensystem, das jüngere Kollegen gezielt einbindet. Schließlich

ist die AATG eng mit einer sprachenübergreifenden Organisation, dem American Council for

the Teaching of Languages, ACTFL, verbunden, womit man nicht nur ihre numerische Stärke

für sich gewinnt, sondern auch Zugang zu Expertise, Teilnahme an nationalen Projekten, wie

der Revision der Standards zur Lehrerausbildung, sowie die Möglichkeit, selbst tonangebend

aufzutreten. So konnte in den letzten zwanzig Jahren ein Umdenken stattfinden in Richtung

zweier dominanter curricularer, pädagogischer und evaluativer Bewegungen des

amerikanischen Fremdsprachenunterrichts, dem sogenannten Proficiency Movement und dem

noch wichtigeren Standards Movement.

Der eigentliche Wert dieser Herangehensweise liegt darin, dem Lehrer diskursiv eine

Identität als Träger für eine wichtige Sache zu vermitteln, ein Verständnis, das sich in der

täglichen pädagogischen Arbeit und in der langjährigen professionellen Weiterbildung in

vielerlei Formen niederschlägt. Möglich ist das allerdings nur, wenn Involviertsein unter der

Rubrik service (neben teaching und scholarship) zum anerkannten Berufsethos gehört, gerade

auch auf der universitären Ebene und für Professoren in den höheren Fakultätsrängen. Ohne

dieses Ethos und die Mechanismen für seine Erneuerung in der nächsten Generation wäre das

Deutsche in den USA schon längst in einem kümmerlichen Zustand, und selbst eine

Institution wie das Goethe-Institut hätte seine stille Grablegung nicht verhindern können.

Was ist aber jenseits des Weiterlebens tatsächlich erreicht worden?

a) Der kommunikative Unterricht unter dem Proficiency und Standards Movement wurde

zur akzeptierten Form, ein bemerkenswertes Ergebnis im Vergleich zum europäischen

Sprachenunterricht, der hier sehr viel Nachholbedarf zu haben scheint.

b) Gleichzeitig wurde auf der tertiären Ebene die meistens orale kommunikative Form

auf ihre Adäquatheit hinterfragt, indem man für eine wesentlich konsequentere

Literarisierung plädierte und Verbindungen zwischen den Anliegen des

Fremdsprachenunterrichts und denen des muttersprachlichen Unterrichts herzustellen

versuchte.

c) Im Curriculum ermöglichte man zum einen mit dem Kinder lernen Deutsch-Projekt

einen Einstieg in den Deutschunterricht in der Primarschule; zum anderen verband

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man sich mit fachsprachlichen Studiengängen (siehe das 5-year-Master-Programm im

Ingenieurwesen an der University of Rhode Island). Oder es wird anspruchsvoller

inhaltsorientierter Sprachunterricht angeboten, wie das in Georgetown der Fall ist.

d) Die Lehrerfortbildung nimmt alle technologischen Möglichkeiten wahr, besonders

auch webbasierte Fernstudiengänge.

e) Innerhalb gegebener Grenzen wird das Lernen der Sprache mit Muttersprachlern

verbunden, gleich ob sie in der örtlichen Umgebung, in der virtuellen Welt oder durch

Austauschprogramme zu erreichen sind.

f) Man lehrt das Deutsche nicht ohne Bezug zur Kultur, sondern sucht gezielt die

Verbindung mit der deutschen, österreichischen oder schweizerischen Kultur.

Zum letzten Punkt eine Bemerkung. Wie weit ein Spracherwerb ohne Kulturbezug

befürwortet werden kann und besonders inwiefern er die internationale Position des

Deutschen verbessern könnte, ist noch längst nicht genügend durchdacht. Dieses Konzept

wird zunehmend eng verbunden mit dem Lingua franca-Status des Englischen und als

möglicherweise attraktiver Ausweg aus der kulturellen Dominanz des Englischen betrachtet.

Im Gegensatz zu einer solchen Herangehensweise ist allerdings für unsere Lerner des

Deutschen in den USA eines klar: Sie sehen gerade in einer expliziten kulturellen Einbindung

die Motivation, Deutsch zu lernen. Damit liefern sie ein mächtiges Gegenmittel für eine

völlige Instrumentalisierung des Sprachenlernens, um nicht zu sagen eine Verfälschung

grundsätzlicher Aspekte von Sprache, wie sie leider zu oft von wohlmeinenden

Entscheidungsträgern propagiert wird. Und sie stellen die viel wichtigere Frage, wie Sprache

und Kultur im Kontext des Spracherwerbs als ineinander verwoben zu verstehen sind: Welche

Sprachformen, welche Aspekte der Kultur, welche pädagogischen Herangehensweisen sind

angemessen?

Überlegungen zur Macht der Sprache in einem globalisierten Deutschland

Zu fragen wäre dementsprechend, inwiefern diese Überlegungen nicht nur die ausländische,

sondern auch die inländische Sprachenpolitik des Deutschen befruchten können. Das

Verhältnis zwischen dem Deutschen und dem Englischen spielt zwar eine zentrale Rolle, aber

es ist differenzierter zu betrachten, als oft üblich ist. Das Englische wird in intellektuellen und

akademischen Kreisen als bedrohlich empfunden, während es in der Gesellschaft in viele

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öffentliche und persönliche Bereiche vorgedrungen ist. Der Schluss liegt also nahe, dass der

strategisch und taktisch nutzbringende Ausgangspunkt für sprachenpolitische Überlegungen

nicht so sehr auf der Seite des Englischen zu suchen wäre, als vielmehr auf der Seite des

Deutschen.

Zu bedenken ist, dass die Macht der Sprache grundsätzlich eine relative Angelegenheit

ist. Macht hat der, dem sie zugestanden wird; Ohnmacht derjenige, der keine Gegenbewegung

zustande bringen kann oder will. So gesehen, ist eigentlich der Ohnmächtige in der

Schlüsselposition: Er ist eben nicht völlig ohnmächtig. Weiterhin ist es nicht so, dass die

Macht der Sprache eine begrenzte Menge ist, die nur Gewinner und Verlierer zulässt. Im

Zeitalter der Globalisierung und des Pluralismus schafft die Sprache eine unvergleichliche

Erweiterung der Bedeutungsmöglichkeiten, eine Sprachmächtigkeit, und damit eine massive

Herausforderung an Menschen als sprechende Wesen überhaupt, sich in immer mehr

Bereichen in immer differenzierteren Formen in immer mehr Sprachen ausdrücken zu

können. Allerdings ist eine erweiterte Sprachmächtigkeit nur potentiell vorhanden. So sind die

Bildungssysteme zu hinterfragen, ob sie sich diesen Herausforderungen tatsächlich stellen.

Klar ist, dass es keine billige oder kurzfristige Lösung gibt, weshalb die sich daraus

ergebenden Konsequenzen nur selten beim Namen genannt werden. Leider steht damit der

Weg offen für Interpretationen des Englischen als einer dunkel-konspirativen, vielleicht

verrohenden und die eigenen intellektuellen und kulturellen Werte beleidigenden Macht. Und

verschlossen bleibt der Weg zu wirklichen Lösungen.

Wo wären diese zu finden?

1. Beginnen wir mit den Sprachen. Priorität wird, gerade in einer pluralistischen und

multilingualen Gesellschaft, dem muttersprachlichen Unterricht beizumessen sein, gleich ob

es sich um die Herkunftssprache von Minderheiten oder Migranten, also um das Türkische

oder die Bildungssprache des Landes, eben das Deutsche handelt. Weil aber diese Differenzen

existieren und die Landessprache für alle zugänglich sein und auf einer kompetenten Ebene

gehandhabt werden muss, entstehen hohe Ansprüche an das Bildungssystem, ganz besonders

im Fachbereich Deutsch als Fremdsprache. Das verlangt vor allem, dass sich die Hochschulen

involvieren, wobei den DaF-Abteilungen nicht nur eine Nebenposition zuzuerkennen ist,

sondern im Verbund mit der Angewandten Sprachwissenschaft eine bisher nicht gegebene

Prominenz gebührt.

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2. Weil Plurilingualismus sowohl ein nachbarschaftliches als auch ein globales

Phänomen ist, stehen für Deutsche vor allem das Französische, Italienische, Tschechische und

Polnische im Vordergrund, und natürlich die globale Lingua franca, Englisch. Wenn also im

europäischen Fremdsprachen-Kontext „Muttersprache plus 2“ propagiert wird, dann ist zu

bedenken, ob unbedingt das Englische die erste Fremdsprache sein sollte. Bekanntermaßen ist

der Drittspracherwerb leichter als der Erwerb der ersten Fremdsprache. Studien haben

nachgewiesen, dass im europäischen Kontext der Erfolg im Erlernen des Englischen von der

alltäglichen Präsenz des Englischen profitiert, der Unterricht also durchaus nicht ein reiner

Fremdsprachenunterricht ist.

