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Unterwegs mit einem, der Menschen aus ihren Wohnungen wirft SEITE 46, 47 Luzia wurde jahrelang missbraucht. Dann wurde sie zu Anna. Und Ivan. SEITE 42–44 Eine Stadt, umgeben von acht Nationalpärken – Besuch in Bodø SEITE 50, 51 Die Evangelikalen glauben an Donald Trump SEITE 48, 49 Samstag, 29. August 2020 ILLUSTRATION ANJA LEMCKE / NZZ; BILDER PD, IMAGO (2)

DieEvangelikalen EineStadt,umgeben

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Page 1: DieEvangelikalen EineStadt,umgeben

Unterwegs mit einem,der Menschen aus ihrenWohnungen wirft SEITE 46, 47

Luzia wurde jahrelang missbraucht. Dann wurde sie zu Anna. Und Ivan. SEITE 42–44

Eine Stadt, umgebenvon acht Nationalpärken –Besuch in Bodø SEITE 50, 51

Die Evangelikalenglaubenan Donald Trump SEITE 48, 49

Samstag, 29. August 2020

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Samstag, 29. August 202042 WOCHENENDE

Ihr Lehrertrieb sie in dieProstitutionEin Mädchen wird jahrelang sexuellmissbraucht und psychisch manipuliert.Die verursachte psychische Störungerschwert die Aufklärung der Taten.VON LENA STALLMACH (TEXT) UNDANJA LEMCKE (ILLUSTRATIONEN)

Es kostete Luzia* viel Kraft, sich alsjunge Frau von ihrem Lehrer zu lösen.Sie schaffte es nur durch die Flucht indie Arme eines anderen manipulativenMannes. Erst nachdem die Ehe geschei-tert war und Luzia allein mit drei Kin-dern dastand, begriff sie,welch zerstöre-risches Spiel ihr ehemaliger Klassenleh-rer mit ihr getrieben hatte.

Aber wer ist sie? Wenn man mitLuzia redet, ist nicht immer klar, vonwem sie spricht. Denn die 35-Jährigeleidet unter einer multiplen Persönlich-keitsstörung oder dissoziativen Identi-tätsstörung, wie Fachleute heute sagen.Die Betroffenen haben mehrere Per-sönlichkeitsanteile, die in ihrem Lebenverschiedene Aufgaben übernehmen.Sie denken und handeln unterschied-lich und wissen meist nichts voneinan-der. Diese innere Spaltung wird durchschwere traumatische Erlebnisse in derKindheit verursacht.

Vor mehr als zwanzig Jahren wurdeLuzia Opfer von organisierter sexuel-ler Gewalt. DasAusmass der Misshand-lung, so wie Luzia sie schildert, ist so er-schreckend, dass man es gern als Einzel-fall abtäte.Aber viele Kinder erleben soschwere Misshandlungen, wie Psychia-ter berichten.

InLuziasUmfeldmerkte niemand, inwas für ein Netz sie hineingeraten war.Sie wuchsmit dreiGeschwistern in einergutbürgerlichen Familie auf. Die Mut-ter war aufgrund von gesundheitlichenProblemen oft nicht anwesend und psy-chisch wenig belastbar. Der Vater warein unnahbarer und strenger Mann, dermit den Problemen seiner Frau und denKindern überfordertwar.Er habe sich indie Arbeit geflüchtet und sei viel unter-wegs gewesen, erinnert sich Luzia. DenEltern war es sehr wichtig, nach aussendas Bild einer harmonischen Familie zuzeigen.ÜberProbleme sprachmannicht.

Als Luzia mit sechs Jahren das ersteMal vergewaltigt wurde, gab es nieman-den,dem sie sich hätte anvertrauen kön-nen.Der fünf Jahre ältereNachbarsjungesei für sie wie ein Bruder gewesen, er-zählt sie, und wie selbstverständlich beiihnen ein und aus gegangen.EinesTages,

als dieMutter einkaufen ging,drängte erLuzia in eine Ecke.Er begann sie auszu-ziehen. «Ich war vor Angst wie erstarrtund bin gefühlsmässig aus mir ausgetre-ten.Dann habe ich wie von aussen zuge-schaut,was der Junge demMädchen an-tut.Als wäre es jemand anderes.»

