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ZUM INHALT 1 R RELIGION betrifft uns 1 · 2015 Nach Auschwitz Benedikt Grimm Nach Auschwitz Die radikale Anfrage an Anthropologie und Gotteslehre „Der nachdenkliche Christ weiß, dass in Auschwitz nicht das jüdische Volk, sondern das Christentum gestorben ist.“ Diesen bewegenden Satz äußerte Elie Wiesel, Auschwitzüberlebender und Friedensnobelpreisträger, 1978 in dem Gespräch mit Harry James Car- gas 1 . Ein Satz, der nicht nur zum Nach- denken aufruft, sondern der zum Inne- halten, zum Verharren und schließlich zur radikalen Selbsthinterfragung der christlichen Glaubens- und Lebenspra- xis führen sollte. Die Mörder, Mitläufer und Zuseher im Nationalsozialismus waren beinahe allesamt Christen: Der Planer am Schreibtisch, der Denunzi- ant in der Nachbarschaft, der Fabri- kant der Gaskammern und Krematorien und der Mörder, der unbewaffnete Frauen, Kinder und Männer erschoss, in die Gaskammern trieb oder in den La- gern verhungern und erfrieren ließ. Doch das Versagen der Christenheit hat seine Ursprünge schon viel früher und reicht zurück in die Redaktionszeit der Evangelien, in denen der unhaltbare, weil völlig unhistorische Vorwurf der Gottesmörderschaft niedergeschrieben wurde. Seit den frühesten Zeugnissen der Kirche entfremdete sich das Chris- tentum vom Judentum und damit pa- radoxerweise von sich selbst, da die Kirche zunächst nichts anderes ist als jener Arm des Judentums, der sich der Heidenmission öffnete. Der in der Kir- chengeschichte geförderte Antijudais- mus und Antisemitismus ist zwei- felsohne kein Anzeichen einer Auto- nomisierung, sondern offenbart das Vergessen der eigenen Wurzel und Herkunft. So muss heute noch betont werden, dass Jesus ein gesetzestreuer Jude war, der in Kleinasien als Jude vor einer jüdischen Zuhörerschaft pre- digte und dabei die Thora auslegte. Dies führt schließlich zum Blick auf das heutige Selbstverständnis des Christen- tums: Kann das Christentum bestehen als vom Judentum losgelöste Religion, während Christen, egal welcher Kon- fession, Psalmen singen, den Schöp- fungsbericht auslegen, in der Os- ternacht den Exodus lesen und in Jesus den Sohn Davids huldigen? Die Antwort ist kurz und klar: Nein. Ein Christen- tum, das sich nicht schleunigst zu sei- nen jüdischen Wurzeln bekennt, von jeder Verwerfungstheologie distanziert und sich dankbar hineingenommen fühlt in das Gottesvolk der Juden, ist eine Gemeinschaft, die gegen das Volk Gottes gerichtet ist und damit gegen Jahwe selbst. Elie Wiesel hat, obwohl seine Mutter und Schwester in Auschwitz, sein Vater in Buchenwald ermordet worden sind und er selbst als junger Mensch den unbeschreiblichen Qualen dieser Lager ausgesetzt war, sein Leben lang an Gott und an das Gute im Menschen ge- glaubt; sein Werk in Wort und Tat galt und gilt dem Einsatz für Menschenwür- de, Gerechtigkeit und dem Ringen mit Gott. Daher stehen in dieser Unter- richtseinheit seine Texte und eine Auswahl seiner berühmtesten Zitate im Vordergrund der Betrachtung. Es soll vermittelt werden, dass eine „Erzie- hung nach Auschwitz“ kein rückwärts- gewandtes Starren auf das Unbegreifli- che bedeutet, mit dem der Glaube an Gott und Mensch zerbricht. Vielmehr muss die Perspektive aufgezeigt wer- den, dass „Auschwitz […] den Men- schen weiterhin zwingen [wird], die dunkelsten Abgründe seines Seins zu durchforschen und sich ihrer schwan- kenden Wahrheit zu stellen.“, so Elie Wiesel im Jahre 2000 in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag. Es muss deutlich werden, dass Erinnern an Auschwitz eine Auseinandersetzung mit Gott und dem Menschen in seiner dramatischsten Form bedeutet und ei- ne Schlussstrichmentalität daher voll- kommen verfehlt ist. In der Frage nach Gott stellt Auschwitz und alles, was sich mit dem Begriff verbindet, eine Zäsur dar, da sich die altbewährten Theodizeemodelle als obsolet erweisen. So sollen die religiö- sen Antworten jüdischer Denker be- handelt werden, um einen Einblick in die Dramatik der jüdischen Auseinan- dersetzung mit Gott nach Auschwitz zu gewinnen. Es sollte auch deutlich werden, dass die christlichen Kirchen sich längst in ihrem Selbstverständnis tief im Juden- tum verwurzelt fühlen; Aufgabe ist es nun, dies in das Bewusstsein der Öf- fentlichkeit zu tragen. 1 Harry James Cargas in conversation with Elie Wie- sel. 1978, zitiert in: Reinhold Boschki, Das Schwei- gen Gottes in Auschwitz. Religiöse Erziehung und Religionspädagogik nach der Shoah. In: ders. (Hg.): Ist Vergangenheit noch ein Argument? Aspekte ei- ner Erziehung nach Auschwitz. Attempto-Verlag. Tübingen 1997, S. 123.

Die radikale Anfrage an Anthropologie und Gotteslehre

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Page 1: Die radikale Anfrage an Anthropologie und Gotteslehre

Z U M I N H A L T 1

R RELIGION b e t r i f f t u n s 1 · 2015 Nach Auschwitz

Benedikt Grimm

Nach Auschwitz Die radikale Anfrage an Anthropologie und Gotteslehre

„Der nachdenkliche Christ weiß, dass in Auschwitz nicht das jüdische Volk, sondern das Christentum gestorben ist.“ Diesen bewegenden Satz äußerte Elie Wiesel, Auschwitzüberlebender und Friedensnobelpreisträger, 1978 in dem Gespräch mit Harry James Car-gas1. Ein Satz, der nicht nur zum Nach-denken aufruft, sondern der zum Inne-halten, zum Verharren und schließlich zur radikalen Selbsthinterfragung der christlichen Glaubens- und Lebenspra-xis führen sollte. Die Mörder, Mitläufer und Zuseher im Nationalsozialismus waren beinahe allesamt Christen: Der Planer am Schreibtisch, der Denunzi-ant in der Nachbarschaft, der Fabri-kant der Gaskammern und Krematorien und der Mörder, der unbewaffnete Frauen, Kinder und Männer erschoss, in die Gaskammern trieb oder in den La-gern verhungern und erfrieren ließ. Doch das Versagen der Christenheit hat seine Ursprünge schon viel früher und reicht zurück in die Redaktionszeit der Evangelien, in denen der unhaltbare, weil völlig unhistorische Vorwurf der Gottesmörderschaft niedergeschrieben wurde. Seit den frühesten Zeugnissen der Kirche entfremdete sich das Chris-tentum vom Judentum und damit pa-radoxerweise von sich selbst, da die Kirche zunächst nichts anderes ist als jener Arm des Judentums, der sich der Heidenmission öffnete. Der in der Kir-chengeschichte geförderte Antijudais-mus und Antisemitismus ist zwei-felsohne kein Anzeichen einer Auto-nomisierung, sondern offenbart das Vergessen der eigenen Wurzel und

Herkunft. So muss heute noch betont werden, dass Jesus ein gesetzestreuer Jude war, der in Kleinasien als Jude vor einer jüdischen Zuhörerschaft pre-digte und dabei die Thora auslegte. Dies führt schließlich zum Blick auf das heutige Selbstverständnis des Christen-tums: Kann das Christentum bestehen als vom Judentum losgelöste Religion, während Christen, egal welcher Kon-fession, Psalmen singen, den Schöp-fungsbericht auslegen, in der Os-ternacht den Exodus lesen und in Jesus den Sohn Davids huldigen? Die Antwort ist kurz und klar: Nein. Ein Christen-tum, das sich nicht schleunigst zu sei-nen jüdischen Wurzeln bekennt, von jeder Verwerfungstheologie distanziert und sich dankbar hineingenommen fühlt in das Gottesvolk der Juden, ist eine Gemeinschaft, die gegen das Volk Gottes gerichtet ist und damit gegen Jahwe selbst. Elie Wiesel hat, obwohl seine Mutter und Schwester in Auschwitz, sein Vater in Buchenwald ermordet worden sind und er selbst als junger Mensch den unbeschreiblichen Qualen dieser Lager ausgesetzt war, sein Leben lang an Gott und an das Gute im Menschen ge-glaubt; sein Werk in Wort und Tat galt und gilt dem Einsatz für Menschenwür-de, Gerechtigkeit und dem Ringen mit Gott. Daher stehen in dieser Unter-richtseinheit seine Texte und eine Auswahl seiner berühmtesten Zitate im Vordergrund der Betrachtung. Es soll vermittelt werden, dass eine „Erzie-hung nach Auschwitz“ kein rückwärts-gewandtes Starren auf das Unbegreifli-

che bedeutet, mit dem der Glaube an Gott und Mensch zerbricht. Vielmehr muss die Perspektive aufgezeigt wer-den, dass „Auschwitz […] den Men-schen weiterhin zwingen [wird], die dunkelsten Abgründe seines Seins zu durchforschen und sich ihrer schwan-kenden Wahrheit zu stellen.“, so Elie Wiesel im Jahre 2000 in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag. Es muss deutlich werden, dass Erinnern an Auschwitz eine Auseinandersetzung mit Gott und dem Menschen in seiner dramatischsten Form bedeutet und ei-ne Schlussstrichmentalität daher voll-kommen verfehlt ist. In der Frage nach Gott stellt Auschwitz und alles, was sich mit dem Begriff verbindet, eine Zäsur dar, da sich die altbewährten Theodizeemodelle als obsolet erweisen. So sollen die religiö-sen Antworten jüdischer Denker be-handelt werden, um einen Einblick in die Dramatik der jüdischen Auseinan-dersetzung mit Gott nach Auschwitz zu gewinnen. Es sollte auch deutlich werden, dass die christlichen Kirchen sich längst in ihrem Selbstverständnis tief im Juden-tum verwurzelt fühlen; Aufgabe ist es nun, dies in das Bewusstsein der Öf-fentlichkeit zu tragen. 1 Harry James Cargas in conversation with Elie Wie-

sel. 1978, zitiert in: Reinhold Boschki, Das Schwei-gen Gottes in Auschwitz. Religiöse Erziehung und Religionspädagogik nach der Shoah. In: ders. (Hg.): Ist Vergangenheit noch ein Argument? Aspekte ei-ner Erziehung nach Auschwitz. Attempto-Verlag. Tübingen 1997, S. 123.

