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2 Die FKM-Richtlinie 2.1 Entstehung und Weiterentwicklung Teile der heutigen FKM-Richtlinie reichen bis in die 1960iger Jahre zurück. Sie haben ihren Ursprung in DDR-Regelwerken, wie z. B. [IfL 70; IfL 86], welche am Institut für Leichtbau und ökonomische Verwendung von Werkstoffen (IfL) in Dresden zwischen 1961 und 1990 verfasst wurden. Das IfL hat seine Wur- zeln im Flugzeugbau, der nach der Entwicklung des ersten strahlgetriebenen Ver- kehrsflugzeug Deutschlands eingestellt wurde. Später sind die zuvor erarbeiteten Berechnungsvorschriften in zahlreiche TGL-Standards überführt wurden (Techni- sche Güte- und Lieferbedingungen, siehe z. B. TGL 19330, 19340, 19341, 19350). „Diese Normen hatten sich in der metallverarbeitenden Industrie der ostdeutschen Länder bewährt und waren mangels vergleichbarer Unterlagen auch in den al- ten Bundesländern bekannt geworden“, [Häne 94a]. Als Grundlage für die FKM- Richtlinie dienten aber noch weitere Regelwerke wie z. B. VDI 2226, DIN 18800, Eurocode 3 oder die IIW-Empfehlungen. Kurz nach der Wiedervereinigung wurden die TGL-Standards als erhaltenswert angesehen. Beim Forschungskuratorium Maschinenbau (FKM) wurde daher im Arbeitskreis Bauteilfestigkeit ein Forschungsprojekt mit dem Ziel, ein durchgän- giges Regelwerk für den rechnerischen Festigkeitsnachweis für Maschinenbauteile zu entwickeln, gestartet. Die daraus entstandene FKM-Richtlinie „Rechnerischer Festigkeitsnachweis für Maschinenbauteile“ ist in ihrer ersten Auflage im Jahre 1994 fertiggestellt worden, [Häne 94a]. Sie wurde in der 1. Auflage zusammen mit einem umfangreichen Kommentarband veröffentlicht, [Häne 94b]. Die FKM-Richtlinie wird regelmäßig weiterentwickelt und um neueste Er- kenntnisse entsprechend dem Stand der Technik ergänzt. Nach der unveränderten 2. Auflage folgten 1998 mit der 3. Auflage inhaltliche und formale Änderungen. Neben einer Neugliederung mit den heute noch verwendeten vier Hauptabschnitten 5 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017 M. Wächter et al., Angewandter Festigkeitsnachweis nach FKM-Richtlinie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17459-0_2

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2Die FKM-Richtlinie

2.1 Entstehung undWeiterentwicklung

Teile der heutigen FKM-Richtlinie reichen bis in die 1960iger Jahre zurück. Siehaben ihren Ursprung in DDR-Regelwerken, wie z. B. [IfL 70; IfL 86], welcheam Institut für Leichtbau und ökonomische Verwendung von Werkstoffen (IfL)in Dresden zwischen 1961 und 1990 verfasst wurden. Das IfL hat seine Wur-zeln im Flugzeugbau, der nach der Entwicklung des ersten strahlgetriebenen Ver-kehrsflugzeug Deutschlands eingestellt wurde. Später sind die zuvor erarbeitetenBerechnungsvorschriften in zahlreiche TGL-Standards überführt wurden (Techni-sche Güte- und Lieferbedingungen, siehe z. B. TGL 19330, 19340, 19341, 19350).„Diese Normen hatten sich in der metallverarbeitenden Industrie der ostdeutschenLänder bewährt und waren mangels vergleichbarer Unterlagen auch in den al-ten Bundesländern bekannt geworden“, [Häne 94a]. Als Grundlage für die FKM-Richtlinie dienten aber noch weitere Regelwerke wie z. B. VDI 2226, DIN 18800,Eurocode 3 oder die IIW-Empfehlungen.

Kurz nach der Wiedervereinigung wurden die TGL-Standards als erhaltenswertangesehen. Beim Forschungskuratorium Maschinenbau (FKM) wurde daher imArbeitskreis Bauteilfestigkeit ein Forschungsprojekt mit dem Ziel, ein durchgän-giges Regelwerk für den rechnerischen Festigkeitsnachweis für Maschinenbauteilezu entwickeln, gestartet. Die daraus entstandene FKM-Richtlinie „RechnerischerFestigkeitsnachweis für Maschinenbauteile“ ist in ihrer ersten Auflage im Jahre1994 fertiggestellt worden, [Häne 94a]. Sie wurde in der 1. Auflage zusammen miteinem umfangreichen Kommentarband veröffentlicht, [Häne 94b].

