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Digitalisierung im sozialen Sektor - Bestandsaufnahme, Funktionen, Perspektiven Vortrag auf der Jahrestagung 2019 des Vereins für Sozialplanung am 23.05.2019 in Darmstadt

Digitalisierung im sozialen Sektor - Bestandsaufnahme ... · First-level digital divide • Digitale Ungleichheiten • Nutzungsdisparitäten (Kohärenzthese) • Second-level digital

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Digitalisierung im sozialen Sektor -Bestandsaufnahme, Funktionen, Perspektiven

Vortrag auf der Jahrestagung 2019 des Vereins für Sozialplanung am 23.05.2019 in Darmstadt

NARRATIVE DER DIGITALISIERUNG (GRIMM 2018)

Hermes: der Gott der Händler, Kaufleute und Kommunikation

Pandora: von Hephaistos aus Lehm geschaffene Frau mit der unheilvollen Büchse

Wo aber liegt das prometheische Potenzial der Digitalisierung?

GLIEDERUNG

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1. Drei Dimensionen der Digitalisierung

2. Akteure und Nutzungsformen von IT im sozialen Sektor

3. Vier Funktionen von IT in der Sozialen Arbeit

4. Von der Verschränkung kommunaler Datenquellen zur digitalen

Präventionspolitik?

5. Von der digitalen Spaltung zur digitalen Teilhabe?

6. Schwer erreichbar – digital zugänglich? Niedrigschwelligkeit als

Herausforderung und Chance

7. Resümee & Handlungsaufforderungen

Seit wann sprechen wir über „die Digitalisierung“? Vier Antworten… (1) …Seit 50 Jahren… Schwendtke, Arnold (1968): Sozialarbeit und Computer, in: Blätter der Wohlfahrtspflege, Jg. 124 (11), S. 355-356. (2) …Seit Mitte der 90er Jahre… Halfar, Bernd (1997): Sozialinformatik unerlässlich. In: Blätter der Wohlfahrtspflege, Jg. 144 (6), S. 113-114. (3) …Seit 2002… …der Zeitpunkt, seit dem global mehr digitale als analoge Daten gespeichert werden und somit als „Beginn des digitalen Zeitalters“ definiert werden kann (Gapski i.E.). (4) …Seit Mitte der 2010er Jahre… Diskurs der Digitalisierung als Wandel aller Gesellschaftsbereiche und der Frage neuer Erbringungsformen („Disruption“; Kreidenweis 2018)

INTER-/DISZIPLINÄRE BESTIMMUNGEN DER DIGITALISIERUNG

1. Automatisierung Formen technischer Rationalisierung, Prozesse der Formalisierung („etwas digitalisieren“, „in eine digitale Form gießen“), Ironien der Automatisierung 2. Informatisierung sozialer Prozess der Erzeugung und Nutzung von Informationen, um daraus weitere Informationen erzeugen zu können.

„Das Wesen der Informatisierung besteht darin, Informationen als ein an sich ideelles, der Tätigkeit bestimmter Subjekte zuzurechnendes Moment, in einen materiellen Gegenstand kooperativer menschlicher Tätigkeit zu überführen“ (Boes 2005: 214f)

3. Transformation neue Formen der Planung, Steuerung und Reorganisation von Arbeits- und Wertschöpfungsprozessen; Etablierung sozio-technischer Systeme („technische Systeme werden zu sozialen Systemen“) Dis-/Kontinuitäten arbeitsfeldbezogener und

gesellschaftlicher Entwicklung

DREI DIMENSIONEN DER DIGITALISIERUNG (ZUBOFF 2013)

4 Entwicklungslinien im „Sozialstaat 4.0“ (Haunss/Nullmeier 2016) (1) Veränderte Arbeitsverhältnisse und neue Kategorien von Tätigen

– Frey/Osborne-Effekt?, Crowdworker, Berufsbildung 4.0… (2) Datenverfügbarkeiten und deren sozialpolitische Verwendung