Eine solche Dissoziation von deneigenen Empfindungen geschieht beitraumatischen Erlebnissen häufig.Auchbei einemUnfall kann es passieren, dassman weder den Schmerz noch die Emo-tionen spürt.Aber beiLuzia ging dieAb-spaltung noch tiefer.Denn es blieb nichtbei demeinenMal.Siemusste noch vieleÜbergriffe von dem Jungen ertragen.

Innerlich dauerhaft gespalten

Sie litt sehr unter der ständigen Be-drohung und dem fehlenden Interesseder Eltern. Aber es gab auch einen Teilin ihr, der wieder fröhlich sein, spielenund lachen wollte. Das führte zu einerdauerhaften inneren Spaltung. Es ent-standen zwei Persönlichkeitsanteile, dieunterschiedliche Funktionen erfüllten.Den neuen Anteil nannte sie insgeheimAnna.«Sokonnte ichmichdamals besser

distanzieren», erzählt sie.Anna blendeteden Missbrauch so erfolgreich aus, dasssie keinerlei Erinnerung daran hatte. Siewar unbeschwert, fröhlich und lebendig.ImAlltag stand siemeist imVordergrund.

Die traurige Luzia hatte dagegenwenig Raum, sie kam nur hervor, wennsie allein war oder wenn der Nach-barsjunge sie missbrauchte. Luzia warauch diejenige, die der Mutter beistand,wenn diese niedergeschlagen war. Sieliess alles Schwere in ihrem Lebenüber sich ergehen. Aber sie trat bereit-willig in den Hintergrund, wenn die un-beschwerte Anna gefragt war. «Es warmeine Lösung, um fröhlich sein zu kön-nen», sagt Luzia rückblickend.

Seit zwei Jahren ist sie in Behand-lung bei dem Psychiater Jan Gysi, einemExperten für dissoziative Identitäts-störungen. Er erklärt: «Die emotionaleVernachlässigung der Eltern und dieVergewaltigungen führten wahrschein-lich zu einer partiellen dissoziativenIdentitätsstörung.» Für die volle Aus-prägung der Störung gilt als Kriterium,dass mindestens zwei handelndeAnteileimAlltag auftreten.Bei Luzia war es an-fangs nur eine.

Babys haben kein Ich-Gefühl

DieTraumatherapeutinMichaela Huberhat viel über die dissoziative Identitäts-störung geforscht und geschrieben. Sieerklärt: «Babys und Kleinkinder habennoch kein Ich-Gefühl. Sie reagieren aufihr Umfeld und geraten von einem Ge-fühlszustand in den nächsten, ohne sicheiner Kontinuität bewusst zu sein.» Erstmit der Zeit lernten Kinder, sich selbstals eine Einheit wahrzunehmen mitunterschiedlichen Emotionen. «Wennsie über längere Zeit schwere Miss-handlungen erfahren, können sie emo-tional so gestresst sein, dass sie keineinheitliches Ich-Gefühl entwickeln.»Dann entstehen getrennte Persönlich-keitsanteile, die eine unterschiedlicheSicht aufs Leben und auf ihre Biografiehaben. Die Betroffenen sind sich dieserGespaltenheit meist nicht bewusst, denndie verschiedenen Anteile haben Erin-

In Luzias Umfeldmerkte niemand,in was für ein Netzsie hineingeraten war.

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nerungslücken, wenn ein anderer An-teil auftritt. Und diese Amnesien fallenihnen meist auch nicht auf, sie werdeneinfach ausgeblendet.

Früher ging man davon aus, dass einesolche Störung nur bei Misshandlungenin der sehr frühen Kindheit entstünden.Doch laut Psychiatern kann es auch beiälteren Kindern im Alter von zehn Jah-ren oder sogar mehr noch passieren. Essei eine Überlebensstrategie, um mitviel Schmerzen und einer anhaltendenBedrohung leben zu können, sagt derPsychiater Gysi. Bei Luzia kam es erstim Teenageralter zur vollen Ausprägungder Erkrankung.