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R RELIGION b e t r i f f t u n s 1 · 2015 Nach Auschwitz

M 1.2 Wo ist Gott?

Martin Doerry, Journalist und bis 2014 stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift SPIEGEL, reiste für sein Buch „Nirgendwo und überall zu Haus“ quer durch Europa und Amerika, um mit 24 Menschen zu sprechen, die der Vernichtung durch die Nationalsozialisten knapp ent-kommen sind, unter anderem mit dem Hochschuldozen-ten und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel (geb. 1928 in Sighet, Rumänien). Wiesel sagte im Gespräch mit Doer-ry: „Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden.“

Martin Doerry: Herr Wiesel, wann sind Sie nach Auschwitz gebracht worden? Elie Wiesel: Am 22. Mai 1944. Ich werde diese Reise niemals vergessen. Am Nachmittag stoppte der Zug nicht weit ent-fernt vom Bahnhof der Stadt Auschwitz. Uns sagte der Name gar nichts. Dann, nachts, verließen wir den Zug über die be-rüchtigte Rampe von Birkenau. Es dauerte nur wenige Minu-ten, und schon waren alle Familien auseinandergerissen. Männer und Frauen wurden getrennt. Ich konnte mich nicht einmal von meinen Liebsten verabschieden. Ich sah nur noch den roten Mantel meiner kleinen Schwester, den sie gerade erst geschenkt bekommen hatte. Mein Vater und ich kamen zunächst für drei Wochen in das Stammlager und dann nach Monowitz. Doerry: Wie waren die Bedingungen dort? Wiesel: Es war schrecklich — Hunger, Angst, Quälerei und Tod gehörten zum Alltag. Wenn man selbst so leiden musste, so war das schlimm; aber noch schlimmer war es, das Leiden des eigenen Vaters mitanzusehen. Natürlich wurde ich auch immer schwächer, aber ich war jung. Ich konnte diese Grau-samkeiten irgendwie ertragen. Mein Vater konnte das nicht. Ihn zu sehen, wie er fror und hungerte, das war schrecklich. Außerdem war es für ihn schier unerträglich, dass er seinem eigenen Sohn nicht helfen konnte. Doerry: Viele Menschen haben in Auschwitz ihren Glauben verloren. Primo Levi erzählt davon. Wiesel: Primo Levi war im selben Block wie wir, aber er war auch vorher nie wirklich gläubig gewesen. Ich selbst war sehr

religiös. Wir beide, mein Vater und ich, beteten weiterhin zum Gott Israels. Aber es gab auch Zeiten, wo ich mir die Frage stellte: Wo ist Gott hier? Doerry: Was passierte, als die sowjetischen Truppen nach Auschwitz kamen? Wiesel: Mitte Januar 1945 stand die Rote Armee so dicht vor Auschwitz, dass das Lager geräumt werden sollte. Ich befand mich zu diesem Zeitpunkt in der Krankenbaracke. Mein Vater kam dann zu mir, und wir entschieden, dass wir das Lager mit allen anderen zusammen verlassen wollten. Jeder glaub-te, dass die Patienten in der Krankenbaracke getötet werden würden, die SS würde keine Zeugen überleben lassen. Doerry: Was dann aber doch nicht geschah, aus welchen Gründen auch immer. Wiesel: Aber wir konnten das nicht vorhersehen. Wir mach-ten den Todesmarsch nach Gleiwitz mit. Von dort sind wir auf offenen Güterwaggons abtransportiert worden. Doerry: Im Januar 1945? Wiesel: Ja, wir standen die meiste Zeit. Es schneite, viele Gefangene erfroren. Doerry: Ihr Vater überlebte die Fahrt? Wiesel: Ja, aber einige Tage später starb er in Buchenwald. Magen und Darm waren zu schwach geworden. Man hatte ihn geschlagen, und ich konnte ihm nicht helfen. In seiner letz-ten Stunde rief er meinen Namen. Am Ende antwortete ich nicht mehr. Ich fürchtete mich. Doerry: Fühlten Sie sich schuldig? Wiesel: Natürlich fühlte ich mich schuldig. Wenn ich darauf bestanden hätte, dass wir beide in der Krankenbaracke von Auschwitz geblieben wären, hätte er vielleicht überlebt. Ich wollte, dass er mir sagt, was wir tun sollten. Aber er wollte, dass ich ihm sagen würde, was das Richtige sei. Doerry: Das heißt, Sie mussten die Entscheidung treffen? Wiesel: Ach, wissen Sie: In Auschwitz traf man keine Ent-scheidungen, das erledigten immer andere. Martin Doerry, „Nirgendwo und überall zu Haus". Gespräche mit Überlebenden des Holocaust, © 2006, Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Ran-dom House GmbH

Arbeitsauftrag

Führen Sie mit Ihrem Sitznachbarn, Ihrer Sitznachbarin ein stummes (!) Schreibgespräch.

WO IST GOTT?

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M A T E R I A L I E N 3

R RELIGION b e t r i f f t u n s 1 · 2015 Nach Auschwitz

M 2.1 Kaum zu glauben? Sie nannten ihn den Küster-Mosche, als habe er nie einen Familiennamen besessen. In der chassidischen Synagoge war er das Mädchen für alles. Die Juden von Sighet — dem Sie-benbürgener Städtchen, in dem ich meine Kindheit verlebt habe —, mochten ihn gerne. Er war bettelarm und lebte jammervoll. Er störte niemanden, seine Anwesenheit ging niemandem auf die Nerven. Er beherrschte die Kunst, nicht aufzufallen und sich unsichtbar zu machen. Körperlich war er linkisch wie ein Clown. Mit seiner Schüch-ternheit erregte er Heiterkeit. Ich liebte seine großen träu-menden Augen, die sich in der Welt zu verlieren schienen. Er sprach wenig, sang dafür aber viel. Das wenige, das man verstehen konnte, handelte vom Leiden der Gottheit und von der Erlösung. Wir waren vier Geschwister: die älteste hieß Hilda, dann kam Bea, ich war der dritte und einzige Sohn, gefolgt von Tsiporah, der jüngsten. Meine Eltern hatten ein Handelsge-schäft. Küster-Mosche wurde mein Lehrer, der mich in die religiösen Geheimnisse und in die jüdische Mystik einführte. Zehnmal, zwanzigmal lasen wir ein und dieselbe Stelle jüdi-scher heiliger Bücher. Nicht um sie auswendig zu lernen, sondern um den Kern der Gottheit zu begreifen. Eines Tages wurden die ausländischen Juden aus Sighet ge-jagt; Küster-Mosche war Ausländer. Von ungarischen Polizis-ten in Viehwagen gesperrt, weinten sie dumpf vor sich hin.

Tage vergingen, Wochen, Monate. Das Leben kehrte in seine gewohnten Bahnen. Eines Tages sah ich auf dem Weg zur Synagoge auf einer Bank an der Tür den Küster-Mosche sit-zen. Er erzählte mir seine Geschichte und die seiner Gefähr-ten: Der Zug der Ausgewiesenen hatte die ungarische Grenze passiert und war auf polnischem Gebiet von der Gestapo übernommen worden. Dort hielt er an. Die Juden mussten aussteigen und auf Lastwagen klettern, die einem Wäldchen entgegenfuhren. Dort hieß es: aussteigen und tiefe Gräben ausheben. Als sie ihre Arbeit beendet hatten, begann die Gestapo die ihre. Ohne Leidenschaft, ohne Hast erschossen sie ihre Gefangenen. Jeder musste sich dem Loch nähern und sein Genick hinhalten. Säuglinge wurden in die Luft ge-schleudert und von Maschinengewehren aufs Korn genom-men. Das geschah in den galizischen Wäldern in der Nähe von Kolomea. Wie entkam der Küster-Mosche aus dieser Höl-le? Durch ein Wunder. Da er einen Beinschuss erhalten hatte, hielt man ihn für tot … Mosche war verändert. In seinen Augen leuchtete keine Freude mehr. Doch die Leute weigerten sich nicht nur, seine Geschichten zu glauben, sondern auch, sie anzuhören. Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis, © 1958 by Editions des Minuit, Paris. Alle deutschen Rechte beim Bechtle Verlag, Esslingen 1962, genehmigt durch die F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München. Aus dem Französischen von Curt Meyer-Clason, S. 15—20 (gekürzt).

