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Friedrich Drrenmatt Justiz Ein Zrcher Kantonsrat erschiet in einem berfllten, von Politikern, Wirtschaftskoryphen und Knstlern besuchten Restaurant der Stadt vor aller Augen einen Germanisten, Professor an der Universitt, lt, zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt, im Gefngnis einen jungen, mittellosen Rechtsanwalt zu sich kommen und erteilt diesem den Auftrag, seinen Fall unter der Annahme neu zu untersuchen, er sei nicht der Mrder gewesen. Der junge Anwalt, der den scheinbar sinnlosen Auftrag annimmt, erkennt zu spt, in welche Falle ihn die Justiz geraten lt, weil er sie mit der Gerechtigkeit verwechselt.
Friedrich Drrenmatt
JustizRoman
Diogenes
Die Erstausgabe erschien 1985 im Diogenes Verlag Umschlagillustration von Friedrich Drrenmatt Die Astronomen (Ausschnitt)
Verffentlicht als Diogenes Taschenbuch, 1987 Alle Rechte vorbehalten Copyright 1985 Diogenes Verlag AG Zrich 150/93/8/8 ISBN 3 257 21540 1
Dieser Roman beruht nicht auf Tatsachen. Namen, Personen, Orte und Handlung sind vom Autor frei erfunden. Irgendwelche hnlichkeiten mit tatschlichen Begebenheiten, Orten oder Personen, seien sie lebend oder tot, sind rein zufllig.
IGewi, ich schreibe diesen Bericht der Ordnung zuliebe nieder, aus einer gewissen Pedanterie heraus, damit er zu den Akten komme. Ich will mich zwingen, noch einmal die Ereignisse zu berprfen, die zum Freispruch eines Mrders und zum Tode eines Unschuldigen gefhrt haben. Ich will noch einmal die Schritte durchdenken, zu denen ich verfhrt worden bin, die Manahmen, die ich getroffen habe, die Mglichkeiten, die ausgelassen worden sind. Ich will noch einmal gewissenhaft die Chancen ausloten, die der Justiz vielleicht doch noch bleiben. Doch vor allem schreibe ich diesen Bericht nieder, weil ich Zeit habe, viel Zeit, zwei Monate mindestens. Ich komme eben vom Flughafen zurck (die Bars, die ich dann noch aufsuchte, zhlen nicht, auch mein gegenwrtiger Zustand ist unwesentlich. Ich bin stockbetrunken, doch morgen werde ich wieder nchtern sein). Die gigantische Maschine hob sich mit Dr. h.c. Isaak Kohler in den Nachthimmel hinein, heulend, brllend, ab nach Australien, als ich aus meinem Volkswagen sprang, den Revolver entsichert. Es war eines seiner Meisterstcke, mich noch anzurufen, vermutlich wute der Alte, was ich beabsichtigte; da ich kein Geld habe, ihm nachzureisen, wissen alle. So bleibt mir nichts anderes brig, als zu warten, bis er wiederkommt, einmal, im Juni vielleicht oder Juli, zu warten, hin und wieder zu saufen, oder fters, je nach Finanzlage, und zu schreiben, die einzige Ttigkeit, die einem nach Strich und Faden ruinierten Rechtsanwalt noch angemessen ist. In einem aber tuscht sich der Kantonsrat: die Zeit wird sein Verbrechen nicht heilen, mein Warten es nicht mildern, meine Betrunkenheit es nicht auslschen, mein Schreiben es nicht entschuldigen. Indem ich die Wahrheit darstelle, prge ich sie mir ein, befhige ich mich, einmal, im Juni, wie gesagt, oder Juli oder wann auch immer er zurckkehrt (und er wird zurckkehren), bewut zu tun, ob ich dann betrunken bin oder nchtern, was ich jetzt nur im Affekt tun wollte. Dieser Bericht ist nicht nur die Begrndung, sondern auch die Vorbereitung zu einem Mord. Zu einem gerechten Mord. Wieder nchtern in meinem Arbeitszimmer:
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Die Gerechtigkeit lt sich nur noch durch ein Verbrechen wiederherstellen. Da ich daraufhin Selbstmord zu begehen habe, ist unvermeidlich. Ich will mich damit nicht der Verantwortung entziehen, im Gegenteil, nur so ist mein Vorgehen zu verantworten, wenn auch nicht juristisch, so doch menschlich. Im Besitze der Wahrheit, kann ich sie nicht beweisen. Fr den entscheidenden Augenblick fehlen mir die Zeugen. Durch meinen Freitod wird es leichterfallen, mir auch ohne Zeugen zu glauben. Ich gehe nicht wie ein Wissenschaftler in den Tod, der sich durch ein Selbstexperiment dem Wissen zuliebe hinrichtet, ich sterbe, weil ich meinen Fall zu Ende denke. Tatort: er spielt schon frh eine Rolle. Das Du Thtre ist mit seiner Rokokofassade eines der wenigen Renommierstcke unserer hoffnungslos verbauten Stadt. Das Restaurant ist auf drei Etagen untergebracht, was nicht jeder wei, den meisten sind nur zwei bekannt. Im Erdgescho sind an den langen Vormittagen alles steht in unserer Stadt frh auf verschlafene Studenten, aber auch Geschftsleute zu finden, die dann oft ber Mittag bleiben, spter, nach dem Kaffee Kirsch, wird es still, die Serviertchter werden unsichtbar, erst gegen vier kehren erschpfte Lehrer ein, lassen sich mde Beamte nieder. Der Gewalthaufe freilich zieht zum Abendessen auf und dann noch nach halb elf, neben Politikern, Managern und Finanzexistenzen sonstige Vertreter der freien und freiesten Berufe, aber auch leicht erschrockene Fremde, unsere Stadt liebt es, sich international zu geben. Im ersten Stock wendet sich denn auch alles ins Stinkfeine. Das Wort ist passend: In den beiden niedrigen, rot tapezierten Rumen herrscht tropische Hitze, aber dennoch hlt man aus, die Damen in Abendkleidern, die Herren oft im Smoking. Die Luft ist durchsetzt mit Schwei, Parfm und der Hauptsache nach mit dem Geruch der kulinarischen Spezialitten unserer Stadt, geschnetzeltes Kalbfleisch mit Rsti usw. Man trifft sich hier (im wesentlichen die gleiche Gesellschaft wie unten, nur eben festlich kostmiert) nach Premieren und nach den groen Geschften, nicht um Dinger zu drehen, sondern um gedrehte Dinger
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zu feiern. Im zweiten Stock darauf verndert sich der Charakter des Du Thtre aufs neue. Man nimmt erstaunt einen Zug ins Liederliche wahr. Ungeniertheit macht sich breit. Die Rume sind hier hoch und hell, hneln nun mehr jenen eines billigen Wirtschaftssaales, gewhnliche Holzsthle, auf den Tischen karierte Decken, berall Bierteller, gleich neben der Treppe ein halbleeres Kabarett mit mittelmigen Zauberknstlern und noch mittelmigerem Striptease, im Saal wird Karten und Billard gespielt. Da sitzen die Gemse- und Frchtehndler unserer Stadt, die Bauunternehmer und Warenhausbesitzer, die Grogaragisten und Abbruchspezialisten, oft stundenlang, die Einstze sind phantastisch, und um sie herum scharen sich die Kiebitze, ausgefallene und zwielichtige Zeitgenossen, aber auch einige Dirnen warten, drei, vier, immer am gleichen Tisch beim Fenster, mehr als nur geduldet, sie gehren zur Ausstattung und sind wohlfeil. Relativ. Wirklich reiche Leute achten auf ihr Kleingeld. Als ich dem Kantonsrat zum ersten Mal begegnete, hatte ich eben das Staatsexamen abgeschlossen, die Dissertation geschrieben, den Doktortitel und das Anwaltspatent erhalten, aber arbeitete noch, wie schon whrend meines Studiums, als besserer Laufbursche bei Stssi-Leupin. Dieser war durch die Freisprche, die er in den Mordfllen der Gebrder tti, Rosa Pick, Deubelbei und Amsler erreicht, und durch den Vergleich, den er zwischen der Hilfswerksttte Trog und den Vereinigten Staaten erzielt hatte (sehr zum Vorteil der Trgener), weit ber die Grenzen unseres Landes bekannt geworden. Ich hatte Stssi-Leupin ein Gutachten ber einen jener dubiosen Flle ins Du Thtre zu bringen, wie nur er sie liebte. Ich fand den Staranwalt im zweiten Stock bei einem der Billardtische, wo er mit dem Kantonsrat eine Partie beendet hatte, am anderen Tisch spielten Dr. Benno und Professor Winter, und erst jetzt, beim Niederschreiben, wird mir bewut, da damals die Hauptpersonen der spteren Handlung versammelt waren: wie bei einem Vorspiel. Drauen war es kalt gewesen, November oder Dezember das genaue Datum liee sich leicht feststellen, ich war durchfroren, weil ich aus Gewohnheit keinen Mantel trug und meinen Volkswagen einige Straen vom Du Thtre entfernt hatte
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parkieren mssen. Leisten Sie sich einen Grog, junger Mann, sprach mich der Kantonsrat an. Er musterte mich aufmerksam und winkte einem Kellner. Ich gehorchte unwillkrlich, auch hatte ich auf eine Anordnung Stssi-Leupins zu warten, der sich mit dem Gutachten zurckgezogen hatte und es an einem der Tische durchbltterte. Vorne im Saal spielten die Gemsehndler, dunkle Silhouetten vor der Fensterfront. Von der Strae her drang das dumpfe Rollen der Straenbahn. Der Kantonsrat betrachtete mich noch immer, ungeniert, ohne seinen Blick zu verbergen. Er mochte gegen die Siebzig gehen. Er hatte als einziger den Rock nicht ausgezogen, schwitzte nicht einmal. Ich stellte mich endlich vor, ahnte, einem Mann von Prominenz gegenberzustehen, kam aber nicht auf den Namen. Verwandt mit Oberst Spt? fragte er, ohne seinen Namen zu nennen, sei es nun, da er darauf keinen Wert legte, oder in der Annahme, da ich ihn schon kenne. (Oberst Spt: martialischer Landwirt, heute Bundesrat. Fordert Atomwaffen.) Kaum, antwortete ich. (Um diesen Punkt ein fr allemal zu erledigen: Ich bin 1930 geboren. Meine Mutter, Anna Spt, habe ich nicht gekannt, mein Vater ist unbekannt. Aufgewachsen bin ich in einem Waisenhaus, an das ich mich mit Vergngen erinnere besonders an den unermelichen Wald, an den es grenzte. Die Leitung und die Lehrerschaft waren vorzglich, meine Jugend glcklich, ist es doch durchaus nicht immer ein Vorteil, Eltern zu besitzen. Mein Unglck begann mit Dr. h.c. Isaak Kohler, vorher war ich zwar in Schwierigkeiten, aber nicht in hoffnungslosen.) Sie wollen Stssi-Leupins Partner werden? fragte er. Ich schaute ihn verwundert an: Ich denke nicht daran. Er hlt viel von Ihnen. Das hat er mich bis jetzt nie merken lassen. Stssi-Leupin lt nie etwas merken, meinte der Alte trocken. Sein Fehler, antwortete ich unbekmmert. Ich will mich selbstndig machen. Das wird schwer sein. Mglich.
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Der Alte lachte: Sie werden noch Ihre Wunder erleben. Es ist nicht leicht, in unserem Lande allein hochzukommen. Spielen Sie Billard? fragte er dann unvermittelt. Ich verneinte. Ein Fehler, sagte er, betrachtete mich aufs neue nachdenklich, die grauen Augen voll Verwunderung, doch ohne Spott, wie es schien, humorlos und hart, und fhrte mich zum zweiten Tisch, wo Dr. Benno und Professor Winter spielten, die mir beide bekannt waren, der Professor von der Universitt her er war Rektor, als ich immatrikulierte , Dr. Benno von der Welt des Nachtlebens her, das in unserer Stadt herrschte, zwar damals nur bis Mitternacht, doch dafr nicht ohne Intensitt. Sein Beruf war unbestimmt. Einmal war er Olympiasieger im Fechten weshalb man ihn den Olympia-Heinz nannte , einmal Schweizermeister im Pistolenschieen gewesen und war immer noch ein bekannter Golfspieler, einmal hatte er eine Galerie gefhrt, die nicht rentierte. Jetzt hie es, er solle der Hauptsache nach Vermgen verwalten. Ich grte, sie nickten. Winter ist ein ewiger Anfnger, sagte Dr. h.c. Kohler. Ich lachte. Sie sind wohl ein Meister? Gewi, antwortete er ruhig, Billard ist meine Passion. Geben Sie das Queue mal her, Professor, den Sto schaffen Sie nicht. Professor Adolf Winter gab ihm den Billardstock. Er war ein sechzigjhriger, schwerer, doch eher kleingewachsener Mann, mit leuchtender Glatze, goldener randloser Brille, gepflegtem schwarzem Vollbart mit weien Strhnen, den er wrdevoll zu streichen pflegte, stets sorgfltig, nicht unraffiniert konservativ gekleidet, einer der humanistischen Schwadroneure, die unsere Universitt bevlkern, Mitglied des PEN-Clubs und der Usteri-Stiftung, Autor des zweibndigen Schmkers Carl Spitteler und Hesiod oder Schweiz und Hellas. Ein Vergleichs Artemis 1940 (als Jurist geht mir seit jeher die philosophische Fakultt auf die Nerven). Der Kantonsrat bearbeitete die Lederkuppe sorgfltig mit Kreide. Seine Bewegungen waren ruhig und sicher, und so schroff auch seine Stze fielen, wirkte doch nichts an ihm arrogant, nur bewut und gelassen, alles deutete auf Macht und Unbeirrbarkeit. Er betrachtete
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den Billardtisch mit leicht geneigtem Kopf, tat dann den Sto entschlossen und schnell. Ich folgte dem Rollen der weien Kugeln, ihrem Aufprallen und Zurckstoen. A la bande. So mu man den Benno schlagen, meinte der Kantonsrat, indem er den Billardstock Professor Winter zurckgab. Kapiert, junger Mann? Ich verstehe nichts davon, antwortete ich und wandte mich dem Grog zu, den der Kellner auf ein Tischchen gestellt hatte. Einmal werden Sie es schon begreifen, lachte Dr. h.c. Isaak Kohler, nahm eine Zeitungsrolle von der Wand und entfernte sich. Der Mord: Was sich dann drei Jahre spter ereignete, ist bekannt und kann schnell erzhlt werden (auch nchtern brauche ich dabei nicht unbedingt zu sein). Dr. h.c. Isaak Kohler hatte sein Mandat niedergelegt, obschon seine Partei ihn zum Regierungsrat vorschlagen wollte (nicht zum Bundesrat, wie einige auslndische Zeitungen schrieben), hatte sich berhaupt aus der Politik zurckgezogen (von seiner Anwaltspraxis schon lngst), verwaltete einen Ziegeltrust, der immer weltweitere Dimensionen annahm, linkerhand, amtete als Prsident verschiedener Verwaltungsrte, wirkte auch in einer Kommission der UNESCO, man sah ihn manchmal monatelang nicht in unserer Stadt, bis er an einem ungebhrlich frhlingshaften Mrztag im Jahre 1955 den englischen Minister B. durch unsere Stadt fhrte. Dieser Minister war privat gekommen, man hatte in einer Privatklinik sein Magengeschwr behandelt, nun sa er neben dem Alt-Kantonsrat in dessen RollsRoyce und lie sich, bevor er zurckflog, widerwillig doch noch die Stadt zeigen, vier Wochen hatte er sich standhaft geweigert, um sich nun zu fgen, sah ghnend nach den Sehenswrdigkeiten, die sich vorbeischoben, nach der Technischen Hochschule, der Universitt, dem Mnster, romanisch (der Kantonsrat lieferte Stichworte), der Flu zitterte in der weichen Luft (die Sonne ging eben unter), der Quai war voller Menschen. Der Minister nickte ein, auf den Lippen noch den Geschmack der unzhligen Kartoffelprees und der
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Birchermeslis, die er in der Privatklinik genossen hatte, whrend er nun schon von Whisky pur trumte und die Stimme des Kantonsrats wie von weitem hrte, das Rollen des Verkehrs als ein noch ferneres Rauschen; eine bleierne Mdigkeit war in ihm und vielleicht schon die Ahnung, da die Magengeschwre doch nicht so harmlos seien. Just a moment, sagte Dr. h.c. Isaak Kohler und lie den Chauffeur Franz vor dem Du Thtre anhalten, stieg aus, wies ihn an, eine Minute zu warten, deutete noch mit dem Schirmstock mechanisch auf die Fassade eighteenth century, doch reagierte Minister B. berhaupt nicht, dste weiter, trumte weiter. Der Kantonsrat begab sich ins Restaurant, gelangte durch die Drehtre in den groen Speisesaal, wo ihn der Chef de Service ehrfrchtig begrte. Es ging gegen sieben, die Tische waren schon vollbesetzt, man sa beim Abendessen, ein Stimmengewirr, Schmatzen, Besteckgeklimper. Der Alt-Kantonsrat schaute sich um, schritt dann gegen die Mitte des Speisesaales, wo an einem kleinen Tisch Professor Winter sa, mit einem Tournedos Rossini und einer Flasche Chambertin beschftigt, zog einen Revolver hervor und scho das Mitglied des PEN-Clubs nieder, nicht ohne vorher freundlich gegrt zu haben (berhaupt spielte sich alles aufs wrdigste ab), ging dann gelassen am erstarrten Chef de Service, der ihn wortlos anglotzte, und an verwirrten, zu Tode erschrockenen Kellnerinnen vorbei durch die Drehtre in den sanften Mrzabend hinaus, stieg wieder in den Rolls-Royce, setzte sich zum dsenden Minister, der nichts bemerkt hatte, dem nicht einmal das Anhalten des Wagens zum Bewutsein gekommen war, der, wie gesagt, vor sich hin dste, vor sich hin trumte, sei es von Whisky, sei es von Politik (die Suezkrise schwemmte dann auch ihn weg), sei es von einer bestimmten Ahnung hinsichtlich der Magengeschwre (vorige Woche stand sein Tod in den Zeitungen, nur kurz kommentiert, und die meisten gaben seinen Namen orthographisch nicht ganz gewissenhaft wieder). Zum Flughafen, Franz, befahl Dr. h.c. Isaak Kohler. Das Intermezzo seiner Verhaftung: es kann nicht ohne Schadenfreude erzhlt werden. Einige Tische vom Ermordeten entfernt tafelte der Kommandant unserer Kantonspolizei mit seinem alten
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Freund Mock, der, ein Bildhauer, taub und in sich versunken, vom ganzen Vorgang auch spter nicht das geringste wahrnahm. Die beiden aen einen Potaufeu, Mock zufrieden, der Kommandant, der das Du Thtre nicht mochte und es nur selten besuchte, mrrisch. Nichts war nach seinem Geschmack: die Fleischbrhe zu kalt, das Siedfleisch zu zh, die Preiselbeeren zu s. Als der Schu fiel, sah der Kommandant nicht auf, das ist mglich, so wird es jedenfalls erzhlt, denn er war gerade dabei, das Mark kunstgerecht aus einem Knochen zu saugen, dann erhob er sich aber doch, stie dabei sogar einen Stuhl um, den er jedoch als ein Mann der Ordnung wieder auf die Beine stellte. Bei Winter angekommen, lag dieser schon auf dem Tournedos Rossini, die Hand noch um das Glas mit dem Chambertin geschlossen. Ist das vorhin nicht der Kohler gewesen? fragte der Kommandant den noch hilflosen Geschftsfhrer, der ihn verstrt und bleich anglotzte. Jawohl. In der Tat, murmelte der. Der Kommandant betrachtete den ermordeten Germanisten nachdenklich, schaute dann finster auf die Platte mit der Rsti und den Bohnen nieder, lie seinen Blick ber die Schssel mit dem zarten Salat, den Tomaten und Radieschen gleiten. Da kann man nichts mehr machen, sagte er. Jawohl. In der Tat. Die Gste, erst wie gebannt, waren aufgesprungen. Hinter der Theke starrten der Koch und das Kchenpersonal herber. Nur Mock a ruhig weiter. Ein hagerer Mann drngte sich vor. Ich bin Arzt. Rhren Sie ihn nicht an, befahl der Kommandant ruhig, wir mssen ihn zuerst mal fotografieren. Der Arzt beugte sich zum Professor, befolgte jedoch den Befehl. Tatschlich, stellte er dann fest. Tot. Eben, antwortete der Kommandant ruhig. Gehen Sie zurck an Ihren Tisch. Dann nahm er die Flasche Chambertin vom Tisch. Die ist requiriert, sagte er und reichte sie dem Geschftsfhrer. Jawohl. In der Tat, murmelte der.
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Darauf ging der Kommandant telefonieren. Als er zurckkehrte, befand sich der Staatsanwalt Jmmerlin schon bei der Leiche. Er trug einen feierlichen dunklen Anzug. Er beabsichtigte, in der Tonhalle ein Symphoniekonzert zu besuchen, und hatte eben im Franzsischen Restaurant im ersten Stock zum Nachtisch eine Omelette flambe verzehrt, als er den Schu hrte. Jmmerlin war unbeliebt. Jedermann sehnte seine Pensionierung herbei, die Dirnen und ihre Konkurrenz vom anderen Lager, die Diebe und Einbrecher, die ungetreuen Prokuristen, die Geschftsmnner in Schwierigkeiten, aber auch der Justizapparat, von der Polizei bis zu den Anwlten, ja selbst seine Kollegen lieen ihn im Stich. Jedermann ri Witze ber ihn: es sei kein Wunder, da es in der Stadt jmmerlicher denn je hergehe, seit man Jmmerlin habe, jmmerlicher als in der Justiz knne es nicht mehr zugehen usw. Der Staatsanwalt stand auf verlorenem Posten, seine Autoritt war lngst untergraben, die Geschworenen widersetzten sich immer hufiger seinen Antrgen, die Richter desgleichen, und besonders hatte er unter dem Kommandanten zu leiden, der im Rufe stand, den sogenannten kriminellen Teil unserer Bevlkerung fr den wertvolleren zu halten. Doch Jmmerlin war ein Jurist groen Stils, der durchaus nicht immer den krzeren zog, seine Antrge und Repliken waren gefrchtet, seine Kompromilosigkeit imponierte, sosehr sie verhat war. Er stellte einen Staatsanwalt der lteren Schule dar, von jedem Freispruch persnlich gekrnkt, gleich ungerecht gegen reich und arm, ledig, von keiner Versuchung angefochten, ohne je eine Frau berhrt zu haben. Beruflich seine schlimmsten Nachteile. Die Verbrecher waren fr ihn etwas Unverstndliches, geradezu Satanisches, die ihn in eine alttestamentarische Wut versetzten, er war ein Relikt einer unbeugsamen, aber auch unbestechlichen Moralitt, ein erratischer Block im Sumpfe einer Justiz, die alles entschuldigt, wie er sich ebenso schwungvoll wie grimmig ausdrckte. Auch jetzt war er ungemein erregt, um so mehr, als er den Ermordeten und den Mrder persnlich kannte. Kommandant, rief er emprt aus, in der Hand noch die Serviette, man behauptet, Doktor Isaak Kohler habe diesen Mord begangen!
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Stimmt, antwortete der Kommandant mrrisch. Das ist doch einfach unmglich! Kohler mu verrckt geworden sein, antwortete der Kommandant, setzte sich auf den Stuhl neben dem Toten, zndete sich eine seiner ewigen Bahianos an. Der Staatsanwalt trocknete sich mit der Serviette die Stirn, zog vom Nebentisch einen Stuhl heran, setzte sich ebenfalls, so da der riesige Tote nun zwischen den beiden massigen, schweren Beamten ber seinem Teller lag. So warteten sie. Totenstille im Restaurant. Niemand a mehr. Alles starrte auf die gespenstische Gruppe. Nur als eine Studentenverbindung den Raum betrat, entstand Verwirrung. Sie nahm singend vom Lokal Besitz, begriff nicht gleich die Lage, sang aus Leibeskrften weiter, verstummte dann verlegen. Endlich kam Leutnant Herren mit dem Stab des Morddezernats. Ein Polizist fotografierte, ein Gerichtsmediziner stand hilflos herum, und ein Bezirksanwalt, der mitgekommen war, entschuldigte sich bei Jmmerlin fr sein Erscheinen. Leise Befehle, Anordnungen. Dann wurde der Tote aufgerichtet, Sauce im Gesicht, Gnseleber und grne Bohnen im Vollbart, auf die Bahre gelegt und in den Sanittswagen geschafft. Die goldene randlose Brille entdeckte Ella erst in der Rsti, als sie abrumen durfte. Darauf wurden vom Bezirksanwalt die ersten Zeugen einvernommen. Mgliches Gesprch I: Wie nun wieder Leben in die Serviertchter kam und die Gste sich langsam und zgernd setzten, wie nun einige schon wieder zu essen begannen, wie nun auch die ersten Journalisten anrckten, zog sich der Staatsanwalt mit dem Kommandanten zu einer Besprechung in die Vorratskammer neben der Kche zurck, wohin man sie gefhrt hatte. Er wollte einen Augenblick mit dem Kommandanten allein sein, ohne Zeugen. Ein Weltgericht mute organisiert und abgehalten werden. Die kurze Besprechung neben Regalen mit Broten, Konserven, lflaschen und Mehlscken verlief unglcklich. Nach der Darstellung vor dem Parlament, die der Kommandant spter gab, forderte der Staatsanwalt den Masseneinsatz der Polizei.