Als sie dreizehn Jahre alt war, wech-selte sie in eine neue Schule. Mit derlebenslustigen Anna integrierte siesich schnell in die Klasse. Sie fand neueFreundinnen und schwärmte auch ein-mal für den ein oder anderen Jungen,wie eine ganz normale Dreizehnjährige.Ihre Trauer und ihr Schmerz blieben imHintergrund. Der traumatisierte Anteilhatte kein Vertrauen zu Gleichaltrigen,schon gar nicht zu Jungs, und blieb imHintergrund. Umso mehr sprach dieserAnteil auf das Interesse des Klassenleh-rers Daniel H.* an.

Dieser pflegte ein enges Verhältnis zuseinen Schülern. Er ermunterte sie, vonihren Problemen zu erzählen, und hörteaufmerksam zu. «Er hat schnell gemerkt,dass ich nicht so glücklich war,wie ich vor-gab», sagt Luzia heute. «Doch anstatt mirzu helfen, hat er mich nur ausgenutzt.»

In der Pause und nach der Schulesprach sie immer öfter mit ihm – auchals Luzia – und fasste schnell Vertrauen.Sie erzählte ihm von derVergewaltigung.Daniel H. erkannte die innere Gespal-tenheit des Mädchens und ging indivi-duell auf Anna und Luzia ein. Sie seietwas ganz Besonderes und habe grosseMöglichkeiten, habe er ihr gesagt. Aberdas könne ausser ihm niemand verstehen.

Bei ihm fühlte sich Luzia verstan-den und wahrgenommen. Sie verliebtesich, und bald darauf begann sie eine ge-heime Liebesbeziehung mit ihrem Leh-rer. Er nahm sie in seinem Auto mit, wosie auch Sex hatten. «Das hat sich falsch

angefühlt. Aber die Beziehung war mirzu wichtig. Ich wollte, dass er glücklichist», sagt sie. Doch was Luzia für eineLiebesbeziehung hielt, war die Vorbe-reitung auf jahrelange sexuelle Gewaltund Ausbeutung.

Die Loverboy-Masche verfängt

Die Taktik, Mädchen eine Liebesbezie-hung vorzuspielen und sie dann in dieProstitution zu zwingen, ist als Lover-boy-Masche bekannt. Die Täter gehendabei nach einem bestimmten Mustervor. Sie suchen nach vulnerablen Mäd-chen oder jungen Frauen, die wenigSelbstvertrauen haben. Dann betreibensie mitunter einen grossen Aufwand, da-mit sich die Ausgewählte in sie verliebt.Sobald dies geschehen ist, versucht derLoverboy sein Opfer sozial zu isolieren,um es abhängig zu machen. Bald daraufteilt er der Frau mit, dass er in finanziel-len Nöten sei, und stellt die Prostitutionals einzigen Ausweg dar.

Daniel H. ging ähnlich vor. Mit Luziahatte er leichtes Spiel. Denn der Anteil,der sich in den Lehrer verliebt hatte, die-ses traurige Mädchen, war schon lange

isoliert, es wurde ja von sonst gar nie-mandem gesehen. Erst durch den Leh-rer hatte es einen Platz im Alltag gefun-den. Es wollte nicht wieder in der Isola-tion verschwinden.

DanielH.seieinmanipulativerMenschgewesen, der alle Schüler und die Leh-rerschaft für sich einzunehmen verstan-den habe, sagt Luzia. Er ging mit seinenSchülern auch in Klassenlager. Dort be-gann für das Mädchen der Horror.Wennnachts alle Kinder schliefen, fuhr er sieim Auto an geheime Treffpunkte, meistim Keller eines verlassenen Gebäudesoder Hotels. Dort habe es viele andereKinder gegeben, erzählt Luzia. Die meis-ten seien dem Aussehen und der Sprachenach aus demAusland gewesen,aus Russ-land vielleicht,manche auch aus Deutsch-land.Sie waren den Männern ausgeliefert,wurden vergewaltigt, gedemütigt und ge-foltert. Manchmal hört Luzia noch heutedas Weinen und Schreien der Kinder. Siewar eine von ihnen.

