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EBERHARD WILHELM SCHULZ WORT UND ZEIT Aufsätze und Vortrage zur Literaturgeschichte 1968 KARL WACHHOLTZ VERLAG NFIIMÜMSTFl?

Eberhard Wilhelm Schulz - Zum Wort Denkbild

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Page 1: Eberhard Wilhelm Schulz - Zum Wort Denkbild

EBERHARD WILHELM SCHULZ

WORT UND ZEIT

Aufsätze und Vortrage zur Literaturgeschichte

1968

K A R L W A C H H O L T Z V E R L A G

N F I I M Ü M S T F l ?

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ZUM WORT „DENKBILD'

In der großartigen. Auseinandersetzung Rudolf Borchardts mit Stefan Georges Gedichtband Der siebente Ring, erst 1909, also zwei Jahre nach Erscheinen des Bandes, im Jahrbuch Hesperus veröffent-licht, finden sich einige bemerkenswerte Fußnoten. Borchardt nennt sie Randbemerkungen1 und gibt ihnen die etwas peripherische Stel-lung gegenüber dem Text, um den Überblick nicht zu verkleinlichen2. Da sie nicht zahlreich sind, lenken sie die Aufmerksamkeit des Lesers betont auf Sachverhalte, die Borchardt ein Ärgernis waren. Eine dieser Noten kritisiert die Hollandismen in Georges Sprache. An ein Vers-zitat anknüpfend, schreibt der Rezensent:

„Ewe", in der deutschen Prosa des vierzehnten Jahrhunderts nicht ganz selten, ist Etymon zu „ewig" und heißt deutsch nichts anderes als „Ewigkeit". An dieser Stelle ist es aber nicht deutsch, sondern neu-holländisch „Eeuw", Jahrhundert. Damit ist ein neuer und ebenso häßlicher, ebenso glossenhafter und unnötiger Hollandismus in unser Deutsch geschwärzt wie das greuliche „Denkbild" für Idee nach holl. „Denkbeeld". Wir haben Zesenschen Pedantenpurismus genug aus unsern eigenen kulturlosen Epochen und bedürfen der geistlosen holländischen Barbarismen aus gleicher Zeit und Strömung wahrlich nicht. Das „Denkbild" stand zuerst in der Introduktion zu den „Hymnen", jetzt spukt es wieder, gerade im oben angezogenen Gedichte „Franken". Mallarmé und George haben bewiesen, daß sie vom Wesen der künstlerischen Idee nicht gemeiner denken als Piaton, nämlich wissen, daß sie mit dem Bilde alles und mit dem Denken weniger als nichts zu tun hat. Holländische Pedanten der Barockzeit, die das Wort buken, empfanden platter und roher. Ihre Worte aufnehmen, heißt unter sich selbst herabgehen3.

Wir lassen die Frage offen, ob Borchardt sich hier nicht jenes Pedantenpurismus schuldig macht, den er an Zesen rügt, und prüfen zunächst den Sachverhalt, durch den sich George diese Kritik an sei-

1 Rudolf Borchardt, Stefan Georges „Siebenter Ring". In: R. B., Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa I. Stuttgart 1957, S. 267, Anm. 1.

2 Ebd. 3 Ebd.

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nem Sprachgebraudi zugezogen hat. Borchardt spielt auf einen Vers des Gedichts Franken (VI/VII, 19) an4. In der dritten der vier acht-zeiligen, geräumigen Strophen feiert George in Villiers, Verlaine, Mallarmé die französischen Meister seiner Jugend:

Und in der heitren anmut Stadt' der gärten Wehmütigen reiz · bei nachtbestrahlten türmen Verzauberten gewölbs umgab mich Jugend Im taumel aller dinge die mir teuer -Da schirmten held und sänger das Geheimnis: VILLIERS sich hoch genug für einen thron · VERLAINE in fall und busse fromm und kindlich Und für sein denkbild blutend: MALLARMÉ.

(V 17-24)

An Villiers hebt er das Herrscherliche, an Verlaine die kindliche Frömmigkeit hervor. Nicht zufällig läuft die Strophe und damit die Laudatio auf den Namen des in dieser Reihe Größten zu: auf Mallarmé. Ihn im Wesenskern zu umreißen, hebt George die Leiden-schaft Mallarmés für die Kunst und seine Leidensbereitschaft hervor. Klussmann macht mit Recht darauf aufmerksam, daß in dem Wort-symbol blutend die Erinnerung an den Märtyrertod Christi wach-gerufen werde. Der Dichter erscheine als ein Heiliger und Prophet, dessen Leben ganz der Verkündigung der „Idee" geweiht ist5.

Unser Interesse konzentriert sich auf das Wort denkbild. Für Bor-chardt steht fest, daß George damit auf das Wesen der künstlerischen Idee zