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Spiele- und Geschichten-Spaß Mit dem kleinen Nick, den drei Räubern, den wilden Kerlen und vielen mehr »Ich gehe auf keine Demonstration. Ich bin selber eine.« Friedrich Dürrenmatt Genügend Stoff für ein Leben Die lang erwartete Dürrenmatt- Biographie von Peter Rüedi Peter von Matt Wie Dürrenmatt die Schweiz zwang, ein Literaturarchiv zu gründen Dürrenmatt privat Der Triumph der alten Dame, Bordeaux-Weine und Autos Dürrenmatt Magazin

Dürrenmatt Mgazina - stritto.com · mer. Ich sehe Dürrenmatt noch heute, wie er da sitzt und schreibt. Der Schreibtisch, den er Jonathan nannte, war Der Schreibtisch, den er Jonathan

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Spiele- und Geschichten-Spaß

Mit dem kleinen Nick, den drei Räubern, den wilden Kerlen und vielen mehr

»Ich gehe auf keine Demonstration. Ich bin selber eine.« Friedrich Dürrenmatt

Genügend Stoff für ein LebenDie lang erwartete Dürrenmatt-Biographie von Peter Rüedi

Peter von Matt Wie Dürrenmatt die Schweiz zwang, ein Literaturarchiv zu gründen

Dürrenmatt privat Der Triumph der alten Dame, Bordeaux-Weine und Autos

Dürrenmatt Magazin

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1Diogenes Magazin

Der Bleistift, womit ich schreibe, das Papier, das ich mit meiner Schrift bedecke, der Tisch, worauf ich schrei- be, die Bücher auf dem Tisch, sechs Duden, ein Fremdwörterbuch, der Sprachbrockhaus, ein altes Lexikon

der allgemeinen Weltgeschichte von 1882, ein französisches, ein englisches und zwei philosophische Wörterbü-cher, halb vollgeschriebene Blindbände, Gefäße mit Bleistiften, Schere und Kugelschreibern, ein Telefon, eine Uhr, die ich immer vergesse aufzuziehen, Geschenke von C.: ein großer Quarzstein, ein kleiner Silbertiger auf einem Stein vom Sinai, eine Kristallpyramide, ferner Gummi, Leim und Bleistiftspitzer, fertige und unfertige Manuskripte, die Schreibtischlampe, die auch tagsüber brennt, das große Löschblatt mit den Kaffeeflecken darauf und das andere Löschblatt, der Platz, auf dem ich zeichne, die Schallplatten, die Dose mit Nescafé, die Kaffeetas-se, die Thermosflasche, der große Schreibtisch ist immer zu klein.« Friedrich Dürrenmatt

Charlotte Kerr Dürrenmatt erinnert sich: »Friedrich Dürrenmatts Schreibtisch steht immer noch im Arbeitszim-mer. Ich sehe Dürrenmatt noch heute, wie er da sitzt und schreibt. Der Schreibtisch, den er Jonathan nannte, war Zentrum seines Lebens. Wenn wir von einer Reise zurückkamen, strich er immer als Erstes mit der Hand darüber und sagte: Mein lieber Schreibtisch. Dürrenmatt hatte ihn von seiner ersten Frau Lotti geschenkt bekommen. Als ich hier einzog, habe ich gesagt: Toller Schreibtisch, aber das ist ja ein Monstrum! – Wenn er dir nicht gefällt, zersäge ich ihn, antwortete Dürrenmatt. Und ich sagte: Um Gottes willen, nein, hier hast du dein ganzes Werk geschaffen. Am nächsten Tag lag eine Zeichnung da vom Schreibtisch mit Blumenstrauß. Und darunter stand: Danke, dass ich nicht zersägt werde, Jonathan.«

Schreibtisch Jonathan

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»Dürrenmatt gehört zu den ganz wenigen Genies

der Nachkriegsliteratur deut-scher Sprache. Ein Meteor wie Büchner und Kafka.«

Hans Mayer

»Er war mehr als nur ein kluger, neugieriger

Literat. Dürrenmatt ist ein Schöpfer gewesen.

Er durfte den stolzen Satz notieren: ›Wer eine Welt gebaut hat, braucht sie

nicht zu deuten.‹« Joachim Kaiser

»Einer der Giganten des 20. oder auch jedes

anderen Jahrhunderts.« New York Magazine

»In einer Welt, die den Verstand verliert,

gleicht sein Werk einem Aufschrei der Intelligenz.«

Le Monde

»Für den viel gescholtenen Literatur-Nobelpreis war

Dürrenmatt einfach zu gut.« Salzburger Nachrichten

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Die griechischen Sagen und die Geschichten aus dem Alten Testament, die ihm als Kind erzählt wurden,

beschäftigten ihn ein Leben lang. Sie wurden zu seinen künstlerischen Stoffen. Doch für seinen Glauben konnte der Vater, Dorfpfarrer von Konolfingen, den Sohn nicht gewinnen. Dürrenmatt wurde nicht Protestant, er protestierte: im Regiesitz des Theaters, am Schreibtisch, vor der Staffelei. Die Welt sah er als groteskes Labyrinth voller Pannen und schlimmstmöglicher Wendungen, als »Pulverfabrik, in der das Rauchen nicht verboten ist«, als Irrenhaus oder Güllen. »Nur das Komödiantische ist möglicher-weise heute noch der Situation gewach-sen. Wer verzweifelt, verliert den Kopf; wer Komödien schreibt, braucht ihn.« So wechselte Dürrenmatt »nach zehn Semestern Philosophie gleich ins Ko-mödienfach über«; statt seine Disser-tation über Kierkegaard und das Tra-gische schrieb er das Drama Es steht geschrieben. Während der Premiere 1947 im Zürcher Schauspielhaus »pfiffen die Zuschauer, statt zu gähnen«. Es war ein »glücklicher Start«, davon leben konnten er und seine Frau, die Schauspie-lerin Lotti Geiß-ler, aber nicht. Als Lotti kurz vor der Ge-burt ihres zwei-ten Kindes im Spital war, in dem auch der zuckerkranke Dürren-matt behandelt wurde, rief

dieser jeden Verleger an, den er kannte, und erzählte Ge-schichten, »die ich als Roman oder Erzählung schreiben würde. Ich muss zu meiner Ehre sagen, jedem erzählte ich

eine andere Geschichte. Und am Abend war ich fi-nanziell aus dem Schlimmsten heraus.« Als er mit 500 Franken Vorschuss für den Krimi Der Richter und sein Henker nach Hause kam, glaubte Lotti, das Geld sei gestohlen. Mit den Krimis und der Komödie Die Ehe des Herrn Mississippi hatte er Erfolg, der sich mit Der Besuch der alten Dame und Die Physiker zum Weltruhm steigerte. »Weil man mich meistens falsch verstand, wurde ich be-rühmt«, spöttelte Dürrenmatt. Nach Misserfolgen im Theater zog er sich im Alter von den Brettern der Bühne zurück und setzte sich in den Stoffen jahrelang intensiv mit seiner Arbeits- und Denk-weise auseinander: »Die Geschichte meiner Schriftstellerei ist die Geschichte meiner Stof-fe«, diese intellektuelle Biographie ist für sein Spätwerk ein Schlüsselwerk. Fast ein wenig in Vergessenheit geraten, rückte Dürrenmatt erneut ins literarische Rampenlicht, als Dio-genes 1981 eine Taschenbuch-Werkausgabe in 30 Bänden veröffentlichte. Die Physiker waren 1982 bis 1984 das meistgespielte Stück an Theatern in Deutschland, der

Roman Justiz wurde 1985 zum Best-seller. Dürrenmatt, der

am 5. Januar 1921 im klei-

nen Emmenta-ler Städtchen

Konolfingen ge-boren wur-de, starb am

14. Dezember 1990 kurz vor

seinem 70. Geburts-tag in Neuchâtel.•

Dürrenmatt»Ein Jahrhundert-

schriftsteller«

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4 Diogenes Magazin

Interview

Sie haben fast zwanzig Jahre an Ih-rer Dürrenmatt-Biographie gear-beitet. Gibt Ihnen Dürrenmatt nach wie vor Rätsel auf?Mehr denn je. Man könnte sagen, im Lauf dieser Arbeit (die zwar vor zwanzig Jahren begann, aber immer mal wieder kürzere oder auch längere Zeit wegen anderer Projekte ruhte) habe sich die Aufmerksamkeit vom Offensichtlichen ins Verdeckte, in vie-len Punkten ins Rätselhafte verscho-ben. Die nicht oder schwer erklärba-ren Punkte, diejenigen, denen sich Dürrenmatt selber nur indirekt über das vieldeutige Gleichnis nähern konnte, sind die faszinierendsten: zum Beispiel sein Sprung in die Schriftstel-lerei nach einer schmerzvollen und chaotischen Adoleszenz, zum Bei-spiel die Entwicklung von den christ-lich-religiösen-protestantischen Vor-aussetzungen einer Kindheit im Pfarrhaus über die Rebellion gegen den »Glauben meines Vaters«, dann

eine Strategie des Verbergens dieser Ursprünge bis zum Bekenntnis eines Atheismus, der aber nach wie vor reli-giös grundiert blieb (und sei’s im Wi-derspruch); die Verlagerung der Meta-physik in die Bereiche, in denen die Naturwissenschaften selbst zur Er-kenntnis gelangen, dass, wie es Max Planck sagte, auch in der Physik der Satz gelte, dass man nicht selig wer-den könne ohne den Glauben. Dür-renmatt selbst trieb um (und an), was er nicht erklären konnte. Deshalb der Titel meines Buchs: Die Ahnung vom Ganzen. Welches waren die größten Schwie-rigkeiten bei Ihrer Arbeit?Grundsätzlich: die Überwindung und Bewahrung der Distanz zum Gegen-stand meiner Bemühungen; für einen Thurgauer Agnostiker ist ein Berner Protestant ein noch fremderes Wesen als für den Zürcher Max Frisch (mit dem Dürrenmatts Kinder automa-tisch Hochdeutsch sprachen, wenn er

mal nach Neuchâtel zu Besuch kam). Praktisch: die organisatorische Bewäl-tigung einer Textmasse (derjenigen, die ich in Dürrenmatts Nachlass vor-fand, und derjenigen, die ich in zahl-losen Neuanfängen selbst produzier-te), die einen grundsätzlich induktiv, ja assoziativ organisierten Schreiber wie mich zeitweise überforderte. Ein Buch von über 900 Seiten, musste ich unter Schmerzen lernen, lässt sich nun mal nicht schreiben wie eine Ko-lumne oder ein journalistischer Essay. Hatte Dürrenmatt ein spannendes Leben?Mehr als einmal sagte er: »Ich habe keine Biographie.« Damit meinte er, er habe, was die äußeren Umstände betrifft, kein aufregendes Leben ge-führt mit jähen Brüchen im Lebens-lauf, mit ausgedehnten Reisen, mit »sensationellen« Wendungen welcher Art auch immer. Seine Abenteuer wa-ren geistiger Natur, aber es waren durchaus Abenteuer, die er mit den

»Dieser Autor hat unser ›Weltgefühl‹ verändert«, hat Joachim Kaiser über Dürrenmatt gesagt. Doch wer ist der Mensch hinter dem Schriftsteller? Peter Rüedi hat fast zwanzig Jahre lang an seiner Dürrenmatt-Biographie gearbeitet, die jetzt endlich erschienen ist. Ein Ereignis.

Peter Rüedi

Stoffe für eine große Biographie

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5Diogenes Magazin

Peter RüediDürrenmatt

oder Die Ahnung vom Ganzen

Biographie · Diogenes

Peter RüediDürrenmatt

oder Die Ahnung vom Ganzen

Biographie · Diogenes

960 Seiten, 12,5 x 20 cm, LeinenISBN 978-3-257-06797-2

Die erste große Biographie über Friedrich Dürrenmatt, vom Pfarrerssohn aus dem Emmental zum Autor von Weltruhm und

mit Millionen auflagen, glänzend und packend geschrieben von

Peter Rüedi, einem unumstrittenen Dürrenmatt-Kenner.

Buchtipp

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alpinistischen Grenzerfahrungen sei-nes Freundes, des Physikers Marc Ei-chelberg, im Himalaja verglich. De-nen versucht meine Biographie zu folgen. Auch deshalb beschäftigt sie sich mit dem Werk ebenso wie mit dem darin verknäuelten Leben. Wer auf sensationelle Indiskretionen aus ist, den muss ich leider weitgehend enttäuschen.Was hat Sie am Menschen Dürren-matt am meisten überrascht?Die Verbindung von einem Geist, der, wie er sagte, die »Schöpferkraft des Kindes«, also eine Art Naivität in der Sicht auf die Welt, mit den höchst komplexen Strukturen seines Den-kens mühelos verbinden konnte. Ich könnte auch sagen: wie seine bildhaf-ten, ja visionären Einfälle seine Ge-dankenwelten erschütterten, ja zum Einstürzen brachten, ist schon sehr aufregend zu verfolgen. Damit hängt die Gelassenheit zusammen, mit der er, der nach außen so selbstsicher wirkte, in allen Phasen seines Lebens ein Scheitern in Kauf nahm. Seinen größten Erfolgen am meisten miss-traute. Sie sprechen in Ihrer Biographie von Dürrenmatts Lebensmustern – wel-che sind das?Die Auferstehung. Die Heimkehr. Die Wiederholung. Der Wechsel von Krisen und Auferstehungen, am ein-drücklichsten nach seiner letzten schweren Theaterniederlage mit dem Stück Der Mitmacher (1973), welche Krise sein Alterswerk, die einzigartige Mischform seiner späten Prosa nicht nur, aber vor allem in den Stoffen, erst eigentlich geboren hatte. Die Heim-kehr zunächst wörtlich verstanden als Rückkehr in das Dorf seiner Kindheit, das er mit 14 Jahren verlassen hatte: immer wieder in Momenten, in denen Selbstversicherung gefragt war. Im übertragenen Sinn: die Heimkehr in die Erinnerung, zu verschütteten frü-hen Eindrücken, Erlebnissen, aus de-nen wuchs, was er seine Stoffe nannte. Damit verbunden: die Wiederholung, aber nicht als Stillstand, sondern als Bewegung vorwärts. Im Klartext: Alles hängt in Dürrenmatts Werk mit allem

zusammen, früheste Motive tauchen im Spätwerk wieder auf. Diese zykli-sche Anlage seiner Phantasie führte zum Missverständnis, Dürrenmatt habe gegen Ende seines Lebens aus Schwäche auf alte Themen oder Moti-ve zurückgegriffen. Nichts ist verfehl-ter. Schon seine frühe Prosa war ein Rückgriff; als er sie für die Veröffent-lichung 1952 wieder bearbeitete, war er über die finsteren Visionen seines wesentlich von Kafka geprägten Ex-pressionismus längst hinausgelangt in die Welt seiner Komödien. Aber auch die waren ›Wiederholungen‹, hingen mit dem Frühwerk enger zusammen, als es auf den ersten Blick scheinen mochte. Was darin neu war: eine Qua-lität, auf die es Dürrenmatt nun zeitle-bens ankommen sollte – Humor. Dürrenmatt hat fast zwanzig Jahre Ihr Leben begleitet. Wie hat Sie das geprägt?Nochmals: Es gab viele Unterbrüche in diesen zwanzig Jahren, ich kann mich nicht zum Sklaven auf der Ga-leere Dürrenmatt stilisieren. Natür-lich hat mich die Beschäftigung mit diesem ungewöhnlichen Autor auch geprägt, vor allem in dem Sinn, dass ich mich, bei Dürrenmatts Generalis-mus, mit Themen befassen musste, von denen ich zu Beginn keine Ah-nung hatte und für die ich auch keine Voraussetzungen mitbrachte. Der »Dilettantismus«, den Dürrenmatt ge-legentlich für sich in Anspruch nahm, traf für mich sozusagen im Quadrat zu. In diesem Sinn war diese Arbeit wie eine Art zweiter Bildungsweg, ein studium generale. So weit, dass auf meinem Nachttisch Karl Barths Kirchliche Dogmatik als Bettlektüre läge, ist es dann doch nicht gekom-men. Ich habe schon versucht, mir nicht abhandenzukommen, auch wenn das zeitweise etwas schwierig war.Welches Buch von Dürrenmatt ha-ben Sie am häufigsten gelesen? Wel-ches ist Ihr Lieblingsbuch?In beiderlei Hinsicht: die Stoffe. Un -ter den Kriminalromanen liebe ich besonders Das Versprechen, im Spät-werk das, wie ich meine, weit unter-

schätzte Durcheinandertal. Aber wie ich schon sagte: Bei kaum einem Au-tor hängt so sehr alles mit allem zu-sammen. In diesem Sinn muss ich sagen: Mein Lieblingsbuch ist Dür-renmatts Gesamtwerk.Welches Buch würden Sie als Ein-stieg in das Œuvre von Dürrenmatt empfehlen?Die Kriminalromane, zumal Das Ver-sprechen.Welches Werk von Dürrenmatt ist Ihrer Meinung nach zu wenig be-kannt?Das Frühwerk, das Spätwerk. Eigent-lich alles außer dem, was Dürrenmatt »meine Bestseller« nannte (Der Rich-ter und sein Henker, Der Besuch der alten Dame, Die Physiker).Sie haben Dürrenmatt kurz vor sei-nem Tod im Dezember 1990 getrof-fen, um ihn über sein Leben auszu-fragen. Gibt es Fragen, die zu stellen Sie versäumt haben?Ungefähr alle wichtigen. Meine Igno-ranz war ebenso groß wie Dürren-matts Geduld, mit der er sie großzü-gig übersah. Ich gäbe viel darum, jene Gespräche noch einmal führen zu dürfen. Von meinem heutigen Stand des Nicht-Wissens aus.•kam

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DürrenmattTheater

Essays, Gedichte, Reden

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DürrenmattRomulusder GroßeUngeschichtlichehistorischeKomödie

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Am Anfang des Besuchs der alten Dame stand ein »Zufall«. Ein

Bühneneinfall, aus dem sich die Handlung des Stücks entwickelte und an dem sich wiederum verdeckte Mo-tive und alte Stoffe Dürrenmatts ent-zündeten. »Ich hätte die Alte Dame nicht geschrieben, wäre mir die Büh-nenidee dazu nicht eingefallen.« Lotti Dürrenmatt war am 2. März 1955 we-gen einer Gebärmuttersenkung im Berner Salem-Spital operiert worden. Dürrenmatt besuchte seine Frau täg-lich. Auf den Zugfahrten zwischen Neuchâtel und Bern hielt der Schnell-zug wegen der eingleisigen Strecken-führung auch in den kleinen Bahnhö-fen von Ins und / oder Kerzers im Berner Seeland. Tag für Tag hielt Dür-renmatts Zug an diesen herunterge-kommenen kleinen Provinzbahnhö-fen.

Am Bahnhof beginnen und enden Geschichten. Die im Western, aber auch die der schrecklichen Heimkehr der Claire Zachanassian. Wenn Claire Zachanassian, geborene Kläri Wä-scher, per Notbremse den D-Zug in Güllen kreischend zum Stehen bringt, ist das ein Auftritt, der schon das gan-ze Gefälle zwischen der schwerrei-chen Vertriebenen und dem herunter-gekommenen Ort ihrer Jugend an-zeigt: Ein großer Auftritt mitten in Luzern in das mickrige Empfangs-komitee der Güllener. An diesem Elendsflecken hatte seit langem kein Schnellzug mehr gehalten, schon gar kein internationaler, jetzt bringt die reichste Frau der Welt hier den »Ra-senden Roland« zum Stehen. Aus die-sem vorgestellten Szenario ergab sich zumindest der erste Akt »wie von selbst« (Dürrenmatt). Der Bahnhof

impliziert eine Ankommenssituation, welche die Grundstruktur des Stücks und sein Personal bestimmte, eine Art Triptychon mit Bahnhof. In einem Ringbuch findet sich der frühe Ein-trag: »Bahnhof. Schnellzug hält durch Ziehen der Notbremse. Schlussbild ebenfalls Bahnhof. Ebenfalls Mittel-bild. Die Männer auf der Bahnhofs-bank. Bahnhofsbuffet.«

Bei der Entscheidung für den Transport der Geschichte auf die Büh-ne gab es, wie Dürren matt einräumte, auch einen ganz banalen Grund: Von einem Stück waren höhere Einnah-men zu erwarten als von einer Er-zählung. In welchem Ausmaß gerade Der Besuch der alten Dame seine Lebensumstände ändern sollte, konn-te er nicht ah nen; auch nicht, dass ausgerechnet ein Stück, welches ein Wirtschaftswunder zum Thema hatte,

Am 29. Januar 1956 findet im Schauspielhaus Zürich die Uraufführung von Der Besuch der alten Dame statt, in den Hauptrollen Therese Giehse und Gustav Knuth. Daraufhin tritt die Alte Dame ihren Siegeszug an: zunächst im deutschsprachigen Raum, wo sie zwei Jahre in Folge das meistgespielte Stück ist, und dann weltweit: in Japan, Frankreich, England, Polen … Die Inszenierung von Peter Brook 1958 am New Yorker Broadway wird zum ›Best Foreign Play‹ gekürt. »Der Besuch der alten Dame war mein Durchbruch«, so Dürrenmatt, »es ist mein popu-lärstes Stück«: mehrfach verfilmt, als Oper adaptiert und bis heute weltweit gespielt. Der Tri-umph schlägt sich auch in barer Münze nieder – der Wohlstand »überrumpelt« den Autor.

Peter Rüedi

Der Triumph der alten Dame

Dürrenmatt, ca. 1959

Links: ›Das Arsenal des Dramatikers‹ (Selbstportrait), Feder, 1960

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seinen eigenen Wohlstand begründete. Zum ersten Mal registrierte Dürren-matt, dass es auch sein persönliches Güllen in Gülden verwandeln könnte. Erst einmal reichte es »fürs Gröbste«. Bald jedoch stellte sich ein Wohlstand ein, der sich von außen wie Reichtum ausnahm. Dürrenmatt betrachtete das gelegentlich wie einen alchimistischen Vorgang. Der mehr oder weniger plötzliche Wohlstand war dem pro-tes tantisch geprägten Emmentaler un-heimlich. »Vor dem Erfolg«, sagte er 1985 Fritz J. Raddatz, »schrieb ich aus der harten Not wendigkeit heraus, Geld zu verdienen. Ich hatte eine Fa-milie durchzubringen. Natürlich schrieb ich nicht nur, um Geld zu ver-dienen. Ich schrieb, weil ich Schrift-steller war, und es war mein Stolz, als Schriftsteller durchs Leben zu kom-men. Ich versuchte al les, was ich schrieb, möglichst gut zu schreiben, auch die Kriminalromane. Mit dem Erfolg fiel allmählich die harte Not-wendigkeit weg. Jetzt bräuchte ich nicht mehr zu sch reiben und bin ei-gentlich verlegen, wenn man mich fragt, warum ich noch schreibe. Die Antwort ›aus innerer Not wendigkeit‹ ist mir zu pathetisch, wie ich ja auch das Wort ›Dichter‹ nicht mag. Ich gebe zur Antwort: ›Weil ich die schlechte Angewohnheit nun einmal habe‹, oder so etwas. Aber dass ich plötzlich ziemlich viel Geld verdiente, hat mich schon überrumpelt.«

Daraus sprach, im Rückblick, sein Misstrauen gegenüber dem Erfolg überhaupt; oder, umgekehrt, die Ent-täuschung darüber, sich mit den für ihn dringlichsten Anliegen missver-standen zu sehen.

Bei Der Besuch der Alten Dame kommt, mehr noch als bei seinen an-deren »Evergreens«, ein tieferes Un-behagen auf. Eine instinktive Scheu, das Gefühl, dem Teufel seine Seele verkauft zu haben? Es gibt eine sehr bewegende Stelle im insgesamt be-rührenden Film Portrait eines Plane-ten von Charlotte Kerr über Dürren-matt (nie war Dürrenmatt so offen wie in diesem Moment der ersten Ver-liebtheit). Kerr sollte nach Lottis Tod

1983 ein Jahr später seine zweite Frau werden. Die Zachanassian, sagt er da, sei ja auch eine Frau Welt, und das Stück die Tragödie des Reichtums, und er frage sich, inwiefern das auch ihn betreffe. Und dann, ganz ernst und doch wie nebenher, der eigenarti-ge Satz: »Bei einem Erfolg hat man immer das Gefühl einer Schuld. Ich habe das Stück auch nie geliebt.« Und

weiter: »Das [der plötzlich hereinbre-chende Wohlstand] war ein enormer Schock. Zuerst stellt sich das Gefühl ein: Wa rum noch schreiben? Auf den Proben in Paris saß hinter mir ein Herr, der sich als Eugène Ionesco her-ausstellte, und der sagte zu mir: ›Wenn ich so ein Stück geschrieben hätte, würde ich nicht mehr schreiben.‹« Das Schwierige war die Wende. Was die Läh mung nach Dürrenmatts eige-

Szenenfoto aus der Hollywood-Verfilmung ›The Visit‹ mit Ingrid Bergman und Anthony Quinn. Dazwischen: Erstausgabe, Verlag Die Arche, 1956

ner Aussage verhinderte, war die Zucker krankheit. »Und Zucker ist na-türlich eine Bremse, zwingt zu Diszip-lin. Schreiben ist auch eine große Dis-ziplin. Das spukt immer in Ihrem Hinterkopf. Und wenn Sie Ihren Ge-genstand mal loslassen, stürzen Sie in eine große Leere.«

»Durch Zufall kam mein Ruhm zu-stande, durch Zufall der Abbau mei-nes Ruhms. Als Dramatiker bin ich ein unvermeid liches Missverständ-nis.« Nicht nur in seinen Misserfolgen fühlte sich Dürrenmatt falsch ver-standen, sondern auch in seinen Er-folgen. Dürrenmatt lebte königlich mit wenig Geld, zum Verdruss vie ler, die ihn unterstützen und dafür De-mutsgesten erwarteten. Genau die hatte er aber immer verweigert, und er sollte sie auch nie verlangen, als er selbst zum Angepumpten wurde. Dürrenmatt wird mit seinem Reich-tum umgehen, wie er mit seiner Ar-mut umgegangen war: un-verschämt im Wortsinn.

Allerdings hatte er immer darauf hingewiesen, schwieriger als der Krieg sei der Frieden zu bestehen. Mutatis mutandis könnte das auch für den Umgang mit dem eigenen Wohlstand gelten: dass den Wohlstand zu »beste-hen« schwieriger sein könnte als das Überleben in Armut.

Einer Schweizer Fernsehzeitschrift, die ihn 1979 unzimper lich fragte, was ihm »das Erfolgsstück Der Besuch der alten Dame« eingebracht habe, ant-wortete er: »Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Aber si cher hat mir die Alte Dame einige Millionen gebracht, doch ich habe diese Millionen wieder ausgegeben. Man gibt nämlich sehr schnell eine Million aus. Ich habe jetzt hier drei Häuser, ich habe immer ge-baut. Ich habe nicht viel Geld auf der Bank. Ich hatte nie ein Mietshaus. Ich finde es unmoralisch, dass Leute mir Geld geben würden, um zu wohnen. Ich muss immer noch schreiben, um überhaupt leben zu können. Ich lebe wie ein Millionär, aber ich kann nicht sparen. Man muss geizig sein, um Geld auf die Seite zu bringen!«•

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Der erste bescheidene Wagen, den sich Dürrenmatt anschaffte, war

ein Opel Rekord. Am 5. Juli verzeich-net die Agenda: »Erste Fahrt im Wa-gen.« Am 10. Juli absolviert er die ers-te Fahrstunde, und am 11. notiert er: »Auto beschäftigt mich / Panne.« Be-zeichnend, dass nicht auszumachen ist, ob dies das neue Gefährt oder die Erzählung betrifft, in welcher der vom alten Citroën zum Studebaker aufgestiegene Handelsreisende Traps sich in sein Gericht verstrickt. Dann, am 4. Oktober: »Durchs Examen ge-fallen.« Da hatte seine Frau Lotti den Führerschein schon längst. Endlich, am 23. November, bestand auch Dür-renmatt die Prüfung. Dass über seiner automobilistischen Karriere ein glücklicher Stern gestanden hätte, wird keiner behaupten und jedermann verstehen, der je das zweifelhafte Ver-gnügen einer Ausfahrt mit Dürren-matt hatte. Es war schon eher eine Art höhere Vorsehung, die ihn durch alle Crashs rettete. Am 25. März fährt er nach Zürich, in Wohlen rennt ihm ein Knabe in den Wagen, ohne gravieren-de Folgen, aber immerhin taucht in Neuchâtel die Polizei auf (29. März 1957: »Polizei im Haus. Sie nehmen mich ein«). Das Dokument der Staats-

anwaltschaft des Kantons Aargau be-scheinigt, »ein Verschulden des Mo-torfahrzeugführers Fr. Dürrenmatt an der Kollison mit dem Knaben Bader« sei nicht nachzuweisen.

Es war der erste einer langen Reihe von Unfällen. Im Februar 1958 ver-merkt die Agenda: »Neuer Wagen«, nach dem kleinbürgerlichen Rekord nun ein bürgerlicher Opel Kapitän. Am 27. Juli 1958 fährt Dürrenmatt mit Vater Reinhold von Bern nach Herzo-genbuchsee, um am Grab von Groß-

vater Ulrich dessen 50. Todestags zu gedenken. Um einem Radfahrer aus-zuweichen, lenkt Dürrenmatt den Wagen in ein Feld. Vor Neujahr schließt er, in kluger Voraussicht, eine Vollkaskoversicherung ab. Es sollte nicht lange dauern, bis sie zum ersten Mal in Anspruch genommen wird. Auf der Rückfahrt von der Premiere von Frank V. (als hätte der Durchfall seines Lieblingsstücks nicht gereicht) stand am 21. März 1959 der »Kapitän« auf offener Strecke in Brand. Wenig

später, jetzt ist er mit einem Chevrolet Corvair unterwegs, ereignet sich im Wallis ein Unfall: Er bleibt mit aufge-rissener rechter Seite am Straßenrand stehen und kauft nach der Rückkehr stante pede einen silbergrauen Chev-rolet Impala, mit der Bemerkung: »Die Straße ist ein Schlachtfeld, ich habe die Möglichkeit, mir einen Tank zu kaufen, also beschaffe ich mir ei-nen.« Agenda 27. August 1959: »Be-schädigtes Auto.« Dem folgte ein blaumetallisierter Chevrolet Bel Air mit großen Heckflügeln. Oder war’s schon der grüne Buick mit Automa-tik? Mit einem davon schlitterte er je-denfalls auf dem Weg in die Ferien bei Les Échelles (Savoyen) gegen einen Pfeiler. Von da an fährt er fast nur noch große Amerikaner. Jörg Steiner, der ihn Mitte der sechziger Jahre mit einem Freund mit einem 2 CV be-suchte, erinnert sich, dass Dürrenmatt die beiden jungen Männer für ver-rückt hielt, sich »mit so wenig Blech vor dem Bauch in den Verkehr zu wagen«. Agenda 4. September 1965: »Auto zusammenstoß«, 8. Juni 1974: »Nach Neuchâtel. Autozusammen-stoß.« Und so weiterundsofort: »19. No-vember 1982 Autounfall«, »11. Septem-ber 1984 mit Charlotte bei Advokat Ribeaux. Auto gestreift.« »18. Feb ruar 1987: Moskau – Zürich – Neuchâtel. Un glück mit Wagen.« Wie heißt es in Turmbau? »Der Mensch am Steuer ist für jede Verkehrsordnung unbere-chenbar.« Dürrenmatt wusste, wovon er sprach.•Peter Rüedi

Dürrenmatt und das Auto ist ein schmerzensreiches Kapitel. Sozusagen eine einzige Panne, wie die Erzählung aus dem Jahr 1955 heißt, in dem sich Dürrenmatt sein erstes Auto kauft.

Der Mensch am Steuer ist für jede Verkehrsord-nung unberechenbar.

Der Bruchpilot

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FriedrichDürrenmatt

DiePanne

Erzählung

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Gelesen vonChristianBrückner

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Marcel Reich-Ranicki

»Dürrenmatt ist ein Jahrhundert-

schriftsteller.«Georg Hensel

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»Eine der besten Erzählungen nach 1945. Ein Meisterwerk sonder-

gleichen.« Marcel Reich-Ranicki

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Schon früh hat sich Dürrenmatt mit Vorliebe an Bordeaux gehalten,

und zwar mit wenigen Ausnahmen an rote. Die Absolution dazu erhielt er von seinem Freund Schertenleib, der einsah, dass Appelle zur Mäßigung bei diesem Patienten nichts fruchteten und schon viel erreicht war, wenn der sich an Weine ohne Restsüße hielt. An Bordeaux eben. Diese Diät war auszu-halten.

Jetzt, nach der Alten Dame, war er in der Lage, diese Ressourcen in grö-ßerem Maße sicherzustellen. Sein Lie-ferant war zuerst vornehmlich André Châtenay, der Ehemann der legen-dären Yvonne von Wattenwyl. Er führte eine Weinhandlung zwischen Colombier und Boudry und vertrat »einen alten Weinhändler in Bordeaux, der mehrere Schlösser besaß und nur noch Château d’Yquem trank und Austern aß« (eine nicht nur dem Dia-betiker wenig bekömmliche Mariage).

Weine aus der Region trank Dürren-matt nur, wenn es aus protokollari-schen Gründen nicht zu vermeiden war, etwa anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Neuchâtel. Max Frischs Vorliebe für Ostschweizer Blauburgunder (soge-nannte Beerli-Weine) verstand er so wenig wie Frisch Dürrenmatts oppu-lenten Umgang mit großen Bordeaux. Anfangs kaufte er auch gern noch ge-legentlich die Weine von Cordier, Château Talbot und Château Meyney, bei »Planteurs reunis de Lausanne«. Lynch-Bages mochte er schon früh, wie überhaupt die Weine aus Pauillac. Jetzt konnte er sich die besten leisten: Château Latour vor allem, Château Lafite und Mouton Rothschild.

In der Panne legte er noch ein paar fal-sche Fährten, kaum aus Ignoranz, sondern um sich einen Scherz mit sei-nen Lesern zu erlauben. Château Pi-

chon Longueville 1933 kann in den Fünfzigern keine Offenbarung mehr gewesen sein, so wenig wie der »Châ-teau Margot 1914«, der erstens falsch geschrieben ist (richtig: »Margaux«) und zweitens aus einer mäßigen Ernte stammt. Allein der »Château Pavie 1921« stammt aus einem großen Jahr-gang. Dürrenmatts eigenem.

Ein eigentlicher Quantensprung setzte ein, als er nach dem Bau des zweiten Hauses einen ganzen Keller aus dem Bordelais kaufte. Der Besit-zer von Château Villemaurine, ein kleiner, aber feiner Produzent im Saint-Émilion, unmittelbar vor den Toren des gleichnamigen Städtchens, war mehr für seine labyrinthisch ver-zweigten alten Kelleranlagen bekannt (allein dieses Labyrinth wäre für Dür-renmatt ein Kaufgrund gewesen, hätte er davon gewusst) als für den Wein selbst. Dürrenmatt kaufte, »für lum-pige 10 000.– Franken«, en bloc die

Noch bevor er zu Wohlstand kam, war Friedrich Dürrenmatt schon ein großer Weintrinker. Seinen legendären Weinkeller konnte er aber erst anlegen, als er für diesen Luxus in seinem zweiten Haus in Neuchâtel Platz geschaffen hatte: im großen Luftschutzkeller.

Peter Rüedi

Dürrenmatt und Wein

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Tusche-Zeichnung von Dürrenmatt, ca. 1963. Dürrenmatt hielt wenig von den Schweizer Weinen und belächelte

diesbezüglich seinen Schriftsteller-kollegen Max Frisch.

Links: Dürrenmatt, ca. 1963. Auf dem Foto eine Widmung an seinen Wein-händler: »An meinen lieben Freund,

Vater und Lehrer im Bordeaux- Wein genießen André Châtenay.

Alle die hier sichtbaren [und unsicht-baren] Bordeaux-Flaschen geliefert von

André Châtenay [le terrible]«.

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ganzen Bestände und verbreitete dar-über zwei Legenden. Nach der einen hatten die Ärzte dem Besitzer jegli-chen Alkoholkonsum verboten, und dieser habe den Gedanken nicht ertra-gen, den Rest seines Lebens über sei-nen verbotenen Schätzen zu verbrin-gen. Nach der andern habe dieser die Braut seines Sohnes und Erben so ge-hasst, dass ihn die Aussicht, die künf-tige Schwiegertochter könnte sich der großen Bestände über seinen Tod hin-aus erfreuen, das Ganze zu einem Schleuderpreis verkaufen ließ. Beide Versionen sind wohl eher Dürren-matt-Geschichten. Die Praxis, im Bordelais ganze Keller zu kaufen, be-hielt er bei. Er nannte das später »mei-nen Witwenwein«, weil es sich dabei hauptsächlich um Hinterlassenschaf-ten von lokalen Anwälten, Ärzten, Professoren handelte, deren ratlose Witwen mit den verstaubten Bouteil-len nichts anzufangen wussten. Mit der Zeit war seine Vorliebe für Bor-deaux so bekannt, dass ihm sogar aus Frankreich ganze Partien angeboten wurden.

Wie auch immer: Die Weine von Villemaurine waren überaus gepflegt, das heißt, sie waren regelmäßig neu verkorkt und der sogenannte Schwund ausgeglichen worden. Und zur Liefe-rung (deren Transport zwei Lastwa-gen benötigte) gehörte weit mehr als Eigenbau von Villemaurine. Die Herrschaften im Bordelais (ganz im Gegensatz zu den in der Regel eher bäurischen und eigenbrötlerischen Winzern im Burgund) unterhalten ge-genseitig einen gesellschaftlichen Ver-kehr in großem Stil, was auch heißt, dass sie unter sich ihre Weine austau-schen. Zudem war der Besitzer von Villemaurine auch ein wichtiger Händler. Auf einen Schlag hatte Dür-renmatt also in seinem Keller eine Zeitmaschine. Praktisch jedem Gast konnte er eine Bouteille seines Jahr-gangs dekantieren. Wenn auch nicht mir: 1943 war zwar nicht schlecht, aber die Ernte unter Kriegsbedingun-gen mager, und von dem Wenigen ging viel verloren; die deutschen Be-satzer soffen, wurden sie nicht ver-

Mir ist ein Besuch Mitte der siebziger Jahre unvergesslich. Zuweilen arbeitet auch der Kulturjournalist unter Ein-satz von Leib und Leber. Das Datum ist verblasst, wie die Tinte, mit der Dürrenmatt mir die Etikette eines 1928er Villemaurine signierte. Auch der Anlass ist mir entfallen – er wird wohl eher ein Vorwand gewesen sein. Es war die Zeit, da sich Dürrenmatt vom Theater verabschiedet hatte. Er arbeitete an dem, was später seine »Altersprosa« heißen sollte, vor allem an den Stoffen. Den Mitmacher-Kom-plex mit seinem weit über das Stück hinauswuchernden Nachwort und dem Nachwort zum Nachwort ver-stand die Kritik als Rechthaberei statt als akribische und schonungslose po-etologische Selbsterforschung. Sein Israel-Buch, Zusammenhänge, blieb fast unbeachtet (überhaupt hatte ihn nicht zuletzt sein Engagement für Is-rael aus der Gnade der tonangeben-den Feuilletons fallen lassen). Es war einsam geworden am Pertuis-du-Sault, und Dürrenmatt war dankbar für Ge-sellschaft. So entkorkte er bald eine Flasche Brane-Cantenac 1970, das war noch vorstellbar und im Keller eines 30-jährigen Redaktors auch vorhan-den. Schon der 1961er Pauillac (ich weiß nicht mehr, welcher) ging darü-ber weit hinaus, wie alles Weitere auf dem folgenden Abstieg in mythologi-sche Tiefen: ein 1955er Château Pal-mer, dann Villemaurine 1947, ein 1928er seines geliebten Latour. Zum ersten Mal im Leben trank ich dann Jahrgänge wie 1911 und 1904, um end-lich, mit Dürrenmatt als Cicerone, den endgültigen Abstieg in den Hades zu wagen: Ich meine mich an einen Wein von 1871 zu erinnern und einen Scherz Dürrenmatts, der habe schon angezeigt, dass die französische Kapi-tulation keine endgültige habe gewe-sen sein können. Fritz dekantierte mit rauschender Nonchalance, er schütte-te die Bouteillen in die Karaffe, als wär’s Rioja aus dem Supermarkt. Alte Weine trinken ist eine eigenen Kunst, wir jungen Spunde waren ihr niemals gewachsen. Immerhin merkten wir, dass die cadaveri eccellenti ihre eigene

steckt, auch die jüngsten Weine weg, die nicht versteckt oder in Hitlers Berghof oder in den Keller anderer Nazi-Größen abtransportiert wurden. Dürrenmatts eigener Jahrgang, das heiße Jahr 1921, wir sagten es, brachte außergewöhnliche Weine hervor. Der Glückliche hatte für alle künftigen Geburtstagsfeiern ausgesorgt (wäh-rend seine Frau Lotti über die 1919er, die er ihr zu Ehren öffnete, mit Grund

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Dürrenmatt hatte in seinem Keller eine Zeit-

maschine. Praktisch jedem Besucher konnte er

eine Bouteille seines Jahrgangs dekantieren.

die Nase rümpfte, der Jahrgang taugte nicht viel). Hoch willkommen waren, bis die beiden sich nach dem Basler Theaterkrach 1969 auseinanderlebten, Besuche von Werner Düggelin in Neuchâtel. 1929 war, nicht anders als das Jahr davor, ein Jahrhundertjahr-gang. Noch heute sagt Düggelin (wie viele andere auch), Dürrenmatt habe ihm das Bordeaux-Trinken beige-bracht.

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Würde haben. Um uns war ein Hauch von Kapuzinergruft. »Dämmerung senkte sich von oben, schon ist alle Nähe fern«, wer erinnert sich schon an ein Goethe-Gedicht: »Alles schwankt ins Ungewisse / Nebel schleichen in die Höh’ / Schwarzvertiefte Finster-nisse / Widerspiegelnd ruht der See.« Irgendwann kamen wir ins Bett, ir-gendwie, von Dürrenmatts Spezialität endgültig gefällt: Er liebte es, den letzten Schluck mit dem Satz in einen Schwenker zu gießen und die gleiche Menge Cognac zuzufügen. (Mit Cog-nac trieb er auch sonst gern Scherze. Marc Eichelberg, der Freund, erinnert sich, wie er im Münchner Hotel Vier Jahreszeiten einen Sommelier aus der Fassung brachte, indem er hinter des-sen Rücken einen Latour mit einem Viertel Cognac versetzte und den irri-tierten Gast spielte.) Fünf Stunden später hörte ich Schritte. Dürrenmatt war an der Arbeit. Seine Konstitution im Umgang mit Alkohol war un-glaublich.

Wenn auch nicht grenzenlos. Es wäre unredlich zu verschweigen, dass ihm zeitweise der Sinn ebenso nach Quantität wie nach Qualität stand (die für ihn ohnehin eine Selbstver-

Tipps

DürrenmattLabyrinthStoffe I-III

Der Winterkrieg in TibetMondfinsternisDer Rebell

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Diogenes Taschenbuchdetebe 23068, 336 Seiten

ständlichkeit war). Er war kein Wein-degustator, er war ein Weintrinker. Peter Bichsels Satz, »wäre im Wein kein Alkohol, es gäbe auf der Welt keinen einzigen Weinkenner«, wider-legte Dürrenmatt jedenfalls nicht. Im-mer wieder tauchen in den Agenden der sechziger und siebziger Jahre Stoßseufzer auf: »Zu viel getrunken«, »Weniger Alkohol!!!« Das betraf frei-lich auch, mehr noch als seinen, den Alkoholkonsum seiner Frau Lotti. Der machte ihm Sorgen, und er wuss-te, dass er ihm Vorschub leistete, wo-bei zu vermuten ist, dass er von den wahren Ausmaßen des Alkoholkon-sums seiner Frau entweder nichts wusste oder nichts wissen wollte. Je-denfalls wundert er sich in einem Brief an seinen Freund Tuvia Rübner, den israelischen Lyriker und Überset-zer, dass Lottis Leberwerte sich nach einer radikalen dreimonatigen Kur (während der sie mehr als fünfzehn Kilo abgenommen hatte) noch immer nicht normalisiert hatten. Es war einer der Momente, in denen er auch für sich Konsequenzen zog, nicht zuletzt aus Solidarität zu Lotti (aber auch auf Anraten seiner Ärzte). Im undatierten, sehr offenen Brief an Rübner (nach dem Empfänger vom 16.7.1978) schreibt er, nach Schilderung von Lot-tis Leidensweg: »Ich musste seit lan-gem wieder Insulin spritzen, mein Gewicht war nun auf 95 Kilo gestie-gen. Ich nahm nicht mehr als 1200 Ka-lorien zu mir, seit Mitte März brauche ich kein Insulin, und mein Gewicht ist nun 80 Kilo. Mein Fehler war, dass ich zu viel soff, meine Komödie: Jetzt trinke ich mäßig, aber vertrage nur noch Weißwein, den ich als Besitzer des berühmtesten – und berüchtigs-ten – Rotweinkellers der Schweiz über diesem – er ist unter meinem Arbeits-zimmer – mit meiner Frau trinke. Wir vertragen beide zusammen gerade noch hin und wieder eine Flasche Weißen – leider versetzte mich meine neue Lebensweise in eine Arbeitswut, die ich eigentlich noch nie an mir er-lebt habe.« Wie lang er sich daran ge-halten hat, ist nicht bekannt.•Peter RüediFo

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Portrait einesPlanetenFriedrich DürrenmattEin Filmvon Charlotte Kerr

Director’s CutNeufassung 2006

2 DVD /194 MinutenDiogenes

2 DVD, Spieldauer 194 MinutenISBN 978-3-257-95140-0

Der monumentale Dokumentarfilm von Charlotte Kerr: Nie war der Einblick in die Arbeitsweise und

Gedankenwelt Dürrenmatts direkter und fesselnder.

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Aus den ›Stoffen I-III‹

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Gelesen vonWolfgang

Reichmann

»DürrenmattsVermächtnis. Einesder letzten großen(deutschen) Werke

des 20. Jahr-hunderts.«

Die Zeit

»Dürrenmatt ist dergroße Kritiker der

›condition humaine‹.«La Stampa

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2 CD, Spieldauer 124 Min.ISBN 978-3-257-80028-9

»Ein Gebirge von einem Buch. Oder, zerfurchte Landschaft eines Gehirns.

Erzählende Prosa, Erinnerung, Philo sophie; Politik und Physik;

Bekenntnis und Entwurf. Es ist die Summe des Privatnachdenkers

Dürrenmatt und der Ansatz einer verweigerten Autobiographie und zugleich eine Art Poetik: Dürren-

matts Vermächtnis. Eines der letzten großen (deutschen) Werke des

20. Jahrhunderts.« Dieter Bach-mann / Die Zeit, Hamburg

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14 Diogenes Magazin

Als ich zum ersten Mal Dürrenmatt las, arbeitete ich als Buchhändler

in Zürich. Ich war als gestrandeter Gymnasiast aus der Provinz, aus Ein-siedeln, in diese neue, faszinierende Welt gekommen. Für mich war das wie ein Märchen – ich besuchte Aus-stellungen, ging ins Theater, ins Kino, manchmal dreimal am Tag. Es war Ende der vierziger Jahre, die große Zeit des Schauspielhauses, die Zeit der großen amerikanischen, französi-schen und italienischen Filme.

Ich hatte eine besondere Vorliebe für Groteskes, Satirisches, las gerne Heine, Busch, Morgenstern, Rin-gelnatz und (Erich) Kästner, Poe, Wil-de, Twain und (Evelyn) Waugh – und eben (Friedrich) Dürrenmatt. Von

Inzwischen hatte ich erfahren, dass er selber zeichnete, häufig auch Karika-turen – also genau das, was mich als Verleger interessierte.

Dürrenmatt wohnte oberhalb von Neuchâtel. Die erste Begegnung be-stätigte das Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte: Er war herzlich, natür-lich, umgänglich. Sein Humor beein-druckte mich gewaltig, sein enormes Wissen, seine Großzügigkeit, Unvor-eingenommenheit und Unabhängig-keit, seine Freude am Grotesken und Makabren, seine Menschlichkeit, sein demokratisches Benehmen – obwohl er bereits ein ›Dichterfürst‹ war.

Er war ein großer Esser und ein großer Trinker, und wir hatten einen ähnlichen Geschmack: Bordeaux und

1952 veröffentlichte Daniel Keel in seinem neu gegründeten Verlag das erste Buch – mit einem Vorwort von Dürrenmatt: »Als ich das erste Diogenes Büchlein mit Cartoons von Ronald Searle veröffentlichte, war Friedrich Dürrenmatt so freundlich, dieses skurrile verlegerische Debüt mit einem Vorwort zu unterstützen. Damals hätte ich mir nicht im Traum vorstellen können, einmal das Gesamtwerk dieses großen Autors zu verlegen.« Hier erzählt Daniel Keel Persönliches über den bewunderten Schriftsteller, der später Diogenes Autor und sogar zum Freund wurde.

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Romulus dem Großen an saß ich in je-der Zürcher Dürrenmatt-Urauffüh-rung, und ich kaufte mir seine Bücher, war verblüfft und begeistert – das war eine Sprache, die ich verstand.