Unglaublich, aber real

Was sie erzählt, ist ungeheuerlich. Manliest von dem amerikanischen Invest-mentbanker Jeffrey Epstein, der auf sei-ner Privatinsel regelmässig zum Miss-brauch von Kindern eingeladen habensoll. Aber dass so etwas in der Schweizoder in Deutschland geschieht, das willman kaum glauben.Für Psychiaterinnenwie Michaela Huber oder Regula Schwa-ger,die seit vielen Jahren mit den Opfernsexueller Gewalt arbeiten, ist es dagegennichts Neues.Wie real die Berichte sind,das zeigen die laufenden Ermittlungenum Missbrauchsfälle in Bergisch-Glad-bach. Sie weisen auf ein riesiges Netz-werk von Tätern im deutschsprachigenRaum hin, die unzählige Kinder miss-braucht, verliehen und verkauft haben.

Das erste Mal, als Daniel H. Luzia anso ein Treffen brachte, war sie emotionalschon so abhängig von ihm, dass sie sichnicht wehrte.Aber weil sie dieAngst unddie Qual nicht aushielt, kam es zu einerweiteren Spaltung.Es entstand Sara.Saraertrug die Gewalt der Männer.Sie wusste,dass Daniel H. Geld dafür bekam. Für

ihre gemeinsame Zukunft, wie er ihr er-zählte. Sie würden heiraten, ein grossesHaus und viele Kinder haben.

Sara lebte für diese Zukunft. Siekannte nur die Kinderprostitution undbekam vom Leben der anderen An-teile nichts mit – so wie Anna und Luzianichts von Saras Welt wussten. Jedelebte in einer anderen Realität. Anna inder scheinbar heilen Familienwelt undin der Schule, Luzia für die Liebesbezie-hung mit dem Lehrer und Sara in derKinderprostitution.

So gespalten Luzias Persönlichkeitwar, der Körper war derselbe. Oft hattesie Schmerzen von den Misshandlungen.Zurück im Alltag, konnte sie sich nichterklären, woher diese kamen, und suchteimmer wieder Ärzte auf. Diese stelltenanale Verletzungen fest. Aber keinerfragte nach. Nur ein Arzt wurde miss-trauisch, ihm fiel Luzias Schmerzunemp-findlichkeit bei der Untersuchung auf.Er schrieb an ihren damaligen Ge-sprächstherapeuten und deutete an, dasshinter den Verletzungen mehr steckenkönne. Das geht aus einem medizini-schen Bericht von damals hervor. Dochder Therapeut ging nicht darauf ein.

Luzia suchte als Teenager immer wie-der psychologische Hilfe. Sie hatte Alb-träume, wurde magersüchtig, begannsich zu ritzen und litt unter ihrer Ge-spaltenheit, auch wenn ihr diese nichtbewusst war. Auch die Therapeuten be-griffen nicht, was dahintersteckte.

Die dissoziative Identitätsstörung istvielen Psychotherapeuten und Psych-iatern kaum bekannt, obwohl sie lautExperten etwa gleich häufig auftrittwie die Schizophrenie. Aber sie hattelange den Ruf, eine eingebildete Krank-heit zu sein. Erst 2019 wurde sie offi-ziell anerkannt und in die neuste Ver-sion des internationalen Verzeichnissesder Krankheiten ICD-11 aufgenommen.

«Aber es fehlt an Psychotherapeuten,die die Expertise haben, um die Krank-heit zu diagnostizieren und zu behan-deln», sagt Gysi. Das sei ein grosses Pro-blem, denn die Patienten würden täglichmehr. Laut Experten hat der Missbrauchvon Kindern im Zuge der Digitalisie-rung zugenommen und deshalb auchdie damit verbundenen psychischen Fol-gen. Weltweit werden laut einer Schät-zung der Internationalen Arbeitsorgani-sation der Uno jährlich rund 1,8 Millio-nen Mädchen und Knaben unter 18 Jah-ren Opfer sexueller Ausbeutung.