Die FKM-Richtlinie wird regelmäßig weiterentwickelt und um neueste Er-kenntnisse entsprechend dem Stand der Technik ergänzt. Nach der unveränderten2. Auflage folgten 1998 mit der 3. Auflage inhaltliche und formale Änderungen.Neben einer Neugliederung mit den heute noch verwendeten vier Hauptabschnitten

5© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017M. Wächter et al., Angewandter Festigkeitsnachweis nach FKM-Richtlinie,https://doi.org/10.1007/978-3-658-17459-0_2

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6 2 Die FKM-Richtlinie

(Kapitel 1 bis 4) wurden u. a. zusätzliche Stahl- und Gusssorten eingeführt sowieder Nachweis von Schweißverbindungen grundlegend überarbeitet, [Häne 98].In der 4. Auflage wurden Festigkeitsnachweise für Aluminiumknet- und Guss-werkstoffe ergänzt, [Häne 02]. Eine deutsche und inhaltlich identische englischeAusgabe gab es erstmals 2003 mit der 5. Auflage der Richtlinie, [Häne 03a;Häne 03b]. Derzeit liegt die 2012 erschienene und in allen Kapiteln vollständigüberarbeitete 6. Auflage vor, [Renn 12]. Weitere Details der Änderungshistoriekönnen den Vorworten der einzelnen Auflagen entnommen werden.

Die FKM-Richtlinie hat sich in zahlreichen Branchen zu einem Quasistandardbei der Auslegung von Maschinenbauteilen entwickelt – insbesondere, wenn keineanderen Regelwerke für die Auslegung existieren. Die FKM-Richtlinie „Rechneri-scher Festigkeitsnachweis für Maschinenbauteile“, die sich mit Festigkeitsnach-weisen basierend auf einem linear-elastischen Materialmodell befasst, ist nichtdie einzige Richtlinie, die vom FKM herausgegeben wird, auch wenn sie häufigals „die FKM-Richtlinie“ verstanden wird. Neben ihr existiert auch die Richtlinie„Bruchmechanischer Festigkeitsnachweis“, [Berg 09].

2.2 Anwendungsbereich

Mit der aktuellen, 6. Auflage der FKM-Richtlinie können Bauteile ausgelegt wer-den, die folgende Anforderungen erfüllen:

� Bauteile aus Stahl, Eisenguss- oder Aluminiumwerkstoffen� Temperaturen zwischen �40 und 500 °C� Geschweißte oder nicht geschweißte Bauteile� Versagensort: Oberfläche1

Der Festigkeitsnachweis in der FKM-Richtlinie ist in einen Statischen undeinen Ermüdungsfestigkeitsnachweis unterteilt. Für Bauteile, die lediglich stati-schen Lasten ausgesetzt sind, muss nur der Statische Festigkeitsnachweis erbrachtwerden. Für Bauteile, die schwingenden Belastungen unterworfen sind, müssenhingegen beide Festigkeitsnachweise erfüllt werden, um die Bauteile sowohl gegenSchwing- als auch gegen Gewaltbruch bzw. plastischen Kollaps auszulegen.

Die Festigkeitsnachweise (Statisch als auch Ermüdungsfestigkeit) können mit-hilfe von Nennspannungen als auch mit örtlichen Spannungen durchgeführt wer-

1 Mit Ausnahme des Sonderfalls „randschichtverfestigtes Bauteil“, für den die FKM-Richt-linie mit Kapitel 5.5 auch den Nachweis für einen Punkt unterhalb der Bauteiloberflächezulässt.

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2.3 Aufbau 7

den. Beide Spannungsarten sind rein elastizitätstheoretisch ermittelt, d. h. es wirdein linearer Zusammenhang zwischen äußerer Belastung und innerer Beanspru-chungsgröße unterstellt. Nennspannungen können nur bei stab- oder flächenför-migen Bauteilen definiert werden. Die für einen Festigkeitsnachweis mit örtlichenSpannungen (Normalspannung ¢ und Schubspannung £) benötigten Spannungenwerden in der Praxis mithilfe von FE-Rechnungen mit linear-elastischem Materi-alverhalten ermittelt.

