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MONTE VERITÀ VOLLPENSION MIT GARTENFRON Das Sanatorium auf dem Monte Verità bei Ascona war einer der bedeutendsten Orte der Lebensreform. Es lockte Denker und Träumer, Künstler und Lebenskünstler an und wurde zu einer Zufluchtstätte für politisch Verfolgte Von Tobias Engelsing Freiheit Die Kolonistin Mila Webel im Reformkleid Einfachheit Das Eingangsportal der Künstlerkolonie

Die Zeit Geschichte_Germany_August 2013

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Author: Tobias Engelsing

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MONTE VERITÀ

VO LLPENS I ONMIT GARTENF R ONDas Sanatorium auf dem Monte Verità bei Ascona war einer der bedeutendsten Orte der Lebensreform. Es lockte Denker und Träumer, Künstler und Lebenskünstler an und wurde zu einer Zufluchtstätte für politisch Verfolgte Von Tobias Engelsing

Freiheit Die Kolonistin Mila Webel im Reformkleid

EinfachheitDas Eingangsportal der Künstlerkolonie

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as Urteil des Schriftstellers und Anarchis-ten Erich Mühsam war vernichtend: Die Sanatoriums-Siedlung auf dem Monte Verità, als Absage an die in-dustrielle Moderne gegründet, sei nur noch eine »Pension mit ethischem Firmenschild«. Der Monte Ve-rità habe seine genossenschaftliche Gründungsidee ver-raten, sich gar zu einem »rein kapitalistischen Unter-nehmen« entwickelt, in dem »eigentlich nur noch einige in der Hausordnung gebotene Primitivitäten und der radikal durchgeführte Vegetabilismus an den ethischen Ursprung« erinnerten.

Gerade einmal fünf Jahre waren seit der Gründung der Vegetabilischen Gesellschaft auf dem kahlen Hügel oberhalb des Tessiner Fischerdorfs Ascona vergangen, als Mühsam diese Worte in einer 1905 erschienenen Tessin-Broschüre veröffentlichte. Er war ein früher Gast des Sanatoriums – und nun bitter enttäuscht, weil aus dem lebensreformerischen Projekt des Antwerpener Indus-triellensohns Henri Oedenkoven und der Münchner Pia-nistin Ida Hofmann keine Kolonie mit »revolutionär-

sozialistischer Tendenz« geworden war, wie er es erhofft hatte. Andere Gäste und Besucher des »Bergs der Wahr-heit« waren dagegen von diesem Zentrum der Gegen-kultur begeistert: Lebensreformer aller Richtungen, Psychoanalytiker, Theosophen, Wanderprediger unter-schiedlicher Heilslehren, buddhistische Mönche, Anar-chisten, mittellose Sinnsucher und die frühe alternativ-touristische Kulturavantgarde überquerten damals die Alpen, um am grün schimmernden Lago Maggiore im »Jungborn des Südens« auf Gleichgesinnte zu treffen.

Seit der Eröffnung der Gotthardbahn 1882 war der Kanton Tessin zur leicht erreichbaren »Sonnenstube der Schweiz« geworden. Um 1909 dauerte die Bahnfahrt von Frankfurt nach Locarno/Ascona nur noch neun Stun-den. Aus Nordamerika und Australien heimgekehrte Tessiner Auswanderer, die im Goldrausch reich gewor-den waren, investierten nun ihre Dollar in den Ausbau der touristischen Infrastruktur. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich das Tessin mit seinem mediterranen Klima zur beliebtesten Urlaubsregion der Schweiz.

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GemeinschaftDas zentrale Gebäude der Siedlung

UrsprünglichkeitErich Mühsam (rechts) am Wasserfall

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In mehreren Bergdörfern des Kantons hatten sich be-reits einige aus dem deutschen Kaiserreich stammende ökopazifistische Aussteiger niedergelassen. Auch die Gründer des Monte Verità, der 25-jährige Henri Oeden-koven und seine elf Jahre ältere Partnerin Ida Hofmann, hatten nach einem geeigneten Ort jenseits der Alpen gesucht – und ihn hier im Jahr 1900 gefunden: Ascona war gut erreichbar, das 3,5 Hektar große Terrain lag etwas über dem See an einem sonnenbeschienenen Hang. Aber zugleich war der Abstand zum Dorf groß genug, um gewagte Alternativen zu bürgerlichen Lebensformen un-gestört ausprobieren zu können.

Gemeinsam mit Hofmanns Schwester Jenny, der preußischen Beamtentochter Lotte Hattemer und den Vertretern einer radikalen Zivilisationsabkehr, Karl und Gusto Gräser, wollten Oedenkoven und Hofmann eine lebensreformerische Gemeinschaft von gleichbe-rechtigten Genossen gründen und ein Sanatorium nach vegetarischen Grundsätzen betreiben. Auf dem Weg in den Süden besuchte die in kniefreie Hosen, Tuniken und wallende Apostelgewänder gekleidete Gruppe noch die Passionsspiele in Oberammergau, wo sie gro-ßes Aufsehen erregte.

Das Grundstück in Ascona war billig zu haben. Be-zahlt haben es Oedenkovens Eltern: »Sein Vater war

reich, seine Mutter gütig«, schrieb Robert Landmann, der erste Chronist des Monte Verità. Bis zur Aufgabe des Sanatoriums 1920 schossen die Eltern immer wieder erhebliche Summen zu. Eigentümer des Areals, das die Gruppe hochtrabend »Monte Verità« nannte, wurde jedoch nicht die geplante Genossenschaft, sondern Henri Oedenkoven. Schon wenige Monate nach der Gründung brach die Gruppe deshalb auseinander. Die genossenschaftlichen »Fundamentalisten« mussten wei-chen, Henri Oedenkoven und Ida Hofmann übernah-men als »Realos« das Ruder.

Die ausgeschiedenen Mitgründer hatten einer rück-wärtsgewandte Naturideologie angehangen, in Zelten und Hütten genächtigt und technische Hilfsmittel zum Betrieb der Kolonie missbilligt. Oedenkoven und Hof-mann als entschiedene Vegetarier lehnten dagegen den Einsatz von Nutztieren ab. Sie setzten auf Maschinen-kraft und zeitgemäße Errungenschaften: So entstanden innerhalb weniger Jahre auf dem weitläufigen Areal ein massives Zentralgebäude mit Speisesaal, Musikzimmer und Bibliothek, elf Lichtlufthütten für Gäste, das ar-chitektonisch anspruchsvolle Gesellschaftshaus Casa Anata, eine Glashalle für winterliche Sonnenbäder, Nutzgärten und Duschen im Freien. Elektrisches Licht

UnberührtheitBlick von Westen auf den Monte Verità

GesundheitDie Wasserbäder im »Männerpark«

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und Öfen sorgten auch in den lebensreformerisch schlicht eingerichteten Hütten für Wohnkomfort. Ida Hofmann, die Theoretikerin des »vegetarischen Natur-heilsanatoriums Monte Verità«, trat frühen Kritikern offensiv entgegen: Der Monte Verità sei keine Naturheil-anstalt im gewöhnlichen Sinne, verkündete sie, sondern »eine Schule für höheres Leben, eine Stätte für Entwick-lung und Sammlung erweiterter Erkenntnisse und er-weiterten Bewusstseins«.

In der Praxis hieß das: strenge Rohkostnahrung, die vor allem aus Nüssen, getrockneten Früchten und ro-hem Gemüse bestand, Lichtluftkuren, Sonnenbäder und Gartenarbeit im »Adamskostüm«. So sollten die Gäste lernen, ein naturgemäßes Leben zu führen. Alko-hol und Nikotin waren streng verboten. Mancher Be-sucher schlich deshalb heimlich in die umliegenden Tessiner Grotti, wo Käse, Wein und Brissago-Zigarren zu haben waren.

Der Monte Verità sollte ein Gegenpol zur miefigen Plüschwelt des Bürgertums, seiner verlogenen Moral und zu den Deformationen der Industriegesellschaft werden. Weltverbesserung, befand die lebenskluge Ida Hofmann in Übereinstimmung mit vielen anderen Lebensrefor-mern, sei eben am besten durch Selbstreform und Selbst-verwirklichung zu erreichen. Ihre Interessen waren weit

gespannt: Sie sprach sieben Sprachen, publizierte in Zeitschriften der Lebensreform und organisierte auf dem Monte Verità Konzerte und Vortragsabende über Ernährungsfragen, Körperkultur, Frauenemanzipation oder Kleidungsreform.

Ida Hofmann lebte mit Oedenkoven in einer »freien Ehe« zusammen. Staatliche Eheschließung und kirch-liche Segnung empfand sie als »autoritäre Einmischung«, die »keinerlei Gewähr für das Treuegelöbnis« biete. In zwei Publikationen ermutigte Ida Hofmann junge Frau-en, »faule Traditionen über Frauensitte und über das ›ewig Weibliche! zu vernichten« und selbst über ihr Leben zu entscheiden: »Bleibet nicht Puppen, werdet Menschen.« Sie forderte die Abschaffung der Anrede »Fräulein«, weil niemand einen unverheirateten Mann »Herrlein« betitele und sie trat für die Beibehaltung des eigenen Namens nach der Heirat ein.