1952 wurde ich selbst Verleger und ließ das erste Diogenes Buch drucken: Weil noch das Lämpchen glüht, Zeich-nungen von Ronald Searle. Dafür suchte ich ein Vorwort, sozusagen als Lokomotive, denn außerhalb von England war Searle unbekannt. Und so schrieb ich Dürrenmatt und schick-te ihm die Zeichnungen. Ich dachte mir, dass ihm das Makabre in Searles Zeichnungen gefallen würde. Ich täuschte mich nicht.

Erst Jahre später lernte ich Fried-rich Dürrenmatt persönlich kennen.

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15Diogenes Magazin

Käse. Bei einem anderen Besuch, Paul Flora war dabei, erkundigte er sich nach unserem Jahrgang, verschwand in seinem legendären Weinkeller und bot uns dann, zu unserem Erstaunen, Weine unserer Jahrgänge an. Die Wei-ne waren sensationell, wir tranken auch einen fast hundertjährigen, und Dürrenmatt zeigte uns die Kunst des Weintrinkens: Dekantieren, Tempe-rieren, Probieren. Paul Flora war so begeistert, dass er im Morgengrauen die leeren Flaschen den Berg hinun-terschleppte und sie als Souvenirs mit nach Hause nahm.

Ich hatte, wie gesagt, in jenen Jah-ren vor allem Karikaturen und Satiren im Diogenes Programm. In Dürren-matts Haus sah ich erstmals Originale seiner Zeichnungen und Gemälde, und so entstand 1963 das Diogenes Buch Die Heimat im Plakat, mit sei-nen bösen Karikaturen über den Schweizer Chauvinismus; er hatte sie während verregneter Ferien für seine Kinder gezeichnet, in dem Jahr, als in Zermatt der Typhus ausgebrochen

war. Der Spiegel druckte zwar mit ei-ner kleinen Rezension ein paar Zeich-nungen ab; die Schweizer Presse aber, allen voran die Neue Zürcher Zeitung, reagierte ziemlich sauer. Die Buch-händler waren auch nicht begeistert; das Buch war zu böse, zu kritisch, schockierend und also ein Flop.

Irgendwann in den sechziger Jah-ren war Dürrenmatt ein paar Wochen in Zürich, für Proben am Schauspiel-haus. Er pendelte zwischen Schau-spielhaus und Kronenhalle und kam eines Tages in meine Galerie in der Rämistrasse. Er erzählte tausend Ge-schichten, trank dazu eine halbe Fla-sche Whisky und bot mir das Du an. Ich fiel fast vom Stuhl und sagte: »Nein, das kann ich unmöglich an-nehmen.« Er schaute mich verständ-nislos an, und ich sagte: »Ich empfin-de zu viel Respekt für Sie.«

In meiner Galerie stellte ich 1978, nach langen Überredungsversuchen, zum ersten Mal Bilder und Zeichnun-gen von Dürrenmatt aus, in seiner ers-ten Einzelausstellung. Dazu machten wir ein zweites Buch: Bilder und Zeichnungen, mit einer glänzenden Einleitung von Manuel Gasser.

Später einmal lud er meine Frau und mich nach Basel ein, an die Fas-nacht, den ›Morgestraich‹; er hatte dort für seine Arbeit am Theater eine Wohnung gemietet. Rührend küm-merte er sich um seine Gäste, schlepp-te kistenweise Wein und Bier aus dem Keller, und als ich hörte, dass selbst die jüngsten Schnösel vom Theater mit ihm per Du waren, getraute auch ich mich endlich, den Meister zu duzen.

Mein Respekt war ja durchaus be-gründet. Dürrenmatt war ein Genie, überlebensgroß, als denkender und dichtender Universalist sprengte er alle Grenzen. Für mich war er immer wie ein Fels – ein Meteor im Salat der heutigen Literatur. Ich kenne keinen anderen zeitgenössischen Schriftstel-ler von dieser Bedeutung.

Für das Jahr 1981, zu Dürrenmatts 60. Geburtstag, wurde eine Gesamt-ausgabe vorbereitet, und ich bemühte mich bei seinem Verleger Peter Schif-ferli um eine Taschenbuchlizenz. Und Fo

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Daniel Keel, morgens um vier in Neuchâtel portraitiert von Friedrich Dürrenmatt, 1981

Daniel Keel als Galerist von Friedrich Dürrenmatt bei einer Vernissage in Zürich, 1961

Anna Keel und Friedrich Dürrenmatt mit einem druckfrischen Exemplar der Taschenbuch-Werkausgabe, Zürich, 1981

Buchtipp

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Diogenes Taschenbuchdetebe 22439, 480 Seiten

»Das Dürrenmatt-Lesebuch, von Daniel Keel herausgegeben. ›A must‹. Dieses Buch ist nötig. Wenn man Dürrenmatt kennt,

zu kennen glaubt – wenn man ihn nicht kennt. Wenn man eine Hilfe

braucht bei der Auseinandersetzung mit den chaotischen Zeiten, in

denen wir leben, wenn man Freude an Gedanken und am Denken hat.« Maria Becker / Das Magazin, Zürich

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16 Diogenes Magazin

1979 rief Dürrenmatt mich dann aus heiterem Himmel an und fragte mich, ob ich sein Verleger sein wollte.

Einmal, nach einer verplauderten Nacht in seinem Haus in Neuchâtel, sagte er morgens um vier: »So, jetzt weiß ich, wie ich dich malen kann.« Wir gingen hinauf in sein Atelier, und da hat er mich, hundemüde, mit roten Augen und einem Glas in der Hand, portraitiert und mir das Bild ge-schenkt.

Heute erlebt Dürrenmatts Werk eine wahre Renaissance, und seine Theaterstücke werden wieder in aller Welt gespielt. Er war seiner Zeit vor-aus, in den letzten Jahren hatte er in schönen Manuskripten – er schrieb tatsächlich alles von Hand und in Blockbuchstaben, wie ein Mönch – unermüdlich Neues geschaffen; er war produktiver denn je. Sein Stil wurde immer moderner, farbiger, präziser. Er beherrschte alles – Drama, Prosa, Ly-rik, Essay, Satire, Parabel, Pamphlet. Er spielte einfach auf einem breiteren Klavier als andere.

Er hatte einen heiligen Zorn auf die Zustände in seinem Land und in der Welt und empfand darüber Trauer und Enttäuschung. Eine Rede wie sei-ne vieldiskutierte Havel-Laudatio ist nicht irgendeine Nationalfeiertags-rede, es ist politisch und literarisch eine Jahrhundertrede. Dürrenmatt sagte seine Meinung in einer Zeit, in der niemand mehr eine eigene Mei-nung hat oder sie zu äußern wagt.

Nach dem Havel-Empfang saßen wir noch bis morgens um drei zusam-men in einer Bar. Die letzten, äußerst angeheiterten Gäste merkten plötz-lich: Das ist doch dieser berühmte Dichter. Sie hielten ihn aber für Max Frisch und wollten mit ihm über Ar-chitektur diskutieren. Schließlich er-kannten sie Dürrenmatt, spendierten eine Runde Whisky, und einer von ihnen sagte: »Wissen Sie, Herr Dür-renmatt, ich bin nicht mit allem ein-verstanden, was Sie schreiben – aber im Prinzip haben Sie recht.«

Und Dürrenmatt brach in sein wun-derbares homerisches Lachen aus.•

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Serie

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Dürrenmatts Gedanken über Geld und Geist, Politik und

Philosophie, Literatur und Kunst, Gerechtigkeit und Recht,

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Im nächsten Magazin:

Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurück genommen werden.

Wer einen großen Skandal verheimli-chen will, inszeniert am besten einen kleinen.

Je planmäßiger die Menschen vor-gehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.

Nichts gegen die geistige Ausei-nandersetzung, alles gegen einen faulen Frieden. Aber vor allem alles gegen die für jeden denkenden Menschen beleidigende Einteilung in rechts oder links, in marxistisch und faschistisch, in progressiv und reaktionär, in diese dem Fort-schritt des Geistes hohnsprechenden mittel alterlichen Kategorien des Entweder-oder.

Dass der Mensch unterhalten sein will, ist noch immer für den Men-schen der stärkste Antrieb, sich mit den Produkten der Schriftstellerei zu beschäftigen. Indem sie den mensch-lichen Unterhaltungstrieb einkalku-

lieren, schreiben gerade große Schriftsteller oft amüsant, sie verste-hen ihr Geschäft.

Die Literatur muss so leicht werden, dass sie auf der Waage der heutigen Literaturkritik nichts mehr wiegt: Nur so wird sie wieder gewichtig.

Der Versuch der Schweiz, ewig neutral zu bleiben, erinnert an eine Jungfrau, die in einem Bordell zwar Geld verdienen, dabei aber keusch bleiben will.

Die Menschheit hat eine Diät nötig und nicht eine Operation.

Zum Schluss droht immer noch der Untergang der Menschheit. Nicht mehr eine bloße Hypothese, tech-nisch ist er möglich geworden. Für uns die schlimmste Wendung, aber für das Leben und für diesen Plane-ten die vielleicht beste.

Die Chance liegt allein noch beim Einzelnen. Der Einzelne hat die Welt zu bestehen. Von ihm aus ist alles wieder zu gewinnen. Nur von ihm, das ist seine grausame Ein-schränkung.

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Dürrenmatt-Zeich-nung im Diogenes Gästebuch, 1963

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Die PhysikerNach Fukushima aktueller denn je. »Dürrenmatt hat das ›5 vor 12‹ der Atomuhr in unser Gedächtnis geschrieben. Mit einem satanischen, irrwitzigen Gelächter« (Die Welt).

Frank V.Die Komödie einer Privatbank, die Gaunerei zur Geschäftsgrundlage gemacht hat und Pleite zum renta-belsten Geschäft. Eine prophetische Vision von Dürrenmatt, fast 50 Jahre vor der Finanzkrise von 2007.

Der PensionierteDieser Kriminalroman, dessen fresssüchtiger Held Gottlieb Höch-stettler dem Kommissär Bärlach aus Der Richter und sein Henker und Der Verdacht wie aus dem Gesicht geschnitten ist, ist Fragment geblie-ben. Zum Glück hat Urs Widmer einen möglichen Schluss geschrieben.

Der Mitmacher Ein Komplex

Der Staat übernimmt die Geschäfte der Unter-welt – und alle machen mit. »Von beklemmender Aktualität. Besser hat keiner den Zeitgeist heute, die Mitmacherei, die Anpasserei, die Sich- Duckerei gedeutet« (Reinhart Hoffmeister).

AchterlooTheater total: ein Stück über das Theater und die Welt. Dürrenmatts letztes Stück, sein Abschied vom Theater, vielleicht unspielbar, aber als Lektüre ein Genuss.

VersucheDer pefekte Einstieg für alle, die den Denker Dürrenmatt kennenlernen wollen: seine wichtigsten Essays über Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Politik, Literatur und Theater.

Die Stoffe»Ein Schlüsselwerk sowohl für Dürrenmatts intellektuelle Biogra-phie wie auch für sein Spätwerk« (Roman Bucheli / NZZ). Aber auch einfach ein Lese-Abenteuer und Ein-stieg in das Universum Dürrenmatt: »Die Geschichte meiner Schriftstelle-rei ist die Geschichte meiner Stoffe.«

Romulus der GroßeGestern Weltmacht, heute Hühner-hof. Ein herrlich freches und unter-haltsames Theaterspektakel über Dekadenz und Macht, mit einem der sympathischsten Antihelden des modernen Theaters.

GesprächeDürrenmatt war ein intensiver Ge-sprächspartner: Im Dialog entwickel-te er seine Gedanken und Stoffe. Die vierbändige Ausgabe der Gespräche ist die umfangreichste eines deutsch-sprachigen Schriftstellers.

»Dürrenmatts Lebenswerk ist so umfangreich und vielgestaltig wie das kaum eines anderen modernen Schriftstellers. Das bildnerische Œuvre zunächst gar nicht gerechnet, umfasst es Dramen und Erzählungen, Romane und Essays, Hörspiele und Drehbücher in weit über 30 Bänden. Dieses so unverwechselbare Riesenwerk ist auch nach dem Tod seines Autors ein dunkler Kontinent, vielfach unerhellt und unerprobt, ein Kontinent in Bewegung, für geistige Überraschungen und theatralische Abenteuer wohl noch lange gut« (Gert Ueding / Die Welt, Berlin). Aber mit welchem Buch von Dürrenmatt anfangen? Hier sind neun Büchertipps – zum Lesen oder Wiederlesen.