3. Wenn drittens die Dominanz des Englischen in Grenzen zu halten ist, dann wäre die

Handhabung der englischen Studiengänge, vielleicht sogar die Entscheidung für solche

Studiengänge überhaupt eine kritische Analyse wert. Zumindest wäre ein studienbegleitender

Pflicht-DaF-Unterricht in den frühen Studienphasen vorrangig. Darüber hinaus ist für die

Mehrheit der Studierenden ein hoch angesetzter „English for Academic Purposes“-Strang

(EAP) dringend vonnöten, und zwar nicht nur für deutsche, sondern auch für ausländische,

nicht muttersprachliche Englischsprecher. Schließlich ist ein viel differenzierteres Verständnis

für das Verhältnis zwischen sprachlichen Fähigkeiten und disziplinärem Wissen seitens aller

Lehrenden im tertiären Bereich zu fördern und einzuforden. Erste Erfahrungen mit CLIL

(Content and Language Integerated Learning) im europäischen Hochschulbereich ähneln hier

wohl etablierten Erfahrungen an amerikanischen Universitäten: Das erforderliche

Sprachniveau bei Studierenden und Lehrenden ist nur mit einem expliziten, hoch

spezialisierten Ansatz zu erreichen, sowohl auf der curricularen als auch auf der

pädagogischen Seite. Das verlangt bildungspolitischen Willen und stetige, langfristige

Finanzierung, flankiert von wissenschaftlicher Forschung in diesem Bereich und hoher

Kompetenz der Lehrenden.

4. Den Überlegungen innerhalb des Europäischen Referenzrahmens, der sowohl auf den

muttersprachlichen Unterricht als auch auf den universitären Bereich ausgedehnt werden soll,

gebührt konzentrierte Aufmerksamkeit. Die gegenwärtigen Überlegungen sind weder

ausreichend noch genügend transparent, besonders hinsichtlich der Anforderungen im

Zusammenhang mit der hoch angesetzten Literarisierung in mehr als einer Sprache.

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5. Die mit sprachlicher Ausbildung betrauten Fachverbände müssen wesentlich

fundierter und enger zusammenarbeiten. Nicht nur die Fachverbände für diverse

Fremdsprachen, sondern auch die für den DaF-Unterricht und den muttersprachlichen

Deutschunterricht. Das trifft für alle Bildungsebenen zu, inklusive die Universitäten.

Damit wären grundsätzliche Rahmenbedingungen für den deutschen Kontext gegeben, mit

denen sich im Zeitalter der Globalisierung nicht nur mit dem Englischen sondern auch mit

anderen Sprachen, inklusive Deutsch, konstruktiv und realistisch, zukunftsträchtig und

selbstermächtigend umgehen ließe. Man wird sich zu Vielem aufraffen müssen, was weit über

eine Abwehrstellung gegenüber dem Englischen hinausgeht. Gefragt ist eine

Sprachmächtigkeit, die sich allerdings nur dann zum Wohl der Bürger und des Landes

entwickeln kann, wenn den komplexen Verbindungen zwischen muttersprachlicher und nicht

muttersprachlicher Literarisierung wesentlich größere Bedeutung beigemessen wird und

Querverbindungen herausgearbeitet werden können.

Vielleicht ist ein im Englischen weit verbreiteter Ausdruck ein brauchbares Ende für

diesen Beitrag zu einem deutsch-amerikanischen Thema: „think globally – act locally.“ Ob

das mit dem Kehren vor der eigenen Tür beginnt, ist zumindest in Betracht zu ziehen.

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Soll die EU die englische Sprache zu ihrer einzigen

Arbeits- und Verhandlungssprache erklären?

Beiträge der Landessieger im Wettbewerb „Jugend debattiert

international“

Denys Chernyshenko (Ukraine), Jakub Štefela (Tschechien),

Milda Vikut÷ (Litauen) und Inese Zepa (Lettland)

Der Debattier-Wettbewerb zum Thema „Soll die EU die englische Sprache zu ihrer einzigen

Arbeits- und Verhandlungssprache erklären“ fand als Projekt des Goethe-Instituts, der

Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung

im Rahmen des deutschsprachigen Wettbewerbs „Jugend debattiert international“ statt, der

seit 2005 durchgeführt wird. Teilnehmende Länder waren Polen, die Tschechische Republik,

Estland, Lettland, Litauen und die Ukraine.

Denys Chernyshenko: Man kann nach der Debatte das Fazit ziehen, dass die Einführung der

englischen Sprache ein schwieriger Prozess ist, der von einer Seite Geldanlagen und von der

anderen Seite gute Englischkenntnisse bei den Leuten erfordert.

Ich bin aus den Gründen, dass die EU eine Organisation aus verschiedenen Ländern

ist, das Motto „in Vielfalt einig“ lautet und es schon das Drei-Sprachen-Regime gibt, das

eigentlich allen gefällt, das nicht so schwer ist – und aus dem Grund, dass jede Sprache eine

Kultur symbolisiert und den Bürgern der EU die Kultur eines anderen Landes vorstellt,

dagegen, dass Englisch die einzige Arbeitssprache der EU wird.

Inese Zepa: Wir haben viele verschiedene Dinge besprochen und verstanden, dass es

Probleme auf beiden Seiten gibt, so wie es jetzt ist; und auch wenn man es ändert, werden

neue Probleme auftauchen – für mich aber war doch das Entscheidende, dass Englisch als

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einzige Arbeitssprache für effektivere Arbeit sorgen würde, und ich glaube, das wichtigste für

uns EU-Bürger ist, dass die Arbeit gut gemacht wird.

Die anderen Probleme kann man später vielleicht reduzieren, und da Englisch auch

jetzt schon die am meisten gesprochene Sprache ist, bleibe ich bei meiner Meinung, dass es

auch als einzige Arbeitssprache eingeführt werden soll.

Milda Vitkut÷: In dieser Debatte haben wir vielseitige Beispiele angehört; strittig blieb für

mich, ob die Arbeit in den EU-Organen erleichtert würde oder nicht. Ich bleibe bei meiner

Meinung, dass sie nicht erleichtert wird und immer mehr Schwierigkeiten entstehen werden,

wenn nicht alle Abgeordneten Englisch können.

Und für mich ist das wichtigste Argument, dass es die Bürgerrechte verletzen würde,

und die Pro-Seite hat keinen Vorschlag gebracht, wie man das ändern könnte, so dass zum

Beispiel alle Bürger ins Parlament kandidieren könnten. Und aus diesen Gründen bin ich

dagegen, dass Englisch zur einzigen Arbeitssprache in der EU wird.

Jakub Štefela: Ich glaube, in der Debatte haben wir uns viel mit den politischen Aspekten

beschäftigt, ob es eigentlich richtig ist, eine einzige Arbeitssprache einzuführen, ob es fair

gegenüber den anderen Ländern ist. Ich glaube aber, für mich ist das wichtigste Argument,

dass es die Arbeit wirklich beschleunigen wird, dass dann die europäischen Organe schneller

und effektiver arbeiten können und dass die vielen Probleme mit den inoffiziellen

Gesprächen, die in den Organen zwischen den Leuten in verschiedenen Sprachen verlaufen,

entfallen. Aus diesen Gründen bin ich heute dafür, dass die europäische Union Englisch zu

ihrer einzigen Arbeitssprache erklärt.

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Japanischunterricht

in der globalen Gesellschaft von heute

Fumiya Hirataka, Katsumi Kakazu

Die Japan Foundation – in Deutschland vertreten durch das Japanische Kulturinstitut Köln –

als Vorreiter im Bereich des Japanischunterrichts im Ausland bemüht sich zurzeit um die

Einrichtung von “Standards für den Japanischen Sprachunterricht” aus der Perspektive des

Fremdsprachenunterrichts, der ein wesentliches Element in der Förderung gegenseitigen

Verständnisses zwischen verschiedenen Kulturen in der heutigen globalen Gesellschaft

darstellt.

1. Die internationale Verbreitung des Japanischunterrichts

1.1. Zahl der Institutionen, Lehrer und Lernenden

Gegen Ende der 1980er-Jahre, als die ersten Zeichen der Globalisierung erkennbar waren und

Japan begann, verstärkt den Englischunterricht zu fördern, stieg in der restlichen Welt die

Zahl der Personen enorm an, die Japanisch lernten. In Australien zum Beispiel gab es eine

solche Popularitätswelle, dass man von “einem Tsunami der japanischen Sprache” sprach. Ein

Grund für diesen Trend mag der Tatsache geschuldet sein, dass die Möglichkeiten für

interkulturelle Interaktion mit fortschreitender Globalisierung zunahmen und dass

entsprechende Strategien zur Förderung internationaler Sprachen entwickelt wurden, als das

Umfeld und der Raum für multikulturelle Koexistenz wuchs.