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Wozu? wandte der Kommandant ein. Wer wie Kohler vorgeht, will nicht fliehen. Den Mann knnen wir ruhig zu Hause verhaften. Jmmerlin wurde energisch. Ich darf wohl erwarten, da Sie Kohler wie jeden anderen Verbrecher behandeln. Der Kommandant schwieg. Der Mann ist einer der reichsten und bekanntesten Brger der Stadt, fuhr Jmmerlin fort. Es ist unsere heilige Pflicht (eine seiner Lieblingswendungen), mit der grten Strenge vorzugehen. Wir mssen jeden Anschein vermeiden, da wir ihn begnstigen. Es ist unsere heilige Pflicht, unntige Kosten zu vermeiden, erklrte der Kommandant ruhig. Kein Groalarm? Ich denke nicht daran. Der Staatsanwalt starrte auf die Brotschneidemaschine, neben der er stand. Sie sind mit Kohler befreundet, meinte er endlich, nicht einmal boshaft, nur routinemig und kalt. Halten Sie es nicht fr mglich, da unter diesen Umstnden Ihre Objektivitt leiden knnte? Stille. Polizeileutnant Herren, antwortete der Kommandant gelassen, wird den Fall Kohler bernehmen. So kam es zum Skandal. Herren war ein Mann der Tat, ehrgeizig und handelte denn auch voreilig. Es gelang ihm, nicht nur innerhalb weniger Minuten die ganze Polizei, sondern auch die Bevlkerung zu alarmieren, indem er im Radio vor den Halbachtuhrnachrichten gerade noch die Sondermeldung der Kantonspolizei lancieren konnte. Der Apparat lief auf vollen Touren. Man fand Kohlers Villa leer (er war Witwer, seine Tochter als Stewarde der Swissair in Lften, die Kchin im Kino). Man schlo auf Fluchtabsichten. Funkwagen pirschten durch die Straen, die Grenzposten wurden benachrichtigt, auslndische Polizei avisiert. Dies alles war vom rein Technischen her nur zu loben, doch stellte man die Mglichkeit auer Frage, die der Kommandant gewittert hatte: man suchte einen Mann, der nicht zu fliehen trachtete. So war denn das Unglck schon geschehen, als man
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kurz nach acht aus dem Flughafen die Nachricht erhielt, Kohler habe einen englischen Minister zum Flugzeug gebracht und sich dann in seinem Rolls-Royce gemtlich in die Stadt zurckfahren lassen. Besonders schwer traf es den Staatsanwalt. Er hatte sich eben, beruhigt durch das machtvolle Funktionieren der Staatsmaschinerie, noch freudig gestimmt von seinem Sieg ber den verhaten Kommandanten, bereitgemacht, Mozarts Ouvertre zur Entfhrung aus dem Serail anzuhren, sich auch schon genuvoll, den gestutzten grauen Bart streichelnd, zurckgelehnt, und Mondschein hatte schon den Taktstock erhoben, als der gesuchte, mit den modernsten Hilfsmitteln der Polizei gehetzte Dr. h.c. an der Seite einer der reichsten und nun auch ahnungslosesten Witwen unserer Stadt durch den Mittelgang des groen Tonhallesaals an den dichten Zuhrerreihen vorbei nach vorne geschritten kam, ruhig und sicher wie immer, mit der unschuldigsten Miene, als wenn nichts geschehen wre, und sich neben Jmmerlin niederlie, ja dem Fassungslosen noch die Hand schttelte. Die Erregung, das Getuschel, aber leider auch das Gekicher waren betrchtlich, die Ouvertre miriet nicht unbedeutend, weil auch das Orchester den Vorgang bemerkt hatte, ein Oboist erhob sich sogar neugierig, Mondschein mute zweimal ansetzen, und so verwirrt war der Staatsanwalt, da er nicht nur whrend der Serail-Ouvertre, sondern auch whrend des nachfolgenden Zweiten Klavierkonzerts von Johannes Brahms wie erstarrt sitzenblieb. Zwar begriff er endlich die Lage, als der Pianist eingesetzt hatte, aber nun wagte er nicht, Brahms zu unterbrechen, sein Respekt vor der Kultur war zu gro, er fhlte schmerzlich, da er htte eingreifen mssen, und nun war es zu spt, und so blieb er bis zur Pause. Dann handelte er. Er drngte sich durch die Menge, die neugierig den Kantonsrat umringte, lief zu den Telefonkabinen, mute zurckkehren, um von einer Garderobenfrau Kleingeld zu bekommen, rief die Polizeikaserne an, erreichte Herren, ein Groaufgebot sauste herbei. Kohler dagegen spielte den Ahnungslosen, spendierte an der Bar der Witwe Champagner, hatte auch das unverschmte Glck, da der zweite Teil des Konzerts wenige Augenblicke vor Eintreffen der Polizei begann. So mute denn Jmmerlin mit Herren vor verschlossenen Tren warten,
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drinnen wurde Bruckners Siebente gegeben, endlos. Der Staatsanwalt stampfte aufgeregt hin und her, mute einige Male von Platzanweiserinnen zur Ruhe gemahnt werden, wurde berhaupt wie ein Barbar behandelt. Er verwnschte die ganze Romantik, verfluchte Bruckner, man war immer noch erst beim Adagio, und als endlich nach dem vierten Satz der Beifall einsetzte auch er wollte kein Ende nehmen und als das Publikum durch das Spalier der aufgerckten Polizisten ins Freie strmte, kam Dr. h.c. Isaak Kohler erst recht nicht. Er war verschwunden. Der Kommandant hatte ihn durch den Knstlereingang in seinen Wagen gebeten und war mit ihm in die Polizeikaserne gefahren. Mgliches Gesprch II: In der Polizeikaserne brachte der Kommandant den Dr. h.c. in sein Bro. Sie hatten miteinander whrend der Fahrt kein Wort gesprochen, nun ging der Kommandant voran den leeren, schlecht beleuchteten Korridor entlang. Im Bro wies er schweigend auf einen der bequemen Ledersessel, verriegelte die Tre, zog den Rock aus. Mach's dir gemtlich, sagte er. Danke, ich bin schon gemtlich, antwortete der Kantonsrat, der sich gesetzt hatte. Der Kommandant stellte zwei Glser auf den Tisch zwischen den beiden Sesseln, holte eine Rotweinflasche aus dem Schrank, Winters Chambertin, erklrte er und schenkte ein, setzte sich auch, starrte eine Weile vor sich hin, begann sich dann sorgfltig mit dem Taschentuch den Schwei von der Stirn und vom Nacken zu wischen. Lieber Isaak, begann er endlich, sage mir um Himmels willen, warum du diesen alten Esel niedergeschossen hast. Du meinst , antwortete der Kantonsrat etwas zgernd. Bist du dir berhaupt im klaren, was du getan hast? unterbrach ihn der Kommandant. Der andere trank gemchlich aus seinem Glas, antwortete nicht auf der Stelle, betrachtete vielmehr den Kommandanten leicht erstaunt, aber auch mit leichtem Spott. Selbstverstndlich, sagte er dann. Selbstverstndlich bin ich
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mir im klaren. Und, warum hast du Winter erschossen? Ach so, antwortete der Kantonsrat und schien ber etwas nachzudenken, lachte dann: Ach, so ist das. Nicht bel. Was ist nicht bel? Das Ganze. Der Kommandant wute nicht, was er antworten sollte, war verwirrt, rgerte sich. Der Mrder dagegen war geradezu heiter geworden, lachte mehrere Male leise vor sich hin, schien sich auf eine unbegreifliche Weise zu amsieren. Nun. Warum hast du den Professor ermordet? begann der Kommandant aufs Neue hartnckig zu fragen, eindringlich, wischte sich wieder den Schwei aus dem Nacken und von der Stirn. Ich habe keinen Grund, gestand der Kantonsrat. Der Kommandant starrte ihn verwundert an, glaubte nicht recht gehrt zu haben, leerte dann sein Glas Chambertin, schenkte sich wieder ein, veschttete Wein. Keinen Grund? Keinen. Das ist doch Unsinn, du mut doch einen Grund haben, rief der Kommandant ungeduldig aus. Das ist doch Unsinn! Ich bitte dich, deine Pflicht zu tun, sagte Kohler und trank sorgfltig sein Glas leer. Meine Pflicht ist es, dich zu verhaften, erklrte der Kommandant. Eben. Der Kommandant war verzweifelt. Er liebte Klarheit in allen Dingen. Er war ein nchterner Mensch. Ein Mord war fr ihn ein Unglcksfall, ber den er kein moralisches Urteil fllte. Aber als Mann der Ordnung mute er einen Grund haben. Ein Mord ohne Grund war fr ihn nicht ein Versto gegen die Sitte, wohl aber gegen die Logik. Und das gab es nicht. Am besten, ich stecke dich ins Irrenhaus zur Beobachtung, erklrte er wtend. Das gibt es doch einfach nicht, da du ohne Grund gemordet haben willst. Ich bin vllig normal, entgegnete Kohler ruhig.
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Soll ich Stssi-Leupin telefonieren? schlug der Kommandant vor. Wozu? Du brauchst einen Verteidiger, Mann Gottes. Den besten, den wir haben, und Stssi-Leupin ist der beste. Ein Offizialverteidiger gengt mir. Der Kommandant gab es auf. Er ffnete den Kragen, atmete tief. Du mut verrckt geworden sein, keuchte er. Gib den Revolver. Welchen Revolver? Mit dem du den Professor erschossen hast. Den habe ich nicht, erklrte der Dr. h.c. und erhob sich. Isaak, flehte der Kommandant, ich hoffe, du willst uns eine Leibesvisitation ersparen! Er wollte sich wieder Wein einschenken. Die Flasche war leer. Der verdammte Winter hat zuviel gesoffen, knurrte der Kommandant. La mich endlich abfhren, schlug der Mrder vor. Bitte, entgegnete der Kommandant, dann wird dir nichts erspart bleiben. Er erhob sich ebenfalls, riegelte die Tr auf, klingelte dann. Fhren Sie den Mann ab, sagte er zum eintretenden Polizeiwachtmeister. Er ist verhaftet. Verspteter Verdacht: Wenn ich diese Gesprche wiederzugeben versuche mgliche, weil ich ihnen nicht persnlich beigewohnt habe , so geschieht es nicht in der Absicht, einen Roman zu schreiben. Es geschieht aus der Notwendigkeit, ein Geschehen so getreu wie mglich aufzuzeichnen, doch ist dies nicht das Schwierige. Die Justiz spielt sich zwar weitgehend hinter den Kulissen ab, aber auch hinter den Kulissen verwischen sich die gegen auen scheinbar so klar festgelegten Kompetenzen, die Rollen werden ausgetauscht oder anders verteilt, Gesprche zwischen Personen finden statt, die vor der ffentlichkeit als unvershnliche Feinde auftreten, berhaupt herrscht eine andere Tonart. Nicht alles wird festgehalten und den Akten zugefhrt. Informationen werden
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weitergegeben oder unterschlagen. So war etwa der Kommandant mir gegenber immer offen, gesprchig, erzhlte mir freiwillig alles, lie mich in wichtige Dokumente Einsicht nehmen, berschritt auch fters seine Befugnisse, ist berhaupt, auch heute noch, mir gewogen. Ja sogar Stssi-Leupin war mir gegenber durchaus zuvorkommend, auch als ich lngst im anderen Lager stand, erst jetzt hat sich der Wind gedreht, doch das ja wohl aus einem ganz anderen Grund. So brauche ich denn die Gesprche nicht zu erfinden, sondern nur zu rekonstruieren. Schlimmstenfalls sind sie zu erahnen. Nein, meine schriftstellerischen Schwierigkeiten liegen woanders. Wenn ich mir auch im klaren darber bin, da selbst mein geplanter Mord und Selbstmord nicht ein strenger Beweis meiner Glaubwrdigkeit zu sein vermgen, so berfllt mich doch immer wieder beim Niederschreiben der Ereignisse die wahnwitzige Hoffnung, noch einen solchen zu erbringen: etwa indem ich entdecke, wie Kohlers Revolver beseitigt wurde. Die Tatwaffe ist nie gefunden worden. Zunchst ein nebenschlicher Umstand. Er blieb ohne Einflu auf den Proze. Der Tter stand fest, Zeugen waren gengend vorhanden, das Personal, die Gste des Du Thtre. Wenn deshalb der Kommandant zu Beginn der Untersuchung alles aufbot, den Revolver herzuschaffen, so nicht, um Kohler zu belasten was ja in keiner Weise ntig war , sondern nur der Ordnung zuliebe, es gehrte sozusagen zu seinem kriminalistischen Stil. Doch hatte der Kommandant keinen Erfolg. Unerklrlicherweise. Dr. h. c. Isaak Kohlers Weg vom Du Thtre bis zur Tonhalle war bekannt, minutis zu belegen. Er war nach dem Schu auf den TournedosRossini-verschlingenden Professor geradewegs in seinen RollsRoyce gestiegen und hatte sich neben dem whiskytrumenden Minister niedergelassen, wir wissen es. Beim Flughafen verlieen Mrder und Minister den Wagen, der Chauffeur (der ja nichts von der Tat wute) hatte keinen Revolver bemerkt, auch der Direktor der Swissair nicht, der zur Begrung hergeeilt kam. In der Halle plauderte man, bewunderte pflichtgem das Gebude, besser, dessen Innenarchitektur, schritt dann schlendernd zur Maschine, Kohler den Minister leicht sttzend. Feierliche Verabschiedung, Rckkehr mit dem Direktor in die Halle, noch ein kurzer Blick auf