Der Täter nutzt die Störung aus

Irgendwann war Saras Qual so gross,dass sie es nicht mehr aushielt – siewollte aussteigen. Aber da ging DanielH. noch einen Schritt weiter: Er verur-sachte absichtlich eine weitere Spaltung.«Er muss viel Wissen über diese psychi-sche Störung haben. Denn er wusste ge-nau, wie man einen neuen Anteil schafft,das zeigen die Schilderungen der Patien-tin», sagt Gysi. Und diese decken sichmit den Erzählungen anderer Betrof-fener. Daraus schliessen Experten, dassviele Täter genau wissen, wie man neueAnteile macht, wie man sie hervorholtund ihnen droht, so dass andere Anteilenichts davon mitbekommen.

Die Traumaexpertin Michaela Huberhat viel zu diesem Thema recherchiertund erklärt: «Das Wissen darüber wurde

Ein Arzt wurdemisstrauisch, ihm fielLuzias Schmerz-unempfindlichkeit beider Untersuchung auf.

Was Luzia für eineLiebesbeziehung hielt,war die Vorbereitungauf jahrelangesexuelle Gewaltund Ausbeutung.

Luzia

Ivanist ein Anteil, der vom Lehrer erschaffen wurde.Er denkt wie der Täter, kontrolliert die Mädchenund passt auf, dass sie mit niemandem über denMissbrauch reden.

Als Kind lebt Luzia in drei Welten

Heile Welt

Liebesbeziehungmit dem Lehrer

Prostitution

Organisatorin

organisiert alle Persönlichkeits-anteile und schaut, dass diejenige daist, die in der Situation gefragt ist.

Sie spaltet zwölf Persönlichkeitsanteile ab, die in ihrem Leben verschiedene Aufgaben erfüllen.Die Anteile wissen nichts oder nur sehr wenig voneinander.

Der Lehrer führt Luzia im Alter von 14 Jahrenin die Prostitution ein. Hier spaltet sie weitereAnteile ab. Als Erste entsteht Sara. Später kommenweitere Anteile hinzu, die in der Prostitutionerfahrener sind.

lebt in einer heilen Welt. Sieist fröhlich, unbeschwert undblendet das erlebte Traumakomplett aus.

Anna

erinnert sich daran, dass sie mit 6 Jahrendas erste Mal vergewaltigt wurde.

Sie trägt die ganze Last dieser Erinnerungen,kommt aber nur hervor, wenn sie allein ist,bis sie mit 13 Jahren eine Liebesbeziehung

mit ihrem Lehrer anfängt.

Luzia

Antonia

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früher von Tätergeneration zu Täter-generation weitergegeben. Heute gehtdas auch über das Internet.» Im Dark-net haben Ermittler bereits ein «Hand-buch für Pädophile» gefunden. Darinsteht zwar nicht, wie man eine Personabsichtlich spaltet, aber es wird detail-liert beschrieben, wie Erwachsene angeeignete Kinder kommen, deren Ver-trauen gewinnen und sie missbrauchenkönnen, ohne dass es jemand merkt.

WasfürnormaleMenschenalszugrau-sam klingt, um wahr zu sein, hören Psy-chotherapeuten, die mit solchen Patien-ten arbeiten, immer wieder. «Im Ge-sprächmit denKlientinnenundKlientenkommt oft heraus, dass die Täter sie ab-sichtlich gespalten haben, um sie bessernutzen zu können», sagt Regula Schwa-ger von Castagna, einer Beratungsstellein Zürich für in der Kindheit ausgebeu-teteMenschen.«Denn diese Kinder hal-tenSchmerzenundMisshandlungen aus,die würden Sie oder ich niemals ertra-gen. Damit lässt sich viel Geld verdie-nen.» Und die Täter können sich relativsicher sein, dass die Kinder nichts verra-ten, weil sie sich nicht erinnern können.«Selbst wenn sie direkt danach gefragtwürden, würden sie nichts sagen. Es istja nicht ihnen passiert, sondern dem ab-gespaltenen Teil von ihnen, der im All-tag nicht auftritt», sagt Schwager.