Arbeitsauftrag und Leitfragen

Machen Sie sich Notizen zu den Leitfragen. Diskutieren Sie Ihre Ergebnisse in Vierergruppen. - Nennen Sie Gründe, warum dem „Küster-Mosche“ nicht geglaubt wird. - Warum gibt es heute noch Zweifel an den Berichten Überlebender? Wie argumentieren diejenigen, die Zweifel äußern? - Warum ist es von Bedeutung, die Berichte Überlebender in Erinnerung zu halten? M 2.E1 Wo war Gott in Auschwitz? Gott, der das Antlitz verhüllt, ist, wie wir denken, weder ei-ne Abstraktion des Theologen noch ein Bild des Dichters. Es ist die Stunde, in der der Gerechte keine äußere Zuflucht mehr findet, in der ihn keine Institution mehr beschützt, in der sich auch die Tröstung der göttlichen Gegenwart im kindlichen religiösen Gefühl verweigert, in der das Indivi-duum nur in seinem Bewusstsein siegen kann, d.h. notwen-digerweise im Leiden. Dies ist spezifisch jüdischer Sinn des Leidens, das in keinem Augenblick den Wert einer mysti-schen Sühne für die Sünden der Welt annimmt. Die Position der Opfer in einer Welt ohne Ordnung, das heißt in einer Welt, in der das Gute nicht siegen kann, ist Leiden. Es offenbart einen Gott, der, indem er auf jede hilfreiche Manifestation verzichtet, an die volle Reife des restlos ver-antwortlichen Menschen appelliert. … Ich liebe Ihn, aber noch mehr liebe ich seine Tora … Und selbst wenn ich von Ihm enttäuscht wäre, die Gebote der Tora würde ich nichts-destoweniger beobachten. Textauszug aus: Emmanuel Lévinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Juden-tum. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. © der deutschen Übersetzung Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1992.

M 2.E2 Wo war der Mensch in Auschwitz? Die jüdische Weisheit lehrt, dass Der, der das ganze Univer-sum geschaffen hat und trägt, das Verbrechen, das der Mensch am Menschen begeht, nicht tragen, nicht vergeben kann … Die Schuld gegenüber Gott untersteht der göttlichen Vergebung, die Schuld aber, die den Menschen beleidigt, un-tersteht Gott nicht … Das Böse ist kein mystisches Prinzip, das sich durch einen Ritus auslöschen lässt, es ist eine Belei-digung, die der Mensch dem Menschen antut. Niemand, nicht einmal Gott, kann sich an die Stelle des Opfers setzen. Die Welt, in der die Vergebung allmächtig ist, wird unmensch-lich. Textauszug aus: Emmanuel Lévinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Juden-tum. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. © der deutschen Übersetzung Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1992

Der französische jüdische Philosoph Emmanuel Levinas (1906–1995) ist in Litauen geboren. Fast seine ganze Fa-milie wurde von den Nazis ausgerottet. Er selbst war im KZ und überlebte. Seine Frau wurde von niederländischen Ordensfrauen versteckt und gerettet.

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M 3 Die Toten Hosen: Ballast der Republik

Ein ganzes Land kniet nieder Vor wem? Was tut „dem Land“ leid? Und sagt „Es tut uns leid!“ Wir geben zu, wir haben den Krieg verloren Was heißt das? Ist der Krieg plötz-

lich nicht mehr verloren? Doch das ist jetzt vorbei Uns ist klar, wir müssen büßen Welche Buße leistet das Land? Damit Ihr uns verzeiht Wer ist mit „Ihr“ gemeint?

Die Nation wird ausgewürfelt Und dann durch zwei geteilt Die einen saufen Coca Cola Die anderen fressen Mauerstein Hier feiert man Wirtschaftswunder Und da den 1. Mai Doch jeden Tag besucht uns Derselbe Parasit

Was assoziieren Sie mit dem Begriff „Parasit“?

Alle tragen auf ihren Schultern Konkretisieren Sie, was hier mit Ballast gemeint ist. Den Ballast der Republik Die alten Panzer sind verrostet Wir sind wieder vereint Heute quälen uns noch mehr Sorgen Noch mehr Sorgen als wann? Die Kohle wird verheizt

Wir haben keine Zeit mehr Für Politik und Religion Wenn wir an Götter glauben

Stellen Sie einen Zusam-menhang zwischen politi-schem Nationalstolz und Fußballbegeisterung her.

{ Dann tragen sie Trikots

Doch jeden Tag besucht uns Derselbe Parasit Im Kopf und auf den Schultern Der Ballast der Republik Es ist wie Pech, das an uns klebt Der Ballast der Republik

Interpretieren Sie im Kontext des Liedes den Vergleich „wie Pech“.

In den Clubs und auf den Straßen Was haben alle satt? Alle haben es so satt Man tanzt bis in den Morgen Doch die Sorgen fallen nicht ab Und alle schieben Hass Hass auf wen? Es ist der alte Parasit Im Kopf und auf den Schultern Der Ballast der Republik

Die Toten Hosen, Album „„Ballast der Republik“, 2012, © Jochens kleine Plattenfirma, Düsseldorf

Arbeitsauftrag

Analysieren Sie den Songtext. Als Hilfestellungen und Leitfragen dienen die Anmerkungen am Rand.

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R RELIGION b e t r i f f t u n s 1 · 2015 Nach Auschwitz

M 4.1 Die Attacke der Beschuldigung

Manchmal, wenn ich nirgends mehr hinschauen kann, ohne von einer Beschuldigung attackiert zu werden, muss ich mir zu meiner Entlastung einreden, in den Medien sei auch eine Routine des Beschuldigens entstanden. Von den schlimmsten Filmsequenzen aus Konzentrationslagern habe ich bestimmt schon zwanzigmal weggeschaut. Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz her-um; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergan-genheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. An-statt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation un-serer Schande, fange ich an wegzuschauen. Martin Walser, Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 1998. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a. M. 1998, S. 17 f.

Information Der Schriftsteller Martin Walser (geb. 1927) galt jahrzehnte-lang als feste Größe deutscher Intellektueller. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1998 beklagte er die „Dauerpräsentati-on unserer Schande“ und sprach sich gegen das zentrale Ho-locaust-Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin aus. Walser wurde daraufhin frenetisch gefeiert und ebenso heftig kritisiert. Ein Streit mit Ignaz Bubis, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, war die Folge. Zitate aus der Rede: www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de

M 4.2 Nie werde ich diese Nacht vergessen

Nie werde ich diese Nacht vergessen, die erste Nacht im La-ger, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat. Nie werde ich diesen Rauch vergessen. Nie werde ich die kleinen Gesichter der Kinder vergessen, deren Körper vor meinen Augen als Spiralen zum blauen Himmel aufstiegen. Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten. Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich in alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat. Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten, und meine Träume, die das Ant-litz der Wüste annahmen. Nie werde ich das vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. Nie. Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis, © 1958 by Editions des Minuit, Paris. Alle deutschen Rechte beim Bechtle Verlag, Esslingen 1962, genehmigt durch die F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München. Aus dem Französischen von Curt Meyer-Clason, S. 56.

Arbeitsaufträge

- Kontrastieren Sie die beiden Texte. - Erörtern Sie, wie hier mit der Opfer- und Täterperspektive umgegangen wird. - Versetzen Sie sich in die Lage von Elie Wiesel. Was mag ihm durch den Kopf gehen, wenn er die Rede von Walser, einem der berühmtesten Schriftsteller und Intellektuellen Deutschlands, liest?

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R RELIGION b e t r i f f t u n s 1 · 2015 Nach Auschwitz

M 4.E1 Entwurf für ein Wiedergutmachungsabkommen

Der israelische Schriftsteller Dan Pagis wurde 1930 in Bu-kovina, Rumänien, geboren. Seine frühen Lebensjahre verbrachte er in einem nationalsozialistischen Konzentra-tionslager in der Ukraine, vormals Rumänien. 1946 wan-derte er ins vorstaatliche Israel aus, wo er anfangs im Kibbuz und dann an der Hebräischen Universität in Jeru-salem unterrichtete. Er wurde zu einer der bedeutenden Stimmen der moder-nen israelischen Literatur. In seinen Gedichten tauchen immer wieder indirekte Verweise auf den Holocaust auf, die zusätzlich durch seinen Gebrauch biblischer oder mys-tischer Bilder durchzogen werden. Dan Pagis starb 1986 in Jerusalem. Das Gedicht entstand, nachdem die Bundesrepublik Deutschland und Israel im September 1952 in Luxemburg ein Abkommen über Reparationsleistungen unterzeichne-ten.

Schon gut, meine Herren, die immer Zeter und Mordio schreien, ihr lästigen Wundertäter, Ruhe! Alles kommt wieder an seinen Platz. Ein Paragraph nach dem anderen. Der Schrei wieder in die Kehle. Die Goldzähne in den Kiefer. Die Angst. Der Rauch in den blechernen Schornstein

und tiefer, tiefer hinein in die Hohlräume der Knochen. Schon werden sich Haut und Sehnen über euch bilden

und ihr werdet leben, seht doch, ihr werdet leben, immer noch am Leben sein, im Wohnzimmer sitzen, die Abendzeitung lesen. Seht, da seid ihr ja! Gerad noch zur rechten Zeit. Was den gelben Stern angeht: Der wird einfach von der Brust gerissen und emigriert in den Himmel. Dan Pagis, An beiden Ufern der Zeit. Ausgewählte Gedichte und Prosa. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Straelen 2003.

