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Drägerheft Technik für das Leben 2017
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rägerheft 402
2. Ausgabe 2017
Gew
alt geg
en Po
lizisten und Rettung
skräfteGewalt gegen
Einsatzkräfte
Lust auf Neues!Zwei ehemalige Studenten erfinden ein innovatives Gasmessgerät S. 40
Bart ab!Wer Atemschutz trägt, muss mancher Mode entsagen S. 22
Leinen los!Im Baukastensystem entstehen neue Kreuzfahrtriesen S. 34
Wenn Gaffer plötzlich zu Gegnern werden
2 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
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Inhalt 402
6 GEGNERSCHAFT
Gewalt gegen Einsatzkräftebleibt ein Rätsel: Warum
werden sie angegriffen statt unterstützt? Eine irritierende
Haltung, die vielen Helfern dennoch vertraut vorkommt. Neben Erklärungen gibt es
auch Konzepte dagegen.
34 AUF GROSSER FAHRT
Europas Werften dominieren den Markt, wenn es um den Bau von Kreuzfahrtschiffen geht. Lokaltermin bei der Meyer Werft in Papenburg, die einen Weltmarkt aufmischt, der immer größere Ansprüche stellt.
14 WENIG SPIELRAUM
Bei Neugeborenen bietet deren Luftröhre wenig Spielraum für die korrekte Positionierung des Tubus bei der Narkose. Eine große europäische Studie wertete die Erfahrungen auf diesem Gebiet nun aus – und lieferte überraschende Erkenntnisse.
Circa 30.000 Barthaare
haben Männer durchschnittlich im Gesicht – mehr ab Seite 22.
3DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
Die Beiträge im Drägerheft infor-
mieren über Produkte und deren
Anwendungsmöglichkeiten im Allge-
meinen. Sie haben nicht die Bedeu-
tung, bestimmte Eigenschaften der
Produkte oder deren Eignung für
einen konkreten Einsatzzweck zuzu-
sichern. Alle Fachkräfte werden auf-
gefordert, ausschließlich ihre durch
Aus- und Fortbildung erworbenen
Kenntnisse und praktischen Erfah rungen an zuwenden. Die
Ansichten, Meinungen und Äußerungen der namentlich
genannten Personen sowie der Autoren, die in den Texten
zum Ausdruck kommen, entsprechen nicht notwendiger-
weise der Auffassung der Dräger werk AG & Co. KGaA. Es
handelt sich ausschließlich um die Meinung der jeweili-
gen Personen. Nicht alle Produkte, die in diesem Magazin
genannt wer den, sind weltweit erhältlich. Ausstattungs -
pakete können sich von Land zu Land unter schei den. Än-
derungen der Produkte bleiben vorbehalten. Die ak tuellen
Informatio nen erhalten Sie bei Ihrer zuständigen Dräger-
Vertretung. © Drägerwerk AG & Co. KGaA, 2017. Alle Rechte
vorbehalten. Diese Veröffent lichung darf weder ganz noch
teilweise ohne vorherige Zustimmung der Drägerwerk AG
& Co. KGaA wiedergegeben werden, in einem Datensystem
gespeichert, in irgendeiner Form oder auf irgendeine Wei-
se, weder elektronisch noch mechanisch, durch Fotokopie,
Aufnahme oder andere Art übertragen werden.
Die Dräger Safety AG & Co. KGaA, Lübeck, ist Hersteller
der FPS 7000 (Seite 23), des X-am 7000 (Seite 36 f.), von
Flugzeugbrand-Simulatoren (Seite 44 ff.), des DrugTest
5000 (Seite 63) sowie des Secor 7000 (Seite 68). Die Dräger
MSI GmbH, Hagen, ist Hersteller des X-pid 9000/9500
(Seite 42 ff.). Die Drägerwerk AG & Co. KGaA, Lübeck, ist
Hersteller des Zeus IE [Infi nity Empowered] (Seite 16),
des PulmoVista 500 (Seite 26 ff.) und des Babyleo TN500
(Seite 56). Die Draeger Medical Systems Inc., Telford/
USA, ist Hersteller des Infi nity M540 (Seite 52).
H E R A U S G E B E R : Drägerwerk AG & Co. KGaA,
Unternehmenskommunikation
A N S C H R I F T D E R R E D A K T I O N : Moislinger Allee 53–55, 23558 Lübeck
C H E F R E D A K T I O N : Björn Wölke,
Tel. +49 451 882 2009, Fax +49 451 882 2080
R E D A K T I O N E L L E B E R A T U N G : Nils Schiffhauer
A R T D I R E K T I O N , G E S T A L T U N G , B I L D R E D A K T I O N U N D K O O R D I N A T I O N :Redaktion 4 GmbH
S C H L U S S R E D A K T I O N : Lektornet GmbH
D R U C K : Dräger+Wullenwever print+media Lübeck
GmbH & Co. KG
I S S N : 1869-7275
S A C H N U M M E R : 90 70 431
www.draeger.com
IMPRESSUM4Menschen, die bewegenDavid Casolaro trainiert
Flughafenfeuerwehrleute bei
Châteauroux, Stanisław Wojtan
arbeitet als Krankenpfleger
in Krakau.
6Freund oder Feind?Warum werden Einsatzkräfte angegrif-
fen, und woher rührt die Ablehnung?
14Kein KinderspielEine große europäische Studie
hat gezeigt, dass Narkosen bei
Kindern komplikationsträchtiger
sind als bislang angenommen.
18Haushohes Risiko?Bei der Feuerkatastrophe im Londoner
Grenfell Tower spielten sich erschüt-
ternde Szenen ab. Wie steht es um den
Brandschutz deutscher Hochhäuser?
22Haarige AngelegenheitFrüher galt der Bart als Schutz vor
Rauchgasen, heute ist er Atemschutz-
geräteträgern untersagt. Zu Recht?
26Auf einen BlickDie elektrische Impedanztomographie
bringt die Atmung auf den Bildschirm.
30 Die Krux mit den KeimenVon den Risiken der Desinfektion.
32Keime im KrankenhausUS-Forscher haben untersucht,
wie sie sich in einer neu
eröffneten Klinik ausbreiteten.
34Ein Schiff wird kommenRund eine Viertelmillion Menschen
bestaunen jährlich, wie in der Ems-
Region neue Kreuzfahrtriesen entstehen.
40 Start-up mit guter NaseZwei ehemalige Studenten entwickeln
ein Gasmessgerät und gründen ein Unter-
nehmen, an dem sich Dräger beteiligt.
44Feuer und Flamme In Frankreich steht das weltweit
einzige ICAO-zertifizierte Trainings-
zentrum für Flugzeugbrände.
50„Wir tragen das Risiko“Technisches Gerätemanagement
von Dräger bietet Service aus
einer Hand – wie am Universitäts-
klinikum Schleswig-Holstein.
54Mit 500 Gramm ins LebenAuch in Krakau helfen Eltern ihren
Frühchen in die Zukunft.
58Drogenjagd in Los AngelesDas LAPD bildet Polizisten aus,
die gezielt gegen Drogenkonsumenten
ermitteln.
64Schnaps-DrosselnAuch Tiere trinken – und schlagen
dabei mitunter über die Stränge.
67Was wir beitragenProdukte von Dräger, die im Zusammen-
hang mit dieser Ausgabe stehen.
68Secor 7000So funktioniert der Atemregler für
Tauchgänge im professionellen Umfeld.
ERFAHRUNGEN AUS ALLER WELT
4
Menschen,die
bewegen
David Casolaro, 44, Feuer-wehrmann und Trainer am Ausbildungszentrum C2FPA bei Châteauroux/Frankreich
„Als Kind wohnte ich gerade mal 200 Meter von einer Feuerwache entfernt. Mein Cousin war Mitgliedbei der freiwilligen Feuerwehr. Ich fand das spannend – mit 16 trat ich auch dort ein. Das war in Velaux, einem kleinen Ort in der Provence. Viele Einsätze hatten wir nicht. Mein Vorgesetzter war zuvor bei der Feuerwehr in Marseille. Er riet mir, mich dort zu bewerben.
Mit 22 bin ich dann dem Bataillon des Marins-Pompiers de Marseille beigetre-ten. Marseille hat eine große Altstadt, dahin wurden wir oft zu Bränden gerufen. Im Sommer hatte ich häufiger Einsätze bei Waldbränden. Je nach Wind und Bewuchs wüten Feuer in der Natur sehr unterschiedlich. Schlimm waren die Waldbrände in Südfrank-reich im Jahr 1997. Die dauerten drei Tage. Fast 19 Jahre bin ich in Marseille geblieben. Danach war ich am Flugha-fen Marseille-Provence und habe mich bei Airbus Helicopters um Hubschrau-berbrände gekümmert. Seit drei Jahren trainiere ich nun Flughafenfeuerwehr-
leute am C2FPA. Wir üben an Flug-zeugbrand-Simulatoren und kommen der Realität sehr nahe. Es geht darum, die Pompiers auf alle möglichen Sze-narien vorzubereiten – auch wenn auf Flughäfen nur selten etwas passiert. Das Leben eines Brandschützers be-steht aus vielen Übungen für den Tag X. Bei meinen Einsätzen in Marseille habe ich einige Tote gesehen. Solche Bilder bekommt man nicht mehr aus dem Kopf. Aber als Feuerwehrmann ist man nicht allein, sondern im Team. Wichtig ist, mit den Kollegen über das Erlebte zu sprechen. Das muss raus, um weitermachen zu können.“
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Stanisław Wojtan, 52, leitender Krankenpfleger am Universitätskrankenhaus in Krakau/Polen„An meiner Tür steht die Funktion ,Head Nurse‘. Mancher ist dann überrascht, wenn er mich hinter dem Schreibtisch sitzen sieht. Aber ,Schwester‘ ist eben die Berufsbezeichnung – für genau den Job, der mir Spaß macht. Schon als Jugend-licher wollte ich im Krankenhaus arbeiten und besuchte 1984 die Schwesternschule. Als Mann war ich da in der absoluten Minderheit, also stärker sichtbar, und musste somit immer etwas besser sein! Sechs Jahre später fing ich dann hier an. Wir haben 30 Intensivbetten, sechs OP-Säle und neun Aufwachbetten. Ich organisiere das Team der Pflegekräfte: 140 sind wir insgesamt, 30 von ihnen muss ich jeden Tag einteilen. Manchmal habe ich zwei Handys gleichzeitig an den Ohren und vor mir den Bildschirm, auf dem ich die Pläne für die Zwölf-Stunden-Schichtensehe. Unser Krankenhaus liegt mitten in Krakau und wurde 2013 zu einer zen tralen Aufnahmestelle für einen Massen anfall von Verletzten ausgebaut. Gott sei dank ist das noch nicht passiert. Auch nicht beim Besuch von Papst Franziskus zum 31. Weltjugendtag 2016, als wir in der Stadt über zwei Millionen Besucher hatten. Der Papst hat sogar auf unserer Station vorbeigeschaut! Alle sechs Monate trainieren wir den Ernstfall, um gut gerüs-tet zu sein. In der Stadt haben wir weniger Probleme, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden; in ländlichen Gegenden ist das schon schwieriger. Daher engagiere ich mich in der Ausbildung und gebe Kurse an der Universität, um junge Leute für die-sen Beruf zu begeistern. Von der Arbeit erhole ich mich beim Skifahren. Auf der Piste bekommt man einen freien Kopf.“
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FOKUS GESELLSCHAFT
AUF EINER DEMONSTRATION IN KÖLN WERDEN SANITÄTER MIT PFLA
+++ IN EINER SCHWEIZER NOTAUFNAHME RANDALIEREN FAMILIENANG
GIPFELN IN VANDALISMUS +++ WÄHREND EINES GROSSEINSATZES
ARBEIT GEHINDERT UND TÄTLICH ANGEGRIFFEN +++ PARIS, WIEN, BERL
Einsatzkräfte jeglicher Couleur müssen heute einiges über sich ergehen lassen. Gewalt gegen sie gehört fast schon zum Alltag. Warum ist das so, und woher rührt die Ablehnung?
Text: Isabell Spilker
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Es fehlten nur wenige Zentimeter. Das
wird Feuerwehrmann Frank Hachemer
allerdings erst bewusst, als ihn ein Kolle-
ge auf die Bierflasche hinweist, die neben
ihm zerschellte. Der nächtliche Einsatz
in einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz lös-
te Unmut beim Nachbarn aus: Genera-
toren, Schlauchkupplungen, Blaulicht –
der Schlaf war gestört, die Brandschützer
wurden angegriffen. Warum richtet sich
manche Wut ausgerechnet gegen jene,
die Menschen helfen und ohnehin schon
am Limit schuften? Einige Krankenhäu-
ser in den USA schützen sich mittlerweile
durch Mauern und Kontrollpunkte. Mit-
arbeiter werden in Deeskalation geschult,
Rettungswagen fahren auch in Deutsch-
land manchmal nur unter Polizeischutz
in bestimmte Gebiete.
Schüsse aus dem HinterhaltFür Frank Hachemer, Vizepräsident des
Deutschen Feuerwehrverbands, war die
zerplatzte Bierflasche wie ein Alarm-
ruf: Helfer sind nicht mehr unantastbar,
ganz gleich ob sie bei der Polizei, freiwil-
ligen Feuerwehr, Berufsfeuerwehr oder
in Krankenhäusern, Arztpraxen oder Ret-
tungsdiensten arbeiten. Hachemer ist seit
Kindheitstagen in der freiwilligen Feuer-
wehr und kämpft heute mit der Aktion
„Helfende Hände schlägt man nicht!“ um
mehr Aufmerksamkeit für das Thema.
Mit einer ähnlichen Aktion sorgt auch
die „Junge Gruppe“ der Gewerkschaft
der Polizei für Aufsehen: „Auch Mensch“
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ASTERSTEINEN BEWORFEN, RETTUNGSWAGEN IN BRAND GESTECKT
GEHÖRIGE EINER WERDENDEN MUTTER. UNFLÄTIGE BESCHIMPFUNGEN
IN ROCHESTER/USA WERDEN FEUERWEHRLEUTE MASSIV AN IHRER
LIN: POLIZISTEN WERDEN BEDROHT, BESPUCKT UND GESCHLAGEN +++
oder Feind?Die Polizei, dein Feind und Helfer?
In Paris kam es am 1. Mai 2017 zu schweren Ausschreitungen. Randalierer warfen Molotowcocktails
und verletzten vier Polizisten zum Teil schwer
DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
FOKUS GESELLSCHAFT
8 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
will für die zunehmende Aggression und
Gewalt gegen Polizisten sensibilisieren.
Die Gewalt gegen Einsatzkräfte hat
in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr
um elf Prozent zugenommen. Im vergan-
genen Jahr lag sie bei über 26.000 Fäl-
len, dabei wurden mehr als 2.000 Polizis-
ten zum Teil schwer verletzt. Auch in der
Schweiz stiegen die Aggressionen gegen-
über Beamten und Behörden in den ver-
gangenen 20 Jahren – von 423 auf 2.808
Fälle jährlich. In Österreich wurden 2016
so viele Beamte angegriffen wie nie zuvor:
1.039 erlitten Verletzungen. In den USA
befindet sich die Zahl der im Einsatz getö-
teten Polizisten mit 135 auf einem Fünf-
jahreshoch und liegt dennoch unter dem
Durchschnitt (151) der letzten zehn Jah-
Hannover: Die Arbeit der Rettungskräfte zu fotografieren, und sich damit in sozialen Netzwerken zu brüsten, ist heute
mitunter wichtiger, als die Helfer ungehindert arbeiten zu lassen – und eine Facette des veränderten Respekts gegenüber Rettungskräften
re. Bedenklich ist allerdings die Zahl
derer, die unter Vorsatz getötet wurden:
21 von 64 tödlichen Schüssen kamen aus
einem Hinterhalt.
Nicht wirklich willkommenFür ihre Studie „Gewalt gegen Rettungs-
kräfte“, eine der ersten ihrer Art in
Deutschland, hat die Juristin Dr. Janina
Lara Dressler mehr als 1.600 Feuerwehr-
leute und Rettungskräfte befragt. Dabei
spürten gut 85 Prozent einen Respektver-
lust gegenüber ihrer Zunft. Die Studie
offenbart: Die Zahl der Übergriffe über-
steigt die Anzahl der tatsächlichen Anzei-
gen deutlich. „Feuerwehrleute sind heu-
te für die allermeisten Menschen immer
noch die Guten, aber es scheint eine stei-
26.000 Angriffe auf Einsatzkräfte wurden 2016 in Deutsch-land registriert
Bremervörde: Drei Männer behindern im Juli 2015, nach einem tödlichen Unfall, die Arbeit der Rettungskräfte. Es kommt zu Handgreiflichkeiten. Im vergan-genen Jahr mussten sie sich vor Gericht verantworten – das Urteil erging im April 2017
9DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
Frank Hachemer, Vizepräsident des Deutschen Feuerwehrverbands
„Gefühlt wird es schlimmer“Herr Hachemer, stellen Sie eine zunehmende aggressive Grundhaltung gegenüber Feuerwehrleuten fest?Die gesamtgesellschaftliche Situation schlägt sich auch in unserer Arbeit nieder. Das Verhältnis zwischen uns und den Menschen um uns herum hat sich geändert. Wir sind nicht mehr wie früher durch eine natürliche Autorität geschützt. Die Feuerwehr wird mittlerweile oft gleichgestellt mit der Polizei, als Staatsmacht. Viele Menschen differenzieren da nicht. Wir schneiden zwar als Beruf mit dem höchsten Vertrauen ab, aber das schützt uns vor gar nichts.Wird diese Entwicklung auch bei Themen wie der Rettungsgasse sichtbar?Auch das ist ein gesellschaftliches Problem. Das „Ich“ steht an erster Stelle. Es hat nicht mehr oberste Priorität, Einsatzwagen durchzulassen, sondern selbst dabei gut wegzukommen. Unsere Gesellschaft ist zunehmend darauf bedacht, alles an einer Frage auszurichten: Was bringt mir das? Sind für Sie Beschimpfungen schon Gewalt oder erst Handgreiflichkeiten?Es gibt verbale Gewalt. Der atmosphärische Umgang ist entscheidend dafür, wie ich mich fühle. Gefühlt wird es schlimmer, das melden viele Kameraden. Wenn früher Schaulustige auch mal unwirsch zurückgedrängt wurden, gab es kein Murren. Heute wird diskutiert und infrage gestellt. Das alles sorgt für eine angespanntere Atmosphäre.Werden Einsatzkräfte heute in Deeskalation geschult?Das wird von den Kollegen sehr unterschiedlich gehandhabt und akzeptiert – je nach Landesverband. Wir haben die Aktion „Helfende Hände schlägt man nicht“, die Multiplikatoren ausbildet und das Thema weitertragen soll. Der Bedarf daran wird größer.
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gende Anzahl an Personen zu geben, die
das nicht mehr so sehen“, so Dressler. „Sie
ordnen die Feuerwehr in ihr Feindbild
,Staatsdiener‘ ein und verkennen damit
die Absicht der Hilfeleistung.“ In man-
chen Situationen werde Brandschützern
das Recht auf seelische Unversehrtheit
geradezu abgesprochen – weil sie in ihrer
Uniform als „Staatsdiener“ wahrgenom-
men werden. „Dabei wird völlig ignoriert,
dass mehr als 95 Prozent der Feuerwehr-
leute in Deutschland ihren Dienst frei-
willig und ehrenamtlich tun“, bekräftigt
Frank Hachemer. „Und gerade die tref-
fen solche Angriffe besonders.“ Wer einen
Feuerwehrmann schlage oder beschimp-
fe, gerate mit einiger Sicherheit an jeman-
den, der weder per se den Staat repräsen-
tiert noch für seine Arbeit bezahlt wird.
Von zunehmender Gewaltbereitschaft
und Übergriffen berichten auch Kliniken.
Hauptgrund hierfür ist neben der Über-
lastung des Personals oft mangelnde
Kommunikation. Wartende lässt man im
Unklaren darüber, nach welchem Schema
behandelt wird, der Blick für Notfälle fehlt
oder wird vom eigenen Empfinden über-
blendet. Fast ein Viertel der deutschen
Hausärzte hat schon einmal Gewalt erlebt.
„In der Psychotherapie oder Psychiatrie ist
das Risiko noch höher. Doch Anfeindun-
gen gibt es überall, das berichten auch
Kollegen aus anderen Fachrichtungen.
Geschimpft und gedroht wird bereits,
wenn kein Termin frei ist oder ich kein
Attest ausstellen kann“, bestätigt Dr. Hans
Ramm, Neurologe und Psychotherapeut
sowie Vorstandsmitglied der Hamburger
Ärztekammer. Dr. Ellen Douglas, Referen-
tin am Krankenhaus Buchholz, vor den
Toren Hamburgs, sagt: „Die Gewalt hat
zwar nicht zugenommen, aber wir haben
öfter mit Patienten zu tun, die nicht ver-
stehen, warum sie warten müssen. Der
Ton wird dann rauer.“ Sie empfänden es
als Schikane, nicht sofort behandelt zu
werden. Dr. Douglas verweist auf ein Pro-
blem, das viele Krankenhäuser kennen:
Notaufnahmen, die überlastet sind, mit
Nicht-Notfällen. Und gerade denen, die
schon wochenlang auf einen Facharzt-
termin warten und am Wochenende die
Geduld verlieren, platze beim Warten im
Krankenhaus endgültig der Kragen. Ähn-
lich, nur sehr viel deutlicher, erlebt es
Dr. Daniel Schachinger, Ärztlicher Lei-
ter der Zentralen Notaufnahme der DRK
Kliniken Berlin/Westend: „Seit gut zehn
Jahren nehmen die Angriffe spürbar zu.
Beschimpfungen, Handgreiflichkeiten
und auch massive körperliche Gewalt sind
zur Realität geworden.“
Das Problem wird sichtbarerObwohl die Berichte und Statistiken
deutlich sind, wiegeln viele Experten ab.
Der deutsche Sozialwissenschaftler und
Aggressionsforscher Klaus Wahl spricht
von subjektiven Eindrücken und sieht im
großen geschichtlichen Kontext keinen
gesamtgesellschaftlichen Trend zur Ver-
rohung: „Wir leben grundsätzlich in einer
immer friedlicher werdenden Welt –
die Gewalt nimmt stetig ab.“ Und auch
Dr. Rafael Behr, Professor für Polizei-
wissenschaften mit den Schwerpunkten
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10 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
Kriminologie und Soziologie an der Aka-
demie der Polizei Hamburg, versucht zu
beruhigen: „Aktuelle Studien belegen
keinen eklatanten und übergreifenden
Anstieg der Gewalt. Das Problem drängt
nur stärker in die Öffentlichkeit und wird
sichtbarer.“ Die Übergriffe beträfen weni-
ger als ein Prozent aller Polizisten. Und
als schwer verletzt gelte bereits, wer mit
einer Gehirnerschütterung für 24 Stun-
den zur Überwachung ins Krankenhaus
müsse. „Aktuelle Studien zeigen, dass sich
die Wahrnehmung von Gewalt und Aggres-
sion verändert“, erklärt der Hamburger
Polizeiwissenschaftler. Die Menschen sei-
en heute viel entsetzter und berührter,
wenn ihnen Aggressivität begegne. Mit
der Berichterstattung da rüber potenziere
Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG)
„Aus banalen Situationen wächst Aggression“Herr Wendt, gegen wen richtet sich die Gewalt gegenüber Einsatzkräften in Deutschland vor allem?Wir spüren eine zunehmende Gewalt gegen alle Mitarbeiter im öffentlichen Dienst – Lehrer ebenso wie Finanzbeamte, Justizbeamte, Zugbegleiter oder Polizisten. Die Bereitschaft zur Gewalt ist in der Gesellschaft angekommen. Es ist erschreckend: Aus banalen Situationen wächst Aggression.Woran liegt das?Die Gewalt richtet sich meist nicht gegen Einzelne, sondern gegen den Staat. Der Polizist, als Vollstrecker der staatlichen Gewalt, spürt einen zunehmenden Autoritätsverlust. Der Staat ist zum Dienst-leister geworden, der Bürger zum Kunden. Das war der falsche Weg.Wie ließe sich das Problem lösen?Durch einen starken Staat! Und das heißt nicht, eine stärkere Hand anzuwenden, sondern eine bessere Demokratie aufzubauen. Der öffentliche Dienst muss gestärkt werden. Wir brauchen mehr Personal. Ist die Strafmaßerhöhung für Angriffe gegen Polizisten ein möglicher Weg?Es ist schlimm, wenn Einsatzkräfte angegriffen werden. Ihnen gebührt ein strafrechtlicher Schutz. Wenn mit dem Gesetz vermieden werden kann, dass die Täter lächelnd und unbestraft davonkommen, ist der Sache geholfen – das gesellschaftliche Problem aber bleibt.