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die davonrollende Maschine, Einkauf am Kiosk, NZZ und National-Zeitung, Durchquerung der Halle, immer noch mit dem Direktor, doch nun ohne Blick auf die Innenarchitektur, dann in den wartenden Wagen, vom Flughafen an die Zollikerstrae, zweimaliges Hupen vor dem Haus der ahnungslosen Witwe, die gleich erschien (man war in Eile), von der Zollikerstrae geradewegs in die Tonhalle. Von der Waffe keine Spur, auch die Witwe hatte nichts bemerkt. Der Revolver hatte sich in nichts aufgelst. Der Kommandant lie den Rolls-Royce aufs genaueste untersuchen, dann die Strecke, die Kohler zurckgelegt hatte, ferner dessen Villa, den Garten, das Zimmer der Kchin, die Wohnung des Chauffeurs an der Freiestrae. Nichts. Der Kommandant drang noch einige Male in Kohler, wetterte sogar, schritt zum Dauerverhr. Vergeblich. Der Dr. h. c. bestand es glnzend, nur Hornusser, der Untersuchungsrichter, der das Verhr wiederaufnahm, brach zusammen. Dann Protest von seiten des Staatsanwalts, die Polizei und der Untersuchungsrichter brauchten nicht allzu pedantisch zu sein, Revolver hin oder her, man lege nicht allzuviel Wert darauf, ihn weiterzusuchen sei eine Verschleuderung von Steuergeldern, der Kommandant und der Untersuchungsrichter muten die Suche aufgeben; und die verschwundene Waffe erhielt erst spter, durch Stssi-Leupin, ihre Bedeutung. Da sie mir in diesen Tagen eine neue Hoffnung einflt, ist eine andere Geschichte, gehrt zu den Schwierigkeiten meines Unterfangens. Meine Rolle als Retter der Gerechtigkeit ist jmmerlich, ich vermag nichts als zu schreiben, kaum sehe ich daher von weitem eine Mglichkeit, anders einzugreifen, auf eine andere Weise zu handeln, lasse ich meine Hermes-Baby, renne zu meinem Wagen (wieder VW), starte, brause davon, so vorgestern morgen zum Personalchef der Swissair. Eine Idee war mir gekommen, eine gewaltige Lsung. Ich fuhr wie im Rausch, wie durch ein Wunder kam ich heil zum Flughafen, blieben andere heil. Doch wollte mir der Personalchef keine Auskunft geben, lie mich nicht einmal vor. Die Rckkehr ging in gemigtem Tempo vor sich, bei einer Kreuzung schrie mir ein Polizist zu, ob ich meinen Wagen durch die Stadt schieben wolle. Ich fhlte mich wieder einmal ausgespielt. Privatdetektiv Lienhard noch einmal mit einer Recherche zu
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beauftragen war unmglich, er kostete zuviel und war nun, wie die Dinge standen, wohl auch nicht mehr interessiert, wer schneidet sich gern ins eigene Fleisch. So blieb nichts anderes brig, als es mit Hlne selbst zu versuchen. Ich rief an. Ausgegangen. In der Stadt. Ich gehe aufs Geratewohl los, zu Fu, denke, die Restaurants abzuklopfen oder die Buchhandlungen, da treffe ich sie, laufe gerade auf sie zu, nur da sie mit Stssi-Leupin dasitzt, vor dem Select, bei einem Capuccino. Ich sah die beiden erst im letzten Augenblick, stand schon vor ihnen, verwirrt, weil ich nur sie gesucht hatte, und wtend, weil Stssi-Leupin bei ihr sa, aber was tat es schon, die beiden lagen wohl schon lngst im Bett beieinander, das Tchterlein eines Mrders und der Retter ihres Vaters, sie einst meine Geliebte, er einst mein Chef. Gestatten, Frulein Kohler, sagte ich, ich mchte Sie einen Augenblick sprechen. Allein. Stssi-Leupin bot ihr eine Zigarette an, steckte sich auch eine in den Mund, gab Feuer. Ist es dir recht, Hlne? fragte er sie. Ich htte den Staradvokaten niederschlagen knnen. Nein, antwortete sie, ohne mich anzusehen, nur da sie die Zigarette niederlegte. Aber er mag reden. Gut, sagte ich, zog einen Stuhl herbei, bestellte einen Espresso. Was wollen Sie nun, mein verehrtes Justizgenie? fragte StssiLeupin gemtlich. Frulein Kohler, sagte ich, kaum da ich meine Aufregung verbergen konnte, ich habe Ihnen eine Frage zu stellen. Bitte. Sie rauchte wieder. Stellen Sie, meinte Stssi-Leupin. Als Ihr Vater den englischen Minister zum Flugzeug gebracht hat, sind Sie damals noch Stewarde gewesen? Gewi. Auch in der Maschine, die den Minister nach England zurckgeflogen hat? Sie drckte ihre Zigarette aus. Mglich, sagte sie. Danke, Frulein Kohler, sagte ich und erhob mich, grte, lie
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den Espresso stehen und ging. Ich wute nun, wie die Waffe verschwinden konnte. Es war alles so einfach. Zum Lachen. Der Alte hatte sie dem Minister in die Manteltasche geschoben, als er neben ihm im Rolls-Royce sa, und seine Tochter Hlne hatte den Revolver im Flugzeug aus der Manteltasche geholt. Das konnte sie ja leicht als Stewarde. Aber wie ich es nun wute, wurde ich leer und mde, bummelte den Quai entlang, endlos, den bldsinnigen See mit seinen Schwnen und Segelbooten zur Rechten. Stimmte meine berlegung und sie mute stimmen , war Hlne Mitwisserin. Schuldig wie ihr Vater. Dann hatte sie mich im Stich gelassen, dann mute sie wissen, da ich recht hatte, dann hatte ihr Vater schon gewonnen. Er war strker gewesen als ich. Ein Kampf mit Hlne war sinnlos, weil sie sich schon entschieden hatte, weil er schon entschieden war. Ich konnte sie nicht zwingen, ihren Vater zu verraten. Woran sollte ich denn bei ihr appellieren? An die Ideale? An welche? An die Wahrheit? Die hatte sie verschwiegen. An die Liebe? Sie hatte mich verraten. An die Gerechtigkeit? Dann wrde sie mich fragen: Fr wen? Fr eine lokale Geistesgre? Asche ist zufrieden. Fr einen windelweichen, verlogenen Schrzenjger? Der ist auch kremiert. Fr mich? Nicht der Mhe wert. Die Gerechtigkeit ist keine Privatsache. Und dann wrde sie mich fragen: Wozu Gerechtigkeit? Fr unsere Gesellschaft? Nur ein Skandal mehr, nur Redestoff, bermorgen lngst eine andere Tagesordnung. Resultat der Denkbung: Der Nutzwert der Gerechtigkeit wog fr Hlne ihren Papa nicht auf. Fr einen Juristen eine lhmende Erleuchtung. Sollte ich noch den Lieben Gott ins Spiel bringen? Ein sicher sehr freundlicher, doch ziemlich unbekannter Herr mit ungesicherter Existenz. Und dann: Was hat der Mann alles zu tun! (Durchmesser des Universums nach de Sitter veraltet, viel zu bescheiden gerechnet in Zentimetern: eine Eins mit achtundzwanzig Nullen.) Aber es galt durchzuhalten, sich aufzurappeln, die Philosophie hinunterzuwrgen, den Kampf gegen die Gesellschaft, gegen Kohler, gegen Stssi-Leupin weiterzufhren und den gegen Hlne aufzunehmen. Denken ist ein nihilistischer Zug, stellt die Werte in Frage, und so wandte ich mich denn wieder rstig dem ttigen Leben zu, wanderte erfrischt nach der Innenstadt zurck, See, Schwne und
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Segelschiffe nun zur Linken, an Liebespaaren und Rentnern vorbei, aufs angenehmste durch einen Sonnenuntergang kosmisch beleuchtet, trank dann den ganzen Abend durch Klvner (den ich gar nicht vertrage), und als ich gegen ein Uhr mit einer zwar berchtigten, dafr aber khngewachsenen Dame in ihrem Appartementhaus verschwand, stand dort im Eingang Stuber von der Sittenpolizei, notierte Adressen, verbeugte sich hflich, die Geste sollte wohl ironisch wirken, Kohlen aufs Haupt eines verlotterten Rechtsanwalts. Das war Pech. Mglich. (Dafr war die Dame anstndig, ihr war's eine Ehre, sagte, ich knne das nchste Mal zahlen, was ich bezweifelte, ich beichtete ihr, auch das nchste Mal sei ich dazu kaum imstande, gestand meinen Beruf, worauf sie mich engagierte.) Land und Leute: Einige Bemerkungen sind unumgnglich. Zu einem Mord gehren auch nhere und weitere Umgebung, die mittlere Jahrestemperatur, die durchschnittliche Hufigkeit von Erdbeben und menschliches Klima. Alles ist miteinander verflochten: Gegrndet wurde das Unternehmen, welches sich bald unser Staat, bald unser Vaterland nennt, vor etwas mehr als zwanzig Generationen, grob gerechnet. Ort: Zuerst spielte sich alles der Hauptsache nach im Kalk, Granit und in der Molasse ab, spter kam Tertires hinzu. Klima: leidlich. Zeit: Zuerst mittelmig, die habsburgische Hausmacht braute sich zusammen, viel Faustrecht, es galt sich durchzuprgeln, und man prgelte sich durch, knackte Ritter, Klster und Burgen wie Panzerschrnke, gewaltige Plnderungen, Beute, Gefangene wurden keine gemacht, vor den Schlachten Gebet und nach dem Gemetzel Orgien, enorme Saufereien, der Krieg rentierte, dann aber leider die Erfindung des Pulvers, die Gromachtpolitik stie auf steigenden Widerstand, dem Dreschen mit Hellebarde und Morgenstern wurden Grenzen gesetzt, die Nahkmpfer wurden aus der Ferne zusammengettscht, nach kaum acht Generationen schon der berhmte Rckzug, von da noch weitere sieben Generationen relative Wildheit, teils mordete man sich nun untereinander, unterjochte Bauern (mit der Freiheit nahm
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man es nie so genau) und schlug sich um die Religion, teils betrieb man Sldnerei im groen Stil, gab sein Blut fr den Meistbietenden, beschtzte die Frsten vor den Brgern, ganz Europa vor der Freiheit. Dann endlich gewitterte die Franzsische Revolution herauf, in Paris wurde die verhate Garde zusammengeschossen, tapfer stand sie auf verlorenem Posten, im Dienste eines verrotteten Systems von Gottes Gnaden, whrend einer ihrer aristokratischen Offiziere in einer Dachkammer und in Sicherheit dichtete: Bunt sind schon die Wlder, gelb die Stoppelfelder, und der Herbst beginnt. Wenig spter rumte Napoleon mit dem ganzen Plunder von gndigen Herren und Untertanenlndern endgltig auf: dem Land taten die Niederlagen gut. Anstze zur Demokratie zeigten sich und neue Ideen: Pestalozzi, arm, schbig und glhend, zog im Lande herum, von einem Unglck ins andere. Eine radikale Wende zu Geschft und Gewerbe setzte ein, drapiert mit den entsprechenden Idealen. Die Industrie begann sich breitzumachen, Eisenbahnen wurden gebaut. Zwar war der Boden arm an Schtzen, Kohle und Erze muten eingefhrt und verarbeitet werden, aber emsiger Flei berall, steigender Reichtum, doch ohne Verschwendung, leider auch ohne Glanz. Sparsamkeit installierte sich als hchste Tugend, Banken wurden gegrndet, zuerst zaghaft, Schulden galten als unehrenhaft, stellten einst die Landsknechte einen Ausfuhrartikel dar, jetzt die Bankrotteure: wer bei uns pleite ging, hatte jenseits der Ozeane eine Chance. Alles mute rentieren und rentierte: sogar die unermelichen Steinhaufen und Gerllhalden, die Gletscherzungen und Steilhnge, denn seit die Natur entdeckt worden war und sich jeder Trottel in der Bergeinsamkeit erhaben fhlen durfte, wurde auch die Fremdenindustrie mglich: die Ideale des Landes waren immer praktisch. Im brigen lebte man entschlossen so, da es jedem mglichen Feind ntzlicher war, einen in Ruhe zu lassen, eine an sich unmoralische, doch gesunde Lebenshaltung, die von keiner Gre, aber von betrchtlichem politischem Verstand zeugte. Man mauserte sich denn auch durch zwei Weltkriege, manvrierte zwischen Bestien, kam immer wieder davon. Unsere Generation erschien.
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Gegenwart (1957 n. Chr.): Groe Teile der Bevlkerung leben beinahe sorglos dahin, gesichert und versichert, Kirche, Bildung und Spitler stehen zu gemigten Preisen zur Verfgung, die Kremierung erfolgt im Notfall kostenlos. Das Leben gleitet auf festen Gleisen, aber die Vergangenheit rttelt am Bau, erschttert die Fundamente. Wer viel hat, frchtet, viel zu verlieren. Man sinkt nach bestandener Gefahr vom Pferd wie der Reiter nach seinem Ritt ber den Bodensee: man ist zu zaghaft, die eigene Klugheit als notwendig zu begreifen, man hlt es nicht mehr aus, zwar kein Held, aber vernnftig gewesen zu sein, man reiht sich in die Reihen der Sieger ein, die Sage der kriegerischen Vter kommt hoch, von den Mythen her droht Kurzschlugefahr, man trumt von den alturalten Schlachten, dichtet sich selbst zu Widerstandskmpfern um, und schon sind die Generalstbler dabei, eine Nibelungenwelt zu beschwren, von Atomwaffen zu trumen, vom heldenhaften Vernichtungskampf im Falle eines Angriffs, das Ende der Armee soll auch der Nation das Ende bereiten, grndlich, stur und endgltig, whrend ringsherum schon lngst unterjochte Vlker mit Mut und List davonzukommen wissen. Doch bahnt sich das mgliche Ende noch anders an, witziger. Auslnder kaufen den Boden auf, den man verteidigen will, die Wirtschaft wird von fremden Hnden in Schwung gehalten und von den eigenen nur noch verwaltet, kaum noch gesteuert, der Staatsbrger bildet eine Oberschicht, unter der sich, in oft zu unverschmten Preisen vermieteten Wohnungen zusammengepfercht, sparsam und emsig Italiener, Griechen, Spanier, Portugiesen und Trken einnisten, zum Teil verachtet, oft noch Analphabeten, Heloten, ja fr viele ihrer Herren Untermenschen, die einmal, zum bewuten Proletariat geworden, berlegen in ihrer gengsamen Vitalitt ihre Rechte fordern knnten, in der Erkenntnis, da der Betrieb, der sich unser Staat nennt, halb schon aufgekauft von fremdem Kapital, nur noch von ihnen abhngt. Unser kleines Land, so ahnt man und reibt sich verblfft die Augen, ist in Wirklichkeit von der Geschichte abgetreten, als es ins groe Geschft eintrat.