Aufgaben

A Beschreiben Sie mit eigenen Worten, wie in diesem Gedicht die erlittene Gewalt dargestellt wird. B Erörtern Sie, wie hier die Opfer der Gewalt dargestellt werden. C Bedenken Sie, was es bedeutet, wenn der gelbe Stern „von der Brust gerissen“ wird. D Lesen Sie im Buch Ezechiel 37,1-4 und vergleichen Sie diese Stelle mit dem Gedicht und seinem Anliegen. E Diskutieren Sie den Begriff „Wiedergutmachung” vor dem Hintergrund des Gedichts.

M 4.E2 Dreizehn Gebote

Yehuda Bauer, geboren 1926, ist Professor an der Hebräi-schen Universität Jerusalem und von 1996 bis 2000 Leiter des International Centre for Holocaust Studies in Yad Vashem.

In dem Buch, von dem ich schon sprach, stehen die Zehn Gebote. Vielleicht sollten wir drei weitere Gebote hinzufü-gen. Du, deine Kinder und Kindeskinder sollen niemals Täter werden. Du, deine Kinder und Kindeskinder dürfen niemals Opfer sein. Du, deine Kinder und Kindeskinder sollen nie-mals, aber auch niemals passive Zuschauer sein bei Massen-mord, bei Völkermord und — wir hoffen, dass es sich nicht wiederholt — bei Holocaust-ähnlichen Tragödien. Yehuda Bauer, Gedenkrede zur Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 1998 im Deutschen Bundestag

Aufgaben

Recherchieren Sie zu Yehuda Bauer, Anlass und Inhalt seiner Rede.

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R RELIGION b e t r i f f t u n s 1 · 2015 Nach Auschwitz

M 4.E3 Lyrik von Charlotte Delbo

Nerven härter als Knochen

O ihr Wissenden

wusstet ihr, dass Beine zerbrechlicher sind als Augen

nur ein Wort für Angst der Schrecken keine Grenze Wusstet ihr, dass das Leiden keine Schranke kennt

wusstet ihr, dass ein Tag länger dauert als ein Jahr eine Minute länger als ein Leben

Wusstet ihr es dass Durst sie trübt wusstet ihr, dass man morgens sterben will und abends Angst hat

O ihr Wissenden

O ihr Wissenden O ihr Wissenden dass es nur ein Wort für Entsetzen gibt wusstet ihr, dass Hunger die Augen glänzen lässt

wusstet ihr, dass man seine Mutter tot sehen und keine Tränen haben kann

O ihr Wissenden ihr Wissenden Wusstet ihr, dass die Steine am Weg nicht weinen,

das Herz widerstandsfähiger als Stahl wusstet ihr, dass ein Tag länger dauert als ein Jahr eine Minute länger als ein Leben

Charlotte Delbo lebte von 1913 bis 1985, sie war eine französische Künstlerin und Schriftstellerin. Sie überlebte den Holocaust. aus: Charlotte Delbo, Trilogie. Auschwitz und danach. Ungekürzte, korrigierte Ausgabe. © Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1993, S. 18.

Arbeitsauftrag

Schneiden Sie die Verse aus und ordnen Sie die Textstreifen in eine sinnvolle Reihenfolge.

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R RELIGION b e t r i f f t u n s 1 · 2015 Nach Auschwitz

M 5.2 Theologie „nach Auschwitz“ Für Johann Baptist Metz, einen der bedeutendsten Be-gründer und Vertreter der politischen Theologie, ist das Leiden Mittelpunkt seiner theologischen Arbeit. Seine in-tensive Auseinandersetzung mit der Theodizee und mit der Frage nach einer Theologie nach Auschwitz erklärt er anhand eines oft zitierten Hinweises auf seine Biografie: Langsam, viel zu langsam wurde mir bewusst — und das Ein-geständnis der langgestreckten Verzögerung verschärfte die Irritation! —, dass die Situation, in der ich Theologe bin, also von Gott zu reden suche, die Situation ,nach Auschwitz’ ist. Auschwitz signalisierte für mich einen Schrecken jenseits al-ler vertrauten Theologie, einen Schrecken, der jede situati-onsfreie Rede von Gott leer und blind erscheinen ließ. Gibt es denn, so fragte ich mich, einen Gott, den man mit dem Rücken zu einer solchen Katastrophe anbeten kann? Und kann Theologie, die diesen Namen verdient, ungerührt nach einer solchen Katastrophe einfach weiterreden, von Gott und von den Menschen weiterreden, als ob angesichts einer solchen Katastrophe nicht die unterstellte Unschuld unserer menschlichen Worte zu überprüfen wäre? Ich war beunru-higt: Warum sieht man der Theologie diese Katastrophe — wie überhaupt die Leidensgeschichte der Menschen — so we-nig oder überhaupt nicht an? Kann und darf theologische Rede hier ähnlich distanziert verfahren wie (vielleicht) philosophi-sche? Ich war beunruhigt von dem augenfälligen Apathiege-halt der Theologie, von ihrer erstaunlichen Verblüffungsfes-tigkeit. […] ‚Nach Auschwitz‘ kennzeichnet einen Riss in meiner christlich-theologischen Biographie. Johann Baptist Metz: Theologie als Theodizee? in: Willi Oelmüller (Hrsg.), Theodizee — Gott vor Gericht? Wilhelm Fink Verlag. München, 1990, S. 103

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Arbeitsaufträge

Beantworten Sie in stichwortartigen Sätzen die folgenden Leitfragen. Vergleichen Sie die Ergebnisse mit Ihrem Sitznachbarn bzw. Ihrer Sitznachbarin, bevor Sie sich im Plenum dazu äußern. A Was meint Ihrer Meinung nach Metz damit, dass die Theologie „nach Auschwitz“ nicht mehr in einer Art und Weise

sprechen könne, wie sie es vorher getan habe? B Was versteht man unter einer situationsfreien Rede von Gott? C Was ist unter „Verblüffungsfestigkeit“ und „Apathiegehalt der Theologie“ zu verstehen?

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M 6 Traditionelle Antworten auf die Theodizeefrage (1) Armin Kreiner: Augustinus und die traditionelle Standardantwort Innerhalb des Christentums hat sich im Laufe der ersten Jahrhunderte so etwas wie eine „Standardantwort“ auf das Leben des Bösen und des Leids entwickelt. Diese Antwort griff auf Gedanken zurück, die bereits in den Schriften des Alten Testaments anzutreffen sind. Gleichzeitig wurden die 5

biblischen Ansätze durch andere Ideen ergänzt und schließ-lich in ein Gedankensystem eingebracht, das sich in dieser Geschlossenheit in der Bibel noch nicht finden lässt. […] Eine zentrale […] Überzeugung besagt zweierlei: Leiden und Übel sind entweder die direkten Auswirkungen böser Taten 10

des Menschen oder aber die Folgen dieser Taten, die gleich-sam auf den Übeltäter zurückfallen. […] Gott trägt dafür Sorge, dass jedem sein gerechter Lohn bzw. seine gerechte Strafe zuteil wird. […] Diese Strafe wirkt sich nicht unbe-dingt nur auf einen einzelnen Übeltäter aus. Die Strafe kann 15

sich auch auf die ganze Gemeinschaft des Sünders erstre-cken, ja sogar auf seine Nachkommenschaft. Die Sünde wirkt gleichsam wie eine ansteckende Krankheit. Sie befällt nicht nur den Sünder selbst, sondern seine Gemeinschaft. Damit ist aber nicht nur das schlechte Vorbild des Sünders gemeint. 20

Die Sünde ist nicht nur deshalb ansteckend, weil sie andere zur Nachahmung reizt. Auch die Strafe, die eine Sünde nach sich zieht, ist gleichsam ansteckend. Sie kann das gesamte Volk betreffen. […] Dem individualistischen Denken der Mo-derne mag diese kollektivistische Vorstellung zwar völlig 25

fremd und ungerecht erscheinen. Sie war aber in der Welt-anschauung mehrerer alter Kulturen tief verwurzelt. […] Der Zusammenhang zwischen den Taten des Menschen und seinem Schicksal lässt sich sogar auf die gesamte Mensch-heitsgeschichte ausweiten. Die ersten Kapitel der Bibel er-30

zählen von der Erschaffung des Kosmos und von einer leid-freien paradiesischen Umwelt, die Gott ursprünglich als Le-

bensraum für den Menschen vorgesehen hatte. […] Es lag in der Macht des Menschen, in diesem leidfreien paradiesischen Anfangszustand zu verbleiben. Aus Hochmut und Ungehor-35

sam hat sich der Mensch jedoch dafür entschieden, Gottes Gebot zu übertreten. Dafür muss nun die gesamte Mensch-heit die Konsequenzen tragen. Eine wichtige Frage war in diesem Zusammenhang das Leid der Kinder. Bis zu einem bestimmten Alter konnten Kinder 40

noch gar nicht sündigen, trotzdem hatten auch sie schon zu leiden. Wie konnte also Leid mit Schuld zusammenhängen? Wenn Leid untrennbar mit menschlicher Schuld zusammen-hing, dann blieb nur eine Möglichkeit offen: auch Kinder mussten schon irgendwie schuldig sein. Es war insbesondere 45

Augustinus (354—430), der in diesem Zusammenhang die Lehre von einer universalen Sünde oder Schuld aufgegriffen und weiterentwickelt hat. In Gestalt der Erbsündenlehre wurde sie zu einem festen Bestandteil der christlichen Stan-dardantwort. Die Erbsünde geht auf die Sünde des ersten El-50

ternpaares zurück, also auf den Ungehorsam von Adam und Eva. Seither wurde sie zu einem festen Bestandteil, zu ei-nem erblichen Makel der menschlichen Natur. Dieser Makel wurde von Generation zu Generation weitergegeben und liegt den konkreten Fehlentscheidungen im Leben der ein-55

zelnen Menschen voraus. Diese ererbte Schuld war nun dazu geeignet, auch das Leiden der Kinder als Strafe für eine Sün-de verständlich zu machen. […] Gott hatte den Menschen ur-sprünglich gut erschaffen. Ihn trifft daher keine Schuld am leidvollen Schicksal des Menschen. Durch eigene Schuld war 60

der Mensch verderbt worden. Dafür wurde er nun von Gott gerechterweise bestraft. Armin Kreiner, Gott und das Leid. Bonifatius Verlag. Paderborn 1995, S. 22—27.