Der Ermüdungsfestigkeitsnachweis kann abhängig von der Beanspruchung un-terschiedliche Ausprägungen haben, die sich durch die Struktur der FKM-Richtli-nie automatisch ergeben:

� Dauerfestigkeitsnachweis� Zeitfestigkeitsnachweis� Betriebsfestigkeitsnachweis

Ermüdungsbeanspruchungen können im Festigkeitsnachweis erst ab einer ge-forderten Lebensdauer von 104 Lastwechseln berücksichtigt werden. Dies liegtdaran, dass davon ausgegangen wird, dass die Beanspruchungen bei kleineren Le-bensdauern starke plastische Anteile enthalten, die dem elastizitätstheoretischenAnsatz widersprechen. Die in der FKM-Richtlinie verwendeten Wöhlerlinien ver-lieren in diesem Bereich ihre Gültigkeit.

2.3 Aufbau

Die FKM-Richtlinie gliedert sich in 9 Kapitel, zu denen im Folgenden die wich-tigsten Inhalte aufgeführt sind:

0. AllgemeinesIn diesem Abschnitt werden die Gültigkeits- und Anwendungsgrenzen derFKM-Richtlinie sowie der Berechnungsablauf dargestellt.

1. Statischer Festigkeitsnachweis mit Nennspannungen2. Ermüdungsfestigkeitsnachweis mit Nennspannungen3. Statischer Festigkeitsnachweis mit örtlichen Spannungen4. Ermüdungsfestigkeitsnachweis mit örtlichen Spannungen5. Anhänge:

Die Anhänge enthalten Eingabeinformationen für die Festigkeitsnachweise so-wie Hinweise zu deren Festlegung. Hierzu zählen Tabellen mit Norm-Zug-festigkeiten und Norm-Fließgrenzen, Form- und Kerbwirkungszahl-Diagram-

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8 2 Die FKM-Richtlinie

me, Hinweise zu Verwendung von experimentell ermittelten Festigkeitswerten,Hinweise zur Festlegung von Lastannahmen.

6. Beispiele:Dieser Abschnitt enthält sechs Anwendungsbeispiele für den Statischen undErmüdungsfestigkeitsnachweis mit Zwischenergebnissen.

7. Formelzeichen:Symbolverzeichnis

8. Änderungen:Dieser Abschnitt enthält eine Auflistung der wesentlichen Änderung in derFKM-Richtlinie in Bezug zu älteren Ausgaben.

Literatur

[Berg 09] Berger, C., Blauel, J.G., Hodulak, L., Pyttel, B., Varfolomeev, I.: Bruchmecha-nischer Festigkeitsnachweis, 3. Aufl. VDMA-Verlag, Frankfurt am Main (2009)

[Häne 94a] Hänel, B., Wirthgen, G., Zenner, H., Seeger, T.: Rechnerischer Festigkeits-nachweis für Maschinenbauteile. Richtlinie. FKM-Vorhaben Nr. 154. FKM-Heft 183-2. VDMA-Verlag, Frankfurt am Main (1994)

[Häne 94b] Hänel, B., Wirthgen, G., Zenner, H., Seeger, T.: Rechnerischer Festigkeits-nachweis für Maschinenbauteile. Richtlinie. FKM-Vorhaben Nr. 154. FKM-Heft 183-1. VDMA-Verlag, Frankfurt am Main (1994)

[Häne 98] Hänel, B., Haibach, E., Seeger, T., Wirthgen, G., Zenner, H.: Rechnerischer Fes-tigkeitsnachweis für Maschinenbauteile, 3. Aufl. VDMA-Verlag, Frankfurt amMain (1998)

[Häne 02] Hänel, B., Haibach, E., Seeger, T., Wirthgen, G., Zenner, H.: RechnerischerFestigkeitsnachweis für Maschinenbauteile aus Stahl, Eisenguss- und Alumi-niumwerkstoffe, 4. Aufl. VDMA-Verlag, Frankfurt am Main (2002)

[Häne 03a] Hänel, B., Haibach, E., Seeger, T., Wirthgen, G., Zenner, H.: RechnerischerFestigkeitsnachweis für Maschinenbauteile aus Stahl, Eisenguss- und Alumi-niumwerkstoffe, 5. Aufl. VDMA-Verlag, Frankfurt am Main (2003)