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Gewalt gegen Polizisten
richtet sich in erster Linie gegen den
Staat
Januar 2015: Die Bilder einer Überwachungskamera des Philadelphia Police Department zeigen, wie sich ein Mann mit gezogener Waffe dem Streifenwagen nähert, schießt und anschließend flieht. Der Polizeibeamte wird schwer verletzt
GESELLSCHAFT FOKUS
11DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
ein schiefes Bild dieser Konfrontation. So
betont Polizeigewerkschaftspräsident Rai-
ner Wendt, dass 80 Prozent der Angriffe
auf Polizisten eben nicht auf Demonst-
rationen passieren, sondern im banalen
Alltag. Und der Kriminologe Prof. Behr
spricht von einer zunehmenden Gehor-
samsverweigerung der Zivilgesellschaft
gegenüber dem Staat. Dabei werden Feu-
erwehrleute, Rettungskräfte oder Ärzte
und Pflegekräfte oft in eben diese Schub-
lade gesteckt.
Respekt dank Fairness„Unsere Gesellschaft artikuliert, was
ihr missfällt, und stellt sich quer, was ja
grundsätzlich nicht verkehrt ist“, so Behr.
„Viele Polizisten aber nehmen genau das
stärker als Widerstand wahr.“ Sie ver-
stünden nicht, dass sich die Aggression
eben nicht gegen sie als Individuum rich-
tet, sondern gegen den Staat, den sie mit
ihrer Uniform repräsentieren. Ist zuneh-
mende Respektlosigkeit also die Ursache?
Sie würde die Angriffe auf Helfer erklären.
Doch auch hier gibt es keine allgemeingül-
tige Antwort. „Die Bedingung für Respekt
ist Fairness“, bekräftigt Behr. „Respekt
ist nicht einfach da, sondern entsteht erst
in einer sozialen Interaktion.“ Es bedarf
guter Kommunikation, für die sich aller-
dings nicht jede Gelegenheit eignet: Ein
brennendes Haus, ein schwerer Unfall,
eine überfüllte Notaufnahme – all diese
Situationen erfordern ein professionelles
Vorgehen, wobei oft keine Zeit für Erklä-
rungen oder gar Diskussionen bleibt. Die
Zeit ist knapp, was herrisch wirken und
zur Eskalation beitragen kann. Mehr als
60 Prozent der tätlichen Angriffe geht von
sich das Gefühl – alles werde nur noch
schlimmer und brutaler. „Wir sehen die
Dinge aus einer vergleichenden Perspek-
tive. Nach dem Motto: ,Früher hat es das
nicht gegeben!‘ Wer aber glaubt, früher
hätten die Leute gewusst, wann man auf-
hört, und wären Menschen, die am Boden
liegen, nicht getreten worden, der irrt.“
Es sei der Versuch, durch scheinbar prä-
zise Erinnertes die Entwicklung einzu-
ordnen und zu deuten. Tatsächlich ist es
meist nicht mehr als das Erstaunen über
das Unerklärliche.
Ausdruck von EmanzipationRichten sich Aggressionen gegen Helfer,
muss zunächst unterschieden werden
zwischen der Gewalt gegen Polizisten und
der gegen Rettungskräfte. Während sich
Angriffe auf Feuerwehrleute und ande-
re Helfer durch eine Ablehnung der Hilfe
an sich erklären lassen, geht es bei jenen
gegen Polizisten eher um einen Aufstand
gegen den Staat. Es scheint, dass sich der
Respekt in den vergangenen Jahren konti-
nuierlich verändert hat. Eltern und Schu-
le erziehen dazu, staatliche Autoritäten
auf Augenhöhe wahrzunehmen. Hierzu
gesellt sich eine latente Wut über alles,
was im eigenen Leben oder im Land nicht
funktioniert. Dafür wird meist der Staat
verantwortlich gemacht, der dann in Uni-
form, etwa als Polizist, vor einem steht.
Ihn nimmt der Bürger nicht mehr als Mit-
bürger wahr, sondern als Personifizierung
des Staates. Die Medien liefern mitunter
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Nach einem gezielten Attentat starben 2012 zwei Brandschützer im US-Bundesstaat New York – zwei weitere wurden verletzt. Auf einem Feuerwehrwagen tragen die Männer des West Webster Fire Department einen der Kollegen zu Grabe
FOKUS GESELLSCHAFT
12 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
Alkoholisierten aus. „Alkohol ist wie ein
Katalysator: Er senkt die Hemmschwelle,
hebelt Kontrollmechanismen aus und ver-
stärkt vorhandene Verhaltenstendenzen“,
sagt Sozial wissenschaftler Wahl. Wer zur
Gewalt neige, wird sich unter Alkoholein-
fluss noch schwerer kontrollieren können.
Zunehmendes Maß an BrutalitätDie Neigung zur Gewalt wird durch vie-
le Faktoren bestimmt. Einerseits von
biologischen, wie Sensibilität oder Tem-
perament. Noch stärker wirken sich Lern-
komponenten aus. „Gewalt ist in aller
Regel gelernte Gewalt“, sagt Dr. Ulrich
Wagner, Professor für Sozialpsychologie
an der Universität Marburg. „Wir lernen
von anderen, wie man sie auslebt und
zum Erfolg führt.“ Aber auch Frustrati-
on, Unzufriedenheit und die Unfähigkeit,
Konflikte zu lösen, führten zu gewalttäti-
gem Verhalten. Besonders auffällig und
mit einer ganz eigenen Dynamik präsen-
tieren sich aggressive Tendenzen in Grup-
pen. „Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe
führt dazu, andere – die nicht dazugehö-
ren – abzuwerten“, sagt Wagner. „Das
geht bis zu einer Entmenschlichung der
Fremden.“ Vor allem dieser Mechanis-
mus der Abwertung erklärt viele Gewalt-
taten – übrigens auf beiden Seiten. Denn
auch bei Polizisten greifen dieselben grup-
pendynamischen Verhaltensmuster. „Man
sieht die Übergriffe der jeweils anderen
Seite gegen die eigene Gruppe gerichtet“,
so Wagner. „Das erhöht die Bereitschaft,
sich mit Gegengewalt zu revanchieren.“
Auch deshalb sei das Vermummungsver-
bot sinnvoll, weil eine Anonymität in der
Masse derartige Gewaltbereitschaft noch
erhöhe. Und doch sind es häufig Einzel-
ne, die zu Tätern werden und Flaschen
werfen, Gerätschaften demolieren oder
Pflegekräfte drangsalieren. Individuel-
Sachbeschädigung: In Bergisch Gladbach wurde während eines Einsatzes ein Rettungswagen gestohlen und zerstört
Die Zugehörig-keit zu einer
Gruppe führtdazu, andere
abzuwerten
Oft entlädt sich im Kontakt mit Rettungskräften eine aufgestaute Wut. Ein Patient mit zwei schmerzenden Gipsbeinen im österreichischen Wels prügelte sogar auf einen Sanitäter ein, weil ihm die Aufnahme in ein Krankenhaus verwehrt wurde
13DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
Der Theologe, Notfallpsychologe und Rettungsassistent Michael Steil ist Gründer des Netzwerks zur psychosozialen Notfallversorgung sowie Buchautor
„Dann machen die Menschen ihrem Ärger Luft“Herr Steil, war es vor 20 Jahren leichter, Menschenleben zu retten?Heute ist der Anspruch daran zumindest gestiegen. Nicht nur gegenüber dem Qualitätsmanagement, sondern auch gegenüber der Leistung der Rettungsdienste an sich. Wir leben in einer Gesellschaft mit Versorgungsmentalität: Es gibt für alles eine Lösung. Und wenn es die nicht gibt, dann machen die Menschen ihrem Ärger Luft – zur Not auch gegenüber Einsatzkräften.Gilt das für alle Bevölkerungsschichten?Das Verhalten lässt sich bei allen Bevölkerungsschichten beobachten. Der Auftrag der Rettungskräfte wird, etwa im Kampf um das beste Foto – getreu dem Motto: ,Mittendrin statt nur dabei‘ – mitunter völlig ignoriert, ihre Arbeit manchmal sogar behindert oder verunglimpft.In der Berufsstatistik ist Rettungssanitäter aber ein angesehener Beruf!Das mag sein. In der Realität aber müssen Rettungssanitäter in immer weniger Zeit immer größere Strecken zurücklegen. Unser Sicherheitsbedürfnis ist gegenläufig zur Versorgungsrealität – so entsteht Frust bei den Patienten.
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le, aggressive Täter – ohne Alkoholein-
fluss, ohne Gruppenzugehörigkeit, ohne
psychische Vorerkrankung. Der Konflikt-
forscher Professor Dr. Klaus Wahl erklärt
die mögliche Entstehung dieser Aggressi-
on als Zusammenspiel von Gedanken und
Gefühlen: „Diese Menschen mit einem
überempfindlichen Sozialradar bewe-
gen sich in einer Welt von Feinden. Das
ist zumindest ihr subjektiver Eindruck.“
Sie hätten auffallend oft eine verzerr-
te Wahrnehmung der Gefühle und Ver-
haltensweisen anderer Menschen – und
interpretierten ein normales Verhalten
als provokant, bedrohlich oder aggressiv
und gegen sich gerichtet. Oft neigten sie
dazu, dem durch eigene Gewalt zuvorzu-
kommen und sich zu wehren. Professor
Wagner sieht im Gegensatz zu seinen Kol-
legen eine Steigerung in der Heftigkeit der
Übergriffe. „Seit geraumer Zeit scheint
es bei einigen Tätern ein zunehmendes
Maß an Brutalität zu geben“, formuliert er
jedoch eher vorsichtig. Das könne – psycho-
logisch betrachtet – zwei Gründe haben:
ein großes Maß an Erregbarkeit sowie das
Erlernen von Gewalt. „Das Betrachten
aggressiver Medien und Computerspiele
erhöht die Aggressionsbereitschaft, das ist
wissenschaftlich gut abgesichert.“ Men-
schen seien dann nicht nur eher bereit,
mit Aggression zu reagieren, es sei auch
die Art beeinflusst, wie reagiert werde.
„Der Mensch ist ein lernendes Wesen.“
Lösungen sucht jeder für sich. Wäh-
rend Feuerwehren am Image des Helfers
arbeiten, verspricht die in Deutschland
jüngst verabschiedete Strafmaßerweite-
rung härtere Konsequenzen für Angrif-
fe auf Polizisten. Sowohl Ärzte als auch
Rettungskräfte fühlen sich benachteiligt.
Sozialwissenschaftler Wagner sieht das
nicht unkritisch: „Welches Signal wird
denn da ausgesendet, wenn Übergriffe
auf eine Berufsgruppe härter geahndet
werden als auf andere?“ Vielversprechen-
der scheinen Wege zu sein, die einen mit
kommunikationsstarkem Personal und
effizienten Deeskalationsstrategien aus-
statten. Moderne Notaufnahmen haben
das Problem erkannt und begegnen ihm
mit großen, offenen Wartezonen sowie
transparenten Aufnahme- und Behand-
lungsverfahren. Und auch Feuerwehren
und Rettungsdiensten ist mit personeller
Aufstockung, kürzeren Wartezeiten und
Schulungen mehr geholfen als mit höhe-
ren Strafen für Gewalttäter. Ein respekt-
voller Umgang beruht auf Gegenseitig-
keit. „Meist sind nicht die Konflikte das
Problem, sondern der Mangel an Kompe-
tenz, sie zu lösen“, findet Wagner.
LITERATURJanina Lara Dressler:Gewalt gegen Rettungskräfte. Eine kriminologische Großstadtanalyse, LIT Verlag
Hans-Peter Nolting: Psychologie der Aggression. Warum Ursachen und Auswege so vielfältig sind, Rowohlt
Hochschule der Polizei Hamburg (Hrsg.): Die Polizei als „Freiwild“ der aggressiven Spaßgesellschaft Verlag für Polizeiwissenschaft
Michael Steil:Gib der Gewalt keine Chance: So schützen Sie Ihre Kameraden und sich selbst am Einsatzort! ecomed Sicherheit
„DIE MEISTEN SIND GESTRESST“Dr. Daniel Schachinger, Ärztlicher Leiter in Berlin, über aggressive Pa-tienten, geeignete Deeskalationsmaß-nahmen und die Macht der Reflexion. www.draeger.com/402-13
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Kinder sind nicht einfach kleine Erwachsene, das gilt auch in der Medizin. Eine große europäische Studie hat gezeigt, dass NARKOSEN bei ihnen komplikationsträchtiger sind, als bislang angenom-men – und unterstreicht, wie wichtig eine längere Einarbeitung in dieses schwierige Feld ist.
Text: Dr. Hildegard Kaulen Fotos: Patrick OhligschlägerKeinKinderspiel
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KRANKENHAUS ANÄSTHESIE
Manchmal lassen sich Herausforderungen an kleinen Dingen
festmachen: Die Luftröhre eines Neugeborenen ist gerade mal
vier Zentimeter lang und hat einen Durchmesser von vier Mil-
limetern. Mehr Spielraum gibt es nicht für die korrekte Posi-
tionierung des Tubus während einer Narkose. Mehr noch: Die
Atemwege eines Neugeborenen sind wegen seiner untrainier-
ten Stütz- und Atemmuskulatur wenig stabil. Der Brustkorb ist
elastisch und kann durch paradoxe Bewegungen den Eindruck
erwecken, dass die Lunge belüftet wird, obwohl dies gar nicht der
Fall ist. Ungewöhnlich ist auch, dass sich die engste Stelle in den
Atemwegen nicht – wie bei Erwachsenen – auf Ebene der Stimm-
ritze befindet, sondern tiefer. Und: Kinder brauchen etwa doppelt
so viel Sauerstoff je Kilogramm Körpergewicht wie Erwachsene,
weil sie einen höheren Grundumsatz haben. Wenn sie ausatmen,
bleibt nur wenig Sauerstoff in den Lungen zurück. Neugebore-
ne und Säuglinge geraten deshalb schnell in Atemnot, wenn der
Nachschub ausbleibt. Die Folgen können vielfältig sein, bis hin
zum Herzstillstand.
Bei Kindern fehlt oft das intuitive GefühlDr. Jost Kaufmann kennt diese Herausforderungen. Er ist seit
2009 Oberarzt am Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße in
Köln. Der Facharzt für Anästhesie und Pädiatrie ist auch als
Baby-Notarzt unterwegs. Geleitet wird die Abteilung von Profes-
sor Dr. Frank Wappler, der den Lehrstuhl für Anästhesiologie II
an der Universität Witten/Herdecke innehat. Was macht Kin-
dernarkosen eigentlich so komplikationsträchtig? „Bei Kindern,
insbesondere denen unter drei Jahren, ist nichts Standard“, sagt
Kaufmann. „Das fängt schon mit den anatomischen wie physio-
logischen Besonderheiten an – und endet bei der Dosierung der
Narkosemittel und Medikamente, die individuell berechnet und
ins Verhältnis zum Körpergewicht gesetzt werden müssen“, so
Kaufmann. „Dafür sollte man das Körpergewicht zunächst zuver-
lässig ermitteln und dokumentieren. Anästhesisten sind mit die-
sen Dosierungen meist weniger vertraut, weil sie Kinder in der
Regel nur selten narkotisieren – es sei denn, sie arbeiten in einem
M
Alles im Blick: Anästhesistin Katrin Bode, Schwester Ariane Habor und Oberarzt Dr. Jost Kaufmann (v. l. n. r.) verfolgen die Vital-daten ihres kleinen Patienten. Noch darf der Tiger dabei sein, dann muss er auf seinen Freund warten
DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017 15
Voller Anspannung: Mit Tiger an seiner Seite
wartet dieser wenige Monate alte Patient auf
seine Narkose. Die Anspannung ist ihm
anzusehen
16 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
spezialisierten Zentrum“, so der Oberarzt. „Vielen Kollegen fehlt
das intuitive Gefühl, ob ihre Berechnungen richtig oder falsch
sind. Ein Rechenfehler in der Größenordnung einer Zehnerpo-
tenz kann – je nach Medikament – das Leben und die Gesund-
heit eines Kindes erheblich gefährden.“
Komplikationen bei jeder 20. NarkoseFür Gesprächsstoff sorgt seit Frühjahr 2017 eine in der renom-
mierten Zeitschrift „The Lancet Respiratory Medicine“ erschie-
nene Studie: APRICOT* vermittelt einen Eindruck vom Stand
der Kinderanästhesien in Europa sowie von der Art und Häufig-
keit schwerer Komplikationen. Mit 261 beteiligten Kliniken aus
33 Ländern und 31.127 ausgewerteten Narkosen liefert sie die bis-
her größte Datenbasis in Europa. Professor Wapplers Abteilung
war mit 27 weiteren deutschen Zentren an der Datenerhebung
beteiligt. Die Kliniken sollten über einen Zwei-Wochen-Zeitraum
alle schweren Komplikationen melden, die sich aus anfallenden
und unfallbedingten Eingriffen an Kindern aller Altersklassen
ergeben haben. Als schwere Komplikation galten jene Ereignis-
se, die ein sofortiges Eingreifen erforderten, um Schaden von
den Kindern abzuwenden.
Schwere Komplikationen traten, den erhobenen Daten
zufolge, bei jeder 20. Kindernarkose auf. Zu den häufigsten zähl-
ten der Verschluss des Kehlkopfs sowie Krämpfe in der Bronchi-
almuskulatur. Beides verhindert die Belüftung der Lunge und
führt bei kleinen Kindern rasch zu einem Sauerstoffmangel.
Neun Kinder erlitten einen Herzstillstand und mussten reani-
miert werden. Das größte Risiko hatten sehr kleine und kran-
ke Kinder sowie jene mit risikoträchtigen Vorerkrankungen. Bei
der Studie traten auch große Unterschiede zwischen den einzel-
nen europäischen Ländern zutage. So wurden in einigen 20- bis
30-mal mehr schwere Komplikationen gemeldet. Es zeigte sich
auch, dass jedes zusätzliche Jahr an Erfahrung mit Kindernar-
kosen das Risiko für schwere Komplikationen um ein Prozent
senkte. Wer also viele Kinder anästhesiert, macht offensichtlich
weniger Fehler. Ein großer Pluspunkt der Studie ist ihre schiere
Größe. Nie zuvor wurden so viele Länder, Zentren und Kinder in
eine derartige Datenerhebung eingebunden. Es gibt allerdings
auch Kritikpunkte. Einer bezieht sich auf das Studiendesign. Die
beteiligten Anästhesisten haben die Vorkommnisse nach den Ein-
Schon ein kleiner Rechenfehler kann lebensgefährlich sein
Alles ist so anders: die
Umgebung, die Kleidung und von
der Anästhesie-schwester sind
nur die Augen zu sehen. Wie mag
sich der kleine Patient fühlen?
Zerbrechliche Wesen: An Säuglingen istalles winzig; der Körper, die Atemwege, die Blutgefäße. Man braucht Erfahrung, um sie zu narko-tisieren – wie hier am Kinder-krankenhaus Ams-terdamer Straße in Köln, mit dem Dräger Zeus IE
Erfahrung zählt: Ein eingespieltes Team ist überall wichtig; insbesondere aber dort, wo sehr kleine und kranke Kinder operiert werden
* Anaesthesia Practice In Children Observational Trial
17DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
ANÄSTHESIE KRANKENHAUS
S2e-Leitlinie:Empfehlungen für die Medikamentensicherheit in der Kinderanästhesiewww.draeger.com/402-17
griffen selbst gemeldet, zusammen mit ihrer persönlichen Iden-
tifikationsnummer. So konnten die Meldungen den einzelnen
Personen zugeordnet werden. Objektiver wäre es gewesen, die
Narkosen von externen Beobachtern begutachten und die schwe-
ren Komplikationen von ihnen melden zu lassen. Bei einer Studie
dieser Größenordnung war das jedoch nicht möglich. „Bei Selbst-
berichten besteht immer die Gefahr, dass nicht alle Vorkommnis-
se ans Licht kommen“, sagt Professor Wappler. „Entweder, weil
sie gar nicht aufgefallen sind oder weil der Anästhesist sie nicht
weitergeben wollte.“ Dass wahrscheinlich nicht alles gemeldet
wurde, macht Dr. Jost Kaufmann auch an der Zahl der Medika-
mentenfehler fest. Nach den Daten der APRICOT-Studie hat es
nur bei einer von 500 Medikamentengaben einen schwerwiegen-
den Fehler gegeben: „Das deckt sich nicht mit unserer Erfah-
rung, auch nicht mit dem, was wir aus anderen Studien wissen.“
Qualitätsmängel oder mangelnde Fehlerkultur?Zur Medikamentensicherheit in der Kinderanästhesie hat er
2016, zusammen mit anderen Kollegen, eine Leitlinie veröffent-
licht, die sich auf eine evidenzbasierte Recherche stützt. „Wir
wissen aus einer Studie mit Erwachsenen, bei der externe Beob-
achter die Fehler gemeldet haben, dass bei jeder 20. Medika-
mentengabe ein Fehler aufgetreten ist. Weil jeder Patient in der
Regel zehn Medikamente und mehr bekommt, ist in jeder zwei-
ten Narkose ein Medikamentenfehler aufgetreten. Man kann
kaum glauben, dass es bei den vielen individuellen Dosierungen
in der Kinderanästhesie nur bei jeder 500. Medikamentengabe
zu einem Fehler gekommen sein soll.“ Ähnliches gilt für den Ver-
schluss des Kehlkopfs, den sogenannten Laryngospasmus. In der
APRICOT-Studie lag die Häufigkeit bei 1,2 Prozent – und damit
genauso hoch wie für einen Bronchospasmus, bei dem die Bron-
chialmuskulatur verkrampft. „Nach unserer Erfahrung und den
Angaben in der Literatur ist die berichtete Rate an Laryngospas-
men überraschend niedrig. Dabei dürfte es wesentlich häufiger
zu einem Laryngospasmus als zu einem Bronchospasmus kom-
men. Das spricht gegen eine vollständige Meldung aller Fälle.“
Auffällig ist auch der 20- bis 30-fache Unterschied zwischen den
Melderaten einzelner europäischer Länder. In einem Kommen-
tar zur Studie in „The Lancet Respiratory Medicine“ vermutet
Professor Dr. Jerrold Lerman vom Women and Children’s Hos-
pital im amerikanischen Buffalo, dass die Unterschiede mit der
Qualität der Ausbildung und der Kliniken zu tun haben könnten.
Aber auch damit, ob Vorerkrankungen, die das Risiko für Kom-
plikationen bei der Narkose erhöhen, überall gleichermaßen gut
behandelt werden, wie etwa kindliches Asthma. Allerdings ist
auch eine andere Erklärung möglich. „Vielleicht waren die Kol-
legen in einigen Ländern einfach nur ehrlicher und haben tat-
sächlich alles gemeldet, was ihnen an Fehlern unterlaufen ist“,
sagt Dr. Kaufmann. Womöglich sind die Unterschiede zwischen
den Ländern also nicht Ausdruck einer unterschiedlichen Qua-
lität, sondern einer unterschiedlichen Fehlerkultur. Dennoch ist
für Professor Wappler die APRICOT-Studie ein wichtiges Bezugs-
system für weitere Qualitätsverbesserungen: „Unsere Zunft ist
der Studie zufolge offensichtlich weniger erfolgreich als gedacht.