Grafik 1 zeigt die beträchtliche Ausbreitung des Japanischunterrichts im Ausland von

1979 bis 2003. Es ist ersichtlich, dass in enormem Tempo Rahmenbedingungen für den

Japanischunterricht geschaffen wurden. Die Zahl der Lernenden, die anfänglich bei 120.000

lag, begann gegen Ende der 1980er-Jahre rapide anzusteigen. Sie stieg bis zur ersten Hälfte

der 1990er auf über eine Million und überschritt die Zwei-Millionen-Marke 1998. Soeben

wird eine weitere Studie von Japan Foundation auf den Weg gebracht, doch wird schon jetzt

gesagt, dass die Zahl der Lernenden bis heute sogar noch weiter gestiegen ist. Angesichts

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143

dieses Trends werden in der japanischen Regierung nun Stimmen laut, die die Notwendigkeit

von Maßnahmen betonen, die darauf abzielen sollen, die Zahl der Japanischlernenden auf drei

Millionen bis 2010 und langfristig noch weiter zu erhöhen.

0

500000

1000000

1500000

2000000

2500000

'79 '84 '88 '90 '93 '98 '03

Lernende

Lehrer (x10)

Institutionen (x10)

(1) Anzahl Lernende, Lehrer und Institutionen (The Japan Foundation 2003)

1.2. Überblick nach Regionen

Betrachtet man die Verteilung von Institutionen, Lehrern und Lernenden der japanischen

Sprache nach Regionen (Grafik 2), sieht man, dass etwa 60 % der Lernenden auf Südostasien

konzentriert sind. Etwa 40 % aller bestehenden Institutionen und 50 % der Lehrer finden sich

ebenfalls in dieser Region. Man sieht, dass auch ein großer Prozentsatz Australien und

anderen ozeanischen Ländern zukommt. Tatsächlich befinden sich etwa 90 % aller

Japanischlernenden in Asien und Ozeanien. Es ist zudem bemerkenswert, dass die Zahl der

Lernenden in Nordamerika auch steigt. Eine Tatsache, der in Zukunft mehr Beachtung

geschenkt werden sollte, ist die relativ geringe Rate von Lernenden in Europa, wo doch schon

seit Langem über Japan geforscht und Japanischunterricht erteilt wird.

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144

0,20,92,51,6

6,8

0,6

8,7

61

17,6

Ostasien

Südostasien

Südasien

Ozeanien

Nordameria

Südamerika

Westeuropa

Osteuropa

Mittlerer Osten und Afrika

(2) Lernende nach Regionen (The Japan Foundation 2003)

1.3. Anzahl der Personen, die den Japanese Language Proficiency Test ablegen

Die folgenden zwei Grafiken, Nummer 3 und 4, zeigen die Entwicklung der Zahl derjenigen,

die den Japanese Language Proficiency Test ablegen – einer der Indikatoren, mit denen das

japanische Sprachniveau einer Person bestimmt werden kann. Er wurde 1984 eingeführt.

Zuletzt wurde er 2006 in 130 Städten in 48 Ländern auf der ganzen Welt durchgeführt und

wurde von über 430.000 Personen abgelegt. Der jährliche Anstieg, der in Grafik 3 gezeigt

wird, stimmt überein mit dem Aufwärtstrend bei der Anzahl der Institutionen, Lehrer und

Lernenden, der in der Grafik oben gezeigt wurde. Der Nachteil an diesem Test ist, dass er nur

ein recht geringes Spektrum umfasst und nicht mehrmals pro Jahr abgelegt werden kann, wie

es beim TOEFL und TOEIC möglich ist. Es ist inzwischen dringend erforderlich, zum einen

den Test selbst zu verbessern, zum anderen aber auch das System seiner Durchführung besser

auszubauen und umzusetzen, zusammen mit der Schaffung von “Standards für den

Japanischen Sprachunterricht”.

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145

050000

100000150000200000250000300000350000400000450000500000

'84 '88 '92 '95 '03 '06

(3) Anzahl der Personen, die den JLPT ablegen (The Japan Foundation 2006)

17

16

3

3

12

2

17

37

China

Japan

Südkorea

Hongkong

Thailand

Indonesien

Vietnam

Indien

Singapur

andere

(4) Anzahl der Personen, die den JLPT ablegten, nach Ländern (The Japan

Foundation 2006)

Wenn man sich die Verteilung der Personen, die den Japanese Language Proficiency Test

ablegten, nach Ländern ansieht (Grafik 4), ist eine Zunahme am stärksten in China und dem

Rest Asiens zu beobachten, was 38 % der Gesamtheit ausmacht. Die Beliebtheit dieses Tests

in China liegt natürlich an der großen Zahl derjenigen, die in Japan studieren möchten, aber

auch daran, dass viele sich durch ihn einen Vorteil bei der Arbeitssuche erhoffen.

1.4. Reaktionen auf diese Entwicklungen

In Anbetracht dieser international auftretenden Trends zum Japanese Language Proficiency

Test sieht sich die Japan Foundation, die zentrale Einrichtung für den Japanischunterricht im

Ausland, zu einer neuen Herangehensweise veranlasst, mit der auf dieses internationale

Interesse reagiert werden soll. Mit anderen Worten, es wird ein Bedarf gesehen,

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- Projekte, die der Unterstützung dienen, effizient mit Projekten, die der Werbung

dienen, zu kombinieren

- neue Richtlinien und Strategien für Projekte zu entwickeln, die der Werbung dienen

- vorhandenes Wissen, Humanressourcen und Netzwerke einzusetzen und

- den Blick auf frühere Beispiele in Europa und den USA zu richten und

Anknüpfungspunkte für die asiatischen Regionen zu suchen.

Es darf derzeit als sicher gelten, dass der Japanischunterricht international standardisiert

werden muss, und daher wurden erste Schritte hin zu “Standards für den Japanischen

Sprachunterricht” unternommen. Die Etablierung einer eigenen internationalen

Standardisierung begann mit der Untersuchung von bereits bestehenden Beispielen in

führenden Ländern, die schon Erfahrung in der Entwicklung von Richtlinien zum

Sprachunterricht im Kontext mehrsprachiger und multikultureller Gesellschaften haben, etwa

des ALL-Projekts in Australien (Scarino 1988), der SFLL in den USA (ACTFL 1999) und

des Allgemeinen Europäischen Referenzrahmens CEFR, der einer der Triebkräfte der

europäischen Integration ist (Council of Europe 2001).

2. Standards für den Japanischen Sprachunterricht als sprachliche

Richtlinienschaffung

2.1. Standardisierung

Bei der Behandlung des Themas „Entwicklung von ‚Standards für den Japanischen

Sprachunterricht’“ möchten die Autoren zuallererst auf die Begriffe „Standardisierung“,

„Wahl und Gebrauch“ sowie „Anwendung“ eingehen.

Wenn es um Richtlinien im Bereich der Sprache geht, läuft eine “Standardisierung“

auf die Erstellung eines Corpus hinaus, und so muss die Japan Foundation, um “Standards für

den Japanischen Sprachunterricht” entwickeln zu können, sowohl klare Motive für die

Einrichtung derselben formulieren, als auch die Ziele und Prinzipien des Standards benennen.

Das Rahmenwerk der “Standards für den Japanischen Sprachunterricht”, die sie vorschlägt,

hat als Grundprinzip die „Japanische Sprache für gegenseitiges Verstehen”, genauer gesagt

die “Japanische Sprache, die es einem Sender und Empfänger von Botschaften möglich

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macht, gemeinsam ihre jeweiligen Aufgaben zu bewältigen”. Das Konzept “Japanische

Sprache für gegenseitiges Verstehen” basiert auf “Kooperation” und der “Fähigkeit, Aufgaben

zu bewältigen”.

Ein Problem, das der Europäische Referenzrahmen im Hinblick auf die europäischen

Sprachen nicht in Betracht zieht, das aber für die japanische Sprache berücksichtigt werden

muss, ist der Umgang mit geschriebenen Zeichen. Japanisch ist dafür bekannt, dass es

Lernenden, vor allem denjenigen, die nicht bereits mit chinesischen Zeichen vertraut sind,

Schwierigkeiten beim Erlernen der kanji (chinesische Schriftzeichen) bereitet. Die Frage nach

der Schreibung der Zeichen, die zum Großteil aus kanji bestehen, kann natürlich nicht

umgangen werden, wenn es um Lesen und Schreiben des Japanischen geht. Außerdem geht

mit der Entwicklung eines Standards die schwierige Frage einher, wie am besten mit dem

Thema „Kultur“ umzugehen ist.