Aufträge

A Fassen Sie die Lehre des Augustinus in eigenen Worten zusammen. Erläutern Sie hierbei, worin laut Augustinus der Ur-sprung allen Übels liegt.

B Halten Sie Ihre Ergebnisse auf Folie fest. C Nehmen Sie persönlich dazu Stellung. Erscheint Ihnen die Lösung von Augustinus in Bezug auf den Holocaust plausibel?

(Begründen Sie: Warum? Warum nicht?

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R RELIGION b e t r i f f t u n s 1 · 2015 Nach Auschwitz

M 7 Traditionelle Antworten auf die Theodizeefrage (2) Die Theodizee (Rechtfertigung Gottes) durch G.W. Leibniz (1646–1716) Gottfried Wilhelm Leibniz hat in seinen „Essais de Theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de I’homme et I’origine du mal“ (veröffentlicht 1710) der „Rechtfertigung Gottes“ nicht nur den Namen (Theo-dizee) gegeben. Er hat zugleich den klassisch gewordenen Entwurf einer Theodizee geistvoll durchgeführt. Dieser tief in der großen europäischen Tradition wurzelnde Geist konnte dabei auf die Argumente zurückgrei-fen, die schon die Kirchenväter, stoische und neuplatonische Gedanken benützend, zur Beantwortung dieser „häufig be-sprochenen Frage“ (Basilius) erarbeitet und die die Scholasti-ker, insbesondere Thomas von Aquin, ausgebaut hatten. Im-mer war von den christlichen Denkern daran festgehalten worden: dass einerseits Welt und Mensch das gute Werk des vollkommen guten Gottes sind, der auf keinen Fall als Urheber des Bösen angesehen werden kann; dass andererseits der Ur-sprung des Bösen nicht in ein böses, widergöttliches Urprinzip verlegt werden darf; dass vielmehr das Böse seinen Ursprung in der menschlichen Sünde, in dem gegen Gottes Willen frei das Böse wählenden Willen des gut geschaffenen Menschen habe; dass es also keine eigene Substanz besitze, sondern nur der Mangel an Gutem sei, welcher nicht eine im eigentlichen Sinn effiziente, sondern nur eine defiziente Ursache voraus-setze. Mit anderen Worten: Gott will das Böse nicht; er ist der unendlich Gute, Gerechte und Heilige! Gott will aber das Böse auch nicht nicht; sonst gäbe es in der Tat keine Schlechtigkeit in dieser Welt! Sondern Gott lässt das Böse zu: nec vult, nec non vult, sed permittit! Warum? Als Mittel zur Erziehung und zur Strafe, wie schon Origenes gegen Celsus ausführte. Als Moment im Plan der göttlichen Weltordnung, die in jedem Fall eine Abstufung und Beschränkung der Vollkommenheit ver-langt und deren voller Sinn erst in der Zukunft offenbar wer-den wird. […] Diese Theodizee, diese Rechtfertigung Gottes gegenüber der Anklage wegen des Leides und Übels der Welt hat Leibniz um-fassend und glanzvoll zu einer Kosmodizee, zu einer Rechtfer-tigung der Welt ausgestaltet. Dieser geniale Philosoph und Theologe, Philologe, Historiker, Jurist, Politiker, Mathemati-ker, Physiker, Erfinder und Organisator war wahrhaftig nicht der Vertreter jenes seichten, oberflächlichen Optimismus und Eudaimonismus, den die Popularphilosophie der Aufklärung aus seiner Theodizee herausgelesen hat. Er war Realist genug, um das Leid und Übel in der Welt nicht zu übersehen. Die Welt war für ihn keine absolut vollkommene oder absolut gu-te. Aber Leibniz war getragen von einem unbesiegbaren Ver-trauen in den guten Gott. Das hat ihn dazu geführt, nicht nur Gott als den absolut Vollkommenen und Guten, sondern

zugleich die Welt als die beste aller möglichen Welten, die Gott hat schaffen können, zu rechtfertigen … Selbstverständ-lich hat Leibniz den Einwand vorausgesehen, dass Gott viel-leicht doch auch eine Welt ohne Sünde und ohne Leid hätte schaffen können. „Aber was ich bestreite, ist, dass sie dann besser wäre! […].“ In eingehenden Analysen […] setzt sich Leibniz mit den verschiedenen Arten des Übels auseinander: I. Das metaphysische Übel oder die Endlichkeit und Be-schränktheit jeglichen Geschöpfes: Solches Übel ist notwendig gegeben mit der Existenz der Welt, die in jedem Fall immer nur aus endlichen, d.h. beschränkten und unvollkommenen Wesen bestehen kann. Sollen nun diese endlichen Wesen in harmonischer Ordnung sämtliche Stufen des Seins ausfüllen, müssen die Unvollkommenheiten in der Welt verschieden auf die verschiedenen Wesen verteilt sein. Niemand hat sich zu beklagen über die Stufe, die gerade er in der Harmonie des Ganzen einnimmt. 2. Das physische Übel oder der Schmerz: Solches Übel ist not-wendig gegeben mit der Existenz der Materie, der Leiblichkeit und ihren — notwendig nicht nur lustbetonten, sondern auch schmerzvollen — Empfindungen. Der Platz, den der Einzelne im großen Ganzen einnimmt, bestimmt ihm auch das zu ertra-gende Maß der Übel. Schmerzen — ihre Zahl ist kleiner als die im Alltag als selbstverständlich meist übersehenen Annehm-lichkeiten und Freuden — sind heilsam als Strafe oder als Er-ziehungsmittel. Erträglich sind sie, wenn sie angenommen werden mit Vernunft, mit Geduld und im Vertrauen darauf, dass auch sie den Menschen zum Besten gereichen. 3. Das moralische Übel oder das Böse: Es ist notwendig gege-ben mit der Selbstbestimmung, Freiheit und somit Moralität geschaffener Geister. Auch das Böse — ein Mangel, nicht et-was Positives — beruht auf der nun einmal unvermeidlichen Unvollkommenheit endlicher Geschöpfe. Insofern aber ohne das Böse auch das Gute nicht wäre, ja, insofern durch das Bö-se oft das Gute vermehrt wird, ist selbst das Böse um der Harmonie des Ganzen willen von Gott zwar nicht gewollt, wohl aber zugelassen. Von dieser Grundposition her versucht Leibniz geduldig, auf alle die einzelnen Schwierigkeiten, die sich von der Existenz des Übels gegen Gottes Weltherrschaft ergeben, Antwort zu geben. In unerschütterlichem Vertrauen auf Gottes Güte und den guten Sinn aller Wirklichkeit ist er davon überzeugt, dass trotz allem bösen Anschein Gott alles „sehr gut“, optime, allerbestens geschaffen, geplant und ein-gerichtet hat … Hans Küng, aus: Gott und das Leid. Benziger Verlag, Zürich 1967, mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Aufträge

A Fassen Sie die Lehre von Leibniz in eigenen Worten zusammen. Erläutern Sie hierbei, worin laut Leibniz der Ursprung allen Übels liegt.

B Halten Sie Ihre Ergebnisse auf Folie fest. C Nehmen Sie persönlich dazu Stellung. Erscheint Ihnen die Lösung von Leibniz in Bezug auf den Holocaust plausibel? Be-

gründen Sie: Warum? Warum nicht?

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M 8.1 Jüdisch-religiöse Antwortversuche Entscheidend bei den jüdischen Reaktionen ist ohne Zweifel die Wahrnehmung der Katastrophe. Sie kann äußerst unter-schiedlich ausfallen, auch innerhalb des religiösen Kontexts. Hatten noch unzählige fromme Juden und Rabbiner während und nach der Schoah die Ereignisse im Horizont ihrer religiö-sen Tradition interpretiert, so wurde später für viele jüdi-sche Gelehrte die Gottesfrage angesichts von Auschwitz zum Problem. Es können drei Ströme der jüdisch-theologischen Reaktion unterschieden werden: - Kontinuität: in orthodoxer jüdischer Theologie wird die

Massenvernichtung mit den religiösen Paradigmen und Metaphern der jüdischen Tradition wahrgenommen und gedeutet. Manche Rabbiner sehen Auschwitz als Strafe Gottes für das sündige Volk Israel. Auschwitz wirft hier keine fundamental neue Fragen an die Tradition auf. - Diskontinuität: Vertreter dieses Weges sind Juden, die sich von der religiösen Tradition abkehrten. Gott wird für tot erklärt, da er keine Macht hatte, seinem auserwähl-ten Volk in der Zeit äußerster Gefahr beizustehen. Das Judentum wird nicht aufgegeben, wohl aber wird es sei-ner religiösen Dimension entleert und als kulturelle und geschichtliche Größe verstanden. Der Glaube ist ange-sichts der Ohnmacht Gottes in Auschwitz kraftlos gewor-den.