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Die Reaktion der ffentlichkeit: Vor diesem Hintergrund hob sich der Mord des Dr. h.c. ab. Seine Wirkung war zu berechnen: da wir die Politik entpolitisiert haben hier weisen wir in die Zukunft, nur hier sind wir modern, wirklich bahnbrecherisch, die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern , da von der Politik nichts mehr zu erwarten ist, keine Wunder, kein neues Leben, nur nach und nach vielleicht noch etwas bessere Straen, da sich das Land selbst biologisch erfreulich benimmt und sich im Kinderzeugen zurckhlt, (da wir nicht zahlreich sind, ist unser groer, da sich unsere Rasse dank der Fremdarbeiter langsam verbessert, unser grter Vorzug), herrscht Dankbarkeit ber jede Unterbrechung des tglichen Trotts, ist jede Abwechslung willkommen, um so mehr als der jhrliche Festzug der Znfte in seiner steifen Wrde bei weitem nicht die fehlende Fastnacht zu ersetzen vermag. Die Handlungsweise des Dr. h.c. Isaak Kohler wirkte daher befreiend, man hatte inoffiziell ber etwas zu lachen, worber man sich offiziell entrstete, und schon am Abend seines Hinschieds ging das Wort um, das man einem hohen Stadtbeamten, wenn nicht gar dem Stadtprsidenten zuschrieb, Kohler habe sich einen neuen Dr. h.c. verdient, indem er Professor Winters nchste Erst-August-Rede verhindert habe. Auch lie das unglckliche Vorgehen der Polizei kaum zustzliche sittliche Emprung zu, die Schadenfreude war einfach zu gro: Das Verhltnis der Bevlkerung zur Polizei ist gespannt, entspricht doch unsere Stadt schon lange nicht mehr ihrem Ruf. Unvermutet eine Grostadt geworden, will sie das Trauliche, Brgerfleiige, Tugendliche bewahren, das sie sich immer zuschrieb und zuschreibt, will sie persnlich auch im Unpersnlichen bleiben, der Tradition verhaftet, auch wenn diese lngst zum Teufel ging: Die Zeit ist mchtiger geworden als die Stadt mit all ihrem beflissenen Tun, sie macht mit ihr, was sie will. Und so sind wir denn weder die, die wir einmal waren, noch die, die wir nun sein mten, leben im Kriege mit der Gegenwart, wollen nicht, was wir dennoch mssen, tun aus Trotz nie ganz, was ntig ist, sondern nur halb, bestenfalls, und auch das widerwillig. Der Ausdruck dieser Misere ist das Anwachsen der polizeilichen Funktionen: denn wer im Krieg mit der Gegenwart lebt, reglementiert. Unser Gemeinwesen ist weitgehend ein Polizeistaat
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geworden, der in alles hineinredet, in die Sittlichkeit und in den Verkehr (beide in chaotischem Zustand). Der Polizist stellt daher nicht so sehr ein Symbol des Schutzes dar als eines der Schikane. Schlu. Schwer alkoholisiert. Dazu ist eben die Appartementsdame in mein Bro gekommen (wieder die Mansarde in der Spiegelgasse), braucht juristischen Schutz. Werde ihr raten, sich einen Hund anzuschaffen. Den kann sie und sich selber nchtlich zweimal ausfhren (Empfehlung des Tierschutzvereins, von Jmmerlin zhneknirschend akzeptiert). Staatsanwalt Jmmerlin: er hate den Kantonsrat. Dessen Nonchalance ging ihm auf die Nerven. Er konnte es Kohler nie verzeihen, da dieser ihm, Jmmerlin, im Tonhallesaal die Hand geschttelt hatte. Er hate ihn so sehr, da er sich mit sich selber entzweite. Die Spannung zwischen seinem Ha und seinem Gerechtigkeitssinn war ins Unertrgliche gewachsen. Er erwog, sich als befangen zu erklren, dann wieder hoffte er, der Kantonsrat wrde ihn als Staatsanwalt ablehnen. In seiner Ratlosigkeit vertraute er sich dem Oberrichter Jegerlehner an. Der Oberrichter sondierte beim Untersuchungsrichter, dieser beim Kommandanten, der seufzend den Kantonsrat aus dem Bezirksgefngnis in sein Bro fhren lie, damit man es gemtlicher habe. Der Dr. h.c. war bester Laune. Der Cheval Blanc vortrefflich. Der Kommandant kam ihm wieder mit Stssi-Leupin, sein Offizialverteidiger sei ein berchtigter Versager. Kohler erwiderte, das spiele doch keine Rolle. Der Kommandant rckte endlich mit den Bedenken Jmmerlins heraus. Der Kantonsrat versicherte, er knne sich keinen ihm gewogeneren Anklger denken, eine Antwort, die, als sie Jmmerlin mitgeteilt wurde, diesen zum wtenden Ausruf verleitete, jetzt werde er es dem Kantonsrat zeigen und diesen lebenslnglich versenken, worauf der Oberrichter den Staatsanwalt beinahe dispensierte, es aber bleibenlie, aus Furcht, diesen treffe dann vor Wut der Schlag, stand doch Jmmerlins Gesundheit nicht zum besten.
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Der Proze: er fand vor dem Obergericht vor fnf Oberrichtern statt, frh fr unsere Verhltnisse, in Windeseile sozusagen, ein Jahr nach dem Mord, wieder im Mrz. Das Verbrechen war ffentlich geschehen, wer der Mrder war, mute nicht bewiesen werden. Nur ber das Motiv der Tat war nichts auszumachen. Es schien keines zu geben. Aus dem Kantonsrat war nichts herauszubringen. Man stand vor einem Rtsel. Auch der sorgfltigen Befragung des Angeklagten durch die zustndigen Richter gelang es nicht, den geringsten Anhaltspunkt ans Tageslicht zu frdern. Die Beziehungen zwischen Mrder und Ermordetem waren die denkbar korrektesten. Geschftlich hatten sie nichts miteinander zu tun, Eifersucht war ausgeschlossen, nicht einmal Vermutungen waren in dieser Hinsicht mglich. Angesichts dieser seltsamen Tatsache gab es zwei Interpretationen: Entweder war Dr. h.c. Isaak Kohler geisteskrank oder ein amoralisches Monstrum, ein Mrder aus reiner Freude am Tten. Den ersten Standpunkt nahm der Offizialverteidiger Lthi ein, den zweiten der Staatsanwalt Jmmerlin, gegen die erste Ansicht sprach der Augenschein, Kohler machte einen durchaus normalen Eindruck, gegen die zweite dessen gloriose Vergangenheit, ein Politiker und Wirtschaftsfhrer war schon an sich sittlich erhaben. berdies wurden ihm seit jeher soziale (nicht sozialistische) Tendenzen nachgerhmt. Aber es war Jmmerlins ehrgeizigster Proze. Der Ha, die Schmach, die Witze, die man ber ihn ri, beflgelten den alten Juristen, seinem unwiderstehlichen Schwung waren die Oberrichter nicht gewachsen, der farblose Lthi blieb wirkungslos. Jmmerlins These vom Unmenschen Kohler drang zur allgemeinen Verblffung durch. Die fnf Oberrichter glaubten ein Exempel statuieren zu mssen, selbst Jegerlehner gab nach. Wieder einmal tat man alles, um die Fassade der Moral zu retten. Das Volk, hie es in der Urteilsbegrndung, msse von den finanziell und gesellschaftlich bessergestellten Kreisen einen sittlich einwandfreien Lebenswandel nicht nur fordern drfen, sondern auch vorgelebt sehen knnen. Der Kantonsrat wurde zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt. Nicht ganz lebenslnglich, nur praktisch lebenslnglich.
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Das Verhalten Kohlers: Jedem fiel die Wrde des berfhrten Mrders auf. Er betrat den Gerichtssaal vllig ausgeruht, hatte er doch die Untersuchungshaft der Hauptsache nach in einer psychiatrischen Klinik am Bodensee verbracht, zwar unter losen polizeilichen Vorschriften, aber betreut von dem mit ihm eng befreundeten Professor Habersack. Bewegung war erlaubt, der Caddie beim Golf war der Dorfpolizist. Endlich vor Obergericht, wies Kohler jede Begnstigung von sich, verlangte wie ein Mann aus dem Volke behandelt zu werden. Bezeichnend gleich der Beginn der Verhandlung. Der Dr. h.c. war erkrankt, Grippe, das Thermometer kletterte auf 39 Grad, er wies jede Verschiebung ab, weigerte sich, im Gerichtssaal in einem Krankenstuhl Platz zu nehmen. Den fnf Oberrichtern erklrte er (Protokoll): Ich stehe hier, damit ihr nach eurem Gewissen und nach dem Gesetz Recht ber mich sprecht. Ihr wit, wessen man mich beschuldigt. Gut. Nun ist es an euch zu richten und an mir, mich eurem Urteilsspruch zu unterwerfen. Ich werde ihn als gerecht anerkennen, wie er auch ausfalle. Nach dem Urteilsspruch dankte er bewegt, hob besonders die Menschlichkeit hervor, mit der er behandelt worden sei, dankte auch Jmmerlin. Man hrte sich den Ergu eigentlich mehr belustigt als gerhrt an, allgemein herrschte der Eindruck, mit Dr. Isaak Kohler habe die Justiz ein ausgefallenes Exemplar eingefangen, und als er abgefhrt wurde, schien der Vorhang ber eine zwar nicht ganz erhellte, aber doch eindeutige Affre endgltig zu fallen. ber mich, damals und heute: Dies in allgemeinen Zgen die Vorgeschichte, enttuschend, ich wei, ein Ereignis, das der Tag liefert, merkwrdig blo fr die Beteiligten und fr die nher Informierten, ein Grund zum Klatsch, zu mehr oder weniger faulen Witzen und zu einigen moralischen Betrachtungen ber die Krise des Abendlandes und der Demokratie, ein Kriminalfall, von den Gerichtsreportern pflichtbewut berichtet und vom Chefredaktor unseres weltberhmten Lokalblatts (ein Freund Kohlers) mit landesblicher Wrde kommentiert, ein Gesprchsstoff fr wenige Tage, kaum da er wesentlich ber die Grenzen unserer Stadt zu
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dringen vermochte, ein Provinzskandal, der mit Recht bald vergessen worden wre, wenn sich nicht hinter ihm ein Plan verborgen htte. Da ich in diesem Plan eine entscheidende Rolle spielen sollte, ist mein persnliches Pech, wenn ich auch zugebe, von Anfang an Bses geahnt zu haben. Doch mu ich hier etwas ber meine Verhltnisse nach dem Proze gegen Kohler einfgen. Sie waren schon damals nicht mehr ganz erfreulich. Ich hatte nun doch versucht, mich selbstndig zu machen, und in der Spiegelgasse ber dem Vereinsslchen der Heiligen vom Uetli, einer frommen Sekte, ein Bro bezogen, einen gegen die drei Fenster hin abgeschrgten Raum mit einigen vor einem Mbel-Pfister-Schreibtisch gruppierten Sesseln, mit Beobachter-Farbdrucken an den Wnden, ber deren Tapete ich lieber schweigen mchte, und mit einem noch nicht funktionierenden Telefon, ein Verschlag, der dadurch entstanden war, da der Hausbesitzer die Wand zwischen zwei Mansarden hatte niederreien und eine der beiden Tren hatte zumauern lassen. In der dritten Mansarde hauste der Prediger und Grnder der Uetli-Sekte, Simon Berger, der aussah wie Niklaus von der Fle und mit dem ich das Klo im Korridor teilte. Zwar lag mein Bro beraus romantisch, Bchner und Lenin hatten in der Nhe gewohnt, und die Aussicht auf die Kamine und Televisionsantennen der Altstadt erweckte Bewunderung, Vertrautheit, heimatliches Kleinstubengefhl und Lust zum Kakteenzchten, doch war sie fr einen Rechtsanwalt denkbar ungeeignet, nicht nur verkehrstechnisch, auch sonst lie sich die Bude kaum aufstbern: kein Lift, steile knarrende Treppen, ein Genist von Korridoren. (Nachzutragen: Damals lag dieses Bro ungnstig, hatte ich doch noch Ambitionen, wollte ich doch noch Fu fassen, vorankommen, ein braver Brger werden, heute, fr den vergammelten Hurenspezialisten, der ich nun einmal geworden bin, erweist sich der Verschlag gar als ideal, auch wenn der Platzmangel durch den Einbau einer Couch bengstigend geworden ist, schlafe, beischlafe, wohne, ja koche ich doch nun auch hier, nachts von den Psalmen der Heiligen vom Uetli umdrhnt, halte Einkehr, Mensch und Christ, rette deine Seele, und was sonst zu retten ist, werde ohne Fehle; Lucky wenigstens, der Beschtzer der Dame mit dem bemerkenswerten Wuchs und dem einheimischen Metier, der eben