Die lebensreformerische Presse im deutschsprachigen Raum wurde schon bald auf das Experiment unter südlicher Sonne aufmerksam. Doch zuerst kamen die Gaffer: Die größte italienische Schifffahrtslinie, die den Lago Maggiore befuhr, bewarb den Besuch der »Natur-menschenkolonie«. An Wochenenden fuhren Extra-dampfer, um die Besuchermassen zu bewältigen, die

ZwanglosigkeitDer Naturheiler Joseph Salomonson

UnabhängigkeitMänner der Kolonie bei der Gartenarbeit

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einen Blick auf nackte Sonnenanbeter und bärtige Ge-stalten in Apostelgewändern werfen wollten. Ida Hof-mann wehrte sich erbittert gegen das Attribut »Natur-menschen«. Oedenkoven sah die Sache, wie so oft, nüchterner: Er erhob zwei Franken Eintritt und ließ Postkarten von nackt arbeitenden Siedlern herstellen, die neben landwirtschaftlichen Erzeugnissen im »Hof-laden« der Kolonie mit großem Erfolg verkauft wurden.

In den ersten Jahren kamen zahlreiche skurrile Gestalten und schrille Weltverbesserer auf den Berg. Die meisten von ihnen schwadronierten viel, packten aber nicht mit an. Ida Hofmann klagte, es sammelten sich auf dem Monte Verità »gewaltige Posaunenbläser, doch wenige Kartoffelstecker und Unkrautrupfer«. Einer der Weltver-besser war der »Fastenkünstler« Arnold Ehret. Er pro-pagierte die »schleimfreie Ernährung«, um den Krebs zu besiegen. Ein anderer stellte fest, alle Nahrung, die am Boden wachse, sei sündig, nur die Kokosnuss sei eine heilige Frucht. Als »Kokosnussprediger« ist er in die Ge-schichte des Monte Verità eingegangen.

Erich Mühsam, den politischen Fundis unter den Be-wohnern des Wahrheitsberges eigentlich zugetan, aber kein Freund des Vegetarismus und der Abstinenz, spot-tete über die »schmachtäugigen Blassgesichter, die von

morgens früh bis abends spät nur beflissen sind, in un-tadeligem Lebenswandel Leib und Seele im Gleichge-wicht zu halten«. Ascona sei von der Sektiererei ergriffen, befand er. Dorf und Kolonie, so schwebte ihm vor, sollten stattdessen ein »Zufluchtsort werden für entlas-sene und entwichene Strafgefangene« und für all jene, die als »verfolgte Heimatlose« nirgends menschenwür-dig leben könnten.

Ein solcher verfolgter Heimatloser, der einstige Mit-gründer des Monte Verità Gusto Gräser, hatte sich un-weit des Natursanatoriums eine karge Einsiedelei einge-richtet und sie »Monte Gioia« (Berg der Freude) genannt. Von dort aus warb er für einen radikalen Ökopazifismus. Er zog dann mit Frau und Kindern im selbst gebauten Wohnwagen durch Deutschland, trat 1913 als Redner beim Ersten Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner auf und verweigerte im Jahr darauf den Kriegs-dienst. Thomas Mann, Oskar Maria Graf, Gerhart Hauptmann und Hermann Hesse traten mehrfach für den verfolgten und inhaftierten Pazifisten ein.

Mit der Zeit wurde auch das zahlende Publikum auf den Monte Verità aufmerksam, das sich Oedenkoven und Hofmann schon anfänglich als Gäste vorgestellt hatten: Vertreter der modernen, mobilen und weltanschaulich

KontemplationHenri Oedenkoven und Ida Hofmann

HarmonieEurythmie unter freiem Himmel

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progressiven Elite aus der Mittelschicht, Erben und Aus-steiger, die viel Zeit hatten – und Geld. Denn das Leben auf dem Berg der Wahrheit war nicht billig: Ein Tag Vollpension kostete inklusive der »Kurbehandlung« (Sonnenbäder, Mitarbeit in den Gartenanlagen) sieben bis zehn Schweizer Franken; das entsprach dem Über-nachtungspreis in einem Tessiner Mittelklassehotels.