»Dürrenmatt ist ein Koloss der Literatur. Sein Werk

ein Kontinent.« Jochen Hieber, FAZ

Die Dürrenmatt-Werkausgabe ist in 37 Diogenes Taschenbüchern lieferbar

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Im Sommer 1989 schenkte Friedrich Dür-renmatt der Schweiz seinen literarischen Nachlass. Doch die Schenkung war nicht bedingungslos: Die Eidgenossenschaft ver-pflichtete sich, ein Literaturarchiv einzu-richten, ähnlich dem Deutschen Literatur-ar chiv in Marbach. Das Schweizerische Literaturarchiv wurde am 11. Januar 1991 eröffnet – und feiert dieses Jahr sein zwanzigjähriges Bestehen.

Am 27. Juni 1989 unterzeichneten Fried-rich Dürrenmatt und Bundesrat Flavio Cotti den Vertrag zur Gründung des Schweizerischen Literaturarchivs. Ganz rechts Alfred Defago, Direktor des Bun-desamtes für Kultur

Seit der Gründung residiert das Schweize-rische Literaturarchiv im Gebäude der Schweizerischen Nationalbibliothek in der Hallwylstrasse 15 in Bern.

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j’avais mille ans.« Ich habe mehr Erin-nerungen, als wenn ich tausend Jahre alt wäre. So beschreibt sich eine Exis-tenz, die mit ihrer Vergangenheit lebt wie unter dem Gerümpel eines über-stellten Dachbodens.

Eine Institution wie das Literaturar-chiv wird von den Aufgaben des Erin-nerns und des Vergessens in funda-mentaler Weise gefordert. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die kulturelle Öffentlichkeit solche Fragen mit er-staunlicher Sorglosigkeit behandelt. Es gibt dafür ein Symptom. Man achte darauf, wie die Medien im Zusam-menhang mit der Literatur das Wort vergessen gebrauchen. Am häufigsten geschieht es so: Ein Journalist stößt auf einen älteren Schriftsteller, von dem er noch nie gehört hat, und er-

Ohne Erinnerung sind wir geistig tot. Ohne Vergessen sind wir

seelisch gelähmt. Eine seltsame Wirt-schaft. Sie betrifft auch die Kultur. Wenn das kulturelle Gedächtnis ver-schwindet, haben wir keine Maßstäbe mehr für die Leistungen der Gegen-wart. Wenn wir nur noch die kulturel-le Vergangenheit sehen, verschwindet die schöpferische Lust auf das Neue.

Die Notwendigkeit des Vergessens ist uns weniger bewusst als die Not-wendigkeit der Erinnerung. Dabei können wir bei den Kindern sehen, wie unbekümmert sie trotz ihrer jun-gen Gehirne vergessen, was ihnen ein-geprägt oder aufgetragen wurde. Ge-rade die jungen Gehirne trainieren auch die Kunst des Vergessens. Dage-gen sagt der Melancholiker bei Baude-laire: »J’ai plus de souvenirs que si

Das Schweizerische Literaturarchiv in Bern ist die literarische Schatzkammer der Eidgenossen-schaft. In den Hunderten von Regalmetern lagern zum Beispiel die handschriftlichen Korrektu-ren zu Friedrich Dürrenmatts letzter Werkausgabe, die Manuskripte von Friedrich Glauser, aber auch die bis heute unveröffentlichten Notizbücher von Patricia Highsmith – Prunkstücke aus über 250 Nachlässen, 60 Autorenbibliotheken und den Archiven vieler lebender Schwei-zer Autoren und Autorinnen. Ohne Friedrich Dürrenmatt würde das Archiv nicht existieren – warum, das erzählt der Germanist Peter von Matt.

Peter von Matt

Vom literarischen Gedächtnis der Schweiz

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klärt reflexartig, dieser Autor sei ›heu-te vergessen‹. Heute vergessen – das ist eine Formel, die es in sich hat.

Einerseits entbindet sie den, der sie braucht, von der Mühe, eine Autorin, einen Autor überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Andererseits unterstellt sie, es gebe eine definierte Summe dessen, was im Bereich der Literatur allgemein bekannt sei. Was nicht da-zugehört, ist heute vergessen und braucht daher auch weiter niemanden zu interessieren. Kürzlich las ich in ei-ner angesehenen Zeitung, die Werke von Heinrich Böll seien heute verges-sen. Diese sachlich vor gebrachte Fest-stellung ist vernichtend. Statt sich der anregenden Frage zu stellen, wie ein Nobelpreisträger 25 Jahre nach seinem Tod gesehen und eingeschätzt wird, stößt man ihn mit seinem gesamten

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Werk ins Nichts. Oft wird diese Dia-gnose auch in die Vergangenheit pro-jiziert, mit ähnlicher Fahrlässigkeit. So war unlängst zu lesen, Wilhelm Tell sei, bevor Schiller sein Stück ge-schrieben habe, in der Schweiz völlig vergessen gewesen. Dass nur der in-tensive Kult, den das 18. Jahrhundert und die Französische Revolution mit unserem zielsicheren Helden trieben, diesen Stoff für Schiller attraktiv machte, ging dabei elegant verloren. Ein näherliegendes Beispiel ist die Ih-nen allen bekannte Feststellung, wo-nach Robert Walser bei seinem Tod 1956 gänzlich vergessen gewesen und erst in den siebziger Jahren wiederent-deckt worden sei. Tatsache aber ist, dass der glänzende Kritiker Max Rychner in seinem Nachruf auf Wal-ser bereits auf die entstehende Ge-samtausgabe hinwies und den wun-derbaren Satz anfügte: Durch diese Ausgabe »wird die Einzigkeit dieses anders als wir versponnenen, anders als wir wachen Dichters erst ganz sichtbar, nämlich so, wie sie es ver-dient und wie wir es noch nicht ver-

dient haben, sondern erst verdienen müssen«. Und sein ebenso bedeuten-der Kollege Werner Weber ging in ei-nem Essay zu Walsers Tod auf die Modernität des Dichters ein: »In Wal-sers feinem Rundgang wird die Welt ohne Ziel und Herkunft vorsichtig bis zur Zierlichkeit besucht, abgesucht; […] und je genauer und kleinlicher Walser dann einen Ort bezeichnet und benennt, desto mehr löst sich dieser Ort in ein unmessbares All auf.« Schreibt man so über einen Vergesse-nen?

Heute vergessen / damals vergessen  – der Ausdruck hat immer etwas Groß-spuriges. Wer ihn gebraucht, erklärt damit seinen eigenen Kenntnisstand für allgemeinverbindlich. Erinnern und Vergessen von Literatur ereignen sich aber nie auf einer einzigen Ebene. Wir stehen vielmehr vor einem kom-plexen Gefüge unterschiedlicher In-stanzen und Akteure, die miteinander untergründig verbunden sind. Schon innerhalb der Medienöffentlichkeit

gibt es große Unterschiede zwischen den Tagesnachrichten, die nur Promi-nenz und Preise kennen, und einem Kulturjournalismus, der von Fachleu-ten verantwortet wird. Was dort als vergessen gilt, kann hier zum gesi-cherten Bestand zählen.

Viel ausgeprägter noch ist die Diffe-renz zwischen der medialen und der akademischen Welt. In der universitä-ren Forschung kann das angebliche Vergessensein sogar zum inspirieren-den Stimulus werden. Dazu tritt die geographische Differenzierung. So wie es Autorinnen und Autoren von loka-ler, regionaler, nationaler und interna-tionaler Bedeutung gibt, gibt es auch eine je andere kulturelle Erinnerung. Gerade regionale Autoren können eine wichtige Funktion im Selbstver-ständnis ihrer Kantone und Landes-teile haben, können dort sogar länger fortbestehen als nationale Figuren. Wenn ein Schriftsteller unsterblich werden will, sollte er in einer Klein-stadt leben. Da bekommt er oft schon zu Lebzeiten einen Brunnen gewid-met, und nach dem Tod wird mit Si-

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Wo einst Friedrich Dürrenmatt lebte, schrieb und malte, steht heute ein Museum, das sein künstlerisches und literari-sches Schaffen beherbergt. Dies ist der Initiative von Char-lotte Kerr Dürrenmatt zu verdanken, die das alte Wohnhaus mit dem steil abfallenden Garten der Eidgenossenschaft zur Verfügung stellte – mit der einzigen Auflage, dieses in das Gesamtkonzept eines neu zu errichtenden Centre Dürren-matt nach dem Plänen von Mario Botta zu integrieren. Im September 2000 schließlich wurde das CDN eröffnet.

Der Neubau des Schweizer Ar-chitekten und Dürrenmatt-Be-wunderers Mario Botta. Erste Ideen für diesen Bau entwickel-te er bereits 1992, im Mai 1998 wurden die Bauarbeiten begon-nen und im September 2000 ab-geschlossen.

Das Wohnhaus, das Dürrenmatt seit 1952 bewohnte, inklusive seiner Bibliothek und seiner geliebten »Sixtinischen Kapelle« (der Toilette), wurden in den modernen Neubau gelungen in-tegriert.

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cherheit eine Gasse nach ihm benannt. In den Metropolen gibt es für derlei keine Garantie. Es ist aber keineswegs ein Provinzphänomen, wenn die Re-gion oder die Kleinstadt ihren Dich-tern die Treue besser hält als die gro-ßen Zentren. Es kann auch das Zeichen für eine höhere Erinnerungs-kultur sein.

Das literarische Gedächtnis ist also niemals identisch mit einer imaginä-ren Namensliste. Zu seinen Instanzen und Akteuren gehören neben den Me-dien, den Schulen, den Universitäten und den Kulturbehörden auch die Verlage, gehören die Bibliotheken und Archive. Es kommt nicht selten vor, dass sich ein Verlag im Dienste eines Autors verschuldet, der aus der Me-dienöffentlichkeit verschwunden ist und dem die Rückkehr dorthin dann trotzdem verweigert wird. Aber es kann auch sein, dass eine andere Instanz diesen Impuls doch noch aufgreift, ein wacher Kopf an der Uni-versität zum Beispiel oder ein Litera-turhaus, das nicht dem Mainstream nachläuft, sondern die eigenen Ohren

Jede Generation steht auch vor der Aufgabe, ihre eigene Vergangen-heit neu zu gewinnen.

in den Wind stellt. Und jetzt setzt Er-innerungsarbeit ein und pflanzt sich fort, unaufdringlich, aber als lebendi-ges Geschehen.

Nicht selten ist es übrigens die spontane Begeisterung Einzelner, die solche Prozesse in Bewegung setzt, wie denn überhaupt die einsamen Kenner auf diesem Felde nicht verges-

wig Hohl und Robert Walser wesent-lich von den Schriftstellern mitgetra-gen worden. Im Allgemeinen aber halten sie sich mehr zurück, als nötig wäre.

Die magischen Erzählstimmen von Regina Ullmann oder Adelheid Duva-nel, die lyrischen Intonationen von Pierre Imhasly oder Werner Lutz, die geschliffene Essayistik von Denis de Rougemont oder Herbert Lüthy wür-den es verdienen, auch von den Kolle-ginnen und Kollegen einmal öffent-lich angesprochen zu werden. Und schließlich sind hier noch die monu-mentalen Leistungen der kritischen Editionen unserer Gegenwart zu er-wähnen. Die Jacob-Burckhardt-Aus-gabe, die Keller-Ausgabe, die Bräker-Ausgabe, die Ramuz-, die Walser-, die Meyer- und die Gotthelf-Ausgabe sind Werke des Gedenkens und der Textsicherung, die über Jahrhunderte hin ausstrahlen werden, aber eher taucht ein Walfisch im Leutschenbach auf, als dass einer dieser Obelisken unserer nationalen Kultur in einer Ta-gesschau Erwähnung fände.

sen werden dürfen. Von ihnen, die man bald als Eigenbrötler, bald als eli-tär verschreit und die keine Institution zur Verfügung haben, können folgen-reichste Anstöße ausgehen. Auch die Schriftsteller selbst wären hier eigent-lich gefordert. Sie sind ja in der Regel sehr eigenwillige Leser, und ihr Wort hat Gewicht. So ist der Kult um Lud-

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Die Dauerausstellung im Centre Dürrenmatt ist dem umfangreichen und vielseitigen Bildwerk von Friedrich Dürrenmatt gewidmet. Parallel dazu werden regelmäßig Wechselausstellungen gezeigt, die mit Motiven und Themen des Schriftstellers und Malers in Verbindung stehen.