Es scheint mehr Komplikationen bei Kindernarkosen zu geben
als bislang angenommen. Damit haben wir ein Problem, das wir
angehen müssen – ganz gleich, wie unscharf die Ergebnisse letzt-
lich sind, und unabhängig davon, wie viel Kritik man an der Stu-
die üben kann.“ Wappler ist der Ansicht, dass man die bestehen-
den Konzepte und Prozesse in der Kinderanästhesie hinterfragen
sollte. „Dazu müssen wir die Daten der Studie noch genauer aus-
werten und prüfen, was sich mit neuen, eindeutigen Studien-
designs in der notwendigen Präzision klären lässt.“
Für Professor Wappler und Dr. Kaufmann ist die Studie ein
Plädoyer für eine bessere und längere Einarbeitung unter Super-
vision – besonders, wenn es um Narkosen bei Kindern unter
drei Jahren geht. In einigen europäischen Ländern werden jun-
ge Anästhesisten lange von erfahrenen Kollegen begleitet. In
Deutschland ist meist nur ein Narkosearzt im OP anwesend. „Wir
täten gut daran“, so Wappler, „unsere Fort- und Weiterbildung
an die Möglichkeiten und Bedingungen der anderen europäi-
schen Länder anzupassen.“ Auch die Autoren der APRICOT-Stu-
die sehen einen dringenden Bedarf nach standardisierten Trai-
nings und europaweit geltenden Regeln.
Weiß, worauf es ankommt: Professor Dr. Frank Wappler, Chefarzt der Abteilung für Kinderanästhesiologie
PANORAMA BRANDSCHUTZ
Die BRANDSCHUTZVORSCHRIFTEN für deutsche Hochhäuser gelten im internationalen Vergleich als hervorragend. Doch reicht das? Und wie steht es um Gebäude unterhalb von 22 Metern Nutzhöhe?
Text: Peter Thomas
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18 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
19
aufzug vor. Bei Hochhäusern von über
60 Metern Höhe sind zudem Brandmel-
deanlagen und Löscheinrichtungen
(meist Sprinkler) Pflicht. Auch hinsicht-
lich der Wärmedämmung gibt es kei-
ne Kompromisse: Bauten über 22 Meter
dürfen ausschließlich mit nichtbrenn-
barem Material energetisch ertüchtigt
werden. Meist handelt es sich dabei um
Wärmedämmverbundsysteme (WDVS)
aus Mineralwolle oder Mineralschaum.
Genügt „schwer entflammbar“?Dass sich das Unglück von London in
genau dieser Art in Deutschland wieder-
holt, halten Brandschützer für so gut
wie ausgeschlossen. Dennoch verweisen
Fachleute auf das Risiko, das von WDVS
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Mainhattan: Diesen Spitznamen trägt Frankfurt am Main in Anlehnung an den New Yorker Bezirk – auch in der Hessenmetropole sind die zahlreichen Hochhäuser eine Herausforderung für den Brandschutz
Moskau: Einsatz unter Atemschutz in einer unterirdischen Verkehrsanlage
Extrem hoher AtemluftbedarfBrandschützer stehen bei Einsätzen in Hochhäusern vor extremen Herausforderungen: Ist kein Feuerwehraufzug vorhanden, müssen sie in voller und 30 Kilogramm schwerer Ausrüstung über das Treppenhaus vorrücken. „Solche Einsätze lassen sich mit denen in unterirdischen Verkehrsanlagen vergleichen – auch hier sind die Einsatzzeiten lang und der Bedarf an Atemluft groß“, sagt Carsten Joester von Dräger. Berufs-feuerwehren, die entsprechende Infrastrukturen im Verantwortungsbereich haben, halten deshalb auch Kreislauf-Atemschutzgeräte vor. Allein bei der Moskauer Feuerwehr, die für ein knapp 350 Kilometer langes U-Bahn-Netz verantwortlich ist, sollen es mehrere Tausend Geräte sein.
DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
Evakuierung von mehr als 400
Wohnungen in Dortmund, Räumung
eines elfstöckigen Gebäudes in Wupper-
tal, Brandsicherheitswachen vor Mehrfa-
milienhäusern im Landkreis Offenbach:
Der Brandschutz von Hochhäusern
führte im Sommer 2017 zu einschnei-
denden Maßnahmen in Deutschland.
Auch die Öffentlichkeit stellt seither
jede Menge Fragen an die geltenden
Vorschriften zur Fassadendämmung.
Vorausgegangen war das verheeren-
de Feuer im Londoner Grenfell Tower,
bei dem am 14. Juni 2017 Dutzende
Menschen ums Leben kamen. Für das
Ausmaß dieser Katastrophe wird die
Dämmung der Fassade mit Sandwich-
EElementen aus Aluminiumblech und
einer brennbaren Beschichtung aus
Polyethylen verantwortlich gemacht.
Die Platten wurden außerdem mit
einem Luftspalt zum Baukörper mon-
tiert. Das sorgte für einen Kamineffekt –
binnen 20 Minuten standen alle vier
Seiten des 67 Meter hohen Wohnturms
vollständig in Flammen. Das Feuer in
London hat erneut gezeigt, dass mit der
Höhe des Gebäudes auch die Brandrisi-
ken steigen. Einschlägige Bauverordnun-
gen in Deutschland stellen sehr hohe
Anforderungen an den Brandschutz in
Hochhäusern. Maßgeblich ist die Mus-
ter-Hochhaus-Richtlinie (MHHR); sie
schreibt unter anderem ein Sicherheits-
treppenhaus sowie einen Feuerwehr-
PANORAMA BRANDSCHUTZ
20 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
Stock-werke,die binnen Minutenbrennen
ausgehen kann. So hatten erst zwei
Tage vor dem Brand des Grenfell Towers
die Arbeitsgemeinschaft der Leiter der
Berufsfeuerwehren im Deutschen Städte-
tag (AGBF), der Deutsche Feuerwehrver-
band (DFV) sowie die Vereinigung zur
Förderung des deutschen Brandschutzes
(vfdb) gemeinsam das Positionspapier
„Brandsicherheit von Wärmedämmver-
bundsystemen an Fassaden mit Polysty-
rolschaum (EPS) als Dämmstoff“ veröf-
fentlicht. Hinter dem Kürzel verbirgt sich
Expandiertes Polystyrol, also Styropor.
Solche Dämmungen gelten als „schwer
entflammbar“, sie sind mit einem
Schutzmittel behandelt. Dafür wurde
lange Zeit die Chemikalie Hexabromcy-
clododecan (HBCD) eingesetzt, was 2016
zu erheblichen Problemen bei der Ent-
sorgung alter Dämmmaterialien führte.
Mittlerweile verwendet man bromiertes
Styrol-Butadien-Copolymer (FR-Poly-
mer). Diese Elemente dürfen zwar an
Hochhäusern (Gebäude mit Nutzfläche
in mehr als 22 Metern Höhe) nicht ver-
baut werden, doch auch unterhalb dieser
Grenze liegen viele Objekte mit zahlrei-
chen Wohneinheiten.
Was passiert, wenn dort ein Feuer
auf die Dämmung übergreift? „Die ex -
trem schnelle Brandausbreitung an der
Fassade, die bei diesen Systemen wieder-
holt aufgetreten ist, stellt für die Feuer-
wehr ein unlösbares Problem dar: Bei
einer Hilfsfrist von zehn Minuten ist eine
Brandausbreitung auf mehr als zwei
Stockwerke nicht zu verhindern“, heißt
es in dem Positionspapier. Erfahrungen
zeigten, dass eine Rettung von Personen
auch in höheren Gebäuden unterhalb
von 22 Metern bei brennenden Fassaden
gefährlich, schwierig und im Grunde
nicht möglich ist, so die Architekten- und
Stadtplanerkammer Hessen (AKH). Das
gelte vor allem, wenn der zweite Flucht-
und Rettungsweg durch Hubrettungs-
geräte der Feuerwehr (wie Drehleitern
oder Teleskopmaste) sichergestellt wird.
Auch deshalb forderte die Kammer im
Juli 2017, Polystyroldämmungen künftig
schon ab sieben Metern Gebäudehöhe
(Klasse 4) zu verbieten – ein Thema,
dass laut AKH in der Fachwelt schon
lange diskutiert wird, nicht erst seit dem
tragischen Unglück von London.
Der Branchenverband für Dämm-
systeme, Putz und Mörtel (VDPM) hält
dagegen: Die bewährten und weit ver-
breiteten Dämmsysteme seien brand-
hemmend ausgestattet und würden
luftdicht verputzt verbaut. Wobei es in
Grenfell Tower: Mit dem Brand in London rückten Mitte 2017 die besonderen Herausforde-
rungen beim Brandschutz von Hochhäusern auch in den Fokus der allgemeinen Öffentlichkeit
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21DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
Brandschutz„Es geht nicht darum, WDVS aus EPS grundsätzlich zu verteufeln.“ Lesen Sie hier das vollständige Interview:www.draeger.com/402-21
Professor Reinhard Ries: Den Architekten und Chef der Frankfurter Feuerwehr beschäftigt das Brandrisiko von Fassaden schon seit Jahren
„Dann wird es gefährlich!“Professor Reinhard Ries ist seit 1993 Leiter der Berufsfeuerwehr Frankfurt am Main. In dieser Funktion zeichnet der 1956 geborene dreifache Familienvater verantwortlich für den abwehrenden, vorbeugenden und baulichen Brandschutz in der Großstadt sowie für Katastrophenschutz, Rettungsdienst und Flugrettung. Der Diplom-Ingenieur für Architektur unterrichtet zudem an verschiedenen Universitäten und Hochschulen. Mit dem Drägerheft sprach Ries über das Brandrisiko von Wärmedämmverbundsystemen.
Herr Prof. Ries, der Brand des Grenfell Tower in London hat den Brandschutz in Hochhäusern auch in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit gerückt. Lässt sich das Risiko in beiden Ländern überhaupt vergleichen?Prof. Ries: Nein, es gibt deutliche Unterschiede. Bereits in den frühen 1980er-Jahren legte die Hochhaus-Richtlinie fest, dass u. a. ausschließlich nichtbrennbare Fassaden-verkleidungen verwendet werden dürfen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Insofern sind Hochhäuser in Deutschland im Allgemeinen sehr sicher.
Was hat zu dem schweren Brand in London geführt?Da gibt es wohl nicht den einen, einzigen Auslöser – vielmehr kamen verschiedene Faktoren zusammen. Die Elemente der Fassadenverkleidung waren nicht nur brennbar, sondern auch hinterlüftet. Das löste einen Kamineffekt aus. Hinzu kamen mangelnde Brandschutztechnik im Gebäude, unterdimensionierte Fluchtwege sowie hohe Brand-lasten. Nach meiner Kenntnis hätte keine Feuerwehr der Welt diesen Brand unter Kontrolle bringen können – auch nicht die sehr gut aufgestellte London Fire Brigade.
Wenn die Vorschriften in Deutschland strenger sind, warum warnen Brandschutzexperten dennoch vor dem Risiko, das von wärmegedämmten Fassaden ausgeht?Dabei geht es vor allem um Gebäude mit einer Höhe bis 22 Metern, die immer häufiger mit immer dickeren Wärmedämmverbundsystemen (WDVS) aus expandiertem Polystyrol (EPS) verkleidet werden. Da herrscht seit einigen Jahren geradezu ein Boom energetischer Ertüchtigung von Neu- und Bestandsbauten. Wenn diese Maßnahmen nicht richtig ausgeführt wurden, wird es gefährlich. Hinzu kommt, dass wir (die Feuerwehren) die bisherigen Prüfverfahren für diese Fassaden für nicht ausreichend halten.
Was genau gibt den Ausschlag?WDVS müssen immer zuverlässig gekapselt sein, damit sich ein Feuer nicht ausbreiten kann. Dabei sind Brandriegel ebenso wichtig wie die fachgerechte Montage der Wärme-dämmung am Baukörper. Leider findet im Rahmen der Deregulierung im Bauwesen keine Prüfung durch Behörden, wie etwa der Bauaufsicht, statt. Aus Erfahrung wissen wir, dass viele Fassaden nicht ordentlich verbaut wurden. Es gibt wiederholt Fälle, bei denen – nach einer Kontrolle durch Sachverständige – die komplette Dämmung wieder abgerissen, entsorgt und erneuert aufgebaut werden musste.
der Praxis wegen Beschädigungen von
außen – etwa durch Spechte – nicht
immer bleibt. Seit Anfang 2016 sind
zusätzliche Brandriegel in unteren
Etagen (bei mehrgeschossigen Gebäu-
den mit sieben bis 22 Metern Höhe) vor-
geschrieben. Sollte eine Fassadendäm-
mung aus schwer entflammbaren WDVS
dennoch in Brand geraten, ist das Risiko
für alle Beteiligten geradezu haushoch.
Kaum zu beherrschen„Die Fassade könnte wie eine Fackel
abbrennen, das Feuer wäre dann kaum
noch zu beherrschen“, schildert Pro-
fessor Reinhard Ries, Leiter der Berufs-
feuerwehr in Frankfurt am Main, sei-
ne Erfahrungen aus einem Großbrand
2012. Das Thema brennbare Fassaden-
dämmung begleitet ihn schon seit vielen
Jahren. Ries ist in der Main-Metropole
für einen der größten Hochhausbestän-
de verantwortlich: Dort gibt es mehrere
hundert Hochhäuser bis 60 Meter Höhe
– weitere Dutzend Objekte sind bis zu
200 Meter hoch, einige Wolkenkratzer
ragen sogar noch weiter in den Himmel.
Aber nicht nur bei Bauten der Gebäude-
klasse 4 sehen Experten Handlungsbe-
darf. Es geht auch darum, die Risiken
bei bestehenden Hochhäusern im Blick
zu behalten, die vor der derzeit gelten-
den MHHR (Stand: April 2008, aktuali-
siert im Februar 2012) gebaut wurden.
Falls sie nicht saniert worden sind,
gelten für sie – je nach Baujahr – die
Richtlinien aus den Jahren 1983, 1973
und 1955. Hinzu kommt, dass bei Nach-
rüstungen nicht immer alle Vorgaben
umgesetzt werden: „Es ist richtig, dass
die deutschen Brandschutzvorschrif-
ten in Hochhäusern als streng gelten.
Aber es zeigt sich immer wieder, dass sie
nicht überall konsequent eingehalten
werden“, sagt Dirk Aschenbrenner, Chef
der Berufsfeuerwehr Dortmund und Prä-
sident der vfdb. „Gerade ältere Gebäude
sollten regelmäßig überprüft werden.“
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Haarige
Der Bart muss ab, daran kommen Atem-
schutzgeräteträgernicht vorbei. Denn die
BARTHAARE entlang der Dichtungen ihrer
Masken sorgen für Leckagen – kurze
Stoppeln sind beson-ders riskant. Ein
Besuch im Barber-shop tut trotzdem gut.
Text & Fotos: Peter Thomas
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
Haarscharf:Kostja Epp, Inhaber eines Barbershops
in Offenbach, rasiert klassisch – mit
Messer, Schaum und viel Gefühl
ATEMSCHUTZ FEUERWEHR
23
dagegen regt sich immer wieder, spätestens seit den sogenann-
ten Barterlassen deutscher Bundesländer in den 1970er-Jahren.
Anfang 2017 hat der Streit zwischen einer Kreisbrand inspektorin
und freiwilligen Feuerwehrleuten um deren Bärte mediales Auf-
sehen erregt. Ändern wird sich an den Vorschriften auf absehba-
re Zeit dennoch nichts, denn derzeit gibt es keine Atemschutz-
maske für die Brandbekämpfung, deren Dichtlinie außerhalb des
Gesichts liegt. Die neue ISO-Norm 17420 für Atemschutzgeräte
soll voraussichtlich 2020 als internationaler Standard veröffent-
licht werden. „Auch sie wird zur Konsequenz haben, dass Atem-
schutzgeräteträger weiter bartlos in den Einsatz gehen müssen“,
sagt Wolfgang Drews. Der Ingenieur ist seit 2011 an der Erstel-
lung der Norm beteiligt. Sie argumentiere stets aus Perspektive
des Anwenders, der gegen die Gefahren seines Arbeitsumfelds
geschützt werden soll. Und dies bedeute nun einmal bei Bart-
trägern, dass die Dichtlinie unterhalb des Adamsapfels verlau-
fen muss, da im Halsbereich in den meisten Fällen kein Bart-
wuchs auftritt. Die entsprechenden Szenarien reichen bis zur
Vision eines flammgeschützten und gasdichten Chemikalien-
schutzanzugs (CSA).
Die klassische Nassrasur bleibt unerreichtUnd wie kommt man derweil zum perfekt rasierten Gesicht,
wenn es kein Bart sein darf? Die klassische Nassrasur ist unter
den Depilationsverfahren (so heißt die Entfernung der über der
Hauptoberfläche liegenden Bestandteile des Haars; bei der Epi-
lation wird das komplette Haar samt Wurzel entfernt) nach wie
vor unerreicht. Das liegt nicht nur an der Schärfe der Klinge, son-
dern auch an der aufwendigen Prozedur. Im Offenbacher Barber-
shop hat Kostja Epp mittlerweile eine neue Klinge in die Shavette
(ein Rasiermesser mit klassischem Klappgriff) eingesetzt. Das
Messer besitzt keine feste Schneide, sondern einen Halter für
Angelegenheit
DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
Sanft gleitet die Klinge über die Haut, ihre Schneide ist weni-
ger als einen Mikrometer (0,001 mm) dünn. Bahn für Bahn
kämpft sie sich durch Schaum und Bart. Was bleibt, ist ein perfekt
rasiertes Gesicht – und ein gutes Gefühl. „Die klassische Nassra-
sur ist Wellness für den Mann“, sagt Kostja Epp. Der Zwei-Meter-
Hüne mit tätowierten Armen und schwarzem Vollbart ist Inhaber
des Barbershops „Blckbrd“ in Offenbach am Main. Die Kunden
kommen auch aus der benachbarten Finanzmetropole Frankfurt.
Gehört es nicht zur Frankfurter Folklore, auf Offenbach hinab-
zuschauen? „Wir sind vielleicht der kleinere, dafür aber der coo-
lere Bruder“, grinst Epp. Die Barber-Branche boomt. Vollbärte
liegen wieder im Trend. Ob Ducktail, Hollywoodian oder mäch-
tiger Garibaldi: Vom hippen Digitalnomaden bis zum Banker gilt
vielerorts die Maxime, dass Mann seine Gesichtsbehaarung wie-
der zeigt und pflegt. Dabei steht den urbanen Helden von heu-
te der gleiche Fachmann zur Seite, der schon ihren Ururgroß-
vätern mit scharfer Klinge ums Kinn gegangen ist: der Barbier.
Ein Problem mit der Bartmode haben allerdings Atemschutz-
geräteträger in der Feuerwehr und Industrie. Denn Gesichtsbe-
haarung entlang der Dichtkonturen ihrer Atemschutzmasken
ist ein Ausschlusskriterium für den Einsatz, weil sie zu lebens-
gefährlichen Leckagen führen kann. Dadurch können Rauch-
gase und andere gefährliche Stoffe von außen eindringen, oder
die Atemluft entweicht unkontrolliert, was die Einsatzzeiten der
Pressluftatmer verkürzt. Der Bart muss also ab, schon aus Grün-
den des Selbstschutzes. Das betont auch die Feuerwehrdienstvor-
schrift 7 (Stand: 2002, mit den Ergänzungen des Jahres 2005):
„Einsatzkräfte mit Bart oder Koteletten im Bereich der Dichtli-
nie von Atemanschlüssen sind für das Tragen von Atemschutz-
geräten ungeeignet.“
Das ist keine Schikane, sondern dient der eigenen Sicherheit
und der der Menschen, die gerettet werden sollen. Widerstand
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Dräger FPS 7000:Damit die Atemschutz-
vollmaske gut abdichtet, sollten Feuerwehrmänner
immer frisch rasiert in den Einsatz gehen
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FEUERWEHR ATEMSCHUTZ
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Fotostrecke: Streetwear, scharfe Klingen und jede Menge Tattoos – zu Besuch im Barbershop „Blckbrd“ in Offenbach.www.draeger.com/402-24
Wechselklingen. Die Shavette ist bei vielen Barbieren beliebt,
schon aus hygienischen Gründen. Im Hintergrund tönt Musik,
so rau wie die blanken Backsteinwände des Altbaus. Der Meister
legt warme Kompressen auf das zuvor mit einer Pre-Shave-Flüs-
sigkeit behandelte Gesicht des Kunden. „Das öffnet die Poren,
entspannt die Haut und macht die Haare weich“, sagt Epp, wäh-
rend er Rasiercreme und heißes Wasser mit dem Dachshaarpin-
sel in einem Metallschälchen aufschlägt. Nach dem Auftragen
der dünnen Seifenschicht schauen die Bartstoppeln aus dem wei-
ßen Schaum hervor. Mit den Fingerspitzen einer Hand zieht er
die Haut straff, die andere führt mit geübtem Strich das Messer.
Zurück bleibt eine glatte Haut. Darauf kommen anschließend
ein beruhigender Balsam und eine gekühlte Kompresse. Knapp
eine halbe Stunde hat die Prozedur gedauert.
34 Seiten über Bartwuchs und AtemschutzWer sich als Brandschützer die Fertigkeit eines Barbiers gönnt,
genießt auch ein Stück Wellness – und tut etwas für die eige-
ne Sicherheit im Einsatz. Feuerwehrleute sollten immer frisch
rasiert in den Einsatz gehen. Darauf verweist auch die Feuer-
wehr-Unfallkasse (FUK) Niedersachsen: Untersuchungen hätten
bereits „messbare Veränderungen der Leckagewerte zwischen
frisch rasierten Feuerwehrangehörigen und denen mit einem
Zwölf-Stunden-Bart“ ergeben. Stoppeln gelten als besonders
gefährlich. Das zeigt auch die
Zusammenfassung von Normen
und Forschung aus aller Welt
im „Handbuch Atemschutz“ von
Lothar Brauer: Dieses Standard-
werk fasste von 1982 bis 1990 auf
34 Seiten, über mehrere Ergän-
zungslieferungen hinweg, zahl-
reiche Informationen rund um
das Thema Bartwuchs und Atem-
schutz zusammen. Dort wird
auch erklärt, warum kurze Stoppeln physikalisch besonders ris-
kant sind. Sie haben einen hohen Widerstand gegen das Umkni-
cken, bleiben auch bei Krafteinwirkung weitgehend im rechten
Winkel zur Haut stehen und heben so die gesamte Dichtebene
der Maske an. Damit entsteht ein Spalt zwischen Haut und Mas-
ke. Längere Barthaare hingegen werden durch die Dichtkontur
umgelegt und an die Haut gepresst. Eine Leckage ist dennoch
vorhanden, allerdings ist die Durchströmung der Räume zwi-
schen den zylindrischen Haarquerschnitten meist geringer als
bei Stoppelbärten. Neben der Länge der Haare beeinflussen auch
deren Dicke, die Dichte des Bartwuchses und die Form der Haare
die Größe der Leckage. Trotz der aktuellen Renaissance der Bar-
bershops rasieren sich die meisten Männer nach wie vor selbst.
Dabei gehörte dieses Handwerk einst zum Alltag.
Ausgerechnet Feuerwehrleute zählten einst nicht zu den
Kunden der Barbiere. Sie waren bis zur Entwicklung marktrei-
fer Atemschutz-Lösungen dazu angehalten, sich einen Vollbart
stehen zu lassen, der sie bei Löschangriffen vor schädlichen
Stoffen schützen sollte. Heute lässt sich nicht mehr nachvoll-
ziehen, ob zuerst der Bart dagewesen ist oder der Wunsch nach
dem Schutz vor Rauchpartikeln. Der Zusammenhang schien
damals jedoch klar. So berichtete Bernhard Peill in seiner 1951
erschienenen „Chronik der Berliner Feuerwehr“, es sei „früh-
zeitig die filtrierende Wirkung des damals beliebten Vollbartes
in raucherfüllten Räumen erkannt worden“.
Ein solcher Schutz war ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch
nötig, denn der Berliner Branddirektor Ludwig Carl Scabell pro-
pagierte 1851, mit Gründung der Berliner Berufsfeuerwehr, auch
in Deutschland den Innenangriff. Dabei sollten sich die Brand-
schützer den angefeuchteten Bart vor Mund und Nase binden.
Das schützte aber höchstens vor größeren Partikeln. Kleinere und
vor allem die gefährlichen Rauchgase wurden von den Brand-
schützern nach wie vor eingeatmet. Eine Antwort auf dieses Risi-
ko gab erst die flächendeckende Einführung von umluftunabhän-
gigen Atemschutzgeräten.