Besonders wertvoll waren prominente Gäste, die über ihre Erfahrungen auf dem Monte Verità sprachen oder, noch besser, schrieben. Hermann Hesse logierte als fast 30-Jähriger im April 1907 mehrere Wochen auf dem Berg, um etwas gegen seine depressiven Verstimmungen und seinen übermäßigen Alkoholkonsum zu unterneh-men. An Münchner Freunde berichtete er: »Hier kuriere ich meine literarischen Nerven durch vegetarische Kost, Abstinenz, Luft und Sonne, ein einfaches, bekömmliches Verfahren!« Langsam, aber »recht wohlig« genese er und kehre »zu einem sanskülotten Urzustand zurück«. Später setzte er in seinem Roman Das Glasperlenspiel seinem Freund Gusto Gräser ein literarisches Denkmal.

Lenin und Trotzki besuchten die Kolonie, der An-throposoph Rudolf Steiner, Martin Buber, der Lieblings-künstler der Lebensreform Fidus, die Malerin Marianne von Werefkin und die Schriftstellerin Franziska zu Re-ventlow kamen, bestaunten oder bespotteten die Aus-

steiger auf dem Wahrheitsberg. Der Berliner Arzt, Ge-werkschafter und SPD-Reichstagsabgeordnete Raphael Friedeberg lockte August Bebel und andere sozialdemo-kratische Prominenz an den Lago Maggiore. Die spätere Spielzeugunternehmerin Käthe Kruse wurde als 20-Jäh-rige mit zwei Kindern von Ehemann Max auf dem Berg abgesetzt. »So, nun wachse«, lautete sein Rat zum Ab-schied. Sie blieb, schlug Wurzeln und machte Ascona zum Sommersitz ihrer Familie.

Überarbeitet und medikamentenabhängig kam der Soziologe Max Weber 1913 in Ascona an. Die Ruhe des Orts tat ihm gut, auch führte er intensive Gespräche mit den Lebensreformern, doch die vegetarische Praxis schreckte den Weltmenschen Weber ab. »Morgens und abends der Vegetarierfraß: Haferbiscuits und Feigen«, schrieb er genervt an seine Frau Marianne.

Eine neue Facette im lebensreformerischen Angebot des Monte Verità kam 1913 hinzu: Während eines Besuchs der Bayreuther Festspiele hatten Oedenkoven und Hof-mann die Ausdruckstänzerin Isadora Duncan kennen-gelernt. Über sie gelangten sie an Rudolf von Laban, ei-nen profilierten Vertreter des neuen Ausdruckstanzes. Mehrere Jahre lang veranstaltete Laban auf dem Monte Verità eine »Sommerschule für Bewegungskunst«. An

RegenerationHermann Hesse (hinten links) als Kurgast

Improvisation Tänzer der Laban-Schule am Lago Maggiore

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diesen Kursen nahmen Tänzerinnen als Schülerinnen teil, die später bekannte Vertreterinnen des modernen Tanzes wurden: Mary Wigman, Suzanne Perrottet, Katja Wulff und Berthe Trümpy.

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurden Ascona und der Monte Verità zum Sammel- und Fluchtpunkt von Pazifisten, Kriegsdienstverweigerern und Emi-gran ten. Neben Hermann Hesse, der sich im Tessin dauerhaft niederließ, tauchten Hans Arp, Ernst Bloch, die Dadaisten Hugo Ball und Emmy Hennings, Ernst Toller, Paul Klee, Else Lasker-Schüler und zahlreiche andere Köpfe der intellektuellen Avant garde auf. Nach 1930 sammelten sich in und um Ascona Emi-gran ten auf der Flucht vor dem aufziehenden Na-tionalsozialismus. Erich Maria Remarque, Kurt Tu-cholsky, Bert Brecht und viele andere machten hier kurz halt oder wurden sesshaft.

Zu dieser Zeit war der Monte Verità jenseits seiner tatsächlichen Bedeutung als Ort gelebter alternativer Lebensformen längst zum Mythos geworden. Sinn-suchern, Aussteigern und gelangweilten Müßiggän-gern hatte er schon kurz nach der Gründung als Sehn-suchtsziel, als sinnliches Seelenparadies jenseits bürgerlicher Rollenzwänge und als Therapiestätte für Wohlstandserkrankungen gegolten. Doch der Erste Weltkrieg hatte die wirtschaftliche Basis der Betreiber empfindlich geschwächt. Oedenkoven und Hofmann dachten daran, aufzugeben. Ihr Natursanatorium war nur noch eines von inzwischen vielen touristischen Angeboten am Lago Maggiore. Die »Naturmen-schen« selbst hatten das Paradies, das sie einst erhalten wollten, dem transnationalen Tourismus erschlossen. »Sie gaben sich als Bewahrer der natürlichen Schön-heit der Landschaft und traten als Immobilienspeku-lanten auf«, urteilt der Schweizer Historiker Andreas Schwab im Jahr 2003. In der Tat: Selbst Oedenkoven verkaufte Land mit erheblichem Gewinn an finanz-starke Feriengäste, die bauen wollten. In einem Schreiben an die Gemeinde, von der er das Land bil-lig erworben hatte, machte der Lebensreformer nun in plattem Antisemitismus »die Juden« für die stei-genden Preise verantwortlich.