[Häne 03b] Hänel, B., Haibach, E., Seeger, T., Wirthgen, G., Zenner, H.: Analytical strengthassessment of components made of steel, cast iron and aluminum materials inmechanical engineering. FKM Guideline, 5. Aufl. VDMA-Verlag, Frankfurt amMain (2003)

[IfL 70] Institut für Leichtbau: E – Festigkeit. Leichtbau. Konstruktions- und Berech-nungsunterlagen, Bd. 3. Institut für Leichtbau, Dresden (1970)

[IfL 86] Institut für Leichtbau: Festigkeitsberechnung: Ermüdungsfestigkeit, Bruchme-chanik, 1. Aufl. Leichtbau-Handbuch, Bd. 4/2. Institut für Leichtbau, Dresden(1986)

[Renn 12] Rennert, R., Kullig, E., Vormwald, M., Esderts, A., Siegele, D.: RechnerischerFestigkeitsnachweis für Maschinenbauteile aus Stahl, Eisenguss- und Alumini-umwerkstoffen, 6. Aufl. VDMA-Verlag, Frankfurt am Main (2012)

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3Grundlagen: Beanspruchungszustand undFestigkeitsnachweis

3.1 Nennspannungen, örtliche Spannungen,Spannungstensor

Bauteile erfahren im Betrieb und durch ihr Eigengewicht äußere Kräfte und Mo-mente, die sogenannten Belastungen. Diese äußeren Kräfte und Momente rufen imBauteil Spannungen und Verformungen hervor, die als Beanspruchungen bezeich-net werden.

Allgemein kann in Nennspannungen und örtliche Spannungen unterschiedenwerden. Die Nennspannung ist eine fiktive Spannung, die sich in einem Quer-schnitt einstellen würde, wenn keine Störung des Spannungsverlaufs vorläge,[Issl 97]. Nennspannungen werden mithilfe der Balkentheorie berechnet. Dabeiergibt sich für eine axiale Beanspruchung (Zug/Druck) eine über den Querschnitthomogen verteilte Nennspannung, Abb. 3.1. Bei Biegung und Torsion hingegenergeben sich gradientenbehaftete Verläufe.

Wird die kerbbedingte Störung des Spannungsverlaufs und eine Annahme zumWerkstoffverhalten berücksichtigt, so können auch örtliche Spannungen berechnetwerden. Wird als Werkstoffverhalten ausschließlich das Hooksche Gesetz unter-stellt, so ergeben sich elastizitätstheoretische Spannungen. Diese dienen neben denNennspannungen als Grundlage für die Festigkeitsnachweise in der FKM-Richt-linie. Wird hingegen ein elastisch-plastisches Werkstoffverhalten angenommen,ergeben sich örtliche Spannungen und Verformungen, die sich in der Regel vonden elastizitätstheoretischen Werten unterscheiden. Auch mit dieser Art der Bean-spruchungen lassen sich Festigkeitsnachweise durchführen, siehe z. B. [Seeg 96;Rada 07]. Häufig wird beim Festigkeitsnachweis mit Beanspruchungen, die mit-hilfe eines elastisch-plastischen Werkstoffmodells bestimmt wurden, vom Kerb-grunddehnungskonzept oder aber auch vom Örtlichen Konzept (als Abgrenzungzum Nennspannungskonzept) gesprochen. Für den Nachweis mit elastizitätstheo-

9© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017M. Wächter et al., Angewandter Festigkeitsnachweis nach FKM-Richtlinie,https://doi.org/10.1007/978-3-658-17459-0_3

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10 3 Grundlagen: Beanspruchungszustand und Festigkeitsnachweis

Abb. 3.1 Nennspannungen und örtlicher Spannungszustand

retischen, örtlichen Spannungen wird in der FKM-Richtlinie der Begriff „Nach-weis mit örtlichen Spannungen“ verwendet. Dies kann zu Verwechslungen mit demKerbgrunddehnungskonzept (Örtliches Konzept) führen.

Wie in Abb. 3.1 dargestellt, kann eine Belastung (in diesem Fall eine Axialkraft)zu einer einzigen Nennspannung S (einachsiger Spannungszustand), örtlich jedochzu einem mehrachsigen Spannungszustand führen. Die örtliche Mehrachsigkeit istbei einer ausschließlichen Betrachtung der Nennspannungen in diesem Beispielnicht zu erkennen.