Neue Anteile entstehen

Um einen neuen Anteil zu erzeugen,fügen die Täter den Kindern unerträg-liche Schmerzen zu oder versetzen sie inTodesangst, um eine Dissoziation zu er-möglichen.Mit manipulativen psycholo-gischen Methoden wird dann ein neuerAnteil «programmiert». So ging auchDaniel H. vor. Damit erzeugte er Ivan,dem er die Aufgabe gab, die Mädchenzu kontrollieren. Ivan war dem Lehrerhörig und drohte Sara, wenn diese sichimAlltag bemerkbar machen wollte. Ersorgte auch dafür, dass Luzia nicht zuviel ass. Damit sie dünn und kindlicheraussehe, erklärt sie. Sie hörte Ivan alsinnere Stimme, die sie beschimpfte undmassregelte.

Ohne Beteiligung von Daniel H. ent-standen auch noch weitere Anteile, dieLuzia dabei halfen, das Leben in diesendrei Welten zu ertragen und zu organi-sieren. Beispielsweise Antonia, sie tratnie als handelnde Person auf, sondernsie sorgte imHintergrund dafür, dass dierichtigenAnteile da waren, wenn sie ge-braucht wurden.

Antonia ist auch diejenige, die heuteerzählen kann, was damals geschah. Siespricht nüchtern, fast distanziert vonden Erlebnissen in der Kinderprostitu-tion. Diese sind nicht ihr passiert, son-dern den anderenAnteilen.Nur manch-mal stockt sie und blickt konzentriert.Für einige Details müsse sie auf dieSchilderung dieser Anteile zurückgrei-fen, erklärt sie.Auch das hört sie als in-nere Stimme.

Es war ein weiter, beschwerlicherWeg, um an diesen Punkt zu kommen.AmAnfang der Therapie brachen dieseAnteile ständig aus ihr heraus, sie spra-chen und handelten dann so, wie sie esgewohnt sind. Manche von ihnen sindin ihrer Entwicklung stehengeblieben,sie sind immer noch Kinder oder jungeFrauen und prostituieren sich. Sie war-

ten auf Daniel H., den sie als ihren Be-schützer sehen. Von einem schluchzen-den Kind, das nur auf dem Boden sass,wurde Luzia zu Ivan, der in herrischemTon erklärte, dass sich alle an seine Re-geln zu halten hätten.

Der Psychiater Gysi hörte den ver-schiedenen Anteilen zu, als sie began-nen, von ihrem Leid und den Miss-handlungen zu reden, und er ermög-lichte einen Austausch zwischen ihnen.Er habe sie manchmal gefilmt, weil ein-zelne Anteile nicht hätten glauben kön-nen, dass es noch andere gebe, sagtLuzia.Das sei sehr irritierend, sich selbstals völlig anderen Menschen zu sehenund keine Erinnerung daran zu haben.

ImAlltag blieben diese Anteile meistim Hintergrund oder traten nur dort auf,wo sie gefragt waren.Deshalb fiel LuziasGespaltenheit kaum auf. Nur manch-mal wunderte sie sich, wenn sie aufrei-zende Kleider in ihrem Schrank fand, diesie sich nie kaufen würde. Für ihre ältereSchwester war Luzia damals einfach nurunverständlich.«Malwar sie extrovertiertund sehr offen, ein anderesMal total ver-schlossen», sagt sie. «Aber wir waren unsnicht nah,und ichhabemir nicht vieleGe-danken gemacht.» Allerdings werde ihrrückblickend vieles klarer. Auch warumihre Schwester sich manchmal wie eineProstituierte kleidete, nachdem sie vonzu Hause ausgezogen war.

Als Luzia sechzehn Jahre alt war, ver-lorDanielH.das sexuelle Interesse an ihr.Aber er hatte dafür gesorgt,dass die emo-tionale Bindung erhalten blieb. Es gabgenug Anteile, die nur für ihn lebten. Sobrachte er Luzia dazu, sich weiter zu pro-stituieren und sich «hochzuarbeiten». Siesollte selbständiger werden im Umgangmit den Freiern – das Geld gab sie wei-terhin ihm. In ihrem anderen Leben be-gann sie ein Praktikum in einem Pflege-beruf.Eine spätereAusbildungmusste sieallerdings abbrechen, weil sie so schwermagersüchtigwar unddeshalb in eineKli-nik eingeliefert wurde. In verschiedenenAushilfsjobs suchte sie nach einer neuenBeschäftigung. Sie wollte heraus aus derProstitution,weg vonDaniel H.Und die-serWunsch nahm schliesslich überhand.