– Big Data in der Sozialverwaltung? Algorithmisierung von Entscheidungsprozessen…

(3) Lebensformwandel und Selbstmonitoring – Apps, Wearables, Smart Watch, Care Monitoring, IoT…

(4) Auswirkungen auf die soziale Dienstleistungsproduktion – Monitoring Sozialer Dienste (Fachsoftware), Digitalisierung der

Leistungserbringung (neue Dienstleistungen, Onlineberatung…), „Plattformisierung“ (betreut.de, nebenan.de)

INTER-/DISZIPLINÄRE BESTIMMUNGEN DER DIGITALISIERUNG

Allgemeine Nutzungsformen

• Informationsbereitstellungen (Websites, Portale) • Digitalisierte fallbezogene Informationsverarbeitung

(Fachsoftware, E-Akte, Monitoringsysteme) • Digitalisierte Kommunikation im Kontext der Erbringung sozialer

Dienstleistungen (Onlineberatung, Instant-Messenger) • Assistenztechnologien für Adressat_innen mit Einschränkungen

(Sensorsysteme, Pflegetechnik, Robotik)

IT zugleich Arbeitsmittel von Fachkräften und Organisationstechnologie

AKTEURE UND NUTZUNGSFORMEN VON IT IM SOZIALEN SEKTOR

AKTEURE UND NUTZUNGSFORMEN VON IT IM SOZIALEN SEKTOR

Fachkräfte

Freie Träger Öff. Träger

Adressat*innen

• Kommunales Bildungsmonitoring

• Georeferenzierte Sozialplanung (Heinsberg)

• Fachsoftare • Abrechnungssysteme/

Datenaustausch • Screening-/Meldesysteme • Berichtswesen/E-Akte • Programmmonitoring • Plattformen (SoJus)

• Onlinekommunikation • Onlineberatung • E-Portfolio • Partizipationstools

• Selbsthilfeforen • Apps für Kriminal- und Suchtprävention • Assistenzsysteme/-technologien

• Angebotsrecherche & Buchungsportale (Kitaplatzfinder, Kurssysteme)

• Familieninformationssysteme (Onlinesystem FH)

• Social Bots (Arbeitsagentur)

• Social Media • Intranet • Wissensmanagement

• Expertenforen • E-Learning • Visualisierungstechniken (Nadelmethode 2.0)

In Anlehnung an Kutscher/Ley/Seelmeyer 2014

FUNKTIONEN VON IT IN DER VORBEUGENDEN SOZIALPOLITIK

Steuerung

von Hilfesystemen

Vernetzung von Akteuren

Unterstützung von Fallarbeit

Einbindung von Adressat*

innen

Anwen- dungs-

Kontexte

Kommunale Sozialplanung

Programme und Institutionen

Falleingangs-systeme

Informations- und Hilfeportale

Programm-monitoring

Experten-netzwerke

Diagnose und Prognose-stellungen

Antrag-stellungen

Populations-bezogenes Risiko-

management

Fall-kooperationen

Hilfeplan-verfahren

Koproduktion in Dienst-

leistungen

(Ley/Seelmeyer 2017)

FUNKTIONEN VON IT IN DER VORBEUGENDEN SOZIALPOLITIK

Steuerung

von Hilfesystemen

Vernetzung von Akteuren

Unterstützung von Fallarbeit

Einbindung von Adressat*

innen

Anwen- dungs-

Kontexte

Kommunale Sozialplanung

Programme und Institutionen

Falleingangs-systeme

Informations- und Hilfeportale

Programm-monitoring

Experten-netzwerke

Diagnose und Prognose-stellungen

Antrag-stellungen

Populations-bezogenes Risiko-

management

Fall-kooperationen

Hilfeplan-verfahren

Koproduktion in Dienst-

leistungen

(Ley/Seelmeyer 2017)