- Kontinuität in Diskontinuität: die Vertreter dieses Weges versuchen, über den Abgrund der Schoah hinweg an die alten Traditionen anzuknüpfen, wissend, dass sie nicht ungebrochen auf sie zurückgreifen können. Die Gestalt Ijobs, die jüdische Art, Gott herauszufordern, die Klage gegen Gottes Schweigen sowie die Neuformulierung von Gebeten und Riten sind Kennzeichen dieses Weges. Wich-tig zu sehen ist, dass sich jeder Vertreter dieses Weges intensiv mit den Zeugnissen der Opfer auseinanderge-setzt hat.

Elie Wiesel entwickelte seinen spezifischen literarischen An-satz in intensivem Gespräch mit den wichtigsten Vertretern jüdischer „Holocaust-Theologie“. Der Schriftsteller nimmt die verschiedenen religiösen und menschlichen Deutungen der Schoah auf, lässt sie von seinen Figuren diskutieren, stellt sie nebeneinander, ohne sie gegeneinander auszuspie-len. aus: Reinhold Boschki, Der Schrei. Gott und Mensch im Werk von Elie Wiesel, © Matthias Grünewald Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern, 2. Auflage 1995. www.verlagsgruppe-patmos.de

Aufträge

A Legen Sie eine Tabelle an, in der Sie die drei hier genannten Denkrichtungen differenzieren. B Für welchen „Weg“ haben Sie das größte Verständnis? Begründen Sie Ihre Meinung. C Setzen Sie sich dann mit den Gedanken Fackenheims auseinander: Worin liegt die Notwendigkeit des Erinnerns?

M 8.2 Es ist den Juden verboten …

Emil L. Fackenheim, geb. 1916 in Halle/Saale, Haft wäh-rend der Reichspogromnacht und Inhaftierung im KZ Ora-nienburg, Emigration nach Kanada, gestorben 2003 in Je-rusalem, hat im Jahr 1969 den Vorschlag gemacht, nach Auschwitz die 613 Gebote vom Sinai durch ein 614. Gebot zu ergänzen.

Es ist den Juden verboten, Hitler nachträglich siegen zu las-sen. Es ist ihnen geboten, als Juden zu überleben, damit das jüdische Volk nicht untergehe. Es ist ihnen geboten, der Op-fer von Auschwitz zu gedenken, damit das Andenken an sie nicht verloren gehe. Es ist ihnen verboten, am Menschen und seiner Welt zu verzweifeln und Zuflucht entweder im Zynis-mus oder der Jenseitigkeit zu suchen, damit sie nicht dazu beitragen, die Welt den Mächten von Auschwitz auszuliefern. Schließlich ist es ihnen verboten, am Gott Israels zu verzwei-feln, damit das Judentum nicht untergehe … Ein Jude darf auf Hitlers Versuch, das Judentum zu vernichten, nicht ant-worten, indem er selbst an dessen Vernichtung arbeitet. Emil L. Fackenheim

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M 9 Biblische Antwort: das Buch Ijob Information zum Buch Ijob (auch: „Hiob“): Nur wenige alt-testamentliche Bücher haben die Literatur des sogenannten Abendlandes derart geprägt wie das Buch Ijob. Seine be-rühmteste Adaption in der neueren Literatur findet es in Goethes „Faust“. Die Rahmenhandlung bildet ein Gespräch zwischen Gott und Satan. Der wirft Gott vor, dass sein „treuer Knecht“ Ijob sich nur deshalb untadelig, rechtschaffen und gottesfürchtig ver-halte, da er von Gott beschützt und mit Reichtum gesegnet sei. Gott lässt Satan daraufhin freie Hand über Ijob, um zu beweisen, dass er auch in Zeiten der Not seinen Glauben nicht verwerfen würde. Infolgedessen bewirkt Satan den

Verlust des Reichtums, der Familie und der Gesundheit Ijobs. Der Todkranke bekommt Besuch von seinen Freunden, die einen Grund für sein heftiges Elend suchen. Sie sind der Mei-nung, Ijob müsse gesündigt haben und werde deswegen von Gott bestraft. Ijob hält an Gott fest und erhält als Belohnung seinen Besitz und seine Gesundheit zurück. Das Buch Ijob wendet sich also gegen die Annahme eines sogenannten Tun-Ergehen-Zusammenhangs, der das Leid als Folge schlechter Taten erklärt. Das zeigt schließlich auch die Realität: Bösen Menschen geht es nicht automatisch schlecht; auch recht-schaffene Menschen machen die Erfahrung von Leid, Unge-rechtigkeit und Grausamkeit.

Arbeitsaufträge für die Gruppenarbeit

Gruppe 1: Lesen Sie die Klage Ijobs (Ijob 10,1-22). Vergleichen Sie diesen Text mit der Klage Elie Wiesels (M 10). Welches Gottesbild wird jeweils deutlich? Wie wird das Verhältnis zwischen Gott und Mensch dargestellt? Gruppe 2: Lesen Sie die theologische Rede von Zofar von Naama (Ijob 11,1-20). Erarbeiten Sie die Hauptaussagen und die Argumen-tationslinie. Gruppe 3: Lesen Sie die theologische Rede von Elifas von Teman (Ijob 15,1-35). Erarbeiten Sie die Hauptaussagen und die Argumen-tationslinie. Gruppe 4: Lesen Sie die abschließende Rahmenerzählung (Ijob 42,7-17). Erklären Sie, warum Gottes Zorn sich gegen die Gelehrten richtet und warum er letztlich Ijob belohnt. Alle Gruppen: Halten Sie Ihre Ergebnisse auf Folie fest und präsentieren Sie diese im Plenum.

M 10 Elie Wiesel, der Hiob von Auschwitz

Elie Wiesel berichtet von einer religiösen Gebetsfeier im Konzentrationslager am Vorabend von Rosch-Haschanah, bei der er angesichts der grauenhaften Lage Gott seine Wut und Anklage entgegenwirft.

Wer bist du, mein Gott, dachte ich zornig, verglichen mit dieser schmerzerfüllten Menge, die dir ihren Glauben, ihren Zorn, ihren Aufruhr zuschreit? Was bedeutet deine Größe, Herr der Welt, angesichts all dieser Schwäche, angesichts dieses Verfalls und dieser Fäulnis? […] Warum soll ich ihn preisen? Jede Faser meines Wesens sträubte sich dagegen. Nur weil er Tausende seiner Kinder in Gräben verbrennen ließ? Nur weil er sechs Gaskammern Tag und Nacht, Sabbat

und Festtag arbeiten ließ? Nur weil er in seiner Allmacht Auschwitz, Birkenau, Buna und so viele andere Todesfabri-ken geschaffen hat? […] Einst beherrschte der Neujahrstag mein Leben. Ich wusste, dass meine Sünden den Ewigen betrübten, und ich flehte um seine Vergebung. […] Heute betete ich nicht mehr. Ich war außerstande, zu seuf-zen. Ich fühlte mich im Gegenteil stark. Ich war der Anklä-ger. Und Gott war der Angeklagte. Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis, © 1958 by Editions des Minuit, Paris. Alle deutschen Rechte beim Bechtle Verlag, Esslingen 1962, genehmigt durch die F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München. Aus dem Französischen von Curt Meyer-Clason, S. 96—98.

Auftrag

A Vergleichen Sie die Anklage Wiesels mit der Anklage Ijobs (wenn nicht bereits in der Gruppenarbeit geschehen). B Warum empfindet er die Umkehr von Ankläger und Beklagtem als befreiend? C Setzen Sie sich mit dem Satz auseinander: „Wer Gott anklagt, hat den Kontakt zu ihm nicht verloren.“ D Schreiben Sie einen fiktiven Dialog zwischen Gott und einem anklagenden Menschen, der mit den Worten Gottes be-

ginnt: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut wird durch Menschen vergossen“ (Gen 9,6).

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M 11 Der Bruch in der Gebetspraxis Die Gebete und Erwähnungen des Gebets in Elie Wiesels Schriften stehen in besonderem Maße im Kontext der Scho-ah, da sie in fast allen Fällen von Überlebenden gesprochen werden. Deren Erinnerungen lassen keine „naive“, ungebro-chene Beziehung zu Gott im Medium des Gebets zu. Die Be-ter in den Texten Wiesels sind ins Stocken geraten. Die Wai-senkinder schweigen. Der Sohn weiß nicht, wie er für seinen Vater beten soll, was angesichts der Bedeutung des Toten-gebets im Judentum besondere Schmerzen bereitet. Die Wunden sind zu tief, als dass sie mit der unreflektierten Übernahme überlieferter Gebete geheilt werden könnten. Das Verlangen nach neuen, anderen Gebeten wird laut. Das Schweigen der Kinder aus Auschwitz scheint adäquater als die Gesänge des Rabbiners. Vielleicht könnten seine stummen Tränen die ersehnte, andere Form des Gebets dar-stellen. Oder es sind Erinnerungen, die den Platz der Rede zu Gott einnehmen. In den meisten Fällen jedoch werden die überlieferten Gebete dennoch gesprochen — trotz allem, was den Betern widerfahren ist, dem Tod zum Trotz. Erst nach einem langen Zögern, einem bewussten, erinnerungs-schweren Stocken werden sie rezitiert, wobei sich nicht die Gebete verändert haben, sondern die Haltung dessen, der sie betet. Entscheidend ist, dass er sie im Eingedenken spricht. Der überlieferte Text bildet die Worte, die Erinne-rung bildet die Sprache des Gebets. Wiesel schreibt keine traditionellen Gebete um oder lässt sie durch seine fiktiven Figuren umformulieren. Auch die neuen Gebete wären den Ereignissen nicht angemessen. „Ja, unse-re Generation hat Schwierigkeiten, bestimmte Worte in un-seren Gebeten zu äußern — Worte des grenzenlosen Lobprei-ses und ewigen Vertrauens. Wir sprechen Sie dennoch.“ (Elie Wiesel) Diese trotzige Haltung beim Beten reiht sich ein in Wiesels Ringen mit Gott, seine brennenden Fragen, die er dem Himmel entgegenstellt. Die Gebete nach Auschwitz werden bei Wiesel im Modus der Erinnerung, aber auch im Modus der Anklage gesprochen. Die Gebete erzählen die Geschichte der Toten und bringen sie erinnernd vor Gott. Die Erzählung von der Verlassenheit, den Tränen und Schreien der Opfer ist zugleich an den Mitmen-schen und an Gott adressiert:

„Der Schrei wird zum Gebet. An dem Tag, an dem mein Schrei rein sein wird, werde ich erzählen“ (Elie Wiesel: Ge-zeiten des Schweigens, S. 115). Trotz allem können wir beten, denn auch in und nach Auschwitz wurde von Opfern und Überlebenden Gott immer wieder angerufen. In diesem trotzigen „Dennoch“ unserer Rede zu Gott und im Zögern beim Gebet ist das Moment der Anklage bereits enthalten. Und das Moment der Erinnerung. Elie Wiesels literarisches Zeugnis ist Anstoß für ein erneutes christlich-theologisches Sprechen und Handeln nach Ausch-witz. Seine Botschaft ist wesentlicher Teil einer Kultur der Erinnerung. Wer eine neue Sprache finden will, muss gleichzeitig eine neue Praxis in seinem Alltag, in Gesellschaft, Kirche und Po-litik finden. Für Elie Wiesel bleibt Sprache — theologische, anthropologi-sche, literarische — stets gefährdet. Am Rande des Abgrunds ist sie der Gefahr des Verstummens ausgesetzt. Sprache (und Handeln) ist angesichts von Auschwitz stets vom Scheitern bedroht. Und dennoch: „Erreichbar, nah und verloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie musste nun hindurchgehen durch ih-re eigene Antwortlosigkeit, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Ant-wort her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ,angereichert‘ von all dem“ (Paul Celan: gesammelte Werke, Bd. 3, 1983, Seite 185 f.). Sprache, die „angereichert“ ist vom Eingedenken der Opfer, ist Erinnerungssprache. Sprache und Handeln müssen „ange-reichert“ sein von Erinnerung, um Humanität zu erreichen. Das Hören auf Elie Wiesels Zeugnis weist den Weg, heute ei-ne Sprache zu finden, die aus der Erinnerung an die Leiden der Vergangenheit — trotz allem — eines ermöglicht: Zukunft. aus: Reinhold Boschki, Der Schrei. Gott und Mensch im Werk von Elie Wiesel, © Matthias Grünewald Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern, 2. Auflage 1995. www.verlagsgruppe-patmos.de.

Auftrag

A Fassen Sie in eigenen Worten zusammen, was unter „Schrei als Gebet“ zu verstehen ist. B Erläutern Sie zunächst den Zusammenhang von Erinnerung und Gebet. C Erklären Sie dann, inwiefern Gebet mit Handeln in Verbindung steht.

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M 12 Klage als Gebet

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Arbeitsauftrag

A Formulieren Sie eine Klage, die an Gott gerichtet ist.

B Schneiden Sie Ihren Stein aus und befestigen Sie ihn an der Tafel.

Bilden Sie so mit Ihren Mitschü-lerinnen und Mitschülern eine Klagemauer.

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M 13.1 Das Verhältnis von Christen und Juden aus biblischer Sicht Ist die Erstlingsgabe vom Teig heilig, so ist es auch der ganze Teig; ist die Wurzel heilig, so sind es auch die Zweige. Wenn aber einige Zweige herausgebrochen wurden und wenn du als Zweig vom wilden Ölbaum eingepfropft wurdest und da-mit Anteil erhieltest an der Kraft seiner Wurzel, so erhebe dich nicht über die anderen Zweige. Wenn du es aber tust, sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich. Röm 11,16-18

Aufträge

A Geben Sie den Inhalt des Textes in eigenen Worten wieder.

B Gehen Sie auf Basis des Textes der Frage nach, ob Paulus mit dem Christentum eine neue Religion etab-lieren wollte.

C Skizzieren oder zeichnen Sie das Verhältnis von Chris-tentum und Judentum, das sich aus dem Paulustext ergibt.

Ihre Skizze bzw. Zeichnung

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M 1.1 Aufstand im Warschauer Ghetto Aufstand im Warschauer Ghetto vom 19. April bis 16. Mai 1943 Bundesarchiv, Bild 183-41636-0002/Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst — Zentralbild

Fragen zum Bild

- Beschreiben Sie die Szenerie. - In welcher Situation könnte das Foto entstanden sein? - Versuchen Sie, Gedanken zu formulieren, die dem Soldaten mit dem Gewehr durch den Kopf gehen könnten. - Was würden Sie gerne zu dem Soldaten sagen?

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M 5.1 Weinender Engel Berlin. Ruine der Nikolaikirche nach dem Einsturz der Gewölbe, 1949. © bpk Berlin/Foto: Max Ittenbach

Leitfragen

- Beschreiben Sie das Bild. - Warum könnte der Engel weinen? - Empfinden Sie es als irritierend, dass ein Engel (ein transzenden-tes Wesen) weint? - Halten Sie es für möglich, dass Jesus geweint hat? - Kann Gott weinen?

M 16 Auschwitz Die Todeswand („Schwarze Wand“) im Todesblock in Auschwitz, Vollstreckungsort Tausender Todesurteile. © akg-images/RIA Nowosti

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M 13.2 Das Verhältnis von Christen und Juden aus evangelischer Sicht Die evangelische Kirche veröffentlichte bereits im Oktober 1945 das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“, das von EKD- Ratsmitgliedern in Anwesenheit von Mitgliedern des Ökume-nischen Rates verlesen wurde. Die erste Studie, „Christen und Juden“, wurde im Jahre 1975 verabschiedet. 1993 und 2000 erschienen die Nachfolgestudien, die für neue Impulse sorgten, auch wenn sie innerhalb der EKD zu kontroversen Auseinandersetzungen führten. In diesem Text stellt die evangelische Theologin und Polito-login Heidrun Günther-Weißbeck die zentralen Grundlagen des christlich-jüdischen Dialogs aus evangelischer Sicht dar.

Arbeitsaufträge

A Stellen Sie das Verhältnis von Christentum und Ju-dentum dar, wie es in dem Text bestimmt wird.

B Diskutieren Sie die hypothetische Frage, ob der Holo-caust verhindert hätte werden können, wenn die evangelische Kirche sich VOR dem „Dritten Reich“ entsprechend geäußert hätte.

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- Der Sprachgebrauch „Altes Testament“ bezieht sich aus-schließlich auf die Entstehungszeit der hebräischen Bibel; das AT ist unauslöschlicher Teil unserer Bibel und nicht durch das „Neue Testament“ abgelöst, sondern ist des-sen unabdingbare Voraussetzung. - Ähnlich verhält es sich mit dem Alten und Neuen Bund. Der Neue Bund ist nicht die Ablösung des Alten Bundes. Der Alte Bund ist die Wurzel und der Stamm für den Neu-en Bund. Der Alte Bund ist von Gott nie gekündigt wor-den und weiterhin heilswirksam. Der Neue Bund ist eine in Jesus und seinem Tod vollzogene eschatologische Vor-ausnahme des Zielpunktes von Gottes Bund mit Israel. - Durch Jesus und sein im Judentum verankertes Leben und seinen dort verankerten Glauben sind die Christen mit dem Judentum unauflöslich verbunden. - Gott ist in Jesus, einem Juden in Israel, Mensch gewor-den. Jesus wurde als Jude geboren und starb als Jude, er war ein gläubiger und gesetzestreuer Jude. - Die Pharisäer sind keinesfalls eine von Jesus ausschließ-lich kritisierte Gruppe von jüdischen Theologen. Zu be-achten ist vielmehr, dass er dieser Gruppe theologisch am nächsten stand. - Der Kreuzestod Jesu ist weder direkt noch indirekt den Juden anzulasten, er ist vielmehr eine direkte Folge des damaligen römischen Rechtssystems in Jerusalem und deren Vertreter haben das Urteil zu verantworten. - Christen und Juden gemeinsam ist die ethische Dimensi-on ihres Glaubens, die in der Liebe und Zuwendung Got-tes zu den Menschen gründet. Christen und Juden glau-ben daran, dass Gerechtigkeit und Liebe Wesensmerkmale Gottes sind, dass Gottesliebe, Nächstenliebe und Fein-desliebe eine Einheit bilden. - Die Mitschuld der Christen an der geschichtlichen Juden-verfolgung bis zu und in der Shoa ist nicht zu leugnen. - Eine Auseinandersetzung mit dem Judentum und seinen Traditionen ist immer auch eine Auseinandersetzung mit der christlichen Identität und mit dem eigenen Glauben.

Heidrun Günther-Weißbeck

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M 13.3 Das Verhältnis von Christen und Juden aus katholischer Sicht

Arbeitsaufträge

- Suchen Sie den Text „Nostra aetate“ im Internet und stellen Sie seine Gliederung in einer Strukturgrafik (ein Kasten pro Überschrift) dar. Der Umfang der Themen am gesamten Dokument wird durch unterschiedliche Größen der Kästen visualisiert. - Lesen Sie das vierte Kapitel und fassen Sie in eigenen Worten zusammen. - Stellen Sie das Verhältnis von Christentum und Judentum dar, wie es im Text bestimmt wird. Achten Sie besonders darauf, wie von Juden und vom Judentum gesprochen wird. - Erarbeiten Sie Informationen aus dem Zeitstrahl, die Sie aus dem Originaltext nicht erhalten. - Diskutieren Sie die hypothetische Frage, ob der Holocaust verhindert hätte werden können, wenn die katholische Kir-che sich VOR dem „Dritten Reich“ entsprechend geäußert hätte.