Zwanzig Jahre nach der Gründung endete die Ära Oedenkoven und Hofmann. Der Monte Verità wur-de erst verpachtet, dann verkauft. Die Gründer wan-derten nach Spanien, dann nach Brasilien aus und gründeten dort eine neue, allerdings erfolglose Vege-tariersiedlung. Ida Hofmann starb 1926 im Alter von 62 Jahren in São Paulo. Henri Oedenkoven, der noch auf dem Monte Verità mit einer jüngeren Frau eine

neue Verbindung eingegangen war, lebte bis zu sei-nem Tod 1936 mit seiner Familie in Brasilien.

Die Geschichte des einstigen Sanatoriums aber ist damit nicht zu Ende. Nach einem Zwischenspiel als Künstlerkolonie gelangte der Monte Verità 1926 in die Hände des Freiherrn Eduard von der Heydt. Der Bankier beseitigte die baufälligen Luftlichthütten der Sanatoriumszeit und beauftragte den Bauhaus-Archi-tekten Emil Fahrenkamp mit dem Entwurf eines Hotels. Seit der Konferenz von Locarno im Jahr zuvor, die der Weimarer Republik den Weg in den Völker-bund ebnete, hatte der europäische Jetset den Lago Maggiore entdeckt. Und so bauten ein lokaler Bau-löwe und von der Heydt Ascona zum exklusiven Kur-ort mit »Lido«-Bademeile und Golfplätzen aus. Der neue Monte Verità wurde zum Treffpunkt der euro-päischen Schickeria. Nach von der Heydts Tod 1964 erbte der Kanton Tessin den Monte Verità. Die An-lage wird seither als internationales Seminar- und Kon-gresszentrum genutzt, inzwischen unter der Regie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich.

In den siebziger Jahren erfuhr der Geist des Monte Verità eine sensationelle Wiedergeburt; eine von Ha-rald Szeemann initiierte Ausstellung in den noch er-haltenen historischen Gebäuden und an mehreren anderen Orten der Schweiz inspirierte die noch junge Ökologiebewegung dazu, den Berg der Wahrheit zu eigenen Zwecken zu sakralisieren: Oedenkoven, Hof-mann, die Brüder Gräser und andere »Naturmen-schen« wurden zu frühen Vorbildern alternativen Le-bens erhoben und 1978 mit der »Fiesta Monte Verità! gebührend gefeiert. Jüngst war der Tessiner Berg der Wahrheit Schauplatz des internationalen Literatur-festivals »Utopien und herrliche Obsessionen!.

Nackte Vegetarier sind auf dem Monte Verità nicht mehr anzutreffen. Ascona, das Dorf der Lebensrefor-mer, der Verfolgten und der europäischen Boheme, ist zur Karikatur eines Tessiner Dorfs verkommen: Ein »Touristenbähnli« kutschiert Tagesgäste durch die von Boutiquen und Souvenirläden gesäumten Gassen. Der Wahrheitsberg selbst ist heute ein dicht besiedelter »Millionenhang«. Doch wer im Jugendstilsalon der Casa Anata Wurzelholzmöbel und Reformkleider ih-rer einstigen Bewohner betrachtet, die rostigen Bade-wannen und Duschen im Lichtluftbad entdeckt und auf den glitzernden Lago Maggiore hinaussieht, spürt gleichwohl einen Hauch vom eigenartigen Zauber, der diesen historischen Ort noch immer umgibt.

Weiterlesen

Andreas Schwab/Claudia Lafranchi

(Hrsg.): »Sinnsuche und Sonnenbad.

Experimente in Kunst und Leben auf dem

Monte Verità« Limmat, Zürich 2001

Robert Landmann: »Ascona – Monte

Verità. Auf der Suche nach dem Paradies«

Hrsg. von Martin Dreyfus;

Huber Verlag, Frauenfeld 2000

Tobias Engelsing, Jahrgang 1960, leitet die Städtischen Museen Konstanz und ist als Journalist und Autor tätig

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