Stattlich:Ein langer Bart
verlangt viel Zeit und Pflege – wie
jede Mode
Die Klinge sollte einen Winkel von 30 Grad zur Haut haben – so rasiert sie das Barthaar am besten
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ZENTIMETER IM JAHR WÄCHST EIN BARTHAAR
DURCHSCHNITTLICH – ALSO RUND EINEN
ZENTIMETER IM MONAT.
KING CAMP GILLETTE ERFAND DIE WEGWERF-
RASIERKLINGE UND BRACHTE SIE 1903 AUF DEN MARKT.
ALLEIN DIE US-ARMEE BESTELLTE VOR 100
JAHREN 36 MILLIONEN KLINGEN FÜR DIE IM ERSTEN WELTKRIEG
KÄMPFENDEN SOLDATEN.
BARTHAARE HABEN MÄNNER DURCHSCHNITTLICH
IM GESICHT.
STUNDEN SEINES LEBENS VERBRINGT EIN MANN DAMIT, SICH ZU RASIEREN.
13,97
50 %ALLER MÄNNER WELTWEIT
TRAGEN EINEN BART.
40BIS WEIT ÜBER 200 STRICHE
BRAUCHT MAN MIT DEM MEHRWEGRASIERER FÜR
EINE NASSRASUR.
30GRAD BETRÄGT IN
ETWA DER WINKEL, IN DEM DIE KLINGE BEI DER
KLASSISCHEN NASSRASUR ZUR HAUT GEFÜHRT WIRD.
30.000
3.350
METER LANG WAR DER LÄNGSTE BISLANG
DOKUMENTIERTE BART. SEIN BESITZER HANS
NIELSEN LANGSETH LEBTE VON 1846 BIS 1927.
WAHRSCHEINLICH WAR EINE WETTE MIT SEINEM
NACHBARN AUSLÖSER DES BARTREKORDS.
5,33
DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017 25
50 Bilder
26
WISSENSCHAFT MEDIZIN
Ohne Zeitverzug zeigt der Bildschirm des Dräger PulmoVista 500, wie sich das Atemvolumen in denverschiedenen Lungen-regionen darstellt
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
pro Sekunde
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017 27
MMartin Schwertner weiß, wie man eine Intensivmedizin
effizient organisiert. Seit 33 Jahren arbeitet der Fachkranken-
pfleger und Atmungstherapeut (DGP) im Universitätsklinikum
Knappschaftskrankenhaus Bochum – zwei Drittel dieser Zeit
als Pflegedienstleiter auf der Intensivstation. In der Klinik für
Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie wer-
den jährlich rund 10.000 Narkosen durchgeführt. Jeder siebte
Patient wird anschließend auf der Intensivstation versorgt, oft
auch künstlich beatmet. 60 Mitarbeiter kümmern sich hier um
maximal 20 Patienten gleichzeitig. Schwertner schätzt diese
gute Betreuungsquote. Sie gibt ihm die Zeit, sich auch innova-
tiven Dingen zu widmen. Der Neubau, der 2006 entstand, trägt
auch seine Handschrift. Er sorgte dafür, dass die Anregungen
und Wünsche des Pflegepersonals beim Architekturkonzept
berücksichtigt wurden. Die Station kommt heute dank boden-
tiefer Fenster in den Genuss von reichlich Tageslicht. Die
Zimmer bieten ausreichend Platz, um Betten und medizini-
sche Geräte zu rangieren, ohne damit dauernd anzuecken.
Das Gleiche gilt für den Flur, in dem selbst bei großer Hektik
keine Karambolagen mit dem Mobiliar zu erwarten sind. „Wir
haben alle Schränke in Nischen versenkt, damit wir die Betten
ohne Hindernisse durch den Gang schieben können“, sagt
Schwertner. Effizienzgewinn bringt hier nicht eine umwerfend
neue Idee, sondern die Beschäftigung mit den Details.
Bio-Feedback für neue Anwendungen Aktuell ist es der PulmoVista 500, der das Interesse und die
Neugier des Stationsleiters geweckt hat. Das mobile Mess-
gerät von Dräger hat die Elektrische Impedanztomographie
(EIT) auf die Intensivstation gebracht. Fast täglich testet
er es: „Geplant war, das Gerät vor allem zur Echtzeitüber-
Die Wissenschaft kennt den Nutzen der ELEKTRISCHEN IMPEDANZTOMOGRAPHIE schon lange. Nun haben sich Ärzte und Pfleger am Universitätsklinikum Bochum von den Vorteilen dieser Technologie überzeugt. Ihre überraschende Erkenntnis: Nicht nur künstlich beatmete Patienten profitieren davon, sondern auch aktive Rekonvaleszenten.
Autor: Frank Grünberg Fotos: Patrick Ohligschläger
wachung der Lungenfunktion beatmeter Patienten zu nutzen.
Dann stellten wir fest, dass weitere Einsatzszenarien infrage
kommen und damit sogar das Bio-Feedback bei wachen Pati-
enten funktioniert. Das eröffnete uns völlig neue Möglichkei-
ten.“ Nach einer Operation ist das Risiko einer Lungenentzün-
dung besonders groß. Chirurgische Eingriffe hindern Patienten
oft daran, anschließend kräftig durchzuatmen. Wenn die Lun-
ge nicht ausreichend belüftet wird, steigt die Gefahr, dass sich
Wasser im Pleuraspalt einlagert, dem normalerweise schma-
len Spalt zwischen Lunge und Brustkorb. Wie viel Flüssigkeit
sich bei einer Entzündung hier sammeln kann, davon weiß
Dr. Günther Oprea, geschäftsführender Oberarzt der Klinik
für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie, zu
berichten: „Bei einer Patientin haben wir kürzlich fast einen
Liter Wasser gemessen. Rund ein Drittel der linken Lunge war
betroffen. Diese Seite konnte nicht mehr suffizient am
pulmonalen Gasaustausch teilnehmen.“
Eine solche Beobachtung ist beim Einsatz herkömmlicher
Verfahren mit viel Aufwand für das Klinikpersonal und Stress
für die Patienten verbunden. Letztere müssen samt Bett zur
Computertomographie (CT) gebracht werden, wo sie einer
Unter Strom: Je ein Elektrodenpaar auf dem
Gürtel schickt eine geringe Menge Strom in den Körper.
Die anderen werten die resul-tierenden Spannungen aus
28
„Mithilfe derEIT haben wir schon mancheCT gespart“Dr. Günther Oprea, Oberarzt am Uniklinikum Bochum
WISSENSCHAFT MEDIZIN
Regelmäßig im Einsatz: Seit Dezember 2015 wird das mobile Messgerät am Universitätsklinikum Knappschaftskrankenhaus Bochum genutzt
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
hohen Strahlungsbelastung ausgesetzt sind – und nur eine
Momentaufnahme erstellt wird. Auch eine endoskopische
Lungenspiegelung ist für die Betroffenen unangenehm und
somit als unmittelbare Kontrollmaßnahme bei einer künst-
lichen Beatmung wenig geeignet. Ein mobiles Gerät bietet
dagegen Vorteile: Der PulmoVista 500 arbeitet mit niedrigen
elektrischen Spannungen, die der Patient nicht spürt. Zudem
lässt sich das Gerät direkt ans Krankenbett fahren, um dort
die Lungenfunktion mit verhältnismäßig wenig Aufwand
in Echtzeit zu messen. „Mithilfe der EIT haben wir schon
manche CT gespart“, betont Oprea, auch wenn EIT keine
CT ersetzt. Warum kommt das Verfahren in Krankenhäusern
dann nicht öfter zum Einsatz? „Weil es recht kostspielig
in der Anschaffung ist und gegenüber Krankenkassen bislang
nicht abgerechnet werden kann.“
Mobile Geräte bieten VorteileDräger lieferte das Gerät im Dezember 2015 an die Bochu-
mer Klinik aus. Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 50 Bil-
dern pro Sekunde stellt es dar, wie sich die Luft in der Lunge
verteilt und wie sich das Lungenvolumen dabei zeitlich verän-
dert. Um diese Dynamik leicht verständlich zu machen, wer-
den die Lungenbereiche auf dem Monitor je nach regionaler
Dr. Günther Opreasieht weitere
Einsatzfelder für den PulmoVista 500 – etwa
in Rettungswagenoder Operationssälen
29
Volumenänderung unterschiedlich eingefärbt. Die Wirkung
von therapeutischen Maßnahmen, die über das Beatmungs-
gerät gesteuert werden, lassen sich damit unmittelbar verfolgen
und bei Bedarf korrigieren. Tut dem Patienten eine Druckerhö-
hung wirklich gut? Wird die gesamte Lunge beatmet, ohne sie
zu überblähen? Diese Fragen lassen sich sofort beantworten.
Den technologischen Kern bildet die Elektrische Impedanzto-
mographie. Sie macht sich die Tatsache zunutze, dass der Luft-
gehalt die bioelektrischen Eigenschaften des Lungengewebes
beeinflusst. Dabei gilt: Je mehr Luft das Gewebe enthält, des-
to größer ist der elektrische Widerstand, die Impedanz. Durch
kontinuierliche Messungen kann die Ventilationsverteilung in
der Lunge sowohl zeitlich als auch räumlich ermittelt werden.
Dadurch lassen sich unmittelbar Rückschlüsse auf die Vorgän-
ge innerhalb der Lunge ziehen. Die Wissenschaft hat das große
Potenzial der EIT für die Intensivmedizin schon lange erkannt.
Mehr als 30 klinische und präklinische Studien haben den
Nutzen der Technologie für eine lungenschonendere Beat-
mung inzwischen unterstrichen. Was fehlte, waren Erfahrun-
gen aus dem Klinikalltag. Diese holen Martin Schwertner
und Dr. Günther Oprea seit fast zwei Jahren konsequent ein.
Intensive Tests während des klinischen Alltags„Die intensive Beschäftigung mit der Technik und der
gedankliche Austausch sind notwendig, um Innovationen in
einer eng getakteten Krankenhausroutine zu testen und zu
etablieren. Ein Einzelner könnte das nicht meistern“, sagen
Schwertner und Oprea. Das gelte auch für die Pionierarbeit
am Krankenbett. Hier legen sie im Schnitt zweimal täglich
gemeinsam Hand an, wenn sie Bettlägerige wenden, um ihnen
den Silikon gurt um den Brustkorb zu legen, der mit 16 Elek-
troden bestückt die gewünschten Messdaten liefert. Jeweils
ein Elektrodenpaar auf dem Gürtel schickt eine sehr geringe
Menge Strom in den Körper des Patienten, während an den
restlichen die daraus resultierenden Spannungen gemessen
werden. Weil die Position der Stromeinspeisung während einer
EIT um den Brustkorb rotiert, wechseln auch die Orte der
Spannungsmessung: Nach einer 360-Grad-Drehung lassen sich
alle Werte zu einer Art „tomographischem Bild“ verrechnen,
das Informationen über die Luftverteilung in den bauchseitigen
(ventralen) und rückenseitigen (dorsalen) Lungenregionen
liefert. Die Daten werden in Form von Schnittbildern, Kurven
oder Zahlenwerten auf dem Monitor dargestellt.
Schwertners Favorit für das Bio-Feedback ist der Vollbild-
modus. Er zeigt die Ventilation in der größten Auflösung und
ermöglicht es wachen Rekonvaleszenten, ihr Atemtraining
unmittelbar zu beurteilen und zu steuern. Die Funktion führt
ihnen bildhaft und ohne Zeitverzug vor Augen, zu welchen
Verbesserungen ihre Aktivtherapie führt. „Tatsächlich könnten
Patienten das Gerät auch ohne fremde Hilfe für ein quantita-
tives Bio-Feedback nutzen“, sagt Oberarzt Oprea. Dazu gibt
es bislang allerdings keine wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Eine Erweiterung der Zweckbestimmung des Gerätes käme
nur auf dieser Basis in Frage. Einen ersten Anstoß hierzu könn-
te beispielsweise eine Vergleichsstudie mit zwei Patientengrup-
pen geben. Eine, die für ihre Atemtherapie den PulmoVista 500
nutzte, die andere, der dieses Werkzeug nicht zur Verfügung
stünde. „Ich könnte wetten“, so Oprea, „dass die Patienten,
die die Ventilation in ihrer Lunge unmittelbar verfolgen, weit
weniger unter Komplikationen leiden und die Intensivstation
schneller wieder verlassen.“ Es wäre nicht das erste Mal, dass
sich eine neue Technologie als vielfältiger erweist als zunächst
gedacht. Wer hätte beispielsweise bei der Selfie-Funktion für
Smartphone-Kameras geahnt, dass sie den Taschenspiegel erset-
zen könnte? Schminken mithilfe des Mobiltelefons – eine inno-
vative, aber zunächst abwegige Idee. Auch der PulmoVista 500
könnte Patienten künftig den Spiegel vorhalten, um schneller
wieder gesund zu werden. Dr. Oprea sieht weitere Einsatzfel-
der: im Rettungswagen oder Operationssaal, wo es immer wie-
der vorkomme, dass narkotisierte Patienten falsch oder unzurei-
chend intubiert würden. „Mithilfe der EIT ließe sich das sofort
erkennen.“ In Bochum denkt man inzwischen darüber nach,
den PulmoVista 500 im OP zu testen. Gleichzeitig wächst mit
der Zahl der Einsatzszenarien auch der Wunsch nach funktio-
nalen Verbesserungen: Weil etwa die Länge des Elektrodengür-
tels beschränkt ist, sei das Anlegen bei korpulenten Patienten
schwierig, mitunter unmöglich. Auch, dass die Elektroden nicht
durch Verbände hindurch wirkten, schränke den Einsatz im All-
tag gelegentlich ein. Ein Meilenstein wäre es, wenn sich neben
der Ventilation auch der Blutdurchfluss (Perfusion) der Lunge
mobil messen ließe. „Wenn ich auf einen Blick sehen könnte,
wie sich Luft und Blut verteilen“, sagt Dr. Oprea, „hätte ich die
Lunge ganz unter Kontrolle.“ Technisch wäre das möglich.
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
Martin Schwertner, Fachkrankenpfleger
und Stationsleiter: „Das eröffnet uns völlig
neue Möglichkeiten“
30 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
Putzen hilft – auch gegen die Verbreitung von Viren und Bakterien. Doch selbst DESINFEKTIONSMITTEL bergen Gesundheitsrisiken und können Resistenzen fördern.
Text: Sascha Karberg
In den 1980er-Jahren war die Welt
noch in Ordnung: Es gab die „bösen“
Bakterien und Viren, die auf schmieri-
gen Türklinken und an ungewaschenen
Händen lauerten. Eine stete Gefahr
für mehr oder weniger gefährliche Infek-
tionen. Die „guten“, kraftvollen Des-
infektionsmittel sorgten für Sauberkeit
und Gesundheit. Viel half damals noch
viel. Eine möglichst sterile Umgebung
war das Maß aller Dinge. Inzwischen
wissen Forscher, dass zu viel Sauberkeit
auch schaden kann. So leiden Kinder,
die in sterilen Umgebungen aufwachsen,
später eher an Allergien als diejenigen,
die auch mal die heruntergefallene
Eiskugel vom Boden kratzen und so
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Die Krux mit den
Keimen
KRANKENHAUSHYGIENE MEDIZIN
31DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
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ihr Immunsystem mit Bakterien und
Viren trainieren. Zudem können chemi-
sche Wirkstoffe, die in Desinfektions-
mitteln enthalten sind, gesundheitliche
Risiken bergen. Ebenso beunruhigend
ist, dass sie Bakterien und Viren
nicht nur abtöten, sondern auch deren
Evolution vorantreiben. Das stete Put-
zen sortiert zwar die Keime aus, die
keine Widerstandskraft gegen Biozide
haben, doch bei Millionen und Milliar-
den von Keimen bleiben mitunter einige
übrig, die dem Mittel trotzen – und sich
anschließend konkurrenzlos vermehren.
Wie Desinfektionsmittel wirkenEin Beispiel ist das verbreitete Bakteri-
ozid Triclosan. Einst entwickelt für
die Anwendung in Krankenhäusern, wird
es längst auch anderweitig eingesetzt,
etwa um Textilien frei von Keimen
zu halten. In der Elbe messen Umwelt-
forscher den Stoff mittlerweile in so
großen Mengen, dass er dort auch Algen
schädigen dürfte. Triclosan steht unter
dem Verdacht, Muskelzellen zu beein-
trächtigen. Zudem wird es bei unsachge-
mäßer Anwendung meist nicht in ausrei-
chend hoher Konzentration verabreicht,
was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass
sich widerstandsfähige Keime entwi-
ckeln. 2013 fanden Forscher des Cary
Institute of Ecosystem Studies in drei
Abwasserkanälen (nahe Chicago/USA)
Bakterien, denen Triclosan keine Fla-
gelle – den fadenförmigen Fortsatz zur
Bewegung – krümmen konnte. Verständ-
licherweise wollen Gesetzgeber diesen
Tendenzen entgegenwirken, auch um
die Umwelt zu schützen. Das hat aller-
sondern auch das tatsächlich daraus
resultierende Risiko zu betrachten“,
schreiben die Verbände. Dabei sollten
mögliche Resistenz entwicklungen und
Umweltschäden berücksichtigt werden,
aber auch die messbaren Auswirkun-
gen auf den Gesundheitsschutz, wenn
man die Mittel nicht einsetzt.
Nicht weiter reduzierenEin Teufelskreis. Denn einerseits hat
ein Patient in einem Zimmer, dessen
Oberflächen mit keimtötenden Substan-
zen desinfiziert wurden, ein geringe-
res Infektionsrisiko als in einem Raum,
in dem sich die mikrobiellen Hinterlas-
senschaften mehrerer Patientengenera-
tionen türmen. Insofern ist es plausibel,
dass die Verbände fordern, den Aspekten
des Gesundheitsschutzes einen wesent-
lich höheren Stellenwert einzuräumen.
Andererseits ist es sinnvoll, den Ein-
satz der Mittel streng zu regulieren, um
Resistenzbildungen sowie Umwelt- und
Gesundheitsschäden – etwa beim Perso-
nal, das den Wirkstoffen häufig ausge-
setzt ist – zu verhindern. Das dürfe aber
nicht zu einer weiteren Reduzierung
von Desinfektionswirkstoffen führen,
warnt der Verbund für angewandte
Hygiene. Das sei „im Sinne des öffent-
lichen Gesundheitsschutzes nicht mehr
hinzunehmen“.
dings dazu geführt, dass nicht nur die
Anwendung, sondern auch die Bewer-
tung und Zulassung neuer Biozide ein-
geschränkt wurde, bemängeln der Ver-
bund für Angewandte Hygiene sowie der
Industrieverband Hygiene e.V. und Ober-
flächenschutz für industrielle und insti-
tutionelle Anwendung. In einer gemein-
samen Erklärung kritisieren sie, dass die
Gesetze „vor allem auf Gefahren für die
Umwelt und das Personal abheben, ohne
die Bedeutung der Desinfektionsmittel
für den Gesundheitsschutz ausreichend
zu berücksichtigen“. Bestimmte Wirk-
stoffe, die in Desinfektionsmitteln ent-
halten sind und Bakterien wie Viren aus-
schalten können, seien für die Hy giene
in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen
und anderen öffentlichen Institutionen
unerlässlich. Ein Argument ist beispiels-
weise, dass angesichts des Fehlens neuer
Antibiotika die Bedeutung von Desinfek-
tionsmitteln umso wichtiger wird. Und
dass Bakterien, die Resistenzen gegen
Desinfektionsmittel entwickeln, keines-
wegs auch resistent gegen Antibiotika
werden. Weiter heißt es in der Stellung-
nahme, dass Eigenschaften der Antibio-
tikaresistenz üblicherweise nicht mit
einer erhöhten Resistenz gegenüber
Desinfektionsverfahren einhergehen.
Im Gegenteil, es liege zum Teil sogar
eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber
Desinfektionsmaßnahmen vor.
Trotzdem werde die Verwendung
einiger bewährter Wirkstoffe so stark
eingeschränkt, dass diese damit der
Hygiene in der Human- und Veterinär-
medizin praktisch nicht mehr zur
Verfügung stehen. Ein Beispiel dafür
sind Desinfektionsmittel vom Typ
der Aldehyde. Sie wirken gegen viele
Bakterien sowie Viren und gelten als
besonders geeignet für den Einsatz
an Geräten, die nicht mithilfe von Hit-
ze sterilisiert werden können. Doch
weil sie bei ständiger Anwendung
als krebserregend eingestuft wur-
den, können sie in Krankenhäu-
sern kaum noch eingesetzt wer-
den. „Deshalb ist es notwendig,
nicht nur die ‚abstrakte‘ Gefahr,
32 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
Immer wenn Klinikräume neu bezogen werden, siedeln auch jede Menge BAKTERIEN mit um. Das haben Forscher in den USA beobachtet.
Text: Sascha Karberg
Sie begleiten einen auf Schritt und
Tritt: Bakterien, die zu Abermilliarden auf
der Haut oder im Darm eines jeden Men-
schen leben. Das ist auch gut so. Einer-
seits helfen sie bei der Verdauung, trainie-
ren das Immunsystem und arbeiten auch
sonst einträchtig mit dem Körper zusam-
men. Andererseits werden diese Unter-
mieter unweigerlich mitgeschleppt, wenn
man ins Krankenhaus muss oder dort
arbeitet. Dann können selbst harmlose
Mikroorganismen zu gefürchteten Kran-
kenhauskeimen werden – und zu einer
tödlichen Gefahr, vor allem für immun-
geschwächte Patienten. Allein in Deutsch-
land infizieren sich jährlich rund eine hal-
be Million Menschen – mindestens 30.000
von ihnen sterben daran, schätzt die Deut-
sche Gesellschaft für Krankenhaushygiene
(DGKH). Forscher vom Mikrobiom-Zen-
trum der Universität Chicago haben die
Neueröffnung einer Klinik genutzt, um zu
beobachten, wie sie von Bakterien besie-
delt wird, welche Mikroben Pfleger, Ärzte
und Patienten einschleppen und wie sich
die mikrobielle Flora auf Türklinken oder
Bettgestellen verändert.
S
Wie MikroorganismenKrankenhäuser kapern
KRANKENHAUSHYGIENE MEDIZIN
DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017 33
Umweltkeime (wie Acinetobacter und
Pseudomonas) vorherrschten, breiteten
sich mit Einzug der Menschen vor allem
hauttypische Keime (wie Staphylokokken,
Streptokokken und Corynebakterien) aus.
In den Zimmern der Patienten, vor allem
an den Bettgestellen, fanden die Forscher
nach kurzer Zeit jene individuelle Mikro-
benzusammensetzung, die für den jeweili-
gen Patienten typisch war. „Innerhalb von
24 Stunden übernahm das Mikrobiom des
Patienten den Krankenhausraum“, sagt
Gilbert.
Kein einheitliches MusterDie Forscher stellten fest, dass sich auf
der Haut neuer Patienten – zumindest
anfangs – auch die Bakterien wiederfan-
den, die in den Räumen vorherrschten.
Erst danach übernahm die patiententypi-
sche Mikroorganismengemeinschaft den
Raum. Bei 92 Patienten, die über mehre-
re Monate im Krankenhaus bleiben muss-
ten und engmaschiger untersucht wur-
den, entdeckten die Forscher Bakterien
wie Staphylococcus aureus und Staphylo-
coccus epidermidis, die vor allem immun-
geschwächte Patienten infizieren können.