2.2. Wahl und Gebrauch

Im Bereich sprachbezogener Richtlinien führen die Begriffe “Wahl und Gebrauch” zum

Entwurf eines Statuskonzeptes. Hier ist es nützlich, den Begriff der “Domäne” anzuwenden,

den Fishman (1972) ausgehend von der “Wahl” einer Sprache (oder Sprachvariation) in

mehrsprachigen Umgebungen beschrieben hat. Die “Standards für den Japanischen

Sprachunterricht” erfordern ebenfalls ein Denken, das die japanische Sprache in einer

mehrsprachigen Gesellschaft positioniert.

Bei der Frage “Wahl und Gebrauch” sind, im Hinblick auf die Nutzer und Dialoge

führenden Beteiligten, die Zielsetzungen der “Standards für Japanischunterricht” wichtig.

Der letzte Punkt, der hinsichtlich der Aspekte “Wahl und Gebrauch” berücksichtigt

werden muss, ist der Wettbewerb mit anderen Standards, einschließlich solcher für den

Japanischunterricht. Die Entscheidung, wie die Koordination mit solchen bereits bestehenden

Standards ablaufen soll, ist ein weiterer unvermeidlicher Punkt, der im Entwicklungsprozess

der neuen “Standards für den Japanischen Sprachunterricht” behandelt werden muss.

2.3. Anwendung

Im Hinblick auf die Frage der “Anwendung” gibt es zwei Haupttypen von Standards. Einer ist

die Methode der SFELL, die einen Standard schafft, welcher Richtlinien für das Unterrichten

von mehreren (Fremd-)Sprachen in einem Land bietet, den USA. Die andere Methode ist die

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des Europäischen Referenzrahmens, welcher einen Standard mit Richtlinien schafft, die auf

zahlreiche in Europa gesprochene Sprachen anwendbar sind, einer großen Region mit vielen

Ländern.

Wenn die Situation des weltweit stattfindenden Japanischunterrichts betrachtet wird,

sollte man die japanische Sprache auf dem Niveau ähnlicher Sprachen, wie etwa Chinesisch

und Koreanisch, angesiedelt sehen, da sie der gleichen ostasiatischen Kultur entstammen und

alle einer Kultur angehören, die chinesische Zeichen (kanji) verwendet. Es sollte angestrebt

werden, einen gemeinsamen Standard zu entwickeln, der all diese Sprachen einschließt.

Genau genommen sind die “Standards für den Japanischen Sprachunterricht” ein Produkt

einer multilingualen Kultur. Wenn die “Standards für den Japanischen Sprachunterricht” Teil

einer multilingualen Gesellschaft werden sollen und als einer der Mechanismen zur Erhaltung

und Förderung von sprachlicher Vielfalt zu betrachten sind, hält es die Japan Stiftung für

mehr als angebracht, einen Standard zu entwickeln, der derart beschaffen ist, dass er ein

Grundelement bei der Entwicklung einer Ostasiatischen Variante des Europäischen

Referenzrahmens bilden kann, wie sie wohl nach und nach erforderlich werden wird, wenn

man sich darauf einrichtet, eine ostasiatische, multilinguale und multikulturelle Gesellschaft

aufzubauen.

3. Was bedeutet „Japanische Sprache für gegenseitiges Verstehen“?

3.1. Merkmale der Standards

Obwohl es vielleicht einfacher ist, einen Standard für Japanisch zu entwickeln, der allein auf

die Verbreitung abzielt, als die beiden zuvor genannten Methoden anzuwenden, wird es

wahrscheinlich einige Stolpersteine zu überwinden geben, bevor seine Richtlinien verstanden

werden und er als Referenz verwendet werden kann. Dazu kommt, dass dieser, sollte der

schlimmste aller Fälle eintreten, von manchen fälschlicherweise als Rückschritt zu den

Methoden des Japanischunterrichts zu Zeiten vor und während dem Zweiten Weltkrieg

aufgefasst werden könnte. Ungeachtet der angewandten Methode ist es wesentlich, dass die

Japan Foundation deutlich macht, dass sie mit den “Standards für den Japanischen

Sprachunterricht” keine derartige Absicht verfolgt.

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Von diesen Grundsätzen ausgehend hält die Japan Foundation es für notwendig, dass

die derzeit entstehenden “Standards für den Japanischen Sprachunterricht“ die folgenden

Merkmale haben:

- Sie müssen umfassend sein.

- Sie müssen offen sein.

- Sie müssen flexibel sein.

- Sie müssen kreativ sein.

- Sie müssen ein Prozess und nicht ein Produkt sein.

- Sie müssen der Vernetzung förderlich sein.

- Sie dürfen nicht verpflichtend sein.

3.2. An der multilingualen Gesellschaft teilhaben

Was bedeutet das Ziel und Prinzip der “Standards für den Japanischen Sprachunterricht”,

nämlich für gegenseitiges Verstehen benutzt zu werden, dann für die japanische Sprache? Es

bedeutet:

- Japanisch ist nicht mehr nur eine Sprache für das japanische Volk

- Es bedarf einer japanischen Sprache, die von einer Vielfalt von Menschen

verschiedener Nationalitäten und ethnischer Gruppen gesprochen wird.

Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die Japan Foundation in der Tat den Bedarf für Standards

für den Japanischen Sprachunterricht sieht, damit Japan teilhaben kann an der rapide auf uns

zukommenden multilingualen Gesellschaft.

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150

Staatsbürgerliche Erziehung

Erfahrungen aus dem National Centre for Languages (CiLT)

Lachlan MacCallum

Vielen Dank für die Möglichkeit, zu Ihnen über die Macht der Sprache, staatsbürgerliche

Erziehung und den „Curriculum for Excellence“, den neuen schottische Lehrplan, sprechen zu

dürfen. Es ist mir ein besonderes Vergnügen, zusammen mit Kollegen aus Europa

vorzutragen. In den letzten paar Jahren habe ich beim Europarat an Projekten zum

Fachbereich Geschichte mitgewirkt, in Seminaren und als Vorsitzender multinationaler

Arbeitsgruppen in ganz Europa. Neben dem Vergnügen, dabei etwas über andere Kulturen,

Nationalgeschichten und Bildungssysteme zu erfahren, ist die zentrale Botschaft, die sich mir

erschlossen hat, dass es viel mehr um Gemeinsamkeiten als um Unterschiede geht – die

gemeinsamen Fragen, mit denen wir als Pädagogen bei der staatsbürgerlichen Erziehung in

ganz Europa konfrontiert sind. Darauf werde ich später noch zu sprechen kommen.

Warum ich qualifiziert bin, zu Ihnen zu sprechen? Nun, ich war recht stark in Teile des

„Curriculum for Excellence“ (CfE) involviert und bin auf nationaler Ebene für die

Staatsbürgerliche Erziehung („Education for Citizenship“; EfC) im schottischen Schulbezirk

zuständig. Und in diesem Zusammenhang habe ich bei zahlreichen nationalen

Fachkonferenzen über das Thema Staatsbürgerliche Erziehung und ihre Bedeutung für den

beruflichen Alltag der Teilnehmer gesprochen. Dabei haben mir bisher die Teilnehmer der

nationalen Fachtagung des Bereichs Kunst und Design am meisten Respekt eingeflößt, da die

Kunstlehrerinnen und -lehrer dazu neigten, den Stil und die Farbkombination der Kleidung

des jeweiligen Referenten kritisch zu würdigen. Die Schauspiellehrer neigten eher dazu, die

Körpersprache zu analysieren. Ich bin nicht sicher, was Sie tun werden, wenn Ihre

Aufmerksamkeit abdriftet.

Wenn mir in Momenten akuter Langeweile bei Schulinspektorenkonferenzen gar

nichts mehr hilft, gehe ich die unregelmäßigen Verben durch. Denn ich bin ein aktiver

Sprachschüler – vielleicht die letzte der Qualifikationen, die ich für mein Hiersein heute

anbringen kann. Ich habe ein aufrichtiges Interesse an Sprachen – als Schüler. In den

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vergangenen 10 Jahren hatte ich große Freude daran, in einer bestimmten europäischen

Minderheitensprache ein gutes Niveau der Lesefähigkeit, und was meine Freundin Isobel

McGregor “auditives Verstehen im Kontext” nennt, zu erreichen; und nun erstreckt sich

meine Lesetätigkeit auch auf verwandten Sprachen und ich vergleiche die Unterschiede. Ich

bin da wirklich hartnäckig!

Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, wie das Lernen einer neuen Sprache über das

rein Linguistische und Funktionale hinaus auf eine Ebene des sozialen und kulturellen

Verstehens und in meinem Fall zur professionellen Kenntnis von Bildungssystemen führt – in

meinen Augen ist das das Weltbürgertum schlechthin.

(Ich werde Ihnen nicht verraten, welche Sprache es in meinem Fall ist, aber ein paar

Hinweise, während ich spreche, kann ich einstreuen – kanske ni kan gissa, kanske inte)

Die EfC und der CfE

Nun komme ich dazu, das Sprachenlernen im Zusammenhang mit der Staatsbürgerlichen

Erziehung und dem „Curriculum for Excellence“ (CfE) zu betrachten.

Die beiden lassen sich mühelos miteinander verbinden, da es in meinen Augen keinen

Unterschied zwischen ihnen gibt. Wenn wir die schottische Definition für die „Education for

Citizenship“ (EfC), also die Staatsbürgerliche Erziehung, nehmen, als die Vorbereitung

unserer jungen Menschen für politische, soziale, wirtschaftliche, kulturelle und erzieherische

Teilhabe an der Gesellschaft, dann ist das im Grunde nicht vom „Curriculum for Excellence“

(CfE) zu unterscheiden. Letzterer, mit seiner Betonung der Aspekte Verantwortliche Bürger,

Erfolgreiche Lernende, Selbstbewusste Individuen und Effektive Beitragende, schafft Klarheit

und Zielgerichtetheit für den EfC durch die Betonung klarer Ergebnisse für Schüler. Ich

werde daher die beiden Begriffe EfC und CfE ganz austauschbar verwenden, weil ich der

Meinung bin, dass sie gemeinsam der grundlegende Zweck von Bildung in einer Demokratie

sind.

Ich werde im Wesentlichen über Sprachen und die Frage des Staatsbürgerlichen

sprechen und es Ihnen selbst überlassen, das, was ich sage, auf die speziellen

Anwendungsbereiche des CfE zu beziehen. Vorweg jedoch zwei Warnmeldungen:

• Es ist als HMI (Her Majesty's Inspector) nicht meine Aufgabe, den Ansatz der

Schottischen Erziehungsbehörde SEED zur Sprachenpolitik zu verteidigen oder zu

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kritisieren; und auch nicht deren Herangehensweise an Fragen der Sprachenvielfalt.

Ich habe volles Vertrauen in die Organisationen CILT („Scottish Center for

Information on Language Teaching and Research“) und SALT (“Scottish Association

for Language Teaching“), dass sie in der Lage sind, mit vollem Einsatz für Ressourcen

und Unterstützung die Stellung zu halten.

• Auch ist das, was ich über die Rolle von Sprachen für das Thema Staatsbürgertum

sagen werde, nicht speziell nur für Sie allein anwendbar. Ich habe mich schon stark

gemacht dafür, dass das Fach Kunst und Design und das Thema Staatsbürgertum

zusammengehören, ausgehend von ästhetischen Werturteilen, visueller Analyse,

persönlichem Ausdruck und der Rolle der Kunst als Teil des freien

Meinungsausdrucks in einer Demokratie. Ich habe mich stark gemacht dafür, dass das

Fach Geschichte und das Thema Staatsbürgertum zusammengehören, ausgehend von

den Aspekten nationale Identität und kritisches Denken. Und ich habe mich stark

gemacht dafür, dass die Gesellschaftswissenschaften und das Thema Staatsbürgertum

zusammengehören, ausgehend vom Aspekt der politischen Kompetenz.

Ich werde einfach den schottischen Ansatz zur EfC aufzeigen und ein paar Gedanken dazu

äußern, wo im weitesten Sinne die Möglichkeiten für Sprachen in diesem Spektrum liegen.

Was ich herausstellen möchte, ist die Besonderheit des schottischen Ansatzes zur EfC – die

besondere kulturelle Dimension der EfC in Schottland. Auf diese Frage möchte ich mich

konzentrieren.

Was ist EfC?

Wir müssen ein wenig über das Konzept der Staatsbürgerlichen Erziehung sprechen. Wie

sieht es aus? Und welchen Ansatz haben wir in Schottland übernommen?

Nun, Staatsbürgertum ist per se ein komplexer und dynamischer Begriff – der sich

heute in mancher Hinsicht gegenüber der Zeit vor einigen Jahren, als ich mein Amt als

Landesbeauftragter angetreten habe, verändert hat. Also muss auch die staatsbürgerliche

Erziehung dynamisch sein und auf Anforderungen eingehen können – das versteht sich von

selbst.

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• Staatsbürgerliche Erziehung ist ein pan-europäisches Phänomen vom Baltikum bis

zum Balkan. In Osteuropa entstehen neue Staaten, mit der Notwendigkeit, nationale

Identitäten zu bilden und im globalen Wettbewerb zu konkurrieren. Die

Herausforderungen für Schüler und Bildungspolitiker in den schon lange bestehenden

Demokratien Westeuropas nehmen zu.

• Sie ist eine Antwort auf die Agenda zur sozialen Eingliederung, und die Rolle der

Schulen dabei ist es, den jungen Menschen ein Bewusstsein für soziale

Angelegenheiten zu vermitteln – die Notwendigkeit, einen gewissen Sinn für soziale

Verantwortung und Fairness zu entwickeln – und die Suche nach größerer sozialer

Gerechtigkeit.

• Sie ist eine Antwort auf die sich wandelnden politischen Gegebenheiten in Schottland

und anderswo. Sie wirft grundlegende Fragen auf, die politische Kompetenz

betreffend sowie die Rolle von Schulen bei der Gewährleistung dessen, dass junge

Menschen sowohl die demokratischen Prozesse verstehen, die ihr Leben beeinflussen,

als auch in der Lage sind, an diesen zu partizipieren. Politiker in ganz Europa zeigen

derzeit Interesse an der EfC und an den Ansichten der jungen Menschen zum

politischen Geschehen.

• Die Staatsbürgerliche Erziehung ist eine Antwort auf einige ganz grundlegende

Angelegenheiten der nationalen Identität und Kultur und, lokal betrachtet, die

Beziehung Schottlands zum Rest Großbritanniens und zu Europa.

• Sie ist eine Antwort auf die Zwänge, denen junge Menschen entgegensehen, wenn sie

in einer zunehmend globalen Wirtschaft ins Arbeitsleben eintreten.

Es gibt ein breites Spektrum von Ansätzen zur Staatsbürgerlichen Erziehung in anderen

europäischen Ländern, die gleiche Themen aufgreifen: soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche

Zwänge, Globalisierung, technischer Fortschritt und die Entfremdung von Gruppen junger

Menschen von der Gesellschaft, der sie angehören, und den Wertsystemen, die von den

Schulen repräsentiert werden.

Kerneigenschaften des in Schottland gewählten Ansatzes

Das Spektrum der Ansätze zur Staatsbürgerlichen Erziehung kann überzeichnet so dargestellt

werden, dass am einen Ende der Skala der Ansatz “Staatsbürgerkunde und Fahnenappell”, am

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anderen Ende das Modell “volle Mitverwaltung und Leitung von Schule und Gemeinde”

steht. Wie immer schon war Schottland recht geschickt und hat einen interessanten und ganz

eigentümlichen Mittelweg gewählt:

• Wir verfolgen in Schottland einen weitgefassten Ansatz zur EfC, der den Lehrplan,

den Unterricht, das Schulklima und die Beziehung der Schule zur Gemeinde betrifft.

Er ist weit entfernt von der Staatsbürgerkunde, verfährt aber nach einem sehr

sorgfältig und strategisch gestalteten Lehrplan, ein Bereich, in dem sich, wie unser

kürzlich vom HMIE erstelltes Porträt der EfC zeigt, viel bewegt hat. Das klingt liberal,

ist aber tatsächlich ziemlich schwer umzusetzen.

• Ich hoffe, dass die ACE-Initiative uns davon überzeugen wird, dass diese Frage jeden

angeht und nicht nur in der Verantwortung eines kleinen Kaders liegt.

• Vollwertige Staatsbürgerschaft bedeutet, die Möglichkeit und die Motivation zu

haben, politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich, pädagogisch und kulturell an den

Prozessen der Gesellschaft teilzunehmen. Die Fähigkeit, effektiv teilzuhaben,

hängt von dem Wissen, den Kenntnissen und der Erfahrung ab, und davon, ob

Entscheidungen auf gut informierter Basis möglich sind. Es gehört zum EfC-

Prozess an der Schule, dazu grundlegendes Wissen und Kenntnisse durch den

Lehrplan zu vermitteln.