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teils aus Neugier, teils aus geschftlichen Sorgen heraus vorsprach und auch sonst die Lage sondierte, schien befriedigt, meinte jovial, hier knne man ja direkt aufatmen.) So blieben denn auch damals die Klienten fast ganz aus, ich war ziemlich arbeitslos, hatte auer einigen Ladendiebsthlen, Eintreibungen und den Statuten eines Gefangenenturnvereins (im Auftrag des Justizdepartements) nichts zu bearbeiten, faulenzte bald auf den grnen Bnken am Quai, bald vor dem Caf Select herum, spielte Schach (mit Lesser, wobei wir beharrlich spanisch erffneten, so da im groen und ganzen stets die gleiche Partie im Patt endete), nahm in den Lokalen der Frauenvereine eine phantasielose, doch nicht ungesunde Kost zu mir. Unter diesen Umstnden konnte ich es mir kaum leisten, Kohlers briefliche Aufforderung abzuschlagen, ihn im Zuchthaus in R. zu besuchen; da mir die Aufforderung nicht geheuer vorkam, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was der Alte mit einem unbekannten, noch nicht arrivierten Rechtsanwalt im Sinne hatte, aber auch, weil ich wohl dessen berlegenheit frchtete; all diese dumpfen Gefhle der Bangigkeit verdrngte ich, mute ich verdrngen. Anstndigerweise. Als Produkt unserer Arbeitsmoral. Ohne Flei kein Preis. Vogel fri oder stirb. So fuhr ich denn hin. (Damals noch im VW.) Unser Zuchthaus: mit dem Wagen in etwa zwanzig Minuten zu erreichen. Flaches Tal, das Dorf vorstdtisch, langweilig, viel Beton, einige Fabriken, am Horizont Wlder. Im brigen kann nicht behauptet werden, da jedermann in unserer Stadt unser Zuchthaus kenne, die vierhundert Insassen stellen kaum mehr als ein Promille der Bevlkerung dar. Doch drfte die Anstalt den Sonntagsspaziergngern bekannt sein, auch wenn sie von vielen unter ihnen wohl mehr fr eine Bierbrauerei oder fr ein Irrenhaus gehalten wird. Hat man jedoch einmal das bewachte Eingangstor passiert und steht man vor dem Hauptgebude, glaubt man beinahe, vor einer architektonisch verunglckten Kirche oder Kapelle aus roten Backsteinen zu stehen. Auch hlt der vage religise Eindruck beim Pfrtner durchaus noch an: freundliche, milde Gesichter wie
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bei der Heilsarmee, eine fromme Stille berall, wohltuend fr die Nerven, man ghnt unwillkrlich im khlen Halbdunkel, wenn auch vielleicht etwas bedrckt, die Justiz hat ihre verschlafenen Zge angenommen, kein Wunder schlielich bei den ewig verbundenen Augen der Dame. Auch sonst Anzeichen von Wohlttigkeit und Seelsorge, ein brtiger Priester taucht auf, emsig und unermdlich, dann der Anstaltspfarrer, spter eine Psychologin mit Brille, man sprt die Absicht, Seelen zu retten, zu strken, aufzurichten, nur vom Ende des freilich trostlosen Korridors her schimmert eine bedrohlichere Welt, doch lt die vergitterte Glastre keinen deutlichen Einblick zu, auch die zwei Mnner in Zivil, die auf einer Bank vor dem Bro des Direktors ergeben und finster warten, erwecken leises Mitrauen, unbestimmtes Unbehagen. Wird dann aber die Glastre geffnet, berschreitet man die geheimnisvolle Schwelle, dringt man ins Innerste vor, sei es als leicht verlegenes Mitglied einer Kommission, sei es als Gefangener, abgeliefert von der Justiz, steht man staunend vor einem vterlichen Reiche strengster, doch nicht unhumaner Ordnung, vor drei gewaltigen fnfstckigen Galerien nmlich, von einem Ort aus zu berblicken, durchaus nicht dster, sondern von oben her lichtdurchflutet, vor einer Kfig- und Gitterwelt, gewi, doch nicht ohne Freundlichkeit und Individualitt, erspht man doch hier durch eine halboffene Zellentr eine himmelblau gemalte Zellendecke und das zarte Grn einer Zimmerlinde, dort freundliche, zufriedene Gestalten in brauner Anstaltskleidung; der Gesundheitszustand der Insassen ist vortrefflich, die klsterliche, regelmige Lebensweise, das frhe Lichterlschen, die einfache Nahrung wirken wahre Wunder, die Bibliothek bietet neben Reise- und Lebensbeschreibungen, neben Erbauungsgeschichten beider Konfessionen, wenn auch nicht das Neueste, so doch Klassiker, und die Direktion pro Woche eine Filmvorfhrung, diese Woche Wir Wunderkinder, der Besuch der Predigt bertrifft jenen von auerhalb der Mauer prozentual erklecklich, das Leben spult langsam und regelmig ab, man ist mig gehalten und unterhalten, kriegt seine Noten, gutes Betragen lohnt sich, erleichtert die Lage, freilich nur fr jene, die ein Jahrzehnt oder gar nur wenige Jahre abzusitzen haben, da lohnt sich die
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Erziehung. Dagegen wo Hopfen und Malz verloren ist, fr die Lebenslnglichen, werden Erleichterungen ohne Verpflichtung zur Besserung gewhrt, stellen sie doch den Stolz des Hauses dar, Drossel und Zrtlich etwa, die, als sie ihr Unwesen trieben, den Brger in Furcht und Schrecken versetzten, werden von den Wrtern mit scheuer Hochachtung behandelt, sie sind die Stargefangenen und fhlen sich auch so. Da da bei den gewhnlicheren Kriminellen bisweilen Neid aufkommt und sich einer so Gott will vornimmt, das nchste Mal grndlicher vorzugehen, sei nicht verschwiegen, auch die Medaille, die unser Zuchthaus verdient, hat ihre Kehrseite, aber als Ganzes genommen: wer wird da nicht tugendhaft; zusammengebrochene, von ihren mtern und Posten gestrzte Obersten beginnen aufs neue zu hoffen, Raubmrder wenden sich der Anthroposophie, Unzchtler und Blutschnder sonst einem geistigen Streben zu, Tten werden geklebt, Krbe geflochten, Bcher gebunden, Broschren gedruckt, in der Schneiderei lassen selbst Regierungsrte ihre Maanzge anfertigen, dazu durchzieht ein warmer Brotgeruch das Haus, die Bckerei ist berhmt, ihre Wurstwecken staunenswert (die Wrste werden geliefert), Wellensittiche, Tauben, Radios sind durch Flei und Hflichkeit zu verdienen, fr weitere Bildung sorgen Abendschulen, und nicht ohne Neid dmmert es einem auf, begreift man pltzlich, da diese Welt in Ordnung ist, nicht die unsrige. Gesprch mit dem Zuchthausdirektor: Zu meiner berraschung wurde ich zum Direktor Zeller gebeten. Er empfing mich in seinem Bro, in einem Raum mit einem respektablen Konferenztisch, Telefon, Akten. An den Wnden Tabellen, schwarze Bretter voller Zettel, viel Kalligraphie, unter den Strflingen, wie leider berall in diesem Lande, gibt es viele Lehrer. Das Fenster unvergittert, mit Ausblick auf die Gefngnismauer und etwas Rasen, auch dies schulhofmig, wre hier nicht absolute Stille. Kein Autohupen, kein Gerusch, wie in einem Altersheim. Der Zuchthausdirektor begrte mich reserviert, khl, und wir setzten uns.
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Herr Spt, begann er die Unterredung, Sie sind vom Strfling Isaak Kohler aufgefordert worden, ihn zu besuchen. Ich habe die Zusammenkunft erlaubt, und Sie werden Kohler in Gegenwart eines Wrters sprechen. Ich wute von Stssi-Leupin, da er seine Klienten ohne Zeugen sprechen durfte. Stssi-Leupin besitzt unser Vertrauen, antwortete der Zuchthausdirektor auf meine Frage. Ich will damit nicht sagen, da wir Ihnen mitrauen, aber wir kennen Sie noch nicht. Verstehe. Und noch etwas, Herr Spt, fuhr der Zuchthausdirektor fort, nun schon freundlicher: Bevor Sie mit Kohler reden, mchte ich Ihnen doch mitteilen, was ich von diesem Strfling halte. Vielleicht ist das fr Sie wichtig. Verstehen Sie mich recht. Ich habe mich nicht darum zu kmmern, weshalb die Menschen, die ich zu beaufsichtigen habe, hier sind. Das geht mich nichts an. Meine Sache ist der Strafvollzug. Ausschlielich. Aus diesem Grunde will ich mich auch nicht zu Kohlers Verbrechen uern, Ihnen aber gestehen, da der Mann mich persnlich etwas verwirrt. Inwiefern? fragte ich. Der Zuchthausdirektor zgerte ein wenig mit der Antwort: Der Mann scheint vollkommen glcklich zu sein, sagte er dann. Das ist doch erfreulich, meinte ich. Na ja ich wei nicht, entgegnete der Zuchthausdirektor. Ihr Betrieb ist schlielich ein Musterbetrieb, sagte ich. Ich tue mein Bestes, seufzte der Zuchthausdirektor, aber trotzdem. Ein Multimillionr, der glcklich in seiner Zelle sitzt, das klingt unanstndig. Auf der Zuchthausmauer spazierte eine groe fette Amsel herum, wohl in der Hoffnung, bleiben zu drfen, verlockt vom Piepsen, Singen und Pfeifen der in ihren Kfigen so wohlbetreuten Vgel, das bisweilen bermchtig aus den vergitterten Fenstern zu vernehmen war. Es war ein heier Tag, der Sommer schien wieder aufzuflammen, ber den fernen Wldern ballten sich die Wolken zusammen, und vom Dorfe drhnten die Schlge der Kirchturmuhr. Neun Uhr.
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Ich steckte mir eine Parisienne an. Er schob mir einen Aschenbecher hin. Herr Spt, fuhr der Zuchthausdirektor fort, stellen Sie sich einen Strfling vor, der Ihnen gleich ins Gesicht zu erklren wagt, er finde das Zuchthaus wunderbar, die Wrter tchtig, er sei vollkommen glcklich und brauche nichts. Unfalich. Ich war einfach angewidert. Warum denn? fragte ich. Sind Ihre Wrter denn nicht tchtig? Natrlich sind sie tchtig, antwortete der Zuchthausdirektor, aber das habe ich, nicht ein Gefangener festzustellen. Man jubelt schlielich auch nicht in der Hlle. Gewi, gab ich zu. Ich bin wtend geworden, habe striktes Einhalten der Reglemente verordnet, obwohl ich von sehen des Justizdepartements angewiesen worden bin, mglichst Milde walten zu lassen, und kein Gefngnisreglement der Welt einem Gefangenen verbietet, vollkommen glcklich zu sein. Aber ich bin einfach emotional durcheinander gewesen. Herr Spt, Sie mssen das verstehen. Kohler hat die bliche verschrfte Einzelhaft bekommen, Dunkelarrest na ja, eigentlich verboten , doch schon nach wenigen Tagen fllt mir auf, da die Wrter Kohler mgen, ja geradezu verehren. Und nun? fragte ich. Nun habe ich mich mit ihm abgefunden, brummte der Gefngnisdirektor. Sie verehren ihn ebenfalls? Der Zuchthausdirektor schaute mich nachdenklich an. Sehn Sie, Herr Spt, sagte er, wenn ich so in seiner Zelle sitze und ihm zuhre wei der Teufel, da geht eine Kraft von ihm aus, eine Zuversicht, man knnte da beinahe wieder an die Menschheit glauben und an alles Schne und Gute, auch unser Pfarrer ist hingerissen, es ist wie eine Seuche. Aber Gott sei Dank bin ich ja dann wieder ein gesunder Realist und glaube nicht an vollkommen glckliche Menschen. Am wenigsten an solche in Zuchthusern, sosehr wir auch das Leben bei uns zu erleichtern suchen. Wir sind schlielich keine Unmenschen. Aber Verbrecher sind Verbrecher. Darum sage ich mir dann wieder: Der Mann kann gefhrlich sein,
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mu gefhrlich sein. Sie sind neu in Ihrem Beruf, passen Sie deshalb auf, da er Ihnen keine Falle stellt, am besten lassen Sie vielleicht berhaupt die Finger davon. Natrlich ist das nur ein Rat, Sie sind schlielich Rechtsanwalt und entscheiden selber. Wenn man nur nicht so hin und her gerissen wre. Der Mann ist entweder ein Heiliger oder ein Teufel, und ich halte es fr meine Pflicht, Sie zu warnen, was ich nun getan habe. Vielen Dank, Herr Direktor, sagte ich. Ich lasse Ihnen nun Kohler holen, atmete der Zuchthausdirektor auf. Der Auftrag: Die Unterredung mit dem vollkommen glcklichen Menschen fand im Nebenzimmer statt. Mblierung und Aussicht dieselbe. Ich erhob mich, als ein Wrter Dr. h.c. Isaak Kohler hereinfhrte. Der Alte war in brauner Zuchthauskleidung, sein Wrter in schwarzer Uniform, sah aus wie ein Brieftrger. Nehmen Sie doch Platz, Spt, sagte Dr. h.c. Isaak Kohler, tat berhaupt wie ein Gastgeber, geners und jovial. Ich dankte beeindruckt, nahm Platz. Dann bot ich dem Strfling eine Parisienne an, Kohler lehnte ab. Ich rauche nicht mehr, erklrte er, ich nutze die Gelegenheit, das Angenehme mit dem Ntzlichen zu verbinden. Sie empfinden das Zuchthaus besonders angenehm, Herr Kohler? fragte ich. Er schaute mich verwundert an: Sie nicht? Ich befinde mich ja nicht drin, antwortete ich. Er strahlte. Es ist herrlich. Diese Ruhe! Diese Stille! Ich habe allerdings ein ziemlich aufreibendes Leben gefhrt, vorher. Mit meinem Trust. Kann ich mir denken, stimmte ich ihm bei. Und kein Telefon, sagte er, gesund bin ich auch geworden. Sehn Sie. Er machte einige Kniebeugen. Das konnte ich vor einem Monat noch nicht, erklrte er stolz. Wir haben hier auch einen Turnverein. Ich wei, sagte ich.