Varianten von Staphylococcus aureus, die
gegen das Reserveantibiotikum Methicil-
lin resistent sind, sind für schätzungswei-
se 30 Prozent aller Krankenhausinfektio-
nen verantwortlich. Tatsächlich fand man
im Erbgut einiger dieser Bakterien Gen-
varianten, die resistent gegen verschie-
dene Antibiotika machen und somit die
Gefahr einer nicht mehr zu kontrollieren-
den bakteriellen Infektion erhöhen. Ob
dafür der lange Aufenthalt ursächlich war,
oder sich solche Resistenzen auch nach
langer Krankheit und häuslicher Pflege zu
Hause finden würden, konnte die Studie
nicht klären. Ohnehin entdeckte Gilberts
Team die Spuren der resistenten Bakte-
rien nur selten auf der Haut der Patien-ILLU
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Im Februar 2013 eröffnete die Universität
von Chicago das Center for Care and Dis-covery; zwei Monate zuvor war das Team
von Jack Gilbert, Direktor des Mikro biom-
Zentrums der Uni, in dem Gebäude unter-
wegs. Bewaffnet mit Petrischalen, Tupfern
und anderem Handwerkszeug stellten sie
fest, welche Bakterien schon vor Inbetrieb-
nahme in den Räumen und an den Ein-
richtungsgegenständen existierten. Als
dann Ärzte, Pfleger und Patienten einzo-
gen, nahmen sie zehn Monate lang mehr
als 10.000 Proben – von Bettgestellen,
Armaturen, Fußböden und Abluftanla-
gen. Patienten und Pflegepersonal muss-
ten sich zudem Abstriche von Händen, aus
der Nase sowie den Achseln gefallen las-
sen. Dabei stellten die Forscher nicht nur
die Bakterienarten und ihre Häufigkeit
fest, sondern untersuchten in 6.523 Pro-
ben zudem das Erbgut der Mikroben nach
Genvarianten, die resistent gegen Antibio-
tika machen. Auch Temperatur und Luft-
feuchtigkeit in den Räumen zeichneten
die Forscher auf, um mögliche Einflüs-
se auf die Übertragung und Verbreitung
der Erreger erkennen zu können. Die Aus-
wertung der Daten dauerte Jahre. Im Mai
2017 schließlich wurden die Ergebnisse
im Fachblatt „Science Translational Medi-
cine“ veröffentlicht. Demnach nahm die
Anzahl und Unterschiedlichkeit der Bakte-
rien mit Beginn des Krankenhausbetriebs
erwartungsgemäß zu. Während anfangs
ten und viel häufiger auf den Oberflächen
der Krankenhausräumlichkeiten. Die Erb-
gutanalysen ergaben, dass vor allem Sta-
phylokokken- und Propionibakterien die-
se Resistenzgene tragen. Wie sich die
Keime, insbesondere die antibiotikaresis-
tenten, im Krankenhaus verbreiten, kann
auch Gilberts Studie nicht abschließend
klären. „Statistisch gesehen ist es wahr-
scheinlicher, dass das Krankenhausperso-
nal eine Quelle für Bakterien auf der Haut
von Patienten ist als umgekehrt“, schrei-
ben die Forscher. Allerdings sei kein ein-
heitliches Übertragungsmuster zu erken-
nen gewesen.
Temperatur fördert AusbreitungDie Art der Behandlung steht Gilberts Stu-
die zufolge jedenfalls nicht im Zusam-
menhang mit der Verbreitung der Keime:
Weder oral oder per Spritze verabreich-
te Antibiotika noch Chemotherapie sowie
operative Eingriffe änderten den Mikro-
benmix auf der Haut der Patienten. Allein
die Temperatur scheint die Ausbreitung
der Bakterien zu fördern: In den wärme-
ren Monaten tauschten Patienten und
Pflegepersonal vermehrt Mikroben aus.
Auch wenn die Studie den Weg der Keime,
insbesondere der hochinfektiösen und
resistenten, durch das Krankenhaus noch
nicht vollständig nachzeichnen kann, zei-
ge sie, so Gilbert, wie sehr die mikrobio-
logischen Gemeinschaften der Patienten-
haut und der Krankenhausoberflächen
miteinander verflochten sind und aufei-
nander reagieren.
UMWELT & TECHNIK KREUZFAHRTSCHIFFE
Schwimmende
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
Die Nordsee ist 40 Kilometer entfernt – und doch entstehen hier, am Ufer der schmalen Ems, jährlich zwei mehr als 300 Meter lange Kreuzfahrtschiffe. In dieser Nische hat die Meyer Werft einen weltweiten Marktanteil von 22 Prozent.
Text: Olaf Krohn Fotos: Patrick Ohligschläger
Schiffsgarage XXL: 335 Meter lang, 18 Decks hoch – die chinesische „World Dream“ verließ Mitte September 2017 die Meyer Werft in Papenburg. Das Schiff ist für 3.300 Passagiere und 1.700 Crewmitglieder ausgelegt. Es soll künftig von China aus unter anderem die Philippinen anlaufen
34
Freizeitparks
DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017 35
Und dann geht es abwärts, über steile
Behelfstreppen bis auf Deck 1, gewisser-
maßen in den Keller des Schiffs, sieben
Meter unter dem Meeresspiegel – wenn
der Ozeanriese denn eines Tages Wasser
unter dem Kiel hat. Überall Rohre, Lei-
tungen, Aggregate und in Kopfhöhe ein
vielfach eingeschnittener Schlauch, der
Frischluft in den Unterleib der „Norwe-
gian Bliss“ leitet. „Hier wird unter Ver-
wendung von Brenn- und Schutzgasen
geschweißt. Die Räume sind eng, da müs-
sen wir sichergehen, dass die Luft rein
ist“, sagt Wilfried de Haan. Er ist Mitglied
eines Freimesstrupps, der immer dann
vorausgeschickt wird, wenn Mitarbeiter
in hermetisch abgeriegelten Bereichen
arbeiten müssen.
De Haan aktiviert sein Gasmessgerät.
„Es hat vier Sensoren – je einen für Koh-
lendioxid, Kohlenmonoxid, Methan und
Sauerstoff.“ Hier unten, auf Deck 1, ist
für ihn immer noch nicht Schluss. Rasch
U
36 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
zwängt er sich durch eine kleine Öffnung
und klettert in die Finsternis – in einen
künftigen Flüssiggastank. Nach einiger
Zeit kommt er wieder zum Vorschein:
„Keine besonderen Auffälligkeiten bei
den Messungen!“ De Haan füllt ein Pro-
tokoll aus. Jetzt können seine Kollegen
hier bedenkenlos arbeiten. Sicherheits-
routine auf einer der modernsten Werf-
ten der Welt – 400- bis 600-mal im Monat
werden die Freimesstrupps angefordert.
Dr. Roland Wittig leitet auf der Meyer
Werft in Papenburg den Bereich Arbeits-
und Umweltschutz. „Die alte Formel ‚Ein
Schiff, ein Toter‘ gilt nicht mehr. Unse-
re Kollegen sollen gesund zur Arbeit
kommen und gesund wieder nach Hau-
se gehen!“ Dabei geht es dem studier-
ten Chemiker nicht nur darum, die Kol-
legen vor Arbeitsunfällen zu schützen.
„Wir ermitteln alle Arten von Gefährdun-
gen und Belastungen, auch psychische.
Das nimmt einen immer größeren Raum
ein.“ Vom klassischen Schiffbau, der gern
auch naserümpfend 3D-Industry (dirty,
dangerous, difficult; schmutzig, gefähr-
lich, schwierig) genannt wird, habe sich
die Werft meilenweit entfernt, wie Wit-
tig betont. „Das hier ist Hightech!“ Allein
500 Ingenieure stellen sicher, dass alle
sechs Monate ein neues Kreuzfahrtschiff
ausgeliefert wird, das möglichst noch grö-
ßer, grandioser und grüner ist als alles,
was die Seefahrt bis dahin gesehen hat.
Die Auslieferung ist jedes Mal ein Spek-
takel. Denn Kapitän, Steuermann sowie
diversen Schlepperbesatzungen steht ein
echter Balanceakt bevor, wenn sich der
neue Ozeanriese rückwärts der Nordsee
entgegentastet. Schiff und Fluss schei-
nen nicht zueinanderzupassen: oben die
350 Meter langen, 60 Meter hohen Stahl-
kolosse, unten ein schmaler Wasserlauf,
der dem Teutoburger Wald entspringt und
doch eher ein Habitat für Binnenschiffe
und Fischkutter bildet.
Nächster Schritt: Wasserstoff?„Immer eine Handbreit Wasser unter
dem Kiel!“ Diese geflügelten Worte, die
bei Schiffstaufen nicht fehlen dürfen, pas-
sen nirgends besser als bei den Ems-Über-
führungen der Meyer Werft. Zweimal im
Jahr staut das Sperrwerk in Gandersum
den Fluss an, bis die Fahrrinne eine Tiefe
von 8,50 Meter erreicht hat. Durch diesen
Geburtskanal muss jeder frischgebackene
Pott. Die Meyer Werft erfüllt alle Anforde-
rungen an einen typischen Hidden Cham-
pion: ein Familienunternehmen aus der
Provinz, das kaum jemand kennt, aber in
seinem Metier den Weltmarkt aufmischt.
So richtig verbergen kann es seine Akti-
vitäten im extrem flachen Westen Nie-
dersachsens nicht. Mit 75 Metern Höhe
stellen die Werfthallen alle Kirchtürme
in der Umgebung in den Schatten. „Wir
beschäftigen rund 3.500 eigene Mitarbei-
ter in Papenburg, haben durchschnittlich
aber 6.000 bis 7.000 Menschen auf dem
Gelände“, sagt Werftsprecher Günther
Kolbe. Es sind Mitarbeiter von zahllosen
Zulieferern, die Motoren, Aufzüge, Büh-
nentechnik oder einen Autoskooterpar-
cours in die Schiffe einbauen. Die Reede-
reien lassen ihre Schiffe mehr und mehr
zu schwimmenden Freizeitparks hoch-
rüsten – mit angeschlossener Großhotelle-
rie. Und die Schiffe wachsen immer wei-
ter: Mit der „AIDAnova“ wird die Meyer
Werft bald den ersten Kreuzfahrer vom
Stapel lassen, der ab Herbst 2018 mehr
als 5.000 Passagieren Platz bieten wird.
Und Meyer wäre nicht Meyer, wenn die
Werft damit nicht zugleich eine Weltur-
aufführung plante: Die „AIDAnova“ wird
das erste Kreuzfahrtschiff weltweit sein,
das weder Schweröl noch Marinediesel
verbrennt, sondern ausschließlich Flüs-
siggas (LNG). Ein Quantensprung in
einer Branche, die mit der Nutzung des
billigen, aber extrem schwefelhaltigen
Schweröls stark in der Kritik steht (siehe
auch Drägerheft 400, Seite 50-55). „Und
der nächste Schritt“, kündigt Kolbe an,
„könnte dann der Brennstoffzellenan-
trieb sein.“
Der Verband für Schiffbau und
Meerestechnik (VSM) nennt den Kreuz-
fahrtschiffbau die Königsdisziplin der
Werftindustrie. Die Meyer Werft hat in
den vergangenen Jahrzehnten ihre Pro-
duktion immer weiter perfektioniert.
Schon seit 1994 bildet Europas größtes
Laser zentrum das dortige Kernstück des
Platz für mehr als 5.000 Passagiere
Mit 100 dB Multitonalarm:Die Freimesstrupps der Meyer Werftverwenden das Mehrgas-Messgerät Dräger X-am 7000, das mit bis zu fünf Sensoren erhältlich ist. Es verfügt über eine optische 360-Grad-Rund-um-Warnfunktion und einen kreis-sägelauten 100-dB(A)-Multitonalarm
KREUZFAHRTSCHIFFE UMWELT & TECHNIK
37
Messen bietet Sicherheit:Wo mit Brenn- und Schutzgasen gearbeitet wird, hat die Prüfung der Luftqualität hohe Priorität. Dieser Mit-arbeiter der Meyer Werft (links) gehört einem Freimesstrupp an und kontrolliert einen Gasöltank – wenn die Luft rein ist, dürfen seine Kollegen hier arbeiten. Er nutzt dafür das Mehrgas-Messgerät X-am 7000 von Dräger (oben)
DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
K(l)eine Atempause:Doch eigentlich gibt es kei-nen Stillstand in der Meyer
Werft – die Auftragsbüchersind bis 2023 gefüllt
38 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
UMWELT & TECHNIK KREUZFAHRTSCHIFFE
Stahl bauzentrums. Die Produktion von
Passagierkabinen, Nasszellen und Rohren
hat man in Tochterunternehmen ausge-
lagert. Die eigentliche Schiffsfertigung
erinnert an Lego oder Duplo. Zunächst
entstehen kleinere Stahlsektionen, die
anschließend zu Blöcken verschweißt
werden – jeder mehrere hundert Tonnen
schwer. Ein Kreuzfahrtschiff entsteht aus
mehreren Dutzend Blöcken. Eigentlich
ein einleuchtendes Verfahren, dennoch
sind sie ein bizarrer Anblick: turmhohe
Strukturen ohne Bug und Heck; stählerne
Tortenstücke, als künftiges Schiff kaum
zu erkennen.
Trotz Brand: pünktliche Lieferung„Das Know-how, Kreuzfahrtschiffe kos-
tendeckend herzustellen, muss man sich
mühsam erarbeiten“, sagt Kolbe. Schon
1986 traf Firmenchef Bernard Meyer die
Entscheidung für eine Spezialisierung
auf große Passagierschiffe. In Deutsch-
land waren Kreuzfahrten seinerzeit vor
allem betuchten Pensionären mit ausge-
prägter sozialer Distinktion vorbehalten.
Erst ab 1996 mischte die Ur-Aida (heu-
te: „AIDAcara“) den Markt auf. Zwischen
2008 und 2016 schnellte die Zahl deut-
scher Hochsee-Urlauber von über 900.000
auf mehr als zwei Millionen. Während der
Bau von Tankern und Containerschif-
fen wegen Überkapazitäten weltweit fast
auf dem Trockenen liegt, erweisen sich
Kreuzfahrtschiffe als lukrative Nische, die
trotz diverser Enterversuche fernöstlicher
Werften weiterhin in europäischer Hand
ist. Frankreich, Italien, Deutschland und
Finnland sind die Länder, die den Welt-
markt beliefern, wobei das finnische Tur-
ku seit 2014 neben Papenburg ein zweiter
Meyer-Standort für den Bau von Hochsee-
schiffen ist. Der Anteil des Familienun-
ternehmens am Weltmarkt liegt derzeit
bei 22 Prozent, die Auftragsbücher sind
bis 2023 gefüllt.
Wenn eine Werft schon so ikonische
Produkte wie Traumschiffe baut, dann
wird sie eines Tages selbst zum Sehn-
suchtsort. Die Führungen im Besucher-
zentrum locken jährlich 250.000 Men-
schen an: Von Panoramafenstern aus
können sie auf die Produktion in der gro-
ßen Dockhalle hinabschauen und Schiffs-
modelle sowie Originalbauteile bestau-
nen. Das Zentrum war noch geschlossen,
als es im Herbst 2016 an einem Samstag-
morgen in der Dockhalle brannte: „Auf
Deck 9 der ‚Norwegian Joy‘ breitete sich
das Feuer rasend schnell aus“, erinnert
sich Erik Feimann. Der Chef der Werk-
feuerwehr musste damals Vollalarm für
ganz Papenburg auslösen. „Wegen der
großen Hitze war ein Innenangriff nicht
möglich.“ Doch auch die Brandbekämp-
fung von außen gestaltete sich aufgrund
der großen Höhe schwierig. „Glückli-
cherweise gab es keine Verletzten, dafür
aber einen enormen Sachschaden“,
erklärt Feimann. Als Konsequenz aus
diesem Vorfall beschaffte das Unterneh-
men für seine Werkfeuerwehr eine neue
Hubrettungsbühne mit einer Rettungs-
höhe von 51 Metern und einer Pumpen-
leistung von 5.000 Litern pro Minute.
90 Brandschützer gehören der Werkfeu-
erwehr an. „Wir üben natürlich auch
mit freiwilligen Feuerwehren“, sagt Fei-
mann. „Allerdings haben wir es hier mit
Schiffen zu tun, nicht mit Einfamilien-
häusern.“ Im Brandfall verursache der
Schiffsstahl eine enorme Hitzestrahlung.
Außerdem müssen die Feuerwehrleute
zur Brandbekämpfung möglichst in das
Schiff h inein. „Diese Innenangriffe füh-
ren über sehr weite Wege“, schildert Fei-
mann die besonderen Begleitumstände.
Auch deshalb setzt man auf Langzeit-
Atemschutz-Geräte und Wärmebildka-
meras von Dräger: „Die Kameras sollte
man stets bei sich haben, wenn man sich
bei null Sicht im Kriechgang durch das
Schiff bewegt.“ Übrigens: Die Norwegian
Joy, die vor einem Jahr durch den Brand
im Kabinenbereich so schweren Schaden
nahm, wurde ebenso pünktlich ausgelie-
fert wie alle anderen Kreuzfahrtschif-
fe zuvor. Das muss den Leuten von der
Meyer Werft auch erst mal einer nach-
machen.
Europas Werften dominieren den Markt
Stählernes Tortenstück: Kreuzfahrtschiffe entstehen nicht aus einem Guss, sondern aus zahlreichen Segmenten, die am Schluss zu einem kompletten Ganzen zusammengefügt werden
39
Rauchfrei: Die Meyer Werft baut für Aida Cruises das erste Kreuzfahrtschiff der Welt, das mit Flüssiggas angetrieben wird. www.draeger.com/402-39
Hoch hinaus:Kreuzfahrtschiffe sind keine Ein-familienhäuser, sondern Bauwerke von außerordentlichen Dimensio-nen. Um künftig auch Brände auf oberen Decks wirksam bekämpfen zu können, schaffte die Meyer Werft im Sommer 2017 ein Fahrzeug mit Hubrettungsbühne an, die sich auf bis zu 51 Meter Höhe ausfahren lässt
Gewusst, wo: In der Wache der Werkfeuerwehr lagern Ausrüstung und Dokumente
DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
Gründer
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 201740
Gute Aussichten:Matthias Schmittmann
(links) und Johannes Weber entwickelten ein
innovatives Gasmessgerät
GEFAHRSTOFFE NATUR & WISSENSCHAFT
41
„Ein auf Umweltanalysen speziali-
sierter Hochschullehrer“, nimmt Johan-
nes Weber den Faden auf, „zeigte uns das
Funktionsmuster eines Gaschromato-
graphen, mit dem sich Schadstoffe auf-
spüren lassen.“ Die beiden Endzwanziger
holen ein solches Exemplar in den Bespre-
chungsraum ihres Unternehmens, das als
Ausgründung der Technischen Universi-
tät Hamburg-Harburg ständiger Gast auf
dem Campus ist. Weber hält das Gerät
hoch, das an eine Laserkanone erinnert.
Was sie hingegen in zwei Jahren Entwick-
lungszeit daraus gemacht haben, ist klein
und handlich: das mobile Gasmessgerät
Dräger X-pid 9500 als Spitzenmodell einer
kleinen Reihe von Varianten.
„Damit“, so Matthias Schmittmann,
der neben seinem Studium zum Chemie-
ingenieur noch einen MBA draufsattelte,
„können wir präzise jede Menge flüchti-
ge Kohlenwasserstoffe bestimmen und in
kleinsten Konzentrationen messen.“ Vor
allem das krebserregende Benzol, für das
der EU-Grenzwert am Arbeitsplatz 2018
nochmals kräftig sinken wird (von 60 ppb
auf nur noch 6 ppb). Die Abkürzung ppb
steht für eine Konzentration von einem
Teil pro einer Milliarde anderer Teile
(parts per billion). „Schon heute liegt
allein in Hamburg das Grundrauschen an
Benzol zwischen einem und zwei ppb“,
ergänzt Johannes Weber, der sich als Wirt-
schaftsingenieur um die kaufmännischen
Dinge und die immer wichtiger werdende
Software des X-pid kümmert.
Selbst Laien können es bedienenBis das fertige Gerät allerdings vor ihnen
lag, war einiges zu tun. Dafür erwies sich
das Duo als ideales Gespann. Es erforsch-
te den Markt, befragte Anwender und
erkundete Potenziale. Die Idee reifte zu
einem Businessplan, der wiederum zu
einem Unternehmen. Das sammelte Prei-
se, warb um Förderungen und überzeugte
kritische Investoren. „Offenbar lagen wir
mit unserer Idee richtig“, sagt Schmitt-
mann. „Viele Start-ups“, ergänzt Weber,
„konzentrierten sich auf Service konzepte.
Mittlerweile scheint der Trend wieder zu
Geschäftsmodellen zu gehen, in denen
technische Innovationen im Mittelpunkt
stehen.“ Und genau darauf konzentrierte
E
mit guter NaseChemikalien können die Umwelt und die Gesundheit belasten. Deshalb gibt es Grenzwerte, deren Einhaltung von Gasmessgeräten überprüft werden kann. Das Hamburger Start-up BENTEKK hat mit seiner analytischen Messtechnik auch Dräger begeistert. Im Frühjahr 2017 erwarb der Lübecker Technologiekonzern eine 51-Prozent-Mehrheit an dem Unternehmen.
Text: Nils Schiffhauer Fotos: Patrick Ohligschläger
DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
sich das Start-up mit seinen mittler weile
elf Mitarbeitern: die technischen Verfah-
ren von Gaschromatograph (GC) und
Photoionisationsdetektor (PID) in ein
handliches Gerät zu transformieren.
„Entwickelt haben wir das Produkt eher
evolutionär“, blickt Schmittmann zurück.
Das ursprüngliche Muster ihres Profes-
sors eignete sich viel mehr für die Schad-
stoffmessung von Altlasten. „Doch“, so
Weber, „dieser Markt ist gesättigt. Labo-
re konkurrieren zu kleinen Preisen.“ Aber
Gefahrstoffmessungen in der Industrie, in
Raffinerien und auf Bohrinseln verspra-
chen einen lukrativen Markt. Dafür muss-
te die Technik allerdings sehr viel kleiner
werden und sich auch von Laien bedie-
nen lassen. Dabei spielte der Stromver-
brauch ebenso eine Rolle wie eine kurze
Messzeit. Lange Messzeiten bieten zwar
eine hohe Auflösung bei der Identifikati-
on verschiedener Substanzen, mindern
den Gebrauchswert jedoch drastisch.
Zunächst auf Benzol konzentriertHier kam das Duo auf innovative Lösun-
gen. So misst das Gerät laufend die
NATUR & WISSENSCHAFT GEFAHRSTOFFE
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 201742
Summe leichtflüchtiger Stoffe in der
Umgebungsluft. Johannes Weber nimmt
die Kappe von einem Filzstift, dessen
Lösungsmittel sich kaum bemerkbar im
Raum verteilt. Fast augenblicklich meldet
sich das X-pid. „Jetzt wissen wir zwar, dass
ein leichtflüchtiger Kohlenwasserstoff in
der Luft liegt, aber noch nicht, welcher.
Auch nicht, ob er krebserregend ist.“ Wur-
de im ersten Messmodus eine verdächti-
ge Substanz gefunden, lässt sie sich im
zweiten identifizieren und der Gehalt in
ppb oder ppm (parts per million) anzei-
gen. Eine ebenso clevere wie praxisnahe
Methode, deren technisches Kernstück
sich die Erfinder patentieren ließen.
einführung.“ Im Frühjahr 2017 erwarb
Dräger 51 Prozent der Anteile des Unter-
nehmens. Aus dem bentekk X-PID wurde
das Dräger X-pid 9000 und 9500. Letzte-
res misst mehr Zielstoffe und lässt sich
vom Benutzer konfigurieren. Beide Vari-
anten wurden erstmals auf der Düssel-
dorfer Arbeitsschutzmesse A+A im Okto-
ber 2017 präsentiert und sollen künftig
explosionsgeschützt ausgeliefert werden.
„Hierfür haben wir das eigentliche
Messgerät von der Einheit zur Anzeige,
Steuerung und Messdatenauswertung
getrennt“, erläutert Johannes Weber das
Konzept, das eine explosionsgeschützte
Sensoreinheit mit einem ebenfalls explosi-
onsgeschützten Android-Smartphone über
Bluetooth verbindet. „Wir hätten Jahre
gebraucht, um selbst ein ex-geschütztes
Kommunikationsmodul zu entwickeln,
das die Daten unseres Messgeräts nicht
zuletzt auch via Mobilfunk an beliebigen
Orten verfügbar macht.“ Konsequent ver-
stehen sie das X-pid als Teil des Internet of Things (IoT), wobei natürlich die Informa-
tionen nur geschützt übertragen werden.
Nach drei Jahren ist aus der Idee ein
Produkt entstanden, das Dräger als ein
weltweit führendes Unternehmen in der
Gasmesstechnik restlos überzeugte. „Es
war gut, dass wir von den Kenntnissen
und Interessen her breit aufgestellt sind –
Chemie, Hardware, Software, Betriebs-
wirtschaft“, sagt Matthias Schmittmann.
Ihr Elan lässt daran zweifeln, ob alle
Vorurteile über die Generation Y auch
wirklich stimmen.