Jobmappe NRW

Kommunikationsforum Kommunale Koordinierung

Kekiz Onlinetool

Onlinesystem Frühe Hilfen

Bildungs- und Sozialmonitoring

Ausgewählte Bewertungen / Handlungsempfehlungen der Expertise

• Einsatz von IT in der Regel auf Steuerungs- und Vernetzungsfunktionen beschränkt

• Einfache, häufig unidirektionale Nutzungsformen von IT • Projekte der nachholenden Informatisierung (eher 2.0 denn 4.0) • Potentiale digitaler Koproduktion nicht ausgeschöpft (neue

Dienstleistungsformate?) • Modellhafte Umsetzung kommunaler Präventionsportale

(„digital-analoge, hybride Anlaufstellen“) • Digitale öffentliche Dienste aus Perspektive

der Adressat*innen gestalten (d.h. auch Nutzungsstrategien und Aneignungsweisen erkennen)

FUNKTIONEN VON IT IN DER VORBEUGENDEN SOZIALPOLITIK

VON DER VERSCHRÄNKUNG KOMMUNALER DATENQUELLEN ZUR SOZIALRÄUMLICHEN PRÄVENTIONSPOLITIK?

Predictive Policing (Precob)

Pleite Atlas

VON DER VERSCHRÄNKUNG KOMMUNALER DATENQUELLEN ZUR SOZIALRÄUMLICHEN PRÄVENTIONSPOLITIK?

VON DER VERSCHRÄNKUNG KOMMUNALER DATENQUELLEN ZUR SOZIALRÄUMLICHEN PRÄVENTIONSPOLITIK?

Openwheelmap.org

Digitale Ungleichheitsforschung in „Zeitraffer“ • Digitale Spaltung

• Zugang, „Onliner vs. Offliner“ • Privilegierungsthese • First-level digital divide

• Digitale Ungleichheiten • Nutzungsdisparitäten (Kohärenzthese) • Second-level digital divide

• Algorithmische Ungleichheiten • Netzneutralität, Filterblasen, Code • Zero-level digital divide & voice divide

• Digitale Teilhabe • Teilhabe in digitalen Medien • Teilhabe mit digitalen Medien (Verständig/Klein/Iske 2016, Eubanks 2018, Pelka 2018)

VON DER DIGITALEN SPALTUNG ZUR DIGITALEN TEILHABE?

19% der Deutschen nutzt das Internet nicht - 94% davon 50 Jahre oder älter (Initiative D21 2017/18): „Der Alltag darf nicht an den Offlinern vorbeigehen“

Unterschiede bei Erfahrung, Expertise und Nutzungsoptionen! (Livingstone 2005)

4 Hürden: Zugang, Motivation, Nutzung, kompetente Nutzung

• Gretchenfrage: Erreichen wir Menschen digital, die wir analog nicht (mehr) erreichen?

• „Schwere Erreichbarkeit“ als Resultat – …der Lebensverhältnisse der Adressat_innen und – …der Strukturen und Angebote der Einrichtungen

• Bsp. aus der niedrigschwelligen Integrationsförderung: Digital-analoger Methodenmix aus aufsuchender Arbeit, gemeinsamer Internetrecherchen, Beratungsarbeit und kontinuierlichem WhatsApp Kontakt (bis 25.5.2018 )

• vier Dimensionen der Niedrigschwelligkeit (Mayrhofer 2013): zeitlich, räumlich, inhaltlich, sozial

• Nicht-Inanspruchnahme von sozialen Dienstleistungen als Erkenntnislücke in der Forschung aber auch in der Organisationsentwicklung

SCHWER ERREICHBAR – DIGITAL ZUGÄNGLICH?

Wo kann man nun die Ursachen für Nichtinanspruchnahme verorten?

SCHWER ERREICHBAR – DIGITAL ZUGÄNGLICH?