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Drauen spazierte immer noch die fette Amsel hoffnungsvoll hin und her, vielleicht war es aber auch eine andere. Der vollkommen glckliche Mensch betrachtete mich wohlgefllig. Wir haben uns schon einmal kennengelernt, sagte er. Ich wei. Im Caf Du Thtre, das ja in meinem Leben eine gewisse Rolle spielte. Sie schauten mir damals beim Billard zu. Ich verstehe nichts von Billard. Immer noch nichts? Immer noch nichts, Herr Kohler. Der Strfling lachte und wandte sich an den Wrter: Mser, htten sie die Gte, unserem jungen Freund Feuer zu geben? Der Wrter sprang auf, kam mit einem Feuerzeug. Aber natrlich, Herr Kantonsrat, aber selbstverstndlich. Auch er strahlte. Dann setzte sich der Wrter wieder. Ich begann zu rauchen. Die Herzlichkeit der beiden erschpfte mich. Ich htte gerne das unvergitterte groe Fenster geffnet, doch das ging wohl nicht in einem Zuchthaus. Sehn Sie, Spt, sagte er, ich bin ein simpler Strfling, nichts weiter, und Mser ist einer meiner Wrter. Ein groartiger Mensch. Er weiht mich in die Geheimnisse der Bienenzucht ein. Ich fhle mich schon als Imker, und mit dem Wrter Brunner auch dessen Bekanntschaft sollten Sie machen lerne ich Esperanto. Wir unterhalten uns nur in dieser Sprache. Sie knnen es selbst konstatieren: Heiterkeit, Gemtlichkeit, Herzlichkeit berall, tiefster Friede. Ich bin ein vollkommen glcklicher Mensch geworden. Vorher? Mein Gott! Ich studiere den Plato im Urtext, flechte Krbe brauchen Sie einen Korb, Spt? Leider nein. Die Krbe des Herrn Kantonsrat sind Meisterkrbe, besttigte der Wrter stolz in seiner Ecke: Ich habe ihm das Korbflechten persnlich beigebracht, und nun bertrifft er schon jeden anderen unserer Korber. Wirklich, bertreibe nicht. Ich bedauerte: Tut mir leid, bentige keinen. Schade, ich htte Ihnen wirklich gern einen geschenkt, sagte
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Kohler. Lieb von Ihnen. Zur Erinnerung. Nichts zu machen. Schade. Jammerschade. Ich wurde ungeduldig. Darf ich nun wissen, warum Sie mich herbestellt haben? fragte ich. Natrlich, antwortete er. Selbstverstndlich. Ich vergesse ganz, da Sie von drauen kommen, es eilig haben, herumwirbeln. Zur Sache also: Sie haben mir damals im Du Thtre erzhlt, vielleicht erinnern Sie sich, Sie htten vor, sich selbstndig zu machen. Ich bin jetzt selbstndig. Man hat mich informiert. Wie geht der Laden? Herr Kohler, sagte ich, das drfte hier kaum von Interesse sein. Also schlecht, nickte er. Dachte es mir. Und Ihr Bro befindet sich in einer Mansarde in der Spiegelgasse, nicht wahr? Auch schlecht. Ganz schlecht. Ich hatte genug und erhob mich. Entweder teilen Sie mir jetzt mit, was Sie von mir wollen, Herr Kohler, oder ich gehe, sagte ich grob. Der vollkommen glckliche Mensch erhob sich ebenfalls, wurde auf einmal mchtig, unwiderstehlich, drckte mich in meinen Sessel zurck, mit beiden Hnden, die sich wie Gewichte auf meine Schultern legten. Bleiben Sie, befahl er drohend, beinahe bsartig. Es blieb mir nichts anderes brig als zu gehorchen. Bitte, sagte ich, hielt mich still. Auch der Wrter. Kohler setzte sich wieder: Sie brauchen Geld, stellte er fest. Das wird hier nicht diskutiert, antwortete ich. Ich bin bereit, Ihnen einen Auftrag zu geben. Ich hre. Ich wnsche, da Sie meinen Fall aufs neue untersuchen. Ich stutzte: Das heit, Sie wnschen einen Revisionsproze, Herr Kohler? Er schttelte den Kopf. Wenn ich einen Revisionsproze anstreben wrde, mte meine Strafe nicht in Ordnung sein, aber sie
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ist in Ordnung. Mein Leben ist abgeschlossen, zu den Akten gelegt. Ich wei, da mich der Zuchthausdirektor bisweilen fr einen Heuchler hlt und Sie, Spt, wohl auch. Verstndlich. Aber ich bin weder ein Heiliger noch ein Teufel, ich bin einfach ein Mensch, der draufgekommen ist, da man zum Leben nichts weiter als eine Zelle braucht, kaum mehr als zum Sterben, da gengt ein Bett, noch spter ein Sarg, denn die menschliche Bestimmung liegt im Denken, nicht im Handeln. Handeln kann jeder Ochse. Schn, sagte ich, das sind lobenswerte Prinzipien. Aber nun soll ich fr Sie handeln, Ihren Fall noch einmal untersuchen. Darf der Ochse fragen, was Sie im Schilde fhren? Ich fhre nichts im Schilde, antwortete Dr. h.c. Isaak Kohler schlicht. Ich denke nach. ber die Welt, ber die Menschen, vielleicht auch ber Gott. Aber dazu brauche ich Material, sonst bewegt sich mein Denken im Leeren. Was ich von Ihnen verlange, ist nichts als eine kleine Hilfe zu meinen Studien, die Sie ruhig als Hobby eines Millionrs betrachten knnen. Auch sind Sie nicht der einzige, den ich um solche kleine Handlangerdienste bitte. Kennen Sie den alten Knulpe? Den Professor? Den. Ich habe bei ihm noch studiert. Sehn Sie. Der ist nun pensioniert, und damit er mir nicht dahinsrbelt, habe ich ihm auch einen Auftrag gegeben. Er arbeitet an einer Untersuchung: Folgen eines Mordes. Er stellt die Auswirkungen fest, die das etwas gewaltsame Ableben seines Kollegen gehabt hat und noch hat. Hochinteressant. Es macht ihm einen Riesenspa. Es gilt, die Wirklichkeit auszuloten, die Wirkungen einer Tat exakt auszumessen. Was nun Ihre Aufgabe angeht, mein Bester, so ist sie anderer Art, der Arbeit Knulpes gewissermaen entgegengesetzt. Inwiefern? Sie sollen meinen Fall unter der Annahme neu untersuchen, ich sei nicht der Mrder gewesen. Ich verstehe nicht. Sie haben eine Fiktion aufzustellen, nichts weiter.
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Aber Sie sind nun einmal der Mrder, da ist diese Fiktion doch sinnlos, erklrte ich. Nur so ist sie sinnvoll, antwortete Kohler. Sie sollen ja auch nicht die Wirklichkeit untersuchen, das tut der brave Knulpe, sondern eine der Mglichkeiten, die hinter der Wirklichkeit stehen. Sehn Sie, lieber Spt, die Wirklichkeit kennen wir ja nun, dafr sitze ich hier und flechte Krbe, aber das Mgliche kennen wir kaum. Begreiflich. Das Mgliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Mglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Mglichen und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, da wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mgliche vorzustoen. Ich lachte: Ein merkwrdiger Gedankengang, Herr Kohler. Man sinniert sich eben einiges aus hierzulande, sagte er. Sehen Sie, Herr Spt, oft in der Nacht, wenn ich die Sterne zwischen den Gitterstben im Fenster erblicke, berlege ich mir, wie denn die Wirklichkeit ausshe, wenn nicht ich, sondern ein anderer der Mrder wre. Wer wre dieser andere? Diese Frage will ich von Ihnen beantwortet haben. Als Honorar zahle ich dreiigtausend, fnfzehn als Vorschu. Ich schwieg. Nun? fragte er. Es klingt nach Teufelspakt, antwortete ich. Ich verlange nicht Ihre Seele. Vielleicht doch. Sie riskieren nichts. Mglich. Aber ich sehe den Sinn dieser Angelegenheit nicht ein. Er schttelte den Kopf, lachte. Es gengt, da ich den Sinn sehe. Um das Weitere haben Sie sich nicht zu kmmern. Was ich von Ihnen verlange, ist nichts als die Annahme eines Vorschlags, der in keiner Weise das Gesetz verletzt, und den ich zur Erforschung des Mglichen bentige. Die Spesen werden selbstverstndlich von mir bernommen. Setzen Sie sich mit einem Privatdetektiv in Verbindung, am besten mit Lienhard, zahlen Sie ihm, was er will, Geld ist genug da, gehen Sie berhaupt so vor, wie Sie wollen.