Auf und davon: Das Dräger X-pid misst leichtflüchtige Gefahrstof-fe in der Umgebungsluft und zeigt ihre Konzentration im Milliardstelbereich an
Von der ersten Idee bis zum fertigen Produkt vergingen gerade mal drei Jahre
„Unser Vorteil war“, erklärt Schmittmann,
„dass wir uns zunächst auf das besonders
kritische Benzol konzentriert und unser
Gerät erst dann schrittweise um weitere
Stoffgruppen erweitert haben.“ Das ist
in erster Linie eine Frage der Software.
Sie ordnet die Messwerte (nach Intensität
und Zeit) selbst dann noch den richtigen
Stoffen zu, wenn die gemessenen Roh-
daten gewissermaßen ineinanderlaufen.
Das blieb nicht unbemerkt. Auch Dräger
wurde auf die Innovatoren aufmerksam.
„Die waren von der Technologie begeis-
tert“, erinnert sich Johannes Weber, „und
unterstützen uns seit ihrem Einstieg vor
allem bei der bevorstehenden Markt-
43DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
So funktioniert das X-pidDas Gerät kombiniert zwei verschiedene Technologien, um die Konzentration bestimmter Stoffe in Gasen anzuzeigen: Die Gaschromatographie (GC) trennt unterschiedliche Moleküle voneinander. Hierzu durchläuft die Umgebungsluft eine Trennsäule, die unterschiedlich großen Molekülen unterschiedliche Widerstände entgegensetzt. Im Ergebnis treten kleine und leichtflüchtige Stoffe als Erstes aus der Säule aus, während größere und schwerflüchtige später den Ausgang erreichen. Jedes Molekül benötigt dafür eine gewisse Zeit (Retentionszeit). Je länger die Säule, desto präziser die Trennung der Molekü-le – desto länger ist allerdings auch die Mess-zeit. Beim X-pid ist die Säule in ihrer optimierten Länge wie eine Spule aufgewickelt, um einer-seits das physikalisch erforderliche Maß mit den andererseits geringen Abmessungen des Gerätes zu kombinieren.An die Gaschromatographie schließt sich der Photoionisationsdetektor (PID) an. Das vom Ausgang der Trennsäule kommende Gas wird durch UV-Licht ionisiert: Das energiereiche Licht schlägt Elektronen aus spezifischen Molekülgruppen heraus. Dadurch entsteht ein elektrisch leitfähiges Gas, ein kaltes Plasma. Trifft es auf den Detektor, wird ein Raum zwischen zwei Drähten leitend, und es fließt ein Strom. Durch Trennung der Stoffe im Gaschromatographen sowie deren nachfolgende Ionisierung und Detektion entsteht das charak-teristische Muster einer Probe. Jeder detektierte Stoff zeichnet sich als Zacken (Peak) auf einer Zeitskala ab. An deren Anfang finden sich leichtflüchtige Stoffe, während im weiteren Verlauf immer schwerflüchtigere Moleküle folgen. Die Trennung eng beieinanderliegender Peaks sowie den weitgehenden Schutz vor Wechselwirkungen der einzelnen Substanzen (Querempfindlichkeit) stellen komplexe mathematische Verfahren sicher.
Mittels Gaschromatographie werden unterschiedliche Moleküle voneinander getrennt: Sie verlassen die Trennsäulen in unterschiedlichen zeitlichen Abständen.
Im Sensormodul wird die aus der Trennsäule kommende Luft ionisiert. Bestimmte Bestandteile werden dadurch elektrisch leitend und im eigentlichen Sensor nach Menge und zeitlichem Auftreten registriert.
Auswertung: Auf einer Skala zeichnen sich daraufhin bestimmte Stoffe nach ihrem zeitlichen Eintreffen (Position) und ihrer Menge (Stärke) ab. Leistungsstarke Algorithmen trennen ineinanderlaufende Kurven und ordnen sie über Daten-banken den spezifischen Substanzen – nach Art und Konzentration – zu.
Stoßsicher verpackt ist das Gasmessgerät samt Zubehör. Seine Entwicklung verlief nicht immer so gut gepolstert. Doch die Macher hatten stets eine neue Idee parat
Signal
Zeit
Das linke Triebwerk brennt. „Bird
strike!“, meldet der Kontrollturm den
Feuerwehrleuten per Funk: Vogelschlag.
Ein Schwarm ist in das Triebwerk gera-
ten. Notlandung. Vier Löschfahrzeuge
rasen heran, nähern sich dem Airbus
A320 – zwei zielen mit ihren Dachwerfern
mehrere Minuten direkt auf das gewalti-
D
Brennt ein Flugzeug, sind die ersten Minuten die wichtigsten, um die Passagiere zu retten. Auch deshalb müssen Feuerwehr-leute immer wieder praxisnah trainieren – wie im französischen Châteauroux.
Text: Michael Neubauer Fotos: Patrick Ohligschläger
Flammenim Flieger
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 201744
FEUERWEHR BRANDSIMULATION
ge Feuer. „Das gefällt mir gut“, sagt Gil-
les Vidalie, Ausbilder am Centre Français
de Formation des Pompiers d’Aéroport
(C2FPA). Er steht am Fenster eines Kon-
trollraums und schaut der Übung aus
sicherer Entfernung zu. „Die Männer
haben die Fahrzeuge gut positioniert.“
Vidalie macht sich Notizen, und wird die
Brandschützer nachher loben. Der 48-jäh-
rige Franzose, der zuvor bei der Pariser
Feuerwehr und am Flughafen von Poitiers
gearbeitet hat, lehrt seit elf Jahren am Aus-
bildungszentrum der französischen Flug-
hafenfeuerwehr. Der Airbus ist nur eine
Attrappe: ein rostbrauner Brandsimulator
aus Cortenstahl. „Intervention beendet“,
melden die Brandschützer per Funk. Das
Feuer ist gelöscht. Seit 2007 üben Flugha-
fenfeuerwehrleute auf dem 15 Hektar gro-
ßen Gelände des C2FPA. Hier, in der Nähe
von Châteauroux, rund drei Autostunden
südlich von Paris, lernen sie, wie man mit
gefährlichen Situationen umgehen muss.
Nicht weit vom A320 steht der größte
Simulator der Welt, der einer Boeing 747.
Während nur wenige Hundert Meter ent-
fernt, auf einem ehemaligen Nato-Flugha-
Bodenattrappe: Die stählernen Flugzeuge bei Châteauroux heben nie ab – denn sie sollen brennen, immer wieder
45DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
46
fen, Frachtmaschinen starten und landen,
heben diese Simulatoren nie ab. Stattdes-
sen brennen sie, immer wieder. Dafür
sind sie gemacht. Ob Rumpf, Flügel, Fahr-
werk, Triebwerke, Cockpit, Decke, Kabi-
ne, Toiletten oder Frachtraum: Insgesamt
bieten beide Anlagen dreißig verschiedene
Stellen, an denen Feuer ausbrechen kann.
Auch ein Flächenbrand auf dem Rollfeld
lässt sich simulieren. Die Anlagen stam-
men von Dräger, ebenso wie die Technik-
räume samt Steuerung per Fernbedie-
nung. Auch die Zufuhr von flüssigem
und gasförmigem Propan, die Versor-
gung mit Druckluft sowie die Kühlung der
Simulatoren mit Wasser erfolgen mittels
Dräger-Technik. Bei den Übungen müssen
die Männer unter schwerem Atemschutz
in den Bauch der Flugzeuge vordringen,
Türen aufschneiden und Überlebende ret-
ten – dabei werden sie von dichtem Rauch
eingenebelt. Die Ausbilder können über
Lautsprecher Menschengeschrei ertönen
lassen, um den Stress der Teilnehmer zu
erhöhen. „Wichtig ist, dass die Schulungs-
inhalte realitätsnah sind“, sagt Gilles Vida-
lie. Am Ende seien die Männer selbstsiche-
rer, weil sie wüssten, wie sie im Ernstfall
zu reagieren haben. Im Vergleich zu den
Kameraden in der Stadt müssten Ein-
satzkräfte am Flughafen vor allem eines:
wesentlich schneller intervenieren.
Oft überhitzen die BremsenIn dieser Woche trainiert hier die Flugha-
fenfeuerwehr Luxemburg. Die neun Män-
ner kommen in den Besprechungsraum,
legen ihre schwere Montur ab und setzen
sich auf die Bank. Die letzte Übung sei
schon besser gelaufen als die davor, berich-
tet einer von ihnen. Da musste er mit dem
Löschschlauch am Simulator die überhitz-
ten Bremsen kühlen und hatte sich dafür
am Fahrwerk falsch positioniert: „Wegen
der enormen Hitze können Felgen oder
Reifenteile mit großer Wucht davonflie-
gen. Deshalb sollte man bei Löscharbei-
ten immer darauf achten, sich in einem
bestimmten Winkel hinzustellen.“ Die
Brandschützer haben den theoretischen
Teil der Ausbildung bereits hinter sich. Am
Morgen haben sie eine schriftliche Prü-
fung abgelegt. Jetzt muss die Praxis trai-
niert werden. Zu Hause können sie keine
Übungen dieser Größenordnung durch-
führen. „Es ist wichtig, die Erfahrung zu
machen und derartige Feuersbrünste zu
erleben“, sagt einer der Luxemburger
Brandschützer.
Die ausrangierte Boeing 747 stand
einst im Dienst von Air France. An die-
Viele Menschen haben Angst vordem Fliegen – schwere Unfälle ereignen sich allerdings selten
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
Kontrolliert: Ausbilder Gilles Vidalie plant, überwacht und dokumentiert die Abläufe der Trainings
47
ser Maschine wird auch geübt, wie sie
sich belüften lässt, damit die Passagiere
nicht im Rauch ersticken. In unmittelba-
rer Nähe liegt eine Boeing 737 ohne Fahr-
werk, die Flugzeugspitze ist bereits von
Gras umwachsen: ein simulierter Crash.
Die Flügel sind abgerissen, einige Sitze
liegen draußen verstreut. Auch im Inne-
ren sieht alles sehr mitgenommen aus.
Schwere, Menschenkörpern ähnliche,
Puppen liegen in den Gängen. Auch hier
üben die Feuerwehrleute das Retten und
Bergen von Unfallopfern. Oft berührt sie
diese Aufgabe mehr als die Löscharbeiten.
Schwere Flugzeugunfälle mit Toten
ereignen sich relativ selten. 2017 wurde
ein neuer („sensationell niedriger“) Wert
für die Flugsicherheit in der weltweiten
Luftfahrt gemeldet. Nach einer Analyse
des JACDEC (Jet Airliner Crash Data Eva-
luation Centre), dem Hamburger Flugun-
fallbüro, sank die Zahl der Todesopfer bei
Flugunfällen im ersten Halbjahr 2017 auf
16, im Vorjahreszeitraum waren es noch
175. Ganz aber lassen sich solche Unfälle
nicht vermeiden. Dank der Flughafenfeu-
erwehren kommen die Passagiere meist
glimpflich davon. Zum Beispiel, wenn ein
Flugzeug von der Start- oder Landebahn
abkommt und in die Rasenfläche rutscht.
Nicht selten überhitzen die Bremsen, etwa
wenn der Pilot den Start plötzlich abbre-
chen muss. Dann ist es Aufgabe der Flug-
hafenfeuerwehr sie zu kühlen, damit erst
gar kein Feuer entsteht. „Der Start ist
eine kritische Phase“, fügt Jean-Michel
Feuer in der Passagierkabine: Ein Brandschützer kämpft sich
mit schwerer Ausrüstung ins Innere des Brandsimulators vor
Auf Abstand: Per Fernbedienung können die Ausbilder die Feuer an den Simulatoren zünden und löschen
Rohr frei: Den Trainingsteilnehmern stehen mehrere Löschfahrzeuge
zur Verfügung. Sie müssen lernen, dieWasserkanone möglichst effektiv auf den
Brandherd am Flugzeug auszurichten
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
FEUERWEHR BRANDSIMULATION
48
Azémar, Vorsitzender des Trainingszen-
trums, hinzu. Die Triebwerke geben vol-
len Schub, damit die Maschine abheben
kann und schnell an Höhe gewinnt. In
dieser Phase darf es keine Panne geben.
Azémar sitzt im Schulungszentrum vor
einem Modell der Boeing 747 und zeigt
auf die zehn Ausgänge. „Wenn es an Bord
brennt, sind die ersten Sekunden die wich-
tigsten.“ Sie entscheiden über Leben und
Tod der Passagiere, die binnen weniger
als 90 Sekunden evakuiert werden sollten.
Die Europäische Flugsicherheits-
behörde (EASA) verpflichtet Flughafen-
feuerwehren in Europa dazu, Übungen
zur Brandbekämpfung in regelmäßigen
Abständen durchzuführen. Die Brand-
schützer haben eine Basisausbildung,
zudem eine spezialisierte Fortbildung. „Je
größer die Flugzeuge, desto umfangrei-
cher die Sicherheitsvorschriften“, so Azé-
mar. Viele Brandschützer erleben in ihrer
Laufbahn nie einen solch schweren Ein-
satz. Dennoch müssen sie dafür gewapp-
net sein. „Wenn es wirklich dazu kommt,
dürfen einem keine Fehler unterlaufen“,
erklärt Azémar. Auch deshalb seien prakti-
sche Übungen an Simulatoren so wichtig.
Nur wenige Trainingszentren weltweit
können eine derartige Ausbildung anbie-
ten; das C2FPA gehört dazu. 35 französi-
sche Flughäfen haben 2003 gemeinsam
mit der Union der französischen Flug-
häfen (UAF) 15 Millionen Euro in die
Struktur des C2FPA investiert – darun-
ter vor allem die Betreibergesellschaft
der Pariser Flughäfen Aéroports de Paris
(ADP) sowie Paris-Charles de Gaulle, einer
der zehn größten Passagierflughäfen der
Welt. Unter den Ausbildungszentren, die
sich auf die Feuerwehrausbildung spezi-
alisiert haben, ist das C2FPA mit seinem
„Trainair plus Programm“ weltweit das
einzige, das durch die Internationale Zivil-
luftfahrt-Organisation (ICAO) zertifiziert
ist. So erhalten ausländische Feuerwehr-
leute ein Zertifikat, das in ihrem Heimat-
land anerkannt wird. Seit elf Jahren fin-
den hier bereits Schulungen statt, jährlich
nehmen rund 1.000 Brandschützer daran
teil. Die verschiedenen Programme dau-
ern zwei bis drei Wochen. Feuerwehrleu-
te aus Belgien, Luxemburg, der Schweiz
oder Polen kamen bereits hierher; eben-
so wie aus den französischen Übersee-
departements und -gebieten, darunter
Brandschützer der Flughäfen von Fran-
zösisch-Polynesien.
Ohne Training regiert die AngstFeuerwehrleute müssen im Falle einer
Katastrophe einen kühlen Kopf bewah-
ren und lernen, mit ihrer Angst umzu-
gehen. „Wenn man nicht weiß, was auf
einen zukommt, hat man in der Regel
Fitnesstrainer der besonderen Art: Die Teilnehmer mit allen möglichen Brand- und Katastrophenszenarien vertraut zu machen, das ist sein Ziel: Jean-Michel Azémar, Chef des Trainingszentrums C2FPA auf dem Übungsgelände in Châteauroux
Feuerpause: Die Trainingsteilnehmer besprechen vor und nach jeder Übung, worauf es ankommt – und wie es ihnen ergangen ist
Jährlich trainieren hier rund 1.000 Brandschützer aus aller Welt
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
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Gefahr am Himmel:Zusammenstöße mit Vögeln sind gefürchtet – im schlimmsten Fall können sie ein Flugzeug zum Absturz bringen. www.draeger.com/402-49
Angst“, erklärt Azémar. Tote, Schwer-
verletzte, Feuer, Dunkelheit, Rauch und
Schreie – aber auch die Situation für einen
Gruppenchef, der mit nur sechs Mann bei
einem Flugzeugabsturz vor Ort ist, kann
belastend sein. Er muss binnen weniger
Sekunden die Lage analysieren und dann
die richtigen Befehle geben: „In diesen
Momenten kann man sich sehr einsam
fühlen“, weiß Azémar. Es gibt Überlegun-
gen, eine virtuelle Simulationsplattform
für Flugzeugbrände anzubieten. „Stellen
Sie sich einen Flugzeugcrash vor, bei dem
500 Passagiere über Notrutschen aus der
Maschine drängen.“ Eine echte Übung
mit so vielen Menschen sei nicht zu leis-
ten. Aber mit einem Simulator, vergleich-
bar mit einem Videospiel, wäre das mög-
lich. Die praktische Ausbildung an den
Brandsimulatoren werde es natürlich
weiterhin geben: „Der Feuerwehrmann
muss mit dem Feuer in Kontakt sein, das
ist lebensnotwendig“, sagt Azémar.
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
FEUERWEHR BRANDSIMULATION
Umweltschutz rund um die Feuerhölle Die Gesetze in Frankreich verbieten Brandschutzübungen mit Kerosin. Die Brandsimulatoren B747 und A320 arbeiten deshalb mit flüssigem (außerhalb des Simulators) und gasförmigem Propan (innerhalb). Propan setzt beim Verbrennen – im Gegensatz zu Kerosin – weniger Rauch, Kohlenmonoxid und -dioxid frei. „Die Simulatoren arbeiten sehr umwelt-freundlich“, sagt C2FPA-Präsident Jean-Michel Azémar. „Das Feuer sieht einem Kerosinfeuer sehr ähnlich.“ Für die Brandschutzübungen verbraucht das Trainingszentrum rund 100 Tonnen Propan im Jahr. Die Feuer werden vom Kontrollraum aus gesteuert, per Computer oder Fernbedienung. Es gibt zwei Möglichkeiten, sie zu beenden. Das Gas kann manuell abgestellt werden oder automatisch: Sobald man ausreichend Wasser auf die Feuer-stellen gespritzt, und sich so die Temperatur des Brandherds reduziert hat, mindern Sensoren die Gaszufuhr. „Ziel ist es, Brandschützer mit einer möglichst realen Situation zu konfrontieren“, betont Jean-Luc Vogler-Finck von Dräger. Auch in Sachen Löschwasser setzt das C2FPA auf eine umweltfreundliche Lösung. Es wird gereinigt, in ein Rückhaltebecken geleitet und bei kommenden Übungen wieder verwendet. Die Teilnehmer können auch mit speziellem Übungsschaum löschen. Die Rückstände werden dann in einer Kläranlage aufbereitet.
Schöner parken: In diesem Gebäude, am Rande des Übungsgeländes,sind die Löschfahrzeuge untergebracht
50
Routiniertes Netzwerk:Dräger TGM-Servicetechniker
Christopher Joost unterwegs mit einem Ultraschallgerät im Zentral-
OP des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Kiel
„Wir tragen das
MEDIZINTECHNIK WIRTSCHAFT
DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017 Risiko“51
Service aus einer Hand, auch für heterogene Gerätelandschaften: Das ist nicht nur der Traum vieler Kliniken, sondern zugleich das Geschäftsmodell des TECHNISCHEN-GERÄTEMANAGEMENTS von Dräger. So gewährleistet man höchste Verfügbarkeit – wie etwa am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein.
Text: Constanze Sanders Fotos: Patrick Ohligschläger
Erfolg besteht darin, dass man über
genau die Fähigkeit verfügt, die im
Moment gefragt ist. Was ein amerikani-
scher Automobilkonstrukteur zur Grund-
lage der Arbeitsteilung erklärte, weiß auch
Christopher Joost, wenn er morgens um
halb sieben in die Werkstatt kommt. Im
Haus 11 auf dem Gelände des Universi-
tätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH)
prüft der Medizintechniker zuerst, welche
Station ihn sofort braucht. „Jeden Mor-
gen checke ich meine Mails und sehe, was
über Nacht reingekommen ist.“ Mit sei-
nen Kollegen von Dräger TGM sorgt er
dafür, dass auf dem Kieler Campus des
UKSH kein Schräubchen locker bleibt.
„Schon ein kleines defektes Einzelteil
kann einen Magnetresonanztomographen
oder ein Beatmungsgerät rasch zum Still-
stand bringen“, weiß Joost. „So etwas hat
dann oberste Priorität.“
Seit 2010 befindet sich der Service
für die Medizintechnik am UKSH in der
Hand Drägers. Größe und Komplexität
des Klinikums – mit seinen rund 13.000
Mitarbeitern, 85 Kliniken, Instituten und
der medizinischen Spitzenforschung in
Lübeck und Kiel – waren ein Hauptgrund
dafür, die technische Kompetenz arbeits-
teilig an einen Systempartner zu übertra-
gen. Dräger TGM nimmt dem UKSH das
technische Gerätemanagement herstel-
lerübergreifend ab. Im vergangenen Jahr
wurde der Vertrag um weitere fünf Jahre
verlängert. „Unsere Medizin- und Service-
techniker sorgen für den zielgerichteten
Einsatz der Geräte und koordinieren den
wirtschaftlichen Gebrauch innerhalb der
Klinik“, sagt Projektleiter Sven Wach, der
in Kiel das TGM-Budget im Blick behält.
98 Prozent VerfügbarkeitNeun Techniker sind täglich allein auf
dem weitläufigen Kieler Areal unter-
wegs. Jeder von ihnen ist verantwort-
lich für einzelne Gebäude, zudem auf
bestimmte Geräte spezialisiert. „Wir
haben ein Störmeldemodul“, sagt Joost.
„Schwestern und Pfleger können rund um
die Uhr jedes Gerät anhand einer Num-
mer online als defekt melden.“ Das Fin-
gerspitzengefühl dafür, was sofort erle-
digt werden muss, resultiert aus dem
engen Kontakt zum Klinikpersonal. Drä-
ger gewährleistet 95 Prozent Betriebsbe-
reitschaft für die normale und 98 für die
diffizile Technik des operativen Betriebs.
„Wir tragen das Risiko“, sagt Christopher
Eggert, TGM-Regionalleiter für Schleswig-
Holstein und Hamburg. Etwa 65.000 doku-
mentierte Gerätebewegungen gibt es pro
Jahr. Das bedeutet: 180 Aufgaben und Ein-
sätze pro Tag – für 25 Mitarbeiter in den
Bereichen Technik, Support und Verwal-
tung in Lübeck und Kiel.
Die Vorteile für die Klinik liegen auf
der Hand: Die Technikexperten im Haus
bieten einen One-Stop-Shop für Repa-
ratur, Ersatz- und Leihgeräte, Instand-
haltung sowie Administration – egal um
welchen Hersteller es geht. Der hat gleich-
zeitig einen zentralen Ansprechpartner
für den störungsfreien Betrieb seiner Pro-
dukte. Dräger TGM ist Schnittstelle und
Dienstleister für beide und verschafft der
Klinik so Freiräume für die Patientenver-
sorgung. Dafür zahlt das UKSH jährlich
einen festen Millionenbetrag. Ausfallzei-
ten werden elektronisch erfasst und minu-
tiös abgerechnet. Die umfangreiche Doku-
mentation stützt die für Ärzte und Pfleger
gesetzlich vorgeschriebene Rechenschafts-
pflicht und Beweissicherung. Dazu zählen
Zeitpunkt der Abschaltung und Prüfung,
E
52 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
Alles im Griff: Sauber geordnet, sichert das Werkstattzubehör höchste Verfügbarkeit
Täglicher Teamcheck: stellvertretender Pflegedienst-leiter Patrick Ehlers (links) und Christopher Joost an einem Überwachungsmonitor (Typ: Dräger Infinity M540)
samt Ergebnis der Prüfung – jeder Schritt
ein Eintrag. Die Stationen sehen den Sta-
tus der Reparatur im System inklusive der
voraussichtlichen Fertigstellung. „Wir wol-
len so transparent wie möglich sein“, sagt
Eggert. Zwischen den 25 Kieler Campus-
gebäuden bringt es TGM-Techniker Joost
täglich auf etliche Kilometer, wenn er ein
defektes Gerät abholt oder ein reparier-
tes zurückbringt. Jedes Kabel, jeder Sen-
sor, jeder Schlauch kann ausgetauscht
werden. Werkstätten und Ersatzteillager
ermöglichen Reparaturen vor Ort.