• Unklare Anspruchsgrundlagen

• Stigmatisierung der Leistung

• Stigmatisierung der Voraussetzungen

• Diskriminierung von einzelnen Gruppen

• Fehlende Infrastruktur (Internetzugang)

• Fehlende Kompetenz im Umgang mit Institutionen

• Falsche Vorstellungen des Anspruchs

• Unbeständige/Unsichere Programme

• Stigmatisierung der Bezugsbedingungen

• Unzugängliches Verfahren

• Komplexes Verfahren • Komplizierte Formulare • Mangel an Wissen bei

Mitarbeitern • Große räumliche Distanz • Hochschwelliger Zugang

• Unkenntnis des Programms / Anspruchs

• Scham / Stolz • Erwartete Kosten höher

als Nutzen • Persönliche Präferenzen • Unabhängigkeits-

vorstellungen Individuum

Programm/ Organisation

System Ressourcen

In Anlehnungen an von Oorschot 1998; Bruckmeyer 2016; Dimmel 2009

Wo kann man nun die Ursachen für Nichtinanspruchnahme verorten?

SCHWER ERREICHBAR – DIGITAL ZUGÄNGLICH?

• Unklare Anspruchsgrundlagen

• Stigmatisierung der Leistung

• Stigmatisierung der Voraussetzungen

• Diskriminierung von einzelnen Gruppen

• Fehlende Infrastruktur (Internetzugang)

• Fehlende Kompetenz im Umgang mit Institutionen

• Falsche Vorstellungen des Anspruchs

• Unbeständige/Unsichere Programme

• Stigmatisierung der Bezugsbedingungen

• Unzugängliches Verfahren

• Komplexes Verfahren • Komplizierte Formulare • Mangel an Wissen bei

Mitarbeitern • Große räumliche Distanz • Hochschwelliger Zugang

• Unkenntnis des Programms / Anspruchs

• Scham / Stolz • Erwartete Kosten höher

als Nutzen • Persönliche Präferenzen • Unabhängigkeits-

vorstellungen Individuum

Programm/ Organisation

System Ressourcen

In Anlehnungen an von Oorschot 1998; Bruckmeyer 2016; Dimmel 2009

anonym

vernetzt lebensweltlich

Anspruch an IT

zugänglich

Wie könnte/sollte Sozialplanung in Zeiten der Digitalisierung aussehen? • Street-level bureaucrats vs. Screen-level bureaucrats

vs. System-level bureaucrats (Lipsky 1980, Bovens/Zouridis 2002) • Entwicklungslinien der Sozialplanung (Spieckermann 2017)

• Sozialplanung 1.0: Verwaltungsfokus & Inputsteuerung • Sozialplanung 2.0: NPM Fokus & Outputsteuerung • Sozialplanung 3.0: Stakeholderfokus & Netzwerksteuerung • Sozialplanung 4.0: Adressat*innenfokus &

„Bedürfnissteuerung“ • Skalierbarkeit • Virtualisierung (etwa: Tutorials statt Bots?)

• Der Sozialplaner als (digitaler) Infrastrukturplaner?!?

RESÜMEE & HANDLUNGSAUFFORDERDUNGEN

• Medien- und Sozialpädagogik müssen - nicht immer - näher

zusammenrücken (techn. Grundbildung & Datensouveränität) • „Der Alltag darf nicht an den Offlinern vorbeigehen“ • Ist „digital vor analog“ das neue „ambulant vor stationär“? • Vom Onlinemarketing zur Netzpolitik der Akteure

(„Digitalisierung ist mehr als Social Media“) • Soziale Innovationen ≠ Digitalisierung (Lösungsorientierung vs.

„Softwarelösungsorientierung“) • Entwicklung offener Infrastrukturen & Notwendigkeit neuer

digitaler Gestaltungspartnerschaften? Experimentierräume für Wissenschaft/ Politik/Praxis (Evans/Hilbert i.E.)

• gebrauchswertorientierte statt technikgetriebene Entwicklung braucht zwar auch Digitalkompetenzen aber vor allem eine sozialplanerische Fachlichkeit!

RESÜMEE & HANDLUNGSAUFFORDERDUNGEN

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Rückfragen, Anmerkungen, Kritik

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