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Ich berlegte mir aufs neue den merkwrdigen Vorschlag. Er gefiel mir nicht, ich witterte eine Falle, vermochte sie aber nicht zu entdecken. Warum haben Sie sich ausgerechnet an mich gewandt? fragte ich. Weil Sie nichts von Billard verstehen, antwortete er gelassen. Nun hatte ich mich entschieden. Herr Kohler, antwortete ich, dieser Auftrag ist mir zu undurchsichtig. Geben Sie meiner Tochter Bescheid, sagte Kohler und erhob sich. Da gibt es nichts zu berlegen, ich lehne ab, sagte ich und erhob mich ebenfalls. Kohler schaute mich ruhig an, strahlend, glcklich, rosig. Sie werden meinen Auftrag annehmen, junger Freund, sagte er, ich kenne Sie besser als Sie sich selbst: Eine Chance ist eine Chance, und die bentigen Sie. Das ist alles, was ich Ihnen sagen wollte. Und nun, Mser, gehen wir wieder Krbe flechten. Die beiden gingen, Arm in Arm, so wahr ich lebe, und ich war froh, den Ort des vollkommenen Glcks zu verlassen. Eilig. Machte mich regelrecht aus dem Staube. Entschlossen, die Hnde von der Angelegenheit zu lassen, Kohler nie mehr zu sehen. Ich sagte dann doch zu. Zwar war ich noch am anderen Morgen willens abzusagen. Ich fhlte, da mein Ruf als Rechtsanwalt auf dem Spiele stand, auch wenn ich noch keinen Ruf besa, aber der Vorschlag Kohlers war sinnlos, eine Spielerei, unter der Wrde meines Berufs, eine bloe Gelegenheit, auf eine trichte Art Geld zu verdienen, die mein Stolz verschmhte. Ich wollte damals noch sauber durch die Welt kommen, sehnte mich nach wirklichen Prozessen, nach Mglichkeiten, den Menschen zu helfen. Ich schrieb einen Brief an den Kantonsrat, teilte ihm meinen Entschlu noch einmal mit. Die Sache war fr mich erledigt. Den Brief in der Tasche verlie ich mein Zimmer in der Freiestrae, wie jeden Morgen, punkt neun, in der Absicht, mich gewohnheitsmig zuerst ins Select,
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spter auf mein Studio (die Mansarde in der Spiegelgasse), noch spter zum Quai zu begeben. In der Haustre grte ich meine Vermieterin, blinzelte dann in der Sonne zum gelben Briefkasten neben dem Konsum hinber, einige Schritte, eine Lcherlichkeit, doch da das Leben oft wie ein schlechter Romancier arbeitet, begegnete ich an diesem fhnigen, drckenden, fr unsere Stadt so typischen Alltagsmorgen, wie gesagt, zwischen neun und zehn gleich nacheinander a) dem alten Knulpe, b) dem Architekten Friedli, c) dem Privatdetektiv Lienhard. a) Der alte Knulpe: er erwischte mich beim Briefkasten. Ich wollte eben meinen Absagebrief einwerfen, als er mir zuvorkam, mit einem ganzen Bndel von Briefen, von denen er einen um den anderen sorgfltig einwarf. Der Alte war wie immer von seiner Frau begleitet. Professor Carl Knulpe war fast zwei Meter gro, ausgemergelt, schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen, wie Prediger Simon Berger und Niklaus von der Fle, doch ohne Bart, verwildert, schmutzig, trug sommers und winters eine Pelerine, dazu eine Baskenmtze. Seine Gattin war ebenso gro wie er, ebenso ausgemergelt, ebenso verwildert und schmutzig, trug auch jahraus, jahrein Pelerine und Baskenmtze, so da viele sie gar nicht fr seine Frau, sondern fr seinen Zwillingsbruder hielten. Beide waren bedeutend in ihrem Fachgebiet, beide Soziologen. Doch so unzertrennlich sie auch im Leben zusammenhielten, wissenschaftlich waren sie Todfeinde, die sich publizistisch oft boshaft bekmpften, er war ein groer Liberaler (Kapitalismus als geistiges Abenteuer, Francke, 1938), sie eine leidenschaftliche Marxistin, bekannt unter dem Namen Moses Staehelin (Marxistischer Humanismus des Diesseits, Europa-Verlag, 1939) beide durch die politische Entwicklung gleich gezeichnet: Carl Knulpe erhielt kein Visum fr die USA , Moses Staehelin keines fr die UDSSR, er hatte sich scharf gegen die instinktiven marxistischen Tendenzen der Vereinigten Staaten geuert, sie noch umbarmherziger ber den kleinbrgerlichen Verrat der Sowjetunion. Hatte. Leider ist die Vergangenheitsform notwendig: vor zwei Wochen zermalmte ein
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Lastwagen des Abbruchgeschfts Strzeier die beiden, er wurde begraben, sie kremiert, eine testamentarische Verfgung, die das Begrbnis nicht unerheblich erschwerte. Gr Gott, machte ich mich bemerkbar, den Brief an Kohler noch in der Hand. Professor Carl Knulpe grte nicht zurck, blinzelte nur mitrauisch durch seine staubige randlose Brille zu mir herunter, und auch seine Frau (mit gleicher Brille) schwieg. Ich wei nicht recht, ob Sie sich noch an mich erinnern, Herr Professor, sagte ich etwas entmutigt. Doch, doch, antwortete Knulpe. Erinnere mich. Studierten Jurisprudenz und trieben sich bei mir in der Soziologie herum. Sehen ein wenig wie ein ewiger Studiosus aus. Examen bestanden? Lngst, Herr Professor. Rechtsanwalt geworden? Jawohl, Herr Professor. Tchtig, tchtig. Wohl Sozi, wie? Teils, Herr Professor. Ein wackerer Sklave des Kapitals, he? fragte Carl Knulpes Frau. Teils, Frau Professor. Haben wohl etwas auf dem Herzen, stellte Carl Knulpe fest. Jawohl, Herr Professor. Begleiten Sie uns, sagte sie. Ich begleitete die beiden. Wir gingen gegen den Pfauen, den Brief hatte ich nun doch noch nicht eingeworfen, aus einer momentanen Vergelichkeit heraus, aber es gab ja noch viele Briefksten. Nun? fragte er. Ich besuchte Dr. h.c. Isaak Kohler, Herr Professor. Im Zuchthaus. So, so. Waren bei unserem kreuzfidelen Mrder. Ei, ei, beorderte er Sie auch zu sich? Gewi. Bald fragte der eine, bald fragte die andere. Ist er immer noch glcklich? Und wie! Strahlt er noch immer? Und ob!
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Wir kamen an einem weiteren Briefkasten vorbei. Eigentlich wollte ich nun stehenbleiben, den Absagebrief einwerfen, doch Knulpes gingen weiter, ahnungslos, mit groen hastigen Schritten. Ich mute laufen, um mitzuhalten. Kohler hat mir erzhlt, Sie htten da einen recht eigenartigen Auftrag angenommen, Herr Professor, sagte ich. Eigenartig? Weshalb eigenartig? Herr Professor! Hand aufs Herz: da Kohler seinen eigenen Mord auf die Folgen hin untersuchen lt, ist doch eine gar zu verrckte Geschichte. Da mordet der Kerl am heiterhellen Tag, grundlos, so mir nichts dir nichts, und lt dann noch soziologische Studien darber anstellen, unter dem Vorwand, damit sei die Wirklichkeit auszuloten. Sie wird aber ausgelotet, junger Mann. Klaftertief. Da mu doch irgend etwas dahinterstecken! Irgendeine Teufelei! rief ich aus. Knulpes blieben stehen. Ich keuchte. Er reinigte seine randlose Brille, trat auf mich zu, so da ich zu ihm hinauf-, er zu mir heruntersehen mute. Er setzte seine Brille wieder auf, seine Augen glotzten. Auch sein Weib glotzte mich entrstet an, rckte eng an ihren Gatten und somit auch an mich. Die Wissenschaft steckt dahinter, junger Mann, nur die Wissenschaft. Zum ersten Male knnen die Folgen eines Mordes in der brgerlichen Gesellschaft mit methodischer Grndlichkeit untersucht und erschpfend dargestellt werden! Dank unseres frstlichen Mrders. Eine Riesenchance! Zusammenhnge tauchen auf! Verwandtschaftliche, berufliche, politische, finanzielle, kulturelle. Nicht verwunderlich. Alles hngt zusammen in dieser Welt, auch in unserer lieben Stadt, einer sttzt sich auf den anderen, einer protegiert den anderen, und wenn einer fllt, purzeln viele, und so sind denn viele gepurzelt. Stecke jetzt in der Darstellung der Folgen bei unserer verehrten Alma mater. Und das ist nur der Anfang. Entschuldigen Sie, ein Auto. Ich zog die beiden in Sicherheit, Knulpes waren vor Aufregung vom Trottoir auf die Strae getreten, und ein Taxi mute scharf
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bremsen. Es war berfllt, eine alte Dame mit einem Hut voller Kunstblumen prallte innen gegen die Scheibe, der Chauffeur schrie zum Fenster hinaus, war sehr grob. Knulpes wurden nicht einmal bla. Gnzlich gleichgltig, sagte er, statistisch unerheblich, ob wir berfahren werden oder nicht. Nur der Auftrag zhlt, nur die Wissenschaft. Aber Frau Professor Knulpe war anderer Meinung: Um mich wre es schade gewesen, behauptete sie. Das Taxi fuhr davon. Knulpe kam wieder auf seine soziologische Untersuchung zu sprechen. Mord ist Mord, gewi, doch fr einen Wissenschaftler ist er ein Phnomen, das wie alle anderen Phnomene erforscht werden mu. Bis jetzt hat man sich darauf beschrnkt, die Ursachen festzustellen, Motive, Herkommen, Umwelt, ich habe mich jetzt auf die Folgen zu werfen. Und da darf ich sagen: ein Segen fr die Alma mater, ein Segen fr die ganze Universitt, dieser Mord, man mchte sozusagen selber etwas morden. Na ja, natrlich, an sich bedauerlich, so eine Untat, aber durch die unverhoffte Lcke, die Winter hinterlie, strmt frische Luft, neuer Geist. Toll, was sich da alles herausstellt, der liebe selige Winter war Sand im Getriebe, ein rckstndiges Element, wie schon Shakespeare sagte: Der Winter unseres Mivergngens, aber ich will weder lstern noch kalauern, stelle einfach dar, liefere Fakten, junger Mann, Fakten und nichts weiter. Wir waren beim Pfauen angelangt. Gott befohlen, Herr Rechtsanwalt, sagten Knulpes und verabschiedeten sich. Habe jemand Wichtiges von der ETH zu treffen, fgte er noch bei, habe nun auf diesem Terrain nachzuforschen. Winters Einflu auf die Schulkommission stellt schon ein Kapitel fr sich dar, wittere Sensationen. Kann rosig werden. Am Eingang zum Restaurant kehrten sie sich noch einmal um, hoben den Finger: Wissenschaftlich denken, junger Mann, wissenschaftlich denken. Das mssen Sie noch lernen. Auch als Rechtsanwalt, mein Bester, sagte Frau Professor Knulpe, alias Moses Staehelin. Sie verschwanden, und meinen Brief hatte ich noch immer nicht
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eingeworfen. b) Architekt Friedli: sa neben ihm kurz darauf im Select, den Brief immer noch in der Tasche. Select: Caf, vor dem man sitzt und sitzen bleibt, seit jeher, seit ewig, oder doch seit Jahrmillionen, als noch die Brontosaurier den Flu hinunterwateten, sa man schon da. Friedli kannte ich von meiner Stssi-Leupin-Zeit her, er hatte bisweilen Schwierigkeiten mit seinen Bodenspekulationen, doch konnte ihn nichts hemmen, er war und ist noch die Fettlawine, die unsere Stadt reinfegt, so da in den Schneisen sich Geschftshuser, Appartementhuser, Mietshuser neu erheben, nur teurer als vorher, zu entsprechend fetten Preisen. Die Naturkatastrophe nher besehen: fnfzigjhrig, schwitzende enorme Speckwlste, die Augen klein und funkelnd, irgendwo hineingesteckt, die Nase winzig, auch die Ohren, sonst alles riesig, Selfmademan, ein Kind der Langstrae (meine Alte, lieber Spt, ist zu fremden Leuten waschen gegangen, mein Alter hat sich zu Tode gesoffen, habe noch selber bei der Beerdigung eine Flasche Bier in sein Grab gegossen), nicht nur Radsportmzen, ohne dessen Sonderpreise kein Sechstagerennen denkbar ist, an dem er inmitten des Hallenstadions thronend Unmengen von St.-Galler-Schblig und Wienerwrstchen verschlingt, sondern auch Musikfrderer, dank dessen das Tonhalleorchester und unser Opernhaus nicht ins ganz und gar Mittelmige sinken, der Klemperer, Bruno Walter, ja sogar Karajan verlockte, bei uns zu dirigieren, und jetzt Mondschein protegiert, so da er unsere Stadt, die er duch Neu- und Umbauten so grndlich verschandelt, wenigstens wieder etwas musisch verklrt. Er erkannte mich auf der Stelle. Der Morgen war wie gesagt fhnig und warm, man fhlte sich zu Hause, war wie gelhmt und verhext in der Schlappheit des Klimas, sa zuammengedrngt, ich an Friedli geklebt, der bester Laune war, einen Gipfel um den anderen in einen Milchkaffee um den anderen tunkte, unmig, schmatzend, schlrfend, der Kaffee lief in braunen Streifen ber seine seidene Krawatte und ber das weie Hemd. Der Ursprung seiner Freude war eine Todesanzeige in unserem
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weltbekannten Lokalblatt. Es hatte Gott dem Herrn gefallen, durch einen tragischen Unfall unseren unvergessenen Gatten, Vater, Sohn, Bruder, Onkel, Schwiegersohn und Schwager Otto Erich Kugler zu sich zu rufen. Sein Leben war lauter Liebe. Ihr Feind? fragte ich. Mein Freund. Ich kondolierte. Da mu er gegen Cham und in einen Baum sausen, der brave, gute, liebe Kugler, erluterte Friedli, strahlend, Kaffee schlrfend, Gipfel tunkend und essend, kugelt ins ewige Leben. Das tut mir leid, sagte ich. Seinen Fiat sollten Sie erst gesehen haben, ein einziges Blechschlamassel. Schauerlich. Schicksal. Mssen alle mal sterben. Offenbar, sagte ich. Mensch, sagte er, Sie wissen wohl gar nicht, was dieser Schicksalsschlag fr meine Wenigkeit bedeutet? Ich wute es nicht. Die massive Wenigkeit glotzte mich freundschaftlich an. Kugler hinterlt eine Witwe, erklrte er, ein herrliches Weib. Mir ging ein Licht auf: Und dieses herrliche Weib wollen Sie nun heiraten. Architekt Friedli schttelte jenen Teil seines Fettes, in welchem man den Kopf vermuten konnte: Nein, junger Mann, ich will nicht die Witwe heiraten, sondern die Frau ihres Geliebten. Auch ein Prachtweib. Kapiert? Ganz einfach: Heiratet der Liebhaber die Witwe, mu er sich vorher scheiden lassen, und dann heirate ich seine Frau. Gesellschaftsmathematik, sagte ich. Kapiert. Nur mssen Sie sich dann auch scheiden lassen, gab ich zu bedenken und hoffte vage auf ein Geschft. Bin ich. Schon seit einer Woche. Meine fnfte Scheidung. Wieder nichts. Der Kellner brachte neue Gipfel. Eine Schulklasse lief ber den
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Platz, Mdchen, einige mit Zpfen, manche schon wie junge Frauen, ein Rudel blieb stehen, betrachtete die Standfotos vor dem Kino. Friedli sphte nach der Gruppe. Sie sind doch der komische Rechtsanwalt, der sich in der Spiegelgasse ein Bro in einer Mansarde leistet? fragte er, die Mdchen betrachtend. Ich mute es zugeben. Es ist halb zehn, stellte er fest, grinste und wandte sich wieder zu mir, ich will zwar nicht indiskret sein, denn ich bin ein hflicher Mensch, Spt, aber ich habe das starke Gefhl, da Sie heute noch nicht auf ihrem Bro gewesen sind. Erraten, sagte ich, Ihr s