• Der schottische Ansatz sieht junge Menschen als „Bürger heute – nicht Bürger von

morgen“. Sie haben Rechte und Pflichten, die wesentlich für den Bildungsprozess

sind. Die Atmosphäre und das Ethos der Schule sind entscheidende Faktoren, wenn es

darum geht, jungen Menschen das Gefühl zu geben, dass sie ins Leben an der Schule

eingebunden sind und eingebunden sein wollen. Es geht nicht nur darum, die richtigen

Unterrichtsstoffe zu lehren und sicherzustellen, dass jeder die Möglichkeit hat, bei

Berufspraktika Erfahrungen zu sammeln oder gemeinnützige Arbeit zu leisten. Die

Schule ist selbst eine Gemeinschaft, in der die Eigenschaften aktiver

Staatsbürgerschaft entwickelt werden können.

• Der schottische Ansatz betont außerdem einige Punkte ganz besonders:

1) kritisches Denkvermögen: analysieren und eigene Schlussfolgerungen auf

Basis verfügbarer Informationen ziehen

2) die Entwicklung eigener Wertvorstellungen und das Bewusstsein für die

Wertvorstellungen anderer

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3) Umweltbewusstsein und Wertschätzung kultureller Vielfalt als Teil der

Verantwortung und Pflichten, die das Weltbürgertum mit sich bringt

4) erweiterte Wertschätzung für die Bedeutung von Kultur und kultureller

Identität.

Im Grunde steht das, was die Staatsbürgerliche Erziehung EfC leistet, in keinerlei Differenz

zu dem, was das vorrangig Ziel des „Curriculum for Excellence“ ist:

• Verantwortungsvolle Bürger – die Entwicklung von Werten

• Erfolgreiche Lernende – die unabhängig und kritisch denken können

• Selbstbewusste Individuen – die in einer Vielzahl von Kontexten mit anderen

kommunizieren können

• Effektive Beitragende – die an der Gemeinschaft teilhaben wollen

Allerdings leben wir in einer Welt des, wie Politiker gerne sagen, „intelligenten Dafür-

Einstehens“. Bei meinen Tätigkeiten für zahlreiche Bildungsbehörden treffe ich auf viele

höhere Schulangestellte aus den Organisationsteams, die ihre Lehrpläne anhand praktischer

Überlegungen planen – im Zentrum stehen Budgetfragen und die Verfügbarkeit von Personal

statt die philosophische Auseinandersetzung mit der Macht der Sprache. Hier gibt es, wie

Ihnen sicher einleuchtet, eine starke Konkurrenz.

Wie kann dann aber die Sache der Sprachen und des staatsbürgerlichen Bewusstseins

vorangebracht werden? Nun, die Argumente, die den Spracherwerb als einen Teil des

Schulabschlusses befürworten, werden Ihnen wohlbekannt sein: Wenn man anerkennt, dass

staatsbürgerliche Erziehung auf der globalen Ebene ein Aspekt des Weltbürgertums ist, dann

gewinnt der Spracherwerb wirklich an Bedeutung. Und wenn man auch anerkennt, dass

unsere Gesellschaft in Schottland dynamisch und äußerst reich an kulturellen und

sprachlichen Ressourcen ist, dann gewinnt das Argument noch an Stärke.

Spracherziehung, sei es im Bereich der Fremdsprachen, der Sprachgemeinschaft oder

der Muttersprache, bietet folgende Vorteile, die direkt mit allem in Verbindung stehen, was

ich über staatsbürgerliches Bewusstsein und die vier Bereiche des CfE gesagt habe:

• die Kompetenz, selbstsicher in einer Vielzahl von Formen und Kontexten zu

kommunizieren

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• die Kompetenz, Texte auf ihre Bedeutung hin zu analysieren – im wörtlichen und

ästhetischen Sinn

• die Erweiterung des Horizonts und die Selbsterkenntnis, die Sprachkompetenz –

fremdsprachlich oder muttersprachlich – mit sich bringt; sowie ein Verständnis der

Gemeinschaftlichkeit und Verbindungen zwischen Völkern, auf historischer und

gesellschaftlicher Ebene, die das Wesen von Sprache untermauern; ebenso wie ein

Gefühl für bedeutsame Unterschiede, etwa die wunderbare Bandbreite ganz ähnlicher

Worte im schottischen und im Skåne-Dialekt für verschiedene Arten von Regen und

Nebel.

• Wertschätzung und Respekt für die gesellschaftlichen und kulturellen Werte anderer

entwickeln zu können – ein wesentlicher Aspekt der Staatsbürgerlichen Erziehung –,

was entscheidend für die zunehmend vielfältigeren Gesellschaften Europas und

anerkanntes Oberziel in den meisten Erziehungsrichtlinien ist. So ist etwa die Kenntnis

der Sprache und der Kultur der Samen gesetzlich verankerter Bestandteil der

nationalen Lehrpläne Norwegens, Schwedens und Finnlands.

• das Gefühl persönlichen Erfolgs und wachsenden Selbstbewusstseins – die Botschaft

eines unbekannten Textes oder einer Nachricht verstehen und übersetzen zu können.

Meine Frau denkt, ich sei verrückt, wenn ich ihr sage, dass das Lesen ausländischer

Romane wie Sudoku ist – Entspannung durch echte intellektuelle Herausforderung.

• das Gefühl von Unabhängigkeit, das das Überleben in einer fremden Umgebung mit

sich bringt. Vergessen Sie das Märchen, das jedermann Englisch spricht. Versuchen

Sie einmal, in Kiew U-Bahn zu fahren oder in einer Seitenstraße in Athen

Fußballtickets zu kaufen, ohne die Vorzüge einer klassischen Erziehung genossen zu

haben oder zumindest Grundkenntnisse der kyrillischen Schrift. Sogar die Vororte von

Stockholm haben ihre Tücken. Ich bin überall auf der Welt gut durchgekommen, bis

auf ein einziges Mal. Ferenczvaros Budapest spielte in einem Teil der Stadt, in den

Touristen nicht gehen, und da war ich wirklich aufgeschmissen.

• die Möglichkeiten, die sich für den Bereich Informationstechnologie ergeben

• die praktisch anwendbare und nützliche Seite von Sprache für die Herstellung von

Kontakten und die Abwicklung von Geschäften; samt den persönlichen und

gesellschaftlichen Auswirkungen, wenn man Geschäftsverhandlungen, weil man sich

darum bemüht hat, erfolgreich gestalten kann

• die Übertragbarkeit von Kenntnissen und Wissen – was es erlaubt, mit Zeit und

Unterstützung nahezu jede Sprache zu lernen.

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Letzteres ist für mich ist der eigentliche Vorteil, der alles Vorangegangene unterstreicht.

Der Zusammenhang von der Macht der Sprache und dem staatsbürgerlichen Denken

ist also ein schlagkräftiger, und genau darum geht es. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg dabei,

dies in ihren jeweiligen Schulen oder staatlichen und nationalen Zusammenhängen

voranzubringen.

Allerdings besteht der Trick, wie Sie selbst wissen, darin, die Kinder und jungen Menschen

von der Bedeutung und Relevanz des Sprachenlernens für ihr eigenes Leben zu überzeugen

und ihr Interesse, ihr Selbstbewusstsein, ihre Freude und ihren Leistungswillen anzuregen.

Dem Spaß am Sprachenlernen kommt also eine enorme Bedeutung zu. Kürzlich hatte ich das

Vergnügen, jemanden dabei zu beobachten, wie er eine Gruppe 11- bis 12-jähriger Schüler in

einer kleinen Schule auf dem Land intensiv an die Wiederaufnahme des

Französischunterrichts heranführte, nachdem dieser durch Personalengpässe abgebrochen

war. Es war alles sehr lebendig und lustig, aber was mich wirklich fasziniert hat, war die Art,

wie unser Kollege ohne Vorwarnung von perfektem, lebhaftem Französisch, was der

augenscheinliche Grund der Übung war, in ebenso fließendes Spanisch und Deutsch

wechselte, um einzelne Punkte zu verdeutlichen. Die Kinder waren entzückt. Was er im

Grunde bezweckte, war, ihnen den Rhythmus und Klang verschiedener Sprachen

nahezubringen – teilweise natürlich, um sie zu ködern und ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen,

aber auch, um sie von der Universalität der Sprache, wie sie beschreibt und Bilder malt, zu

überzeugen. Wie auch immer, es war gewaltig und sie hatten große Freude daran – ihr

Interesse war geweckt.