Firstline-Service im MedizinbetriebJoost und seine Kollegen arbeiten im
Team mit Schwestern, Pflegern und Ärz-
ten, um Fehler zu beheben und Anwen-
dungen zu verbessern. „Wir sind immer
hochinteressiert, was los ist mit der
Maschine“, sagt Oberarzt Dr. Dirk Schäd-
ler. „Zumal wir meldepflichtig sind.“ Ist
ein Gerät auf der Station defekt, nimmt
es Joost sofort außer Betrieb. „Der per-
sönliche Kontakt ist den Anwendern sehr
wichtig“, sagt Projektleiter Wach. „Das
verbessert natürlich die Kommunikation
und spart letztlich Kosten.“ Gemeinsa-
mes Ziel ist die Sicherheit aller Patienten.
Auch unterwegs sind die Techniker über
ihre Pieper sofort zur Stelle und machen
als Erstes eine Fehleranalyse. Mit Einfüh-
lungsvermögen und technischem Know-
how entspannt der Firstline-Service die
akute Behandlungssituation und hilft, in
der Hektik des Medizinbetriebs Fehler zu
vermeiden. Eine falsche Einstellung oder
Verkabelung am Gerät ist schnell beho-
ben. „Es geht auch um Reaktionszeiten“,
so Wach. „Alle Hersteller haben ein Inter-
esse daran, dass ihre Geräte möglichst zu
100 Prozent funktionieren.“ Das will auch
Dräger TGM, denn der Fremdservice geht
zulasten des eigenen Budgets. Make-or-
buy-Entscheidungen gehören daher zu
den täglichen Herausforderungen der
Techniker. Sie gehen nur an die Gerä-
te, für die sie geschult und zugelassen
sind. Alles andere geht an den betreffen-
den Hersteller. Das Krankenhaus gewinnt
dabei Planungssicherheit. Mit Patrick
Ehlers arbeitet Joost oft zusammen. Als
stellvertretender Pflegedienstleiter ist er
auch Gerätebeauftragter. „Da wir nonstop
mit den verschiedenen Produkten arbei-
ten, kann auch mal eins beschädigt wer-
den.“ Ehlers hat Ausstattung und Zube-
hör ständig im Blick und den direkten
Draht zum Servicetechniker. Anästhesie-
und Intensivbeatmungsgeräte laufen oft
rund um die Uhr, teilweise wochenlang.
„Dennoch fallen die Geräte extrem selten
aus“, sagt Oberarzt Schädler. Und wenn
doch? „Dann haben wir immer Handbe-
atmungsbeutel griffbereit. Wir können
das Gerät sofort vom Patienten trennen
und mit der Hand weiter beatmen. In der
Zwischenzeit suchen wir uns ein Ersatz-
gerät.“ Das UKSH funktioniert als routi-
niertes Netzwerk für ein komplexes Inst-
rumentarium, das Dräger TGM effizient
ausstattet, organisiert und optimiert. Weil
sich Ausfälle nicht völlig vermeiden las-
sen, gibt es für jede Funktion – ob Beat-
mung, Dialyse oder Infusionstechnik –
Ein gemeinsamesZiel: die Sicherheit aller Patienten
53DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
MEDIZINTECHNIK WIRTSCHAFT
Leasing: Am UKSH in Kiel hält Dräger TGM eine voll ausgestattete Intensivstation bereit – gegen Gebühr kann die Klinik frei darüber verfügen. www.draeger.com/402-53
Lupenreine Präzision: Reparieren mit Know-how und Leidenschaft – auch für daskleinste Detail. Denn auchdas trägt zumErfolg und zur Sicherheit bei
Den Druck mindern: Vor-Ort-Service
an einem mobilen Sauerstoffgerät
tet und überprüft werden. Besonderheiten
inklusive, wie das durch ein halbes Dut-
zend Schleusen gesicherte Reinraumla-
bor, in dem an Nanosensoren geforscht
wird. An einem Termin im Jahr wird es
komplett stillgelegt, damit alle Wartungs-
arbeiten erledigt werden können.
Auch im UKSH richtet sich die Prüf-
routine nach dem Medizinproduktegesetz
(MPG) und individuellen Vorschriften der
Hersteller. Die umfassende Gerätedatei
im Dräger TGM-Support enthält pro Ein-
heit eine Prüfkarte mit Daten zu den frist-
gemäßen Sicht- oder Funktionsprüfungen.
„Das machen wir in der Regel selbst“, sagt
Eggert. Gleiches gelte für Instandsetzun-
gen, wenn das TGM-Personal entspre-
chend geschult ist. Die Digitalisierung hat
längst die Medizintechnik erreicht. Beat-
mungs- oder bildgebende Ultraschall- und
Radiologiegeräte sind softwaregesteuert
und bieten detaillierte und schnelle Aus-
wertungs- wie Kommunikationsmöglich-
keiten für Ärzte und Pfleger. Die Vernet-
zung mit dem Kliniksystem sichert die
laufende Überwachung der Patienten.
„Diese Schnittstellen sind die große He-
rausforderung“, sagt Eggert. Ein Monitor
sendet die Vitaldaten in Echtzeit an die
Zentrale, wo der Nachtdienst kontrolliert,
ob es dem Patienten gut geht. „Fällt für
zehn Sekunden das Netzwerk aus, muss
sofort eingegriffen und die Unterbre-
chung aufgehoben werden.“
IT-Netzwerkrisiko minimierenDie Norm IEC 80001 empfiehlt daher eine
Risikonanalyse für jede Schnittstelle zwi-
schen Medizinprodukt und verbundenem
Netzwerk: Was passiert bei einem Aus-
fall? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit,
dass es ausfällt? Wie lassen sich die Risi-
ken eindämmen? Dräger bietet als bislang
einziges Unternehmen bundesweit eine
IHK-zertifizierte Ausbildung zum Medical-
IT-Network-Riskmanager an (siehe auch:
Drägerheft 401, Seite 15). Dieser soll die
IT-Sicherheit in komplex vernetzten Kli-
niksystemen gewährleisten. Das UKSH
plant, einen zentralen Risikomanager ein-
zustellen, der die geforderten Risikobewer-
tungen erarbeitet. „Man sollte auf Cyber-
Angriffe vorbereitet sein“, sagt Eggert.
Rund 150 Einrichtungen
und Kliniken betreut die Dräger
TGM GmbH in Deutschland –
darunter auch das Universitäts-
klinikum Schleswig Holstein (UKSH).
Hier werden jährlich etwa 15.000
Störmeldungen bearbeitet und
10.000 Reparaturen durchgeführt.
Das UKSH unterhält verschiedene Kliniken,
Institute und Forschungseinrichtungen,
die jährlich rund 400.000
Patienten versorgen. An den
Standorten in Lübeck und Kiel
arbeiten etwa 13.000 Menschen.
ein Ausweichkonzept sowie Leih- oder
Ersatzgeräte. Das ist vertraglich festge-
legt. „Die gesamte Ressourcenplanung
dafür machen wir“, sagt TGM-Regional-
leiter Eggert. Patientensicherheit stützt
sich auf eine Art Stand-by-Redundanz von
gleichen Systemen für Behandlung und
Therapie – vor allem aber auf Teamgeist
und Schnelligkeit. Der technische Dienst
ist 24/7 erreichbar, der Support tagsüber
per Telefon oder online. Nachts und an
Wochenenden laufen Notfälle beim Blau-
en Draht auf, einer zen-tralen Hotline bei
Dräger in Lübeck, die mit allen Herstel-
lern vernetzt ist. Mehr als 45.000 aktive
medizinische Geräte müssen in festen
Intervallen, jährlich oder halbjährlich,
während des laufenden Betriebs gewar-
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
Mit 500 Gramm
54
KRANKENHAUS NEONATOLOGIE
Eine Handvoll Mensch, die eher in ein Vogelnest zu passen scheint als in einen Inkubator: Frühchen sind unsagbar klein – und doch beseelt von unbändigem Lebenswillen. Ihnen einen guten Start ins Leben zu ermöglichen ist auch die Aufgabe dieser FRÜHGEBORENENSTATION im polnischen Krakau.
TEXT: NILS SCHIFFHAUER FOTOS: PATRICK OHLIGSCHLÄGER
ins Leben
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017 55
VVom Foto an der Wand strahlt eine Gruppe junger Damen:
„Fünflinge, die hier 2008 und in der 25. Schwangerschaftswo-
che geboren wurden“, sagt Professor Ryszard Lauterbach. „Gut,
dass es Mädchen sind“, ergänzt der Chef der Neonatologie an
dem traditionsreichen Krakauer Universitätskrankenhaus Jagiel-
lonen. „Mädchen haben als Frühchen größere Chancen zu über-
leben und sich später normal zu entwickeln.“ Mit einem Gewicht
Behütet von Eltern (links),engagiertem Personal sowie
moderner Technik (rechts) werden Frühchen in der
Krakauer Uniklinik versorgt
von jeweils 570 bis 800 Gramm haben sie sich seitdem körper-
lich wie geistig genauso entwickelt wie gleichaltrige Kinder, die
nach neun Monaten Schwangerschaft zur Welt gekommen sind.
Immer noch staunt der 66-Jährige über die Erfolge seines
Fachs, die er im Laufe seiner Karriere nicht nur erleben, son-
dern auch mitgestalten konnte: „Vor zehn bis 15 Jahren wur-
de es ab einem Geburtsgewicht von unter 2.000 Gramm kri-
tisch. Heute haben Extrem-Frühchen mit einem Gewicht von
500 Gramm noch reelle Überlebenschancen.“ Ging es früher um
das reine Überleben, steht heute neben der körperlichen auch die
56 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
KomplexesZusammenspielverschiedenerMuskeln
wirkt“, ergänzt Lauterbach das, was er als „holistische Sichtwei-
se“ und den „Blick aufs Ganze“ bezeichnet. Sich auch darum zu
kümmern hat in Krakau lange Tradition. „Schon 1983 hatten wir
einen niederländischen Kollegen zu Gast, der uns mit dem The-
ma ,Kangarooing‘ vertraut machte“, erinnert er sich. Ihm und
seinem Team leuchtete die Methode des direkten Körperkontakts
zwischen Frühchen und Eltern sofort ein. Bis dahin hatte man
Frühchen und Eltern immer voneinander getrennt – um das Baby
nicht zu stören und aus hygienischen Gründen. Heute zieht sich
Zwillingsmutter Bernadette routiniert einen Kittel über, desinfi-
ziert sich die Hände wie eine langjährige Stationsschwester und
verteilt ihre Gunst so gut es geht gerecht zwischen ihren beiden
Töchtern Oliwia und Weronika. Und auch der Vater beteiligt sich
am Kangarooing. Verwandte wie Tanten und Großeltern sind
ebenfalls gern gesehen. Das alles hat einen positiven Einfluss,
wie auch Professor Lauterbach anhand seiner Forschungen bele-
gen kann: „Wir verfolgen die Kinder ja auch über jene Monate
hinaus, die sie bei uns bleiben.“ In den kommenden Jahren wer-
den sie regelmäßig auf ihre Entwicklung hin untersucht. „Man-
che halten uns sogar darüber hinaus die Treue und besuchen uns
als Erwachsene“, sagt Lauterbach.
Auch Nuckeln will gelernt seinIst das Frühchen aus dem Gröbsten raus,
muss es Dinge lernen, die zum Termin
geborene Kinder von sich aus mitbringen –
etwa das selbstständige Saugen. „Wenn ich
es überschlage, sind es gut 7.000 Kinder“,
antwortet die Physiotherapeutin Agnieszka
Kulig auf die Frage, wie vielen Kindern sie
in den vergangenen 23 Jahren, die sie hier
schon arbeitet, das Nuckeln beigebracht
hat. Funktioniert dieser Saugreflex nicht
automatisch, durch das Berühren der
Lippen? „Leider nicht, denn viele Früh-
chen verbinden aufgrund ihrer bisherigen
Ernährung per Magensonde nicht unbe-
dingt Angenehmes damit.“ Diese Form
der direkten Ernährung ist notwendig, da
Frühgeborene entweder überhaupt noch
keinen Saugreflex ausgebildet haben oder
bei der für sie anstrengenden Tätigkeit
ermüden, noch bevor ihr Hunger gestillt
ist. Hierbei wird durch einen dünnen
Schlauch im Mund die Nährlösung direkt
in den Magen geleitet. Alles Gründe, wes-
psychosoziale Entwicklung im Vordergrund. „Sie entscheidet maß-
geblich darüber, wie sich ein Frühchen im späteren Leben ent-
wickelt“, sagt Lauterbach. „Gerade in den letzten Wochen einer
normalen Schwangerschaft entwickelt sich das Gehirn am stärks-
ten.“ Um diese Entwicklung zu fördern, forscht er auch an einer
optimierten Ernährung für Frühchen. Man merkt dem Mann mit
dem deutschsprachigen Namen („Ein österreichisches Erbe!“) an,
wie ihn sein Beruf bis heute fasziniert. Dabei hätte er auch Inge-
nieur oder Pianist werden können. „Am Ende habe ich die Fertig-
keiten, die dafür nötig sind, in einem Medizinstudium vereint.“
Und doch hat er von seinen anderen Talenten nicht ganz gelassen.
„Wir platzen hier aus allen Nähten“, sagt Dr. Joanna Hurkała,
die eine von drei Stationen mit betreut. Sie zeigt auf die belegten
Inkubatoren: „Maja 580 g“, oder „Mateusz 770 g“ – Frühgebore-
ne und ihr Gewicht. Schicksale, die sie und ihre Kollegen zum
Besseren wenden. Das ist auch bei Weronika und Oliwia der Fall,
die auf der nach ihren Schmuckfarben genannten „roten Station“
liegen. Sie wurden am 4. Juli 2017 mit 1.520 und 1.070 Gramm
geboren. „Die unterschiedlichen Geburtsgewichte der Zwillings-
schwestern weisen darauf hin, dass es bei der Mutter Probleme
mit der Versorgung der Föten durch die Plazenta gab“, erläutert
Dr. Hurkała. Gerade steht sie vor einem Dräger-Inkubator (Typ:
Babyleo TN500; siehe auch Drägerheft 401, Seite 64), in dem
Dominik mit seinen knapp 600 Gramm die nächsten Wochen her-
anwachsen wird. Mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Profes-
sionalität liest sie Temperatur und Herzschlag ab: „Alles in Ord-
nung.“ Sie mag einen Inkubator wie diesen: „Er hat alles, was ein
Frühchen braucht, zudem lässt er sich leicht bedienen.“ Das soll-
te er auch, denn nur so bleiben Personal wie Eltern genug Zeit,
Raum und Möglichkeiten, sich um die seelisch-geistige Entwick-
lung dieser unfassbar kleinen Menschen zu kümmern.
Mit ganzheitlichem Blick„Ich habe in den vergangenen Jahrzehnten erlebt“, sagt Profes-
sor Lauterbach, „wie sich der Blick auf Frühchen gewandelt hat –
sie haben sich gewissermaßen vom Objekt, für das man vor allem
gute physische Bedingungen schaffen wollte, zum Subjekt ent-
wickelt, das eben auch psychosoziale Bedürfnisse hat.“ Und die
trügen nicht nur zum Wohlbefinden bei, sondern überhaupt zu
einer besseren Entwicklung. „Wir können beispielsweise an den
Vitalparametern sehen, wie positiv sich die Nähe der Eltern aus-
KRANKENHAUS NEONATOLOGIE
Vertrauen wächst durch Nähe. Für Frühchen ist auch der Körperkontakt mit dem Vater wichtig
DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
Seit 1788 im Dienste der Menschen Vor beinahe 230 Jahren wurde das Universitätskrankenhaus in Krakau gegründet und dem Heiligen Lazarus geweiht. Heute ist das Szpital Uniwersytecki w Krakowie – mit seinen 32 Abteilungen und 1.600 Betten – eines der führenden in Polen. Fast 4.000 Mitarbeiter behandeln jährlich annähernd 75.000 Patienten, die Zahl der medizinischen Beratungen in ambulanten Kliniken übersteigt die Zahl von 380.000. Mehr als 300 junge Ärztinnen und Ärzte bereiten sich in diesem Lehrkrankenhaus unter Anleitung erfahrener Spezialisten auf ihre Berufspraxis vor. In der Neonatologie sorgen sieben promovierte Mediziner mit ihrem Team aus Kinderkrankenschwestern, einer Physio-therapeutin und Psychologin für das Wohl von Frühchen und ihren Eltern. Bei Bedarf greifen sie auf 14 Spezialisten verschiedener Fachrichtungen zurück – von Chirurgie über Genetik und Nephrologie bis hin zu Radiologie oder Augenheilkunde.
57
halb Agnieszka Kulig und ihre Kollegin Iwona Opach den Früh-
chen später das Nuckeln beibringen müssen. „Saugen, Schlu-
cken und Atmen ist ein komplexes Zusammenspiel verschiedener
Muskeln“, so Kulig. Nach dem Bobath-Konzept stimulieren und
trainieren sie die notwendigen Partien so lange, bis es von selbst
klappt. Das ist dann die letzte Entwicklungsstufe im Kranken-
haus, danach können die Kinder zu ihren Eltern.
Überall ist ein sehr hohes Engagement zu spüren. Doch das
Personal arbeitet oft am Rande der Kapazität: Die Zahl der Früh-
geburten von rund zwölf Prozent steigt, vor allem in den Städ-
ten. Stress und Unsicherheit im Job werden als Ursache vermu-
tet. „Zudem verdient ein Arzt im Praktikum hier weniger, als es
dem ohnehin schon geringen Durchschnittseinkommen in Polen
entspricht“, sagt Professor Ryszard Lauterbach. Es liegt bei nicht
einmal 1.000 Euro, wobei im quirligen Krakau auch noch alles
gut ein Viertel teurer ist als im Landesdurchschnitt. Was jedoch
alle motiviert: dass man hier für das Leben arbeitet und den
Erfolg unmittelbar sieht und spürt. Das kann ansteckend sein,
wie Professor Lauterbach abschließend bemerkt: „Mein Sohn ist
auch Neonatologe geworden!“
Weitblick: Professor Ryszard Lauterbach, Leiter der Neonatologie, setzt
schon seit 1983 auf das „Kangarooing“
Die Drug Recognition Experts der Polizei von Los Angeles müssen eine schwierige Ausbildung absolvieren, bevor sie Verdächtigen den Gebrauch illegaler Substanzen nachweisen können. Ein Tag auf Streife in einem der gefährlichsten Gebiete der Viermillionenstadt.
Text: Steffan Heuer Fotos: Patrick Strattner
POLIZEI DROGENBEKÄMPFUNG
Auf Drogenjagd in Downtown
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„Am besten dreht man frühmorgens
seine Runden. Dann sind die meisten
Junkies unterwegs, um sich ihren ersten
Fix zu besorgen“, sagt Jayson Siller. Er
blickt über das Lenkrad seines Streifen-
wagens auf eine Reihe Zelte, die Obdach-
lose auf einem Bürgersteig im Zentrum
von Los Angeles errichtet haben. Es ist
kurz vor sieben. Einige Bewohner sind
bereits auf den Beinen. Direkt gegen-
über der kleinen Zeltstadt auf 6th Street
und Wall Street liegt die Polizeiwache
von Skid Row, vor der Siller seinen fast
zwei Tonnen schweren Ford Crown
Victoria parkt.
„Schiefe Bahn“ heißt dieser Teil von
Downtown L. A. – aus gutem Grund. Wer
einmal hier gelandet ist, dem sind die
Zügel des normalen Lebens in der Regel
auf Dauer entglitten. Mehrere Tausend
Obdachlose, viele von ihnen drogen-
abhängig, mitunter psychisch krank,
A
Skid Row – auf wenigen Quadratkilometern drängen sich Tausende Obdachlose,
viele von ihnen sind drogen-abhängig. Experten des LAPD überprüfen regel-mäßig Verdächtige und
nehmen sie auf frischer Tat fest – wie die Besitzerin
dieser Crackpfeife
DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
60 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
nachweist: von Neurodepressiva, Lösungs-
und Betäubungsmitteln bis zu Cannabis,
Methamphetamin, Crack und Heroin.
Gemeinsam mit Kamaron Sardar lei-
tet Siller die kleine Eliteeinheit von
Drug Recognition Experts (DRE). Das
LAPD zählt rund 9.000 Beamte, die auf
1.300 Quadratkilometern für knapp
vier Millionen Einwohner zuständig
sind – aber es besitzt nur rund 90 solcher
Drogenfachleute. Wer zu Sillers und
Sardars Team gehören will, muss sich aus
freien Stücken monatelang fortbilden und
regelmäßig neu zertifizieren lassen.
„Es ist nicht einfach,Nachwuchs zu finden“Nach einer kurzen Lagebesprechung teilt
Siller vier Teams ein, die heute unter den
Funkkennungen Queen 51, 53, 55 und
57 in Skid Row unterwegs sein werden.
„Los geht’s, schnappen wir uns ein paar
von ihnen“, gibt der Ausbilder den Poli-
zisten mit auf den Weg. Es ist eine bunt
gemischte Truppe aus männlichen und
weiblichen Beamten verschiedener Ethni-
en, die aus allen Teilen der Stadt zusam-
mengekommen sind – von Mitgliedern
der Hundestaffel bis zur Verkehrspoli-
zei. Sie tragen die übliche, mehrere Kilo
schwere Ausrüstung, die ein Polizist in
der südkalifornischen Metropole am Leib
haben muss: kugelsichere Weste, Dienst-
waffe plus zwei Extramagazine, Elektro-
schockpistole, Schlagstock, Taschenlam-
pe, Handschellen und eine Bodycam vor
der Brust, die aktiviert wird, sobald man
den Streifenwagen verlassen hat. Dazu
ein laminiertes Kärtchen, das die wich-
tigsten Drogen und ihre Wirkung auf den
Millionen-metropole und nur 90 Drogen-experten
leben hier auf offener Straße, in Sicht-
weite der Banken, Apartmenttürme und
Galerien des Zentrums. Manche wandeln
am helllichten Tag barfuß und mit lee-
rem Blick umher, andere haben sich mit
Holzkohle grill, Stromkabeln und Wach-
hunden häuslich eingerichtet.
Wie an diesem Freitagmorgen ruft
Siller einmal im Monat ein Team von 20
bis 25 Kollegen des L. A. Police Depart-
ment (LAPD) zusammen, um ihnen am
lebenden Objekt beizubringen, wie man
die Effekte gängiger Drogen erkennt und
Jayson Siller ist engagierter Drogenexperte beim LAPD und einer der Leiter des Expertenlehrgangs
DROGENBEKÄMPFUNG POLIZEI
oder Drogen standen, sind zwei Mitglie-
der meiner Familie zu Schaden gekom-
men – eines ist sogar gestorben.“
Seitdem hat er sich vorgenommen,
Personen dingfest zu machen, die unter
dem Einfluss von Alkohol oder illegalen
Substanzen hinterm Steuer sitzen. Er
belegte zuerst einen Fortbildungskurs
zur Identifizierung betrunkener Fahrer
und wurde dann DRE. „Die Legalisie-
rung von Cannabis in Kalifornien dürfte
das Problem noch vergrößern“, fürch-
tet der Beamte – vor allem in Verbin-
dung mit einem zweiten Volksentscheid,
der den Besitz selbst harter Drogen wie
Heroin oder Kokain nur noch als Verge-
hen und nicht mehr als Straftat behan-
delt. Aus ähnlichen Gründen ist Jennifer
Bernardino eine seiner neuesten Auszu-
bildenden. Achtzehn Jahre lang arbeitete
sie als Krankenschwester in der Notauf-
nahme eines Krankenhauses und hatte
sich auf die Opfer sexueller Gewalt kon-
zentriert, bevor sie Ermittlerin für unge-
klärte Todesfälle wurde und anschließend
die Polizeiakademie absolvierte. Skid Row
gehört zu ihrem Abschnitt, sagt die Beam-
tin mit den penibel nach hinten gekämm-
ten schwarzen Haaren. „Hier sieht man
in jeder Schicht, welche Wunden Drogen-
missbrauch reißen kann und wie sich eine
Welle der Beschaffungskriminalität rund
um Skid Row ausbreitet. Das Mindeste,
was wir tun können, ist, Abhängige aus
dem Verkehr zu ziehen, bevor sie andere
verletzen“, sagt Bernardino.