Nennspannungen lassen sich nur unter der Voraussetzung berechnen, dass einBezugsquerschnitt definiert werden kann, Abb. 3.1. Bei vielen praxisrelevantenBauteilen, wie z. B. Getriebegehäusen, kann in der Regel kein Bezugsquerschnittgefunden werden, Abb. 3.1. Die örtlichen Spannungen sind hingegen allgemeinanwendbar und werden daher in diesem Buch ausschließlich betrachtet.

Der Spannungszustand an einer bestimmten Stelle in einem Bauteil lässt sichaußer im Sonderfall eines einachsigen Spannungszustands nicht durch einen ein-zelnen Spannungswert charakterisieren. Stattdessen wird der sogenannte Span-nungstensor verwendet.

Zur Verdeutlichung der Bedeutung des Spannungstensors ist der folgende Ge-dankengang hilfreich, Abb. 3.2: Aus einem Bauteil wird an einer beliebigen Stelleein infinitesimal kleines Volumenelement (Quader) herausgeschnitten. Der Qua-

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3.1 Nennspannungen, örtliche Spannungen, Spannungstensor 11

Abb. 3.2 Kräfte und Spannungen an einem infinitesimal kleinen Volumenelement

der wird so orientiert, dass seine Flächennormalenvektoren parallel zu den Ko-ordinatenachsen eines kartesischen Koordinatensystems zeigen. An dem Würfelwerden Schnittkräfte angebracht, die mit dem restlichen Bauteil und den äuße-ren Belastungen im Gleichgewicht stehen. Durch Beziehen der Kräfte auf diejeweiligen Quaderflächen werden die örtlichen Spannungsvektoren erhalten. DieseSpannungsvektoren lassen sich in Anteile senkrecht zur jeweiligen Quaderflächeund Anteile parallel zur jeweiligen Quaderfläche zerlegen. Die senkrechten Anteilewerden als Normalspannungen ¢ und die parallelen Anteile als Schubspannun-gen £ bezeichnet. Die Schubspannungen lassen sich in je zwei Anteile zerlegen,die parallel zu den Koordinatenachsen orientiert sind. Damit ergeben sich pro Flä-che eine Normalspannung ¢ und zwei Schubspannungen £.

Die Spannungskomponenten werden zur Unterscheidung mit Indizes versehen.Dabei markiert der erste Index den Bezug zur Querschnittsfläche mit ihrem Nor-malenvektor, der zweite Index die Orientierung der jeweiligen Spannungskompo-nente, Abb. 3.2.

Z. B. bedeutet £xy:

� Schubspannung� Liegt in der Ebene, zu der ein Normalenvektor gehört, der parallel zur x-Achse

des Koordinatensystems liegt� Liegt parallel zur y-Achse des Koordinatensystems

Die Spannungskomponenten an einem infinitesimal kleinen Quader werden ineine Matrix, den sogenannten Spannungstensor S, einsortiert. Dabei wird bei den

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12 3 Grundlagen: Beanspruchungszustand und Festigkeitsnachweis

Normalspannungskomponenten in der Regel der zweite Index weggelassen.

S D

0

B

@

¢xx £xy £xz

£yx ¢yy £yz

£zx £zy ¢zz

1

C

AD

0

B

@

¢x £xy £xz

£yx ¢y £yz

£zx £zy ¢z

1

C

A(3.1)

Aufgrund des Momentengleichgewichts am Quader muss gelten, vgl. Abb. 3.2:

£ij D £ji (3.2)

Die Spannungen im Spannungstensor sind örtliche Spannungen, wie sie auchvon FE-Systemen numerisch berechnet werden können.

3.2 Hauptspannungen undMehrachsigkeit

Wenn der Quader (das differenzielle Volumenelement) aus Abb. 3.2 im Raum ro-tiert wird, ändern sich aufgrund der Gleichgewichtsbedingungen die Schnittkräfteauf seinen Flächen und damit die Spannungskomponenten des Spannungstensors.Der Informationsgehalt des Spannungstensors bleibt dabei jedoch unverändert, dadie Wahl des Koordinatensystems und damit die Orientierung des Quaders imRaum beliebig sind.