Ich werde noch weiter abschweifen mit einem weiteren Hinweis auf meine eigenen

Sprachinteressen. Ich fahre viel Auto. Ich höre mir dabei Hörbücher in meiner

Lieblingsfremdsprache an – um mich wach zu halten. Und ich schäme mich nicht zu sagen,

dass ich zu Beginn meines Lernens die Kinderkassette „Pu der Bär“ über Winnie Puuh hörte –

der in dieser Sprache „Nalle Puh“ heißt (inzwischen bin ich zu Detektivgeschichten von

Henning Mankell und Åke Edwardsson übergegangen). Zu meiner großen Überraschung

gluckste meine damals siebenjährige Tochter vergnügt vor sich hin, als Nalle Puh und seine

Freunde die verschiedensten Abenteuer mit Heffalumps erlebten – sie verstand die Worte

nicht, aber sie bekam die Bedeutung und das Vergnügen mit. Die Macht des Klangs

verzaubert. Ich persönlich liebe den Klang des Estnischen, obwohl es unwahrscheinlich ist,

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dass ich es jemals lernen werde, wie auch den des Italienischen und Griechischen – und den

meiner Lieblingssprache.

Schlussbetrachtung

Der einzige von meinen pädagogischen Ratschlägen, den meine drei Töchter beherzigt haben,

ist, dass es von Vorteil ist, entweder eine Sprache so gut zu lernen, dass man sie auf einem

vernünftigen Niveau beherrscht, oder aber, sollte dies scheitern, zwei bis zu einem

Basiswissen, das einem erlaubt, sich verständlich zu machen. In den verschiedenen Phasen

ihrer Ausbildung und ihre Karriere begreifen sie langsam, wie wichtig Erfahrung im

Sprachenlernen für einen Bürger innerhalb der globalen Gesellschaft ist.

Meine älteste Tochter machte eine einjährige Auslandserfahrung an einer

amerikanischen Highschool. In Utah machte sie zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem

Einfluss der Latinokultur, radebrechte auf Spanisch und nahm dann ein Jahr lang

Spanischunterricht an der Universität. Meine zweitälteste Tochter ging für ein Jahr nach

Stockholm an die Universität und nahm das unglaubliche Sprachvermögen ihrer polnischen,

holländischen, schwedischen, deutschen, spanischen und italienischen Freunde wahr, und

damit auch die sich daraus ergebenden Berufschancen in der Wirtschaft und im

internationalen Rechtswesen. Sie war schwer beeindruckt. (Ich muss dazu sagen, dass eine

gemeinsame Fußballleidenschaft sie ebenfalls stark motivierte.) Ich glaube, sie wissen heute

beide, dass Papa auch einmal Recht hatte – die kulturelle und funktionale Macht der Sprache

ist voll krass, um es in ihren Worten auszudrücken.

Tack for er uppmärksamhet. Det var jätte bra att jag kunde presentera om kraften av språk.

Jag talar svenska!

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Mehrsprachig – the treasure I’ve found

Gewinnerrede des Publikumswettbewerbs „Der Preis: Die Macht

der Sprache“

Ana Maria Baracaldo

2. Platz: Mehrsprachigkeit

At the cross-roads of life, in between the business of the everyday work-life and the tears and

violence of war, we, as citizens of the world, should find the necessary peace and tranquility

in the knowledge of the world’s languages.

Sprachen? Si, idiomas son las herramientas que deberíamos usar para crear las amistades

entre países.

Durch Sprachen habe ich gelernt, neue Kulturen kennenzulernen und Menschen zu begegnen.

This past year, I earned a new treasure. He hecho mis maletas y decidí a aprender alemán. En

realidad.

Ich beschloss, typische deutsche, amerikanische und kolumbianische Vorurteile zu

widerlegen.

Para que la gente las realidades entendieran.

Next month, I have to return home. But I’ll then leave in Germany:

Meine Gastfamilie, meine Freunde,

and the life I’ve lived here.

I know the treasure I’ve found:

el idioma,

und die Erinnerungen

will always be with me.

This is my peace and tranquility.

Der Wettbewerb wurde im Rahmen

des Festivals „Die Macht der

Sprache“ veranstaltet, das vom 14.

bis 16. Juni 2007 in Berlin stattfand

und den Abschluss des zweijährigen

internationalen Projekts bildete.

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Autorenindex

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Ludwig M. Eichinger ist Direktor des Instituts für Deutsche

Sprache und seit 2002 Ordinarius für Germanistische Linguistik an der Universität

Mannheim. Er war als Gastprofessor in China, den USA, Burkina Faso, Mali und Österreich

tätig und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Seit

2003 ist er Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Literatur

Mainz.

Prof. Dr. Rainer Enrique Hamel ist seit 1988 Ordentlicher Professor für Linguistik am

Anthropologischen Seminar der Universidad Autónoma Metropolitana, Mexiko-Stadt, sowie

Mitglied der Mexikanischen Akademie der Wissenschaften. Er hatte Gastprofessuren an der

Universität von Frankfurt a. M., an der Universität Mannheim und dem Institut für Deutsche

Sprache Mannheim, an der Stanford University, der Universität Santa Barbara sowie der

Universidade Federal do Pará in Belem, Brasilien, inne. Hinzu kamen Aufenthalte an

Universitäten in Kanada, Bolivien, Frankreich und Spanien.

Prof. Dr. Ulrich Ammon ist seit 1980 Professor für Germanistische Linguistik mit dem

Schwerpunkt Soziolinguistik an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg-Essen und war

Gastprofessor an zahlreichen ausländischen Universitäten. Seine Forschungsschwerpunkte

sind neben der Soziolinguistik auch Sprachsoziologie, Internationalsprachenforschung,

Sprachenpolitik, Dialektologie, neuere Geschichte der deutschen Sprache und Sprachdidaktik.

Seit 2003 ist er Präsident der Gesellschaft für Angewandte Linguistik. Außerdem ist er

Mitglied des Internationalen Rats des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim und

Mitglied des Beirats „Sprache“ des Goethe-Instituts.

Prof. Dr. Ralph Mocikat ist Professor für Immunologie an der Ludwig-Maximilians-

Universität München. Er leitet außerdem eine Arbeitsgruppe am Institut für Molekulare

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Immunologie München des Helmholtz Zentrums München. Seine Forschungsschwerpunkte

liegen im Bereich der Grundlagen-Immunologie, Molekularbiologie und experimentellen

Onkologie. Als Naturwissenschaftler setzt er sich für die deutsche Sprache in der

Wissenschaft ein. Als Vorsitzender des Vereins „Arbeitskreis Deutsch als

Wissenschaftssprache“ ist er Mitverfasser der „Sieben Thesen zur deutschen Sprache in der

Wissenschaft“, die etwa 150 Personen unterzeichnet haben

(www.7thesenwissenschaftssprache.de).

Prof. Dr. Peter Eisenberg hat seit 1993 den Lehrstuhl für Deutsche Sprache der Gegenwart

an der Universität Potsdam inne. Von 1990 bis 1992 war er Vorsitzender der Deutschen

Gesellschaft für Sprachwissenschaft. Seit 1998 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für

Sprache und Dichtung in Darmstadt. Prof. Eisenberg ist Mitglied verschiedener Beiräte und

Kommissionen, unter anderem beim DAAD und dem IDS Mannheim. Seine

Hauptarbeitsgebiete in der Sprachwissenschaft waren zunächst Computerlinguistik, künstliche

Intelligenz und Grammatiktheorie, danach vor allem die Grammatik des Deutschen mit den

Schwerpunkten Syntax und Semantik.

Jochen Scholz war zum Zeitpunkt der Konferenz Leiter der Repräsentanz der Deutschen

Management Akademie Niedersachsen in Moskau. Von 2004 bis 2008 war er gleichzeitig

Leiter der Repräsentanz des Landes Niedersachsen in Russland. Seit Anfang 2008 ist Jochen

Schulz Geschäftsführer der OOO „TÜV SÜD Russland“.

Dr. Gertrud Reershemius ist Professorin für Germanistische Linguistik an der Aston

University in Birmingham, England. Ihre Forschungsgebiete sind Sprachkontaktforschung

und Pragmatik mit den Schwerpunkten Jiddisch und Niederdeutsch.

Babak Saed ist im Iran geboren und bekannt für seine Installationen im öffentlichen Raum.

Er wurde im Jahr 2000 mit dem Kunstpreis der Stadt Bonn ausgezeichnet, ist Preisträger des

dna award 2002 der DigitalART Gallery Frankfurt/M. und erhielt im Jahr 2005 für eine

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Innenraumplastik den 1. Preis beim Wettbewerb „Kunst am Bau“ der Fachhochschule Bonn-

Rhein-Sieg, St. Augustin.