Abgeführt in HandschellenKurz nach der Lagebesprechung wird
sie auch schon fündig. Auf der Industrial
Street kauert eine spindeldürre Afroame-
rikanerin zwischen zwei geparkten Autos
und hat sich gerade eine Crackpfeife
angezündet. Bernardino und ihr DRE-
Mitschüler The Duong (Team Queen 51)
kontrollieren die Frau, Ende 40. Sie pro-
tokollieren ihren unsteten Gang, die ver-
größerten Pupillen und den erhöhten
Puls von 110. Nachdem sie Drogenkon-
sum zugegeben hat, legen ihr die Beam-
Körper tabellarisch auflistet. Wer wie
Siller ein DRE werden will, muss noch
etwas mitbringen: die richtige Motivati-
on, ohne zusätzliche Bezahlung tägliche
Mehrarbeit zu verrichten, denn der Rest
der Truppe verlässt sich auf sie. „Wenn
ein Streifenbeamter auf jemanden trifft,
der unter dem Einfluss von Drogen steht,
rufen sie uns“, sagt der drahtige Polizei-
beamte mit kurzem, grau meliertem
Haar. „Wir kriegen jedes Jahr Hunderte
von Anfragen, während wir unseren nor-
malen Dienst schieben. Deshalb können
wir leider nicht überall sein.“
Seit acht Jahren ist Siller Drogen-
experte, seit sieben arbeitet er als Aus-
bilder. „Es ist nicht einfach, Nachwuchs
zu finden. Wir verlieren jedes Jahr rund
20 Leute, weil sie nach ein paar Jahren
ausscheiden. Also kämpfen wir ständig
gegen Unterbesetzung.“ Warum hat er
sich für die freiwillige Mehrarbeit ent-
schieden? Er muss nicht lange überle-
gen: „Das war eine sehr persönliche
Sache. Wegen Fahrern, die unter Alkohol
Warten: Die Drogenex-perten des LAPD bringen Verdächtige ins städtische
Gefängnis, die dort auf einen eingehenden Test warten müssen. Oft wer-den die Beamten fündig.
Doch an den Ursachen können sie nichts ändern
DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017 61
POLIZEI DROGENBEKÄMPFUNG
Bestand. Der DRE-Kurs dauert zweiein-
halb Wochen. Wer ihn absolviert hat,
muss auf den Fahrten durch Skid Row
innerhalb von drei Monaten mindestens
zwölf Festnahmen verbuchen, die sieben
Hauptkategorien an Drogen abdecken
und neun dieser Festnahmen korrekt dia-
gnostizieren.
Keine verbindlichen Grenzwerte„Es ist einer der schwierigsten Kurse, die
das LAPD zu bieten hat. Die Materie und
die Prüfung schrecken viele ab, auch die
alle zwei Jahre wiederkehrenden Tests.
Man muss wirklich DRE sein wollen, weil
man den Menschen in seiner Community
etwas Gutes tun möchte. Ich mache das
für mich – nicht wegen der Anerkennung
oder irgendwelcher Auszeichnungen“,
sagt Christina Reveles. Die Verkehrs-
polizistin mit den streng gescheitelten
schwarzen Haaren tat sechs Jahre Dienst
beim LAPD, bevor sie 2013 den DRE-Kurs
absolvierte. Seit Anfang 2017 arbeitet sie
als Ausbilderin und geht an diesem Mor-
gen mit Bernardino die Ergebnisse ihrer
bestandenen Prüfung durch.
So sehr sie sich über die Verstärkung
freut: „Es gibt einfach zu wenige von uns
für eine Stadt dieser Größe. Immer wenn
ich früher über Funk einen Drogenexper-
ten anforderte, kam keiner.“ Nur zu Unfäl-
len mit Schwerverletzten oder Toten, bei
denen Drogen im Spiel gewesen sein
könnten, erscheint ein DRE. Zur Not wer-
den die Experten sogar mit einem der
26 Polizeihubschrauber ans andere Ende
der Stadt geflogen. Das heißt, dass viele
Drogenkonsumenten der Polizei durch die
Maschen gehen. Während man mit einem
einfachen Alkoholtest feststellen kann, ob
ten Handschellen an und bringen sie zum
nahe gelegenen Stadtgefängnis. Dort fin-
det der eigentliche Teil des DRE-Kurses
statt. Sillers Studenten müssen ein mehr-
seitiges zwölfstufiges Protokoll ausfüllen:
mehrmals mit zeitlichem Abstand den
Puls und Blutdruck messen, die Pupillen-
größe unter verschiedenen Lichtverhält-
nissen auf den Millimeter genau bestim-
men, sowie Tests zum Gleichgewichtssinn
durchführen. Die längere Befragung und
Untersuchung soll Symptome möglichst
genau dokumentieren, denn nur so hat
das Protokoll – in Verbindung mit einem
toxikologischen Bericht – vor Gericht
Zur Not werden die Experten auch per Hubschrauber eingeflogen
DRÄGERHEFT 402 | 2 / 201762
Training live: Beamte des LAPD messen den Puls eines Verdächtigen. Die Polizisten lernen im Zuge ihrer Ausbildung zum Drogenexperten, Personen nach einem zwölf Schritte umfas-senden Programm zu untersuchen
63DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
Fotostrecke:Unterwegs mit Drogenexperten des LAPD in Skid Row, dem Viertel der Verlorenen.www.draeger.com/402-63
jemand über der gesetzlichen Promille-
grenze liegt, gibt es für Drogen keine ver-
bindlichen Grenzwerte. Die Entschei-
dung, ob jemand unter Drogeneinfluss
steht und dadurch wirklich beeinträchtigt
ist, unterliegt meist einem Polizisten vor
Ort, der schnell urteilen muss und selten
über eines der mobilen Drogentest geräte
(Typ: Dräger DrugTest 5000) verfügt. Bis
ein Verdächtiger auf der Wache ist und
getestet werden kann, sind die Effekte vie-
ler Substanzen bereits abgeklungen, selbst
wenn sie noch tagelang im Körper nach-
weisbar sind.
Freundliche Verwarnung„Was für das ungeübte Auge nach Drogen-
konsum aussieht, kann ebenso gut das
Symptom einer psychischen Erkrankung
oder eines medizinischen Notfalls sein.
Und was umgekehrt wie Müdigkeit wirkt,
kann von einem Opiat stammen. Um das
eine vom anderen zu trennen, muss man
viele Fälle vor der Nase gehabt haben“,
sagt Jillian Klee. Die Beamtin aus dem
Bezirk North Hollywood ist seit zehn Jah-
ren DRE und ständig auf der Suche nach
neuen Kollegen, die sie rekrutieren kann.
„Wenn ich über Funk eine Anforderung
reinbekomme, muss ich abwägen, ob ich
es mir erlauben kann, mein Revier mehre-
re Stunden zu verlassen“, sagt Klee – und
lauscht wenige Minuten später gebannt
dem Funkverkehr. In ihrem Gebiet hat
sich ein bewaffneter Mann verschanzt.
Natürlich würde sie jetzt nichts lieber tun,
als ihren Kollegen zu helfen, statt zu beob-
achten, wie Bernardino und andere Stu-
denten Verdächtige untersuchen.
Bis Mittag wurden zwei Festgenomme-
ne befragt und getestet – zuletzt ein junger
Mann Anfang 20, der keine Schuhe trägt,
vor Dreck starrt und sich wegen nervöser
Zuckungen kaum auf dem Stuhl halten
kann. Wer wie er keine Drogen bei sich
trägt, wird mit einer freundlichen War-
nung und einem Strafzettel entlassen, um
sofort wieder in der Szene von Skid Row
unterzutauchen. Die Frau mit der Crack-
pfeife bleibt wegen Drogenbesitzes eine
Nacht im Gefängnis, bevor ein Haftrich-
ter ihren Fall am nächsten Morgen schlie-
ßen wird. „Sie kennt die Routine bereits.
Zumindest kriegt sie für eine Nacht ein
Dokumentiert: Nur was detailliert vermerkt wird, hat später auch vor Gericht Bestand. Die Drogenexperten machen sich bei ihren Untersuchungen genaue Vermerke zu jedem Verdächtigen und ergänzen den Fragebogen mit handschriftlichen Notizen aus den Gesprächen
Nüchterne Werte:Der DrugTest 5000 untersucht Speichel-proben auf Drogen – das System detektiert bis zu acht Substanzen mit vordefinierten Nach-weisgrenzen. Seit 2016 kann es in Kalifornien auch als Hilfsmittel bei Gerichtsverfahren verwendet werden
Bett, eine Dusche und etwas zu essen“,
beschreibt DRE-Kursleiter Siller nüch-
tern die ewige Wiederkehr des toderns-
ten Spiels von Junkie und Gendarm. „Um
wirklich etwas zu bewirken, bräuchten wir
in Los Angeles etwa tausend von uns – und
mehr mobile Drogentestgeräte. Aber das
ist nur meine idealistische Hoffnung.“
64 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
laben sich an Alkoholpfützen. Forscher
sind sich sicher, dass sie seit Generationen
eine Trinktradition pflegen. Die Affen
lebten in den Plantagen, wo abgeerntetes
Zuckerrohr rasch zu gären begann. Heute
nutzen sie den Komfort, der den Alkohol
auch für Menschen zu einer Alltagsdroge
gemacht hat: billig, weitestgehend akzep-
tiert, überall zu haben. Doch warum ist
Ethylalkohol bei Mensch und Tier über-
haupt so beliebt?
Das Spiel mit dem Alkohol ist riskant
und unfallträchtig, daher für potenzielle
Beutetiere zunächst unlogisch. Dass auch
Lebewesen trinken, denen Rituale feh-
len, weist Forscher obendrein darauf hin,
dass es eine Neigung zum Ethanol gibt, FO
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Dass nicht nur Menschen, sondern auch Tiere dem ALKOHOL frönen, scheint zunächst paradox – denn wer trunken ist, ist leicht zu jagen. Und doch kann manche Spezies dem Ethanol nicht widerstehen. Warum nur?
Text: Silke Umbach
Romanze
MMit den Schiffen kamen die Affen. Als
vor gut dreihundert Jahren regelmäßig
Sklavenhändler aus Afrika in der Karibik
anlandeten, verschleppten sie nicht nur
Menschen in die Zuckerrohrplantagen.
Auch Grüne Meerkatzen waren an Bord:
Allesfresser, bis zu 60 Zentimeter groß
und ziemlich verspielt. Die Sklavenhal-
ter wurden vertrieben, die Affen blieben –
vor allem auf St. Kitts, fast 900 Kilometer
nördlich von Venezuelas Hauptstadt
Caracas entfernt. Dort entwickelten die
Primaten eine Passion, die Touristen
unterhält und Wissenschaftler beschäf-
tigt: die Lust an der Trunkenheit. An den
Stränden rauben Meerkatzen Drinks,
saugen Cocktails durch Strohhalme und
mit Hindernissen
65DRÄGERHEFT 402 | 2/ 2017
ALKOHOL GESELLSCHAFT
die tiefer greift als das, was im Sichtfeld
unseres Bewusstseins liegt. Es macht plau-
sibel, wieso die meisten Menschen, die der
Trunksucht verfallen, das so lange und
konsequent verleugnen – auch vor sich
selbst. Auch wenn alkoholische Selbstver-
giftungen gefährlich sind, werden sie von
vielen Gehirnen nicht gescheut. Als vor gut
zehn Jahren hungrige Seidenschwänze,
18 Zentimeter große Singvögel, aus der
eisigen Taiga nach Wien zogen, verun-
glückten während des Flugs mehrere Dut-
zend von ihnen tödlich. Sie hatten sich an
überreifen Beeren berauscht. Auf späteren
Zügen wiederholten die Überlebenden die
Selbstbetäubung, verzichteten allerdings
vorerst auf das Fliegen.
Opfer des ÜberflussesDer Mediziner Rainer Thomasius, einer
der führenden Suchtexperten Deutsch-
lands und Professor am Hamburger Uni-
versitätsklinikum Eppendorf, vermutet,
dass der Entdeckung des Ethanolkonsums
Rationalität innewohnte: „Tiere konnten
auf das Energieangebot nicht verzich-
ten, obwohl die Früchte längst vergo-
ren waren.“ Ein Gramm Ethanol liefert
sieben Kilokalorien, durchschnittliche
Kohlenhydrate nur vier. Für diese These
spricht, dass Ethanol der einzige einiger-
maßen verträgliche Alkohol ist. Methanol
oder der Desinfektionsalkohol Isopropa-
nol sind schon in geringen Dosen toxisch.
Bei einigen Spezies hat sich die Toleranz
für Ethanol durch regelmäßigen Genuss
sogar verstärkt. Fruchtfressende Fle-
dermausarten, deren Vorräte oft gären,
können bei hohen Blutalkoholspiegeln
sicher fliegen.
Die Folgen des Tauschgeschäfts mit
der Natur, Energie gegen neurologi-
sche Beeinträchtigung, sieht der Sucht-
mediziner Thomasius bei seinen oft sehr
jungen Patienten täglich. Es ist gerade
der Rausch, in der Regel gemeinschaft-
lich erlebt, der die Menschen lockt. Vie-
le können in Maßen damit umgehen,
doch immer sucht sich Ethanol auch
Opfer. „Unser typischer Patient hat sehr
früh Erfahrungen mit Alkohol gemacht.
Schnell kamen Vollräusche am Wochen-
ende hinzu – daraus entwickelte sich ein
täglicher Konsum.“ Eine intensive Sucht,
aus eigener Kraft nicht zu bezwingen,
meist verbunden mit einem angeschlage-
nen Selbstwertgefühl. Gerade unter jun-
gen Männern steht Alkoholmissbrauch
in der Statistik für Todesursachen ganz
oben – er ist ein wahres Düngemittel für
Gewalt und Unfälle: im Verkehr, bei der
Arbeit oder in der Freizeit (siehe auch
Seite 6 ff.). Obwohl das spätestens mit
der Erfindung gebrannter Spirituosen vor
über 1.000 Jahren offensichtlich wurde,
ist die kulturelle Akzeptanz für Alkohol in
der gesamten westlichen Welt die höchs-
te von allen Rauschmitteln. Was genau
macht ihn so attraktiv, selbst in Zeiten des
Überflusses?
Der wesentliche Grund liegt wohl in
der Struktur des Gehirns. Diese ist bei Affe,
Vogel und Mensch ziemlich ähnlich, auch
wenn sich Größe und Komplexität unter-
scheiden. Das Paradoxe: Alkohol wirkt wie
negatives Doping, zudem – anders als vie-
le Drogen und Medikamente – nicht spezi-
fisch auf bestimmte Rezeptoren oder Sys-
teme. Auf breiter Front gehen kognitive
Leistungen verloren, die Selbstkontrolle
Seidenschwänze berauschten sich am Alkohol aus überreifen
Beeren der Eberesche – zahlreiche von ihnen verunglückten danach
tödlich. Sie lernten daraus. Die Singvögel bevölkern die Taiga, sind jedoch in großen Schwärmen auch
in Europa anzutreffen. Was nicht zu allen Zeiten als gutes Zeichen
galt, wie ihr niederländischer Name „Pestvogel“ bezeugt
Fingertiere leben auf der Insel Mada-gaskar im Indischen Ozean. Die Prima-ten sind Allesfresser und offenbar auch Allestrinker. Alle Finger und Zehen enden in Krallen – bis auf die große Zehe, die am Ende einen Nagel trägt. Ihr Gebiss erinnert eher an Nagetiere als an Affen. Am liebsten fressen sie Bockkäfer, die sie durch rhythmisches Klopfen ihres verlängerten dritten Fingers im Baumholz erjagen. Dabei nehmen ihre empfindlichen Ohren die Hohlräume der Insekten wahr, die sie sich dann ähnlich wie Spechte angeln. Nein, fliegen können sie nicht
GESELLSCHAFT ALKOHOL
66 DRÄGERHEFT 402 | 2 / 2017
Prozente und Promille: Herstellung und Vertrieb alkoholischer Getränke ist ein Milliardengeschäft – der Missbrauch kann teuer werden. www.draeger.com/402-66
schwindet, die Präzision der Bewegungen
verfällt, das Reaktions- und Urteilsvermö-
gen leidet. Doch genau das scheint den
Reiz auszumachen. Die Enthemmung, bei
der sich Verhaltensschranken lösen, die
subjektiv für Routine und eine umzäun-
te Freiheit des Alltäglichen stehen, tritt
als eine der ersten Wirkungen ein. Und so
ist es wohl der Schein einer unverhofften
Leichtigkeit, den der Alkohol Menschen
wie Tieren kurzfristig schenkt. Ausgerech-
net die Betäubung hemmender Hirnsyste-
me aber erleichtert das weitere „über den
Durst Trinken“.
Allgemeine Abstinenz – eine UtopieProfessor Alan Wayne Jones, forensischer
Toxikologe an der Universität von Lin-
köping in Schweden, hat sich jahrzehn-
telang nicht nur mit der kontinuierli-
chen Weiterentwicklung von Alkohol- und
Drogen nachweisverfahren befasst. Der
heute emeritierte Chemiker studierte
auch eingehend die Geschichte des Subs-
tanzmissbrauchs. „Die Prohibition in
Amerika nährte nur das illegale Brennen
und den Schmuggel aus Kanada“, sagt
Jones. Auch die skandinavischen Kampag-
nen zur Abstinenz hätten sich nicht durch-
setzen können – aber zumindest ein Limit
von 0,2 Promille auf schwedischen Stra-
ßen beschert, das niedrigste in Europa.
Das habe Gefahren gemildert. „Dennoch
sollten wir nicht verdrängen, dass etwa
zehn Prozent der Bevölkerung, überwie-
gend Männer, Alkohol missbrauchen und
klinisch als Alkoholiker beschrieben wer-
den können. Alkohol tötet viel mehr Men-
schen als Heroin und Kokain zusammen,
weil er so leicht zu haben ist.“ Die alkohol-
lüsternen Meerkatzen wurden rasch zu
Studienobjekten der Forscher. Lange Rei-
hen von Laboruntersuchungen an ihnen
und die langjährige Erfahrung von Thera-
peuten wie Professor Thomasius zeigen: Je
höher der soziale Status eines Konsumen-
ten, ob Affe oder Mensch, desto weniger ist
er gefährdet. Doch auch ökonomisch bes-
ser gestellte Menschen kann es treffen.
Eine Alkoholabhängigkeit zieht sich durch
alle sozialen Schichten der Gesellschaft.
„Das Zusammentreffen unterschiedlicher
Risikofaktoren erhöht die Wahrscheinlich-
keit für eine Abhängigkeit“, sagt Thoma-
sius. Er und seine Mitarbeiter haben es
sehr häufig mit einem ganzen Bündel
von Risikofaktoren zu tun – genetisch,
psychisch, sozial.
Viele junge Klienten kommen aus
instabilen Familien. Sie haben Pro-
bleme, sich selbst zu vertrauen, müssen
umfassend gestärkt und entwöhnt wer-
den. Sowohl Thomasius als auch Jones
sind sich bewusst, dass es keinen radika-
len Ausstieg aus der jahrtausende alten
Romanze des Menschen geben wird.
Gerade die Trinklust seiner tierischen
Verwandtschaft spricht für deren archai-
sche Intensität. Beide Experten sprechen
sich gegen eine übergroße Toleranz aus.
Jones sagt: „In den USA gilt noch immer
die viel zu hohe 0,8-Promille-Grenze im
Straßenverkehr. Die American Medical
Association verlangt schon lange eine
He rabsetzung. Wann immer das disku-
tiert wird, bricht eine Kampagne der
Brauer, Brenner und Wirte los – und die
Initiative scheitert.“ Thomasius kritisiert:
„In traditionellen Kulturen wird eine kla-
re Grenze gezogen. Franzosen und Italie-
ner trinken zwar Wein zum Mittagessen,
aber unter Erwachsenen. Sie dulden das
Rausch trinken bei Jugendlichen nicht.
Bei uns wird regelmäßig weggeschaut,
wenn wir junge Menschen Alkohol trin-
ken sehen.“ Das dürfe nicht sein.
Denn das unreife Menschenhirn ist
beim Ethanolkonsum vermutlich kaum
selbstkritischer eingestellt als das des
Seidenschwanzes oder der Meerkatze.
Meerkatzen sind natürlich keine Katzen, sondern Primaten. Ob ihr Name daher rührt, weil sie an Katzen erinnern und übers Meer kamen? Oder ist ihre Bezeichnung doch eher eine Verballhornung von „markata“, des Sanskritwortes für „Affe“? Sie begrüßen einander wie in einer Bussi-Gesellschaft, indem sie die Nasen aneinanderdrücken
Die Ent-hemmung tritt als Erstes ein – sie scheint den Reiz aus-zumachen
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Was wir beitragenEinige PRODUKTE dieser Aus gabe finden sich hier im Überblick – in der Reihenfolge ihres Erscheinens. Zu jedem Produkt gehört ein QR-Code, der sich mit einem Smartphone oder Tablet scannen lässt. Danach öffnet sich die jeweilige Produkt-information. Haben Sie Fragen zu einem Gerät oder zum Drägerheft? Schreiben Sie uns: [email protected]
Zeus IE Anästhesiearbeitsplatz mit verschiedenen Kernfunk-tionen, u. a. einer regelkreis-orientierten Gasdosierung im komplett geschlossenen System.Seite 16
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die Ventilation unterschiedlicher Lungenregionen beobachten lässt.
Seite 26
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EINBLICK TAUCHTECHNIK
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Mit dem Druckmindererventil Lubeca
begann 1889 die Erfolgsgeschichte von
Dräger. 128 Jahre später zeigt der Secor
7000, wo diese Technologie heute steht:
Der Druckminderer 1 aus verchromten
Messing und ein Lungenautomat 2
versorgen Berufstaucher zuverlässig mit
Atemluft. Die kommt aus einer unter
200 bis 300 bar Druck stehenden Flasche,
die am Handradanschluss 3 nach
DIN-Norm (oder einem INT-Anschluss)
an den Druckminderer angeschraubt
wird. Dort gibt es drei Hoch- und fünf
Mitteldruckabgänge. An den Mitteldruck-
abgängen 4 lassen sich über einen
anschraubbaren Infl atorschlauch
etwa ein Trockentauchanzug oder eine
Tarierweste (BC Jacket) anschließen,
sodass der Taucher sich unter Wasser im
gewünschten Zustand der Schwerelosig-
keit befi ndet. An den Hochdruckab-
gängen 5 können unter anderem eine
Restdruckanzeige (Finimeter) und Rest-
druckwarnung („Specht“) angeschlossen
werden. Die Restdruckwarnung signa-
lisiert dem Taucher akustisch wie senso-
risch das Erreichen eines Flaschen-
drucks von 50 bar. Der dritte
Hochdruckanschluss ist für die Sendeein-
heit eines Tauchcomputers vorgesehen.
Der Lungenautomat wird über
seinen Eingang 6 mit dem Druck-
minderer verbunden und reduziert den
Mitteldruck auf jenen Druck, der
ein natürliches Atmen ermöglicht – in
10 Meter Wassertiefe sind das 2 bar. Diese
Luft steht dann entweder am Beißmund-
stück 7 oder an einem Steckanschluss
für eine Vollmaske (Typ: Dräger Panora-
ma Nova Dive) zur Verfügung. In diesem
Fall verhindert eine besondere Konstruk-
tion Verwirbelungen wie Resonanzen
und somit das „Flattern“ beim Atmen.
Ein kurzes Drücken der Vorderseite 8
entfernt als „Luftdusche“ eingetretenes
Wasser aus dem System. Zur einfachen
Reinigung lässt sich das Gehäuse ohne
Werkzeug öffnen. Das System muss alle
zwei Jahre gewartet werden und soll – bei
entsprechender Pfl ege – mindestens zehn
Jahre halten. Ein Blasenabweiser 9
lenkt die ausgeatmete Luft an der
Tauchmaske vorbei, sodass das Gesichts-
feld frei bleibt. Der Secor 7000 erfüllt
die Anforderungen der EN 250 und
ist damit auch zum Tauchen in kalten
Gewässern (bis 2°C) geeignet.
6
7
8
9
2
Natürlich atmen, unter Wasser
Durchatmen:Der Secor 7000 steckt nicht nur voller Tradition, sondern auch voller innovativer Details, die dasArbeiten unter Wasser sicherermachen und – aufgrund des niedrigen Atemwiderstands – erleichtern