Jeder Quader kann so orientiert werden, dass alle Schubspannungskomponen-ten £ gleich Null sind (Hauptachsentransformation/Hauptspannungszustand/Ei-genwertproblem), Abb. 3.3. Die sich dann ergebenden Normalspannungen werden

τ

σ

σ2 σ1σ3

σx / τxy

φ

σ1

σ3

σxτxy

σy

τyx

freie

Bauteiloberfläche

Abb. 3.3 Mohrsche Kreise für einen ebenen Spannungszustand mit Angabe des Hauptspan-nungswinkels ®

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3.2 Hauptspannungen und Mehrachsigkeit 13

τ

σ

σ1σ2 =σ3=0

τ

σ

σ2 =0 σ1σ3

τ

σ

σ2 σ1σ3

τ

σ

σ1=σ2=σ3

gishcaiewz/ nebegishcanie

räumlich / dreiachsig hydrostatisch

Abb.3.4 Verschiedene Spannungszustände mit den dazugehörigen Darstellungen als Mohr-scher Kreis

als Hauptnormalspannungen ¢1, ¢2 und ¢3 bezeichnet. Für die Hauptnormalspan-nungen gilt üblicherweise folgende Konvention1:

¢1 � ¢2 � ¢3 (3.3)

Aus den Hauptspannungen können Aussagen über den Spannungszustand ab-geleitet werden, vgl. Abb. 3.4:

� Zwei Hauptspannungen gleich Null, die andere ungleich Null ! EinachsigerSpannungszustand (z. B. Zugversuch an ungekerbter Probe)

� Eine Hauptspannung gleich Null, die anderen ungleich Null ! Ebener Span-nungszustand oder zweiachsiger Spannungszustand (z. B. an der freien Ober-fläche einer Welle unter Biege- und Torsionsbelastung)

� Alle Hauptspannungen ungleich Null ! Räumlicher Spannungszustand oderdreiachsiger Spannungszustand (z. B. Oberfläche eines mit Außen- und Innen-druck belasteten Behälters, Spannungszustand an Punkten im Bauteilinneren)

� Alle Hauptspannungen weisen den gleichen Wert auf ! hydrostatischer Span-nungszustand (liegt in idealen Flüssigkeiten oder idealen Gasen vor)

1 Wie später noch diskutiert wird, weicht die FKM-Richtlinie von dieser Konvention ab.Weiterhin ist sie nicht in allen Fällen sinnvoll anwendbar, z. B. zur Darstellung von Mehr-achsigkeitshypothesen in Hauptspannungsdiagrammen, s. z. B. Abb. 3.9.

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14 3 Grundlagen: Beanspruchungszustand und Festigkeitsnachweis

Da Ermüdungsrisse und damit Versagen häufig an freien Bauteiloberflächeneintreten, besitzt der ebene Spannungszustand eine besondere Bedeutung. Für denFall des ebenen Spannungszustands kann ein sogenannter Hauptspannungswin-kel ® definiert werden. Dieser beschreibt, um welchen Winkel der Quader um dieAchse senkrecht zur freien Oberfläche gedreht werden muss, um zum Hauptspan-nungs-Koordinatensystem zu gelangen, Abb. 3.3.

Ist der Hauptspannungswinkel ® bei zeitlich veränderlicher Belastung kon-stant, dann spricht man von proportionalen Beanspruchungen. Das bedeutet, dasszwischen den Spannungskomponenten zeitlich konstante Faktoren vorhandensind, z. B. ¢x(t) = 2 � £xy(t). Andernfalls handelt es sich um nichtproportionale Be-anspruchungen. Proportionale und nichtproportionale Beanspruchungen könnenauch beim dreiachsigen Spannungszustand auftreten. Ein Sonderfall des nichtpro-portionalen Spannungszustands ist der synchrone Spannungszustand. Er tritt auf,wenn sich zwar die Amplitude der einzelnen Spannungskomponenten proportionalzueinander verhalten, nicht jedoch die Mittelspannungen.

Zur Verdeutlichung des Zustandekommens eines nichtproportionalen Bean-spruchungszustands wird das Beispiel einer ungekerbte Welle, Abb. 3.5, betrachtet,die durch ein Drehmoment Mt, ein Biegemoment Mb und eine Axialkraft Fax be-lastet wird. Die Belastungen weisen jeweils konstante Werte auf, Abb. 3.6:

� Mt = 15 kNm� Mb = 10,5 kNm� Fax = 3,75 kN

Mt

Mt

Mb

Mb

Fax

Fax

yx

z

Nachweispunkt

(mitrotierendes

Koordinatensystem)

Wellendurchmesser

n = 250 1/min

d = 15 mm

Drehzahl

Abb. 3.5 Rotierende Welle belastet mit Drehmoment, Biegemoment und Axialkraft