Anfang zwanzig heiratete sie unddachte, einen guten Ehemann gefun-den zu haben. Doch bald entpupptesich dieser als ein herrischer Narzisst,der sie ebenfalls misshandelte. «Aberich kannte es ja nicht anders, wie hätteich eine gesunde Beziehung führen kön-nen?», sagt sie. In kurzer Folge bekamsie drei Kinder. Erst als ihr klarwurde,dass diese seine Gewaltausbrüche undihre «Schwäche» miterlebten und dar-unter litten, brachte sie die Kraft auf,sich von diesem Mann zu trennen.

EinigeZeit blieb sie in einemFrauen-haus. Dann meldete sie sich wieder beiDaniel H. Sie hatte keine Ausbildung,kein Geld, und einige Anteile dachten,dass er ihnen helfenwürde.Doch schnellmerkte Luzia, dass Daniel H. sich auchan ihren Kindern vergreifen würde. Dapackte sie dieWut.Sie wollte,dass er zurRechenschaft gezogen werde für alles,was er ihr angetan hatte.

Das Gericht glaubt ihr nicht

Trotz ihrer inneren Gespaltenheitbrachte sie die Kraft auf, ihn anzuzei-gen. Doch das Verfahren wurde bald

eingestellt. Noch wusste Luzia nicht,dass sie eine dissoziative Identitäts-störung hatte und dass nicht alle An-teile am selben Strang zogen. Ausser-dem habe die Staatsanwältin vermut-lich nicht gewusst, dass es auch Lover-boy-Missbräuche mit Schweizer Opferngebe, sagt Gysi. Deshalb habe manLuzia nicht geglaubt und es so gedeu-tet, als wolle sich die junge Frau nurdafür rächen, dass ihre Jugendliebe da-mals nicht erwidert worden sei.

«In einem Gerichtsprozess habenes solche Menschen allgemein sehrschwer», sagt Gysi. «Wenn eine Frau ein-mal sagt, sie sei jahrelang missbrauchtworden, und ein andermal weiss sienichts davon, ist es chancenlos. Hiermüssen wir einen neuen Weg finden.»In der Schweiz hat sich eine Gruppe vonExperten zusammengetan, die die Be-handlung der Betroffenen und die Zu-sammenarbeit mit der Polizei und Jus-tiz verbessern will. «Denn jeder Fall voneiner dissoziativen Identitätsstörung istein Tatort», sagt Gysi.

Luzia sagt, heute könne sie akzep-tieren, dass all diese Anteile zu ihremLeben gehörten und dass deren Erleb-nisse auch ihre Erlebnisse seien. DerProzess sei schmerzhaft gewesen, aberes gehe ihr trotzdem besser. «Früherwar ich im Alltag fröhlich und funktio-nierte. Abends kam der ganze Schmerzhoch, ich sass auf dem Sofa und konntenur heulen. Jetzt fühle ich mich eher alseine Einheit. Ich kann auch mal tags-über traurig sein, das aushalten und dar-über reden.»

IhreVergangenheit würdeLuzia gernhinter sich lassen. Sie will gesund wer-den, eine Ausbildung machen und sichum ihre Kinder kümmern.Aber der Ge-danke quält sie, dass Daniel H. und an-dere Täter weiterhin aktiv sind. Und sieist enttäuscht über das Vorgehen derStaatsanwaltschaft: Solange die staat-lichen Behörden nicht mit KompetenzundEngagement gegendieTäter vorgin-gen, gebe es kein Ende derAusbeutung.

* Die Namen von Luzia und ihrem Lehrer wur-den zur Wahrung der Anonymität geändert.

Manchmal wundertesie sich, wenn sieaufreizende Kleiderin ihrem Schrank fand,die sie sich niekaufen würde.

Was für normaleMenschen alszu grausam klingt,um wahr zu sein, hörenPsychotherapeutenimmer wieder.