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Friedrich Dürrenmatt: Notizheft mit der ersten Idee zu ›Der Besuch der alten Dame‹Auf der Fahrt im gemächlichen Regionalzug zwischen sei-nem Wohnort Neuchâtel und Bern, wo seine Frau Lotti im Spital lag, hatte Dürrenmatt im März 1955 den zündenden Einfall für die Inszenierung seiner mörderischen Heimkeh-rergeschichte, mit der er sich schon länger trug: der Bahnhof als Scharnierstelle zwischen dem isolierten Städtchen Güllen und der Welt, Szene des gescheiterten Empfangs der Milliar-därin wie des Abschieds nach dem Vollzug ihrer Rache.

Friedrich Glauser: Zeugnis der Dienste in der französi-schen FremdenlegionSein Leben war ein permanentes Scheitern an den bürgerli-chen Maßstäben, die dem 1896 in Wien Geborenen vom Schweizer Vater als Zwangsjacke angezogen wurden. Dro-gensucht, Kleindelikte und Aufenthalte in der psychiatri-schen Klinik prägten seine Biographie. Der Ausbruch in die Fremdenlegion 1921 war eine weitere Katastrophe, deren fruchtbaren Ertrag die Romane ›Gourrama‹ und ›Die Fie-berkurve‹ bildeten.

Hugo Loetscher: Alter Reisepass mit Visa-Stempeln von Kambodscha und ThailandEr war der große Reisende unter den Deutschschweizer Au-toren. Weltoffenheit und Multikulturalität waren ihm kein Lippenbekenntnis, sondern gelebte Existenz. Sein »Go East« in den Fernen Osten setzte um 1970 ein und wiederholte sich später immer wieder. Den kritischen Blick für die Verrückt-heiten der Globalisierung verband er mit der Liebe zu den vielfältigen lokalen Traditionen in der ganzen Welt.

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Hermann Hesse: Korrigierte Reinschrift zum Roman ›Der Steppenwolf‹Mit diesem Roman schrieb sich der 50-jährige Hesse 1927 in die Weltliteratur ein. Legionen von Jugendlichen von der Weimarer Republik bis in die USA der amerikanischen Hip-pies um 1970 ließen sich von der bürgerlichen Krisenerfah-rung und Ausbruchsphantasie anregen – und für die Literatur begeistern.

Die Reiseschreibmaschine von Patricia HighsmithSeit sie 1950 mit ihrem ersten Kriminalroman ›Zwei Fremde im Zug‹ das nötige Geld für die Überfahrt verdient hatte, reiste die Amerikanerin Patricia Highsmith während Mona-ten in ganz Europa herum. Die Schreibmaschine war ihre stetige Begleiterin auf den Reisestationen zwischen Sizilien und Sussex, Griechenland und Gibraltar. In der zweiten Le-benshälfte wurde sie sesshafter, die letzten fünfzehn Jahre bis zu ihrem Tod 1995 verbrachte sie ruhig und zurückgezogen im Tessin.

Ein »Cahier« von Patricia HighsmithIn 39 Studienheften der Columbia University notierte Highsmith Reflexionen, Beobachtungen und literarische »Keime«. Ein unerschöpfliches Reservoir der düsteren Phan-tasie der Wahleuropäerin und Heimwehtexanerin entstand so über die Jahrzehnte, aus dem sie ihre Erzählungen und Romane destillierte. Im vorliegenden Heft, auf dessen Um-schlag die Lebensstationen zwischen August 1968 und De-zember 1969 festgehalten sind, finden sich unter vielem an-derem die Ansätze zum Roman ›Ripley Under Ground‹.

Schätze aus dem Schweizerischen

LiteraturarchivAusgewählt und kommentiert von

Ulrich Weber

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Gewiss, auch das Vergessen ist nö-tig. Mit dem Bewusstsein von Baude-laires Melancholiker kann man kein unternehmungslustiges Leben führen. Jede Generation muss Ballast abwer-fen, so wie die Kinder, wenn ihre El-tern sterben, die Dinge, mit denen diese gelebt haben, haufenweise vom Brockenhaus abholen lassen. Aber jede Generation steht auch vor der Aufgabe, ihre eigene Vergangenheit neu zu gewinnen. Deshalb muss die Schweizer Geschichte nochmals und nochmals geschrieben werden. Über-dies gilt die Regel: Was von einer Ge-neration radikal verabschiedet wird, kann schon für die übernächste wie-der brennend aktuell sein. Selbst wo Vergessen lebensnotwendig ist, wo das Mobiliar der Eltern entsorgt wer-den muss, damit die Kinder atmen können, darf also der Weg zurück nie ganz verbaut werden.

Doch wie soll das geschehen? Kann man entsorgen und bewahren zu-gleich? Niemand kann heute wissen, was an der kulturellen Produktion un-serer Gegenwart in hundert Jahren fasziniert. Was ist da zu tun? Zu tun ist genau das, was das Schweizerische Literaturarchiv tut. Es unternimmt den riskanten Spagat zwischen Erin-nern und Vergessen, zwischen Ent-sorgen und Bewahren. Es will den kommenden Generationen den Weg freihalten zurück zu jener Vergangen-heit, die für sie einmal lebenswichtig sein wird, obwohl wir selbst davon noch keine Ahnung haben. Die höh-nische Parole heute vergessen ist hier kein Todesurteil, sondern ein Anlass zu erhöhter Aufmerksamkeit.

In Anbetracht seiner Unersetzlich-keit ist dieses Literaturarchiv erstaun-lich jung. Wie kam es überhaupt dazu? Da ich ein Augenzeuge der im wörtli-chen Sinne ersten Stunde war, darf ich mich hier öffentlich daran erinnern. Die Idee eines nationalen Archivs tauchte in der Schweiz seit den fünfzi-ger Jahren immer wieder auf. Es ent-stand aber nie eine breite Willensbil-dung in Öffentlichkeit und Politik. Denn erstens besaß man ja die Archi-

ve der kantonalen Bibliotheken, und zweitens erschien bei jeder Forderung nach einem nationalen Literaturarchiv wie in Flammenschrift jenes Schick-salswort an der Wand, das hierzulan-de über Sein und Nichtsein entschei-det: »Das choschted aber.«

Zu Beginn der achtziger Jahre war das Max-Frisch-Archiv gegründet worden, und als Präsident der Stiftung hatte ich in der Folge schmerzlichen Anteil nehmen können an den finanzi-ellen Zwangslagen einer solchen Schöpfung. Am 23. Juli 1987 nun wur-de ich vom kaufmännischen Leiter des Diogenes Verlags, Rudolf C. Bett-schart, zu einem internen Gespräch

ser an den Hals zu setzen und zu sa-gen: »Ihr bekommt den Nachlass des großen Friedrich Dürrenmatt, wenn ihr ihn zum Grundstein eines natio-nalen Literaturarchivs macht.« Durch das gewaltige Geschenk, dachten wir, könnten jene drei ominösen Wörter an der Wand, das choschted aber, neu-tralisiert werden, Dürrenmatt hätte ein zunächst nur für ihn eingerichte-tes wissenschaftliches Archiv, und die literarische Schweiz bekäme endlich ihre lang ersehnte Institution der Be-wahrung und Betreuung.

Das Groteske an der Situation war natürlich, dass der Hauptakteur von allem nichts wusste. Die Szene erin-nerte durchaus an eine Intrigantenver-sammlung in einem Dürrenmatt-Stück. Und wie es auf dem Theater stets den Mann braucht, der uner-schrocken zur Tat schreitet, fand sich dieser hier in der Person von Peter Nobel. Er nahm die Sache in die Hand, und wie er das tat, darob steht mir in der Erinnerung heute noch der Mund offen. Über die einzelnen Schritte wird er wohl selbst eines Tages Be-richt ablegen. Ich kann nur sagen, dass ich nie in meinem Leben einem so un-gestümen, zielsicheren, von keinen Bedenken eingeschüchterten Vorge-hen beigewohnt habe.

Schon zwei Wochen später, am 10. August, trafen Nobel und ich in Bern Alfred Defago, den damaligen Direktor des Bundesamtes für Kultur, um erste Sondierungen anzustellen; im Frühling darauf, am 29. April 1988, fuhren wir mit ihm und weiteren Mit-arbeitern des Bundesamtes nach Mar-bach bei Stuttgart, um im Deutschen Literaturarchiv zu studieren, wie so etwas eigentlich aussieht. Ich weiß noch, wie Defago bei der Heimreise sagte, dass eine solche Institution alle Möglichkeiten der Schweiz weit über-steige, und wie Peter Nobel dazu nur lachte. Vom anschließenden, alles ent-scheidenden Geschehen, den Gesprä-chen mit Friedrich Dürrenmatt, weiß ich nichts. Ohne sein Jawort wäre das Ganze eine Seifenblase geblieben. Dass er zustimmte, war die entschei-dende Tat, eine kulturelle und staats-

Dass Dürrenmatt zustimmte, war die ent-scheidende Tat, eine

kulturelle und staatsbür-gerliche Leistung.

gebeten, an dem auch der Verleger Daniel Keel und der juristische Bera-ter des Verlags, der Anwalt Peter No-bel, teilnahmen. Es ging um die Frage, was mit dem Nachlass des Diogenes Autors Friedrich Dürrenmatt eines Tages geschehen könnte, was da über-haupt möglich und denkbar wäre. Zum Beispiel gab es die Vorstellung eines Dürrenmatt-Archivs in Zürich, in der Nähe des Verlags, der ja die Ma-terialien in jedem Fall editorisch zu betreuen haben würde.

Aufgrund meiner erwähnten Erfah-rungen rechnete ich vor, was eine sol-che Institution kostet, und sagte, was ich immer sage: »Nachlässe gehören in die öffentliche Hand.« Das leuchte-te zwar ökonomisch ein, verband sich aber mit einem Unbehagen. Der Ver-lag hatte ein berechtigtes Interesse an einem bevorzugten Zugang zum un-veröffentlichten Werk. Die Diskussi-on lief besorgt hin und her, als plötz-lich der Gedanke auftauchte: Das wäre doch jetzt die Möglichkeit, der Eidgenossenschaft behutsam das Mes-

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bürgerliche Leistung, mit der sich Dürrenmatt auf eine neue Weise in die Geschichte unseres Landes einschrieb.

Nun musste es nur noch offiziell werden, und darüber ergab sich eine weitere Szene im Stil eines Dürren-matt-Stücks. Im Hotel Bellevue in Bern traf sich am 9. Dezember 1988 Friedrich Dürrenmatt mit dem Vor-steher des Eidgenössischen Departe-ments des Innern, Bundesrat Flavio Cotti, der von Alfred Defago und ei-nigen Mitarbeitern begleitet wurde; Peter Nobel und ich waren auch dabei. Dürrenmatt sollte hier dem Bundesrat seine verbindliche Zustimmung ge-ben. Er war in guter Stimmung und erfüllt von seinem aktuellen Nach-denken. Schon bei der Vorspeise be-gann er über das Weltall zu referieren, über dessen Anfang und auch sein Ende, insbesondere über das Ende der Erde, welches sich ereignen wird, wenn unsere Sonne zu einem soge-nannten Roten Riesen aufschwillt und alle ihre Planeten verbrennt. Wir hör-ten gesammelt zu, nur der Bundesrat räusperte sich gelegentlich und ver-suchte, das Gespräch in die politisch vorgesehene Richtung zu lenken.

Aber Dürrenmatt ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Er kam vom Andromedanebel auf den Orionnebel und von diesem auf den Sirius und zu dessen winzigem Begleiter, der einst selbst ein Roter Riese gewesen und dann zu einem sogenannten Weißen Zwerg geschrumpft war. Eine gewisse Beklemmung machte sich in der Run-de breit, denn auch der Hauptgang, es gab gezöpfelte Forellen, war nun schon langsam vorbei. Was geschieht, dachten wir, wenn Dürrenmatt ein-fach nichts sagt und sich am Ende freundlich verabschiedet? Er hatte dieses feine Lächeln im Gesicht, das ich später bei seiner Rede über »die Schweiz als Gefängnis« wieder sehen sollte, als er mit der heitersten Miene die grimmigsten Dinge äußerte. Da kam es zu einer dramatischen Steige-rung.