Marica Bodrožić ist deutsche Schriftstellerin mit kroatischer Abstammung. Sie studierte in

Frankfurt/M. Kulturanthropologie, Psychoanalyse und Slawistik. 2002 erhielt sie den

Heimito-von-Doderer-Preis und 2007 den Förderpreis Literatur zum Kunstpreis Berlin der

Akademie der Künste. Ihre persönliche „Liebesgeschichte“ zur deutschen Sprache schilderte

Sie in ihrem Buch „Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern“, das 2007

erschienen ist.

Prof. Dr. Joel Walters ist Extraordinarius für Linguistik am English Department der

Bar-Ilan-Universität in Israel. Sein derzeitiges Forschungsgebiet ist Zweisprachigkeit

und soziale Identität. Für die Daten in dem vorliegenden Beitrag „Sprache und

Identität im mehrsprachigen Israel“ und hilfreiche Kommentare dankt der Autor Dafna

Yitzhaki, Zhanna Feldman und Carmit Altman.

Ján Figel ist seit 2004 EU-Kommissar für allgemeine und berufliche Bildung und Kultur.

Zum Zeitpunkt der Konferenz fiel auch das Ressort „Mehrsprachigkeit“ in seinen

Zuständigkeitsbereich. Von 1992 bis 1998 war er Abgeordneter des Nationalrats der

Slowakischen Republik, danach bis 2002 Staatssekretär im slowakischen Außenministerium

und für die Beitrittsverhandlungen mit der EU zuständig. Von 1995 bis 2000 war er Dozent

für Internationale Beziehungen an der Universität Trnava. Der hier vorliegende Beitrag war

Teil der CICEB Konferenz „Mehrsprachigkeit in Europa – für eine bessere Praxis“ am

21. September 2006 im Ausschuss der Regionen, mitveranstaltet durch das Goethe-Institut

Brüssel.

Dr. Hartmut Retzlaff arbeitet am Goethe-Institut Rom im Bereich der Bildungskooperation

Deutsch. Er ist Chefredakteur von „per|voi – Eine Zeitschrift für Deutschlehrer/Innen in

Italien“.

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Uwe Rau ist stellvertretender Institutsleiter des Goethe-Instituts London und Leiter der

Spracharbeit. Er war zuvor stellvertretender Institutsleiter des Goethe-Instituts New York und

Leiter der Spracharbeit. Der hier vorliegende Beitrag stammt aus dem Symposium

„Sprachenpolitik in den USA fünf Jahre nach dem 11. September 2001“, das am

17. November 2006 in Nashville stattfand und Teil des internationalen Projektes „Die Macht

der Sprache“ des Goethe-Instituts war.

Prof. Dr. Heidi Byrnes arbeitet seit 1977 am German Department der Georgetown

University in Washington, DC und ist Vizepräsidentin der American Association for Applied

Linguistics. Ihr Schwerpunkt im Bereich Lehre und Forschung liegt auf dem

Zweitsprachenerwerb bei Erwachsenen. In den letzten Jahren hat sie sich verstärkt auch mit

sprachpolitischen Fragestellungen befasst. Der hier vorliegende Beitrag ist die

Zusammenfassung eines Vortrags, der im Rahmen des Festivals „Die Macht der Sprache“ am

15. Juni 2007 in Berlin gehalten wurde.

Prof. Dr. Fumiya Hirataka ist Germanist, Sprachwissenschaftler und Spezialist für die

japanische Sprache. Er war eine Zeit lang an der Humboldt Universität Berlin tätig. Zurzeit

arbeitet er an der Keio Universität Tokio im Fachbereich Policy Management. Der hier

abgedruckte Vortrag wurde beim Festival „Die Macht der Sprache“ am 15. Juni 2007 in

Berlin gehalten.

Dr. Katsumi Kakazu ist als Managing Director für die Abteilung Japanische Sprache der

Japan Foundation in Tokio verantwortlich und im Internationalen Zentrum der Japanischen

Sprache von Urawa tätig. Er war auch als Leiter des Zentrums der Japanischen Sprache in

Sydney beschäftigt. Der hier abgedruckte Vortrag wurde beim Festival „Die Macht der

Sprache“ am 15. Juni 2007 in Berlin gehalten.

Lachlan MacCallum ist HM Inspector of Schools in Schottland und Mitglied des Projekts

„Learning and teaching about the history of Europe in the 20th century“.

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Podien und Wettbewerbe:

„Muttersprache Vaterland“

Krzysztof CzyŜewski wurde 1958 geboren und ist Essayist, Lyriker, Übersetzer und

Redakteur. Er leitet das Institut Pogranicze im kleinen Ort Sejny an der litauisch-

weißrussischen Grenze und führt den Verlag Pogranicze. CzyŜewski knüpft seit Jahren

Verbindungen zwischen Polen und anderen Ländern Ostmitteleuropas.

Volha Hapeyeva wurde 1982 in Minsk geboren. Sie schreibt Prosa und Lyrik und übersetzt

aus dem Polnischen, Englischen und Deutschen.

Marius Ivaškevičius wurde 1973 geboren, studierte litauische Philologie, schreibt Prosa,

Dramen und Essays.

Andrej Kurkow wurde 1961 im heutigen St. Petersburg geboren. Er studierte Fremdsprachen

und ist Journalist, Drehbuchautor und Autor von Romanen wie etwa „Picknick auf dem Eis“,

„Pinguine frieren nicht“, „Die letzte Liebe des Präsidenten“. Kurkow lebt in Kiew, er schreibt

auf Russisch. €(

Dr. Martin Pollack (Moderation) stammt aus Oberösterreich, studierte Slawistik sowie

osteuropäische Geschichte u. a. in Wien und Warschau. Parallel zum Studium wurde er als

Journalist und Übersetzer tätig und begann 1987 seine Arbeit als Redakteur für das

Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Seit 1998 ist er als freier Autor tätig und wurde 2003 mit

dem Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzungen geehrt. Von der Stadt

Breslau/Wrocław erhielt er den Angelus-Literaturpreis (2007).

„Multilinguale Medien“

Suliman Aktham ist Leiter Berliner Büros von Al-Dschasira.

Astrid Frohloff ist Fernsehjournalistin und Moderatorin. Seit Dezember 2003 ist sie im

Vorstand der Organisation „Reporter ohne Grenzen“.

Sybille Golte ist Leiterin der Asienprogramme und des Indonesischen Programms des

Deutsche Welle Radios.

Prof. Dr. Oliver Hahn ist Medienwissenschaftler und Professor für Journalistik an der

privaten Hochschule „Business and Information Technology School“ in Iserlohn

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Peter Koppen (Moderation) ist stellvertretender Leiter für internationale Koproduktionen,

Sprachkurse und Bildungsprogramme des Deutsche Welle Radios.

„Sprachenpolitik“

Dr. Emil Brix ist Abteilungsleiter im Bundesministerium für europäische und internationale

Angelegenheiten, Österreich.

Georg Boomgaarden war zum Zeitpunkt des Podiums Staatssekretär im Auswärtigen Amt.

Seit Sommer 2008 ist er Botschafter in London.

Prof. Dr. Gerhardt Leitner ist Professor am Institut für englische Philologie der Freien

Universität Berlin.

Dr. Georg Schütte ist Generalsekretär der Alexander von Humboldt Stiftung.

Alfred Eichhorn (Moderation) ist Redakteur und Moderator der Senderreihe „Forum – Die

Debatte im Inforadio“ beim Inforadio Berlin-Brandenburg.

(Das Podium wurde im Inforadio des RBB ausgestrahlt)

„Sprachenschutz“

Jean-François Baldi ist stellvertretender Leiter der Délégation générale für die französische

Sprache und die Sprachen Frankreichs.

Jean-Claude Crespy ist Leiter des Institut Français in Berlin.

Prof. Dr. Jutta Limbach war Gastgeberin des Podiums und zum Zeitpunkt der Debatte

Präsidentin des Goethe-Instituts.

Maik Meuser (Moderation) ist Moderator der Deutschen Welle. Seit Juli 2007 moderiert er

das Journal auf DW-TV.

Prof. Dr. Jürgen Trabant ist Leiter des Romanischen Instituts der Freien Universität Berlin

Wettbewerb „Jugend debattiert“

Denys Chernyshenko, Ukraine

Jakub Štefela, Tschechische Republik

Milda Vikut÷, Litauen

Inese Zepa, Lettland

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Rednerwettbewerb „Die Macht der Sprache“

Ana Maria Baracaldo hat kolumbianische Wurzeln, besucht die Schule in den USA und war

zu einem Schüleraustausch in Deutschland.

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