1960 Besuch des französischen Historikers Jules Isaac (1877–1963), eines Mitbegründers der französischen christlich-jüdischen Dialoggruppe „Amitié Judéo Chrétienne“, bei Papst Johannes XXIII. Der Papst beauftragt den deutschen Jesuiten Augustin Kardinal Bea (1881–1968) mit der Vorbereitung einer Er-klärung des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Judentum. Antijüdische Aussagen sollen aus der kirchlichen Lehre verschwinden; das stößt innerkirchlich z.T. auf Widerstand. Außerkirchliche Kritiker, darunter Bischöfe aus Asien und arabische Delegierte, drängen auf Klärung des Verhältnisses der Kirche auch zum muslimischen Glauben und zu den asiatischen Religionen.

1961 Prozess gegen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, einen der Hauptorganisatoren des Holocaust, in Jerusa-lem. Er wird zum Tode verurteilt. Dezember: Erstentwurf des Decretum de Iudaeis (Textvorläufer von „Nostra aetate“).

1963 Tod von Johannes XXIII., Nachfolger: Papst Paul VI.

1964 Der Nahostkonflikt führt zur Gründung der PLO. In der Nationalcharta fordern sie die ursprüngliche Begrenzung des Territoriums und sind entschlossen, sie gegen den Staat Israel auch kriegerisch durchzusetzen. Entscheidungsprozesse, das Dokument „De Iudaeis“ als ein Kapitel in eine neu zu verfassende „Erklärung über die nicht-christlichen Religionen“ einzufügen. Presseerklärung der in Rom versammelten deutschen Bischöfe der Fuldaer Bischofskonferenz (28. September): „Wir deutschen Bischöfe begrüßen das Konzilsdekret über die Juden. Wenn die Kirche im Konzil eine Selbstaussa-ge macht, kann sie nicht schweigen über ihre Verbindung mit dem Gottesvolk des Alten Bundes. Wir sind über-zeugt, dass diese Konzilsdeklaration Anlass zu einem erneuerten Kontakt und einem besseren Verhältnis zwischen der Kirche und dem jüdischen Volk gibt. Wir deutschen Bischöfe begrüßen das Dekret besonders deshalb, weil wir uns des schweren Unrechts bewusst sind, das im Namen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist.“ Erste Abstimmung über „Nostra aetate“.

1965 Endabstimmung und Verkündigung von „Nostra aetate“ durch Papst Paul VI. Artikel 4 handelt statt „von den Ju-den“ nunmehr „von der jüdischen Religion“. Kardinal Bea über die Erklärung: „Trotz der ihr gezogenen Grenzen leistet die Erklärung einen kräftigen Beitrag zur Förderung des Friedens in der Menschheit … Die Erklärung ist in der Tat ein sehr wichtiger und verheißungs-voller Anfang, aber auch bloß ein Anfang auf einem langen und anfordernden Weg zum schwierigen Ziel, und die-ses Ziel ist eine Menschheit, in der alle Menschen sich wirklich als Kinder desselben himmlischen Vaters fühlen und benehmen werden.“ Kardinal Bea zu einem Freund: „Wenn ich vorher alle Schwierigkeiten gewusst hätte, hätte ich nicht den Mut ge-habt, diesen Weg einzuschlagen.“

Art des Votums Datum ja nein mit Vorbehalt ungültig

erste Abstimmung 20.11.1964 1651 99 242 4

Endabstimmung 15.10.1965 1763 250 — 10

Verkündigung 28.10.1965 2221 88 — 3 Abstimmungsergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils über „Nostra aetate“ nach: LThK. Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erläuterungen. Kommentar, Teil II, Verlag Herder, Freiburg/Basel/Wien 1967

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20 M A T E R I A L I E N

R RELIGION b e t r i f f t u n s 1 · 2015 Nach Auschwitz

M 14 Biografie von Elie Wiesel M 14.1 1928 geboren im rumänisch-ungarischen Sighet 1934-44 Besuch der jüdischen Schulen 1944 Deportation nach Auschwitz; Mutter und jüngere Schwester werden dort ermordet, der Vater in Buchen-

wald 1945 Befreiung; Elie Wiesel kommt nach Frankreich

Arbeitsauftrag

Versetzen Sie sich in die Lage von Elie Wiesel. Formulieren Sie aus dieser Perspektive, was er über Deutschland, den Men-schen an sich und über Gott gedacht und gesagt haben mag.

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1955 erstes Buch „Die Nacht“

1956 amerikanischer Staatsbürger; lebt in New York; schreibt Erzählungen, Romane, Artikel; erste Literatur-preise und Arbeiten an Universitäten

1969 Heirat mit Marion Wiesel, die auch Überlebende des Holocaust ist; Kampf für Menschenrechte und gegen Krieg in aller Welt

1972 Geburt des Sohnes Elischa; Professur an einer Universität in New York; Bücher über biblische Gestalten und jüdische Meister

1976 Professor an der Universität Boston (bis heute); weitere Romane, religiöse und ethische Schriften; die Frage nach Gott angesichts des Leidens beschäftigt Wiesel immer mehr

1986 Friedensnobelpreis; Begründung: „Elie Wiesel ist einer der wichtigsten geistigen Führer und Wegweiser unserer Zeit. Seine Worte verkünden die Botschaft des Friedens, der Versöhnung und der Menschenwür-de.“ Elie Wiesel sagt in seiner Rede zur Verleihung des Preises: „Ja, ich habe Glauben. Glauben an Gott und sogar an seine Schöpfung.“

1992 Wiesel spricht zu 1500 Jugendlichen auf dem Katholikentag in Karlsruhe; zentrale Botschaft: „Ich ver-traue auf euch, die junge deutsche Generation. Ihr werdet hier in Deutschland eine menschliche Gesell-schaft aufbauen.“

1995 Elie-Wiesel-Konferenz in Stuttgart, 50 Jahre nach Kriegsende; Wiesel sagt zu jungen Teilnehmern: „Ihr habt keine Schuld an dem, was damals geschehen ist. Aber ihr habt die Verantwortung, was ihr heute aus der Erinnerung macht.“

2000 Elie Wiesel hält im Bundestag eine Rede zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.

2009 Elie Wiesel besucht gemeinsam mit dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel das Konzentrations- und Todeslager Buchenwald.

Arbeitsaufträge

A Vergleichen Sie Ihre Notizen des vorherigen Arbeitsauftrags mit der tatsächlichen Biografie Wiesels. B Lesen Sie erneut sorgfältig die hervorgehobenen Zitate Wiesels. C Verfassen Sie einen Brief an Elie Wiesel. Gehen Sie hierbei auf die genannten Zitate ein.

Page 21: Die radikale Anfrage an Anthropologie und Gotteslehre

M A T E R I A L I E N 21

R RELIGION b e t r i f f t u n s 1 · 2015 Nach Auschwitz

Klausur

K 15 Elie Wiesel [Mein Lehrer] hatte mich eines Tages beobachtet, als ich in der Abenddämmerung betete. „Warum weinst du beim Be-ten?“, fragte er, als kenne er mich seit langem. „Ich weiß nicht“, erwiderte ich verstört. Die Frage war mir nie ge-kommen. Ich weinte, weil … weil etwas in mir weinen woll-5

te. Ich konnte nichts dazu sagen. „Warum betest du?“, fragte er mich eine Weile später. „Ich weiß es nicht“, antwortete ich noch verwirrter und befangener. „Ich weiß es wirklich nicht.“ Von diesem Tage an sah ich ihn häufig. Er versuchte mir ein-10

dringlich zu erklären, dass jede Frage eine Kraft besitzt, welche die Antwort nicht mehr enthält. „Der Mensch erhebt sich zu Gott durch die Fragen, die er an ihn stellt“, pflegte er immer wieder zu sagen. „Das ist die wahre Zwiesprache. Der Mensch fragt und Gott antwortet. Aber man versteht 15

seine Antworten nicht. Man kann sie nicht verstehen, denn sie kommen aus dem Grunde der Seele und bleiben dort bis zum Tode. Die wahren Antworten, Elieser, findest du nur in dir.“ „Und warum betest du, Mosche?“, fragte ich ihn. „Ich bete 20

zu Gott, der in mir ist, dass er mir die Kraft gebe, ihm wahre Fragen zu stellen.“ Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis, © 1958 by Editions des Minuit, Paris. Alle deutschen Rechte beim Bechtle Verlag, Esslingen 1962, genehmigt durch die F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München. Aus dem Französischen von Curt Meyer-Clason, S. 16f.

Datum:

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1. Textarbeit

1.1 Geben Sie kurz den Inhalt des Gesprächs wieder. 1.2 Welche Grundproblematik beim Beten wird thematisiert? 1.3 Erläutern und begründen Sie, was Beten für Mosche bedeutet. Die Teilaufgaben in Aufgabe 1 können als zusammenhängender Text beantwortet werden.

2. Weiterführung

2.1 Erläutern Sie, inwiefern ein Gebet auch immer eine Aufforderung zum Handeln darstellt. 2.2 Erklären Sie den Zusammenhang von Gebet und Erinnerung an Leid.

Viel Erfolg!