Plötzlich sprang die Tür auf, und ein Bundesweibel betrat den Raum,

ging mit wehendem Mantel zu Bun-desrat Cotti hin und flüsterte ihm et-was ins Ohr. Cotti schien zu erblei-chen, erhob sich mit einer flüchtigen Entschuldigung und verließ den Raum. Wir blickten uns ratlos an. Nur Dür-renmatt blieb völlig gelassen und kam nun vom Weltall auf das menschliche Gehirn zu sprechen. Insbesondere das Verhältnis zwischen dem Gehirn und dem Auge bewegte ihn tief, während bereits das Dessert serviert wurde. Zum ersten Mal bemerkte ich nun auch bei Peter Nobel eine gewisse Ir-ritation. Im Hintergrund zeigte ein leises Klirren an, dass der Kaffee be-reitgestellt wurde.

Da erschien der Bundesrat wieder, setzte sich ohne weitere Erklärung an den Tisch und hörte von neuem zu. Aber es hatte sich seiner jetzt doch so etwas wie eine andere Entschlossen-heit bemächtigt, denn plötzlich unter-brach er den Schriftsteller und kam auf das Geschäft des Tages zu spre-chen, die Frage des Nachlasses. Dür-renmatt tat die Sache mit einem kur-zen Satz ab: »Ja, ja, ihr könnt das haben, aber ihr müsst dann so ein Ar-chiv einrichten.« Jetzt waren alle er-löst. Helle Freude erfasste die Runde, und selten wurde ein Kaffee mit sol-cher Begeisterung getrunken. Auf dem Heimweg aber erfuhren wir, dass Bundesrätin Elisabeth Kopp während dieses Treffens den Bundesrat über das lange verheimlichte Telefonge-spräch mit ihrem Mann in der soge-nannten Shakarchi-Affäre unterrich-tet hatte, weswegen sie drei Tage später zurücktreten musste. Friedrich Dürrenmatt hatte erneut unter Beweis gestellt, dass er jederzeit und überall mit den Grundkräften der Weltge-schichte in Verbindung stand.

So hat das literarische Gedächtnis der Schweiz im Schweizerischen Lite-raturarchiv seine großartige Verkör-perung gefunden. Wenn es zu den bedenklichen Seiten unseres Litera-turbetriebs gehört, dass Schriftstelle-rinnen und Schriftsteller, die man ein-mal lautstark gefeiert hat, oft wenige Jahre später unbekümmert fallenge-lassen werden, und wenn die Floskel

heute vergessen unsere Öffentlichkeit eher zu erleichtern als zu bekümmern scheint, so besitzen wir in diesem Ar-chiv eine mächtige Gegenkraft, ein Bollwerk des kreativen Erinnerns, und wir sollten den Frauen und Män-nern, die es so kompetent aufgebaut haben, es täglich erweitern und wis-senschaftlich auswerten, unseren Dank nicht nur am heutigen Feiertag aussprechen.•Festrede anlässlich der Feier zum zwanzigjährigen Be-stehen des Schweizerischen Literaturarchivs in Bern am 14. Januar 2011.

Buchtipp

224 Seiten, Carl Hanser VerlagISBN 978-3-446-23298-3

Diogenes Taschenbuchdetebe 23006, 256 Seiten

Mit Lust und Liebe, mit List und Tücke bringt Peter von Matt Gedichte

und Leser zusammen. Einer der intelligentesten und witzigsten Interpreten der kleinen Form

erschließt uns in diesem Buch sechzig lyrische Fundstücke oder Klassiker.

Sein Leben lang hat Friedrich Dürrenmatt über die Schweiz nachgedacht und geschrieben,

von seiner ersten großen Erzählung Die Stadt bis zu seiner radikalen Havel-Rede 1990. Ein Lesebuch.

FriedrichDürrenmatt

Meine Schweiz

Ein Lesebuch

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DürrenmattDürrenmatt

Sein Leben in BildernDiogenes

ca. 304 Seiten, 22 x 27 cm, Leinen, VierfarbendruckISBN 978-3-257-06766-8

NOVEMBER

Die Lebensgeschichte von Friedrich Dürrenmatt in Bildern.

Mit vielen Texten aus dem Nachlass und Hunderten von unveröffent-

lichten Fotos aus dem Privatarchiv des Autors und von Charlotte

Kerr Dürrenmatt.

Konolfingen im Emmental, im Vordergrund die »Milchsiederei« mit dem Kamin, im Hintergrund die Kirche von Konolfingen mit dem Pfarrhaus, in dem Dürrenmatt am 5. Januar 1921 als

Sohn des reformierten Pfarrers geboren wird

Seit der Schulzeit ist Dürren-matt fasziniert von der Astronomie und beobachtet, beschreibt, zeichnet und malt sein Leben lang den Sternen-himmel, die Planeten und den Weltraum. Bleistift- Zeichnung des 12-Jährigen

Die Zeichnung ›Schweizer-schlacht‹ ist Dürrenmatts »Erstveröffentlichung«. Sie wurde 1934 im ›Pestalozzi-Kalender‹ abgedruckt. Der 13-Jährige wurde dafür mit einer Uhr ausgezeichnet.

Dürrenmatt mit seiner Schwes-ter Verena: »Ich war ein

kriegerisches Kind. Oft rannte ich als Sechsjähriger im Garten

herum, mit einer langen Bohnenstange bewaffnet, einen

Pfannendeckel als Schild, um endlich meiner Mutter erschöpft

zu melden, die Österreicher seien aus dem Garten gejagt.« Schon bald malte Dürrenmatt

lieber Schlachten, als sie nachzuspielen.

Links: Friedrich Dürrenmatt, ca. 1943, und das Faksimile eines autobiographischen Textes, 1957

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Dürrenmatt in den 1940er-Jahren. »Ich wollte ja eigentlich Maler werden.« Dass er Künstler werden muss, ist ihm spätestens seit der Maturität klar, doch er »[bewege] sich zwischen Schriftstellerei und Malerei«. Später wird er resümieren: »Es ist sehr entscheidend, dass ich kein Maler geworden bin; es ist vermutlich einer der entscheidendsten Momente meines Lebens.« Trotzdem malt und zeichnet Dürrenmatt zeitlebens, meistens nachts.

›Die Astronomen‹, Gouache von Dürrenmatt, 1952

Selbstportrait, Tusche auf Papier, ca. 1943

Die Toilette in Dürrenmatts Haus in Neuchâtel,

»Sixtinische Kapelle«genannt. Wie schon als Student in

der Mansarde in Bern und später in Basel bemalt Dürren -

matt auch in Neuchâtel die Wände der Toilette vollständig,

heute zu besichtigen im Centre Dürrenmatt.

Das Originalmanuskript von Dürrenmatts erstem Prosatext ›Weihnacht‹, den er nach einem Besuch des Büchner-Gedenksteins am 24. Dezember 1942 in Zürich niederschreibt, als er noch Student der Philosophie und Germanistik ist. 1946 beendet Dürrenmatt das Studium, ohne seine geplante Dissertation zu Søren Kierkegaard auch nur anzufangen, entschlossen, Schriftsteller zu werden. Fo

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Schon im Spätsommer 1943 trägt Dürrenmatt den Stoff seines ersten Stücks ›Es steht geschrieben‹ mit sich herum, es entsteht schließlich zwischen 1945 und 1946, kurz bevor er den Beschluss fasst, das Studium abzubrechen. Die Uraufführung findet am 19. April 1947 im Schauspielhaus Zürich statt und wird zum Theaterskandal, Zuschauer verlassen unter Protest den Saal: »Es wurde gescharrt, es fielen vereinzelte Zwischenrufe. Schließlich wurde heftig getram-pelt und gepfiffen und die föhnige Atmosphäre hätte beinahe zu Handgreiflichkeiten im Parkett geführt«, kommentiert die ›Neue Zürcher Zeitung‹ den Abend. Nach diesem Paukenschlag ist Dürrenmatt als Schriftsteller zwar in aller Munde, die junge Familie (am 6. August kommt der Sohn Peter auf die Welt) lebt jedoch weiter von der Hand in den Mund.Um Geld zu verdienen, schreibt er den Kriminalroman ›Der Richter und sein Henker‹, der zuerst als Fortsetzungsroman in der Wochen-zeitschrift ›Der Schweizerische Beobachter‹ erscheint – Dürrenmatts erster Publikumserfolg. Der Welterfolg des Stücks ›Der Besuch der alten Dame‹ entledigt Dürrenmatt aller Geldsorgen und macht aus ihm einen modernen Klassiker zu Lebzeiten, eine Rolle, gegen die Dürrenmatt zeitlebens, auch schriftstellerisch, aufbegehrt.

Die Schauspielerin Lotti Geissler, ca. 1936, die Dürrenmatt im Oktober 1946 heiratet. Wenige Tage nach der Hochzeit ziehen Dürrenmatt und Lotti nach Basel, wo Lotti unregelmäßig am Theater spielt und auf ein festes Engagement hofft, während Dürrenmatt versucht, mit seiner Schriftstellerei Geld zu verdienen.

Dürrenmatt, ca. 1943

Links: ›Der Richter und sein Henker‹, Erstausgabe im Benziger Verlag, 1952. Rechts: das Programmheft der französischen Aufführung der ›Alten Dame‹ 1961 in der Comédie de l’Est in Paris

Eintrittskarte zur Premiere des ersten Dürrenmatt-Stücks, 1947 im Schauspielhaus Zürich

Dürrenmatt, ca. 1948, mit Sohn Peter, dem ersten seiner drei Kinder

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Ausgewählte Spätwerke: ›Turmbau‹, der zweite Band von Dürrenmatts auto-biographischem ›Stoffe‹- Projekt (1990), ›Achterloo‹ (1983) und der Roman ›Justiz‹ (1985), der zum Bestseller wird

Späte Ehrung: 1986 wird Dürrenmatt mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet (rechts: Anna und Daniel Keel).

1952 wird der jungen, inzwi-schen fünfköpfigen Familie günstig ein Haus am Stadtrand von Neuchâtel, hoch an einem Hang gelegen, angeboten. Die 60 000 Franken Kaufpreis finanziert Dürrenmatt zum Teil aus dem Erbe seines Tauf-paten, das Übrige pumpt er sich zusammen. Es wird sein »Ort hinter dem Mond«: »Man kann heute die Welt nur noch von

Frisch und Dürrenmatt: Die zwei berühmtesten Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts verband eine kritische, respektvolle, und doch schließlich gescheiterte Freundschaft.

Nach dem Tod seiner ersten Frau Lotti heiratet Dürrenmat 1984 die Schauspielerin und Regisseurin Charlotte Kerr, die ihn in seiner Arbeit zum Spätwerk inspiriert.

Punkten aus beobachten, die hinter dem Mond liegen, zum Sehen gehört Distanz.« Nach dem Welterfolg der ›Alten Dame‹ wurden zwei weitere Häuser auf dem Gelände dazu-gebaut.

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Ergreife die Feder müdeschreibe deine Gedanken nieder wenn keine Frage nach Stil dich bedrängt.

Es ist heute wieder vieles zu durchdenken.Felder liegen brach, die einst Früchte trugen.

Das Mögliche ist ungeheuer. Die Sucht nach Perfektionzerstört das meiste. Was bleibt sind Splitteran denen sinnlos gefeilt wurde.

Beginne, das Sonnensystem zu sehen. Liebeauch Pluto. Doch wer macht sich schon Gedanken über ihn!Ich aber spüre sein Kreisen, ahnedie kleine Kugel, die glattgeschliffene.

Alles lässt sich besser schreiben Darum lass die schlechtere Fassung stehn.

Nur beim Weitergehen kommst du irgendwohin wohin?Fern von dir. Gehe weiter. Lots Weiberstarrte beim Zurückschauen. Erstarrt nicht. Korrigiert nicht.Wagt!

Höre nie auf andere.Trachte nicht danach ein gutes Buch zu schreibenMache keinen Plan und wenn du ihn machst führe ihn nicht ausDer Plan genügt.

Nichts ist notwendig. Das Spielkann jederzeit abgebrochen werden.

Es gibt Sätze, die stark machen doch brauchen sie nicht nieder- geschrieben zu werden.

Löse deine Hand.

Es kommt nie auf die Sätze an. Nur dasWerk allein zählt. Die Narren kritisieren einen SatzWenige sehen das Ganze.

Gott kann dich verlassen Gody soll dich verlassen. Gedicht aus dem Nachlass

»Friedrich Dürrenmatt ist nicht unser Richter, aber vielleicht unser Gewissen, das uns nie in

Ruhe lässt.« Marcel Reich-Ranicki

»Der Dialog mit Dürrenmatt ist nicht zu Ende – er beginnt erst, und wir werden Mühe haben,

in Friedrich Dürrenmatts mächtigem Schatten, ihn zu bestehen.« Walter Jens

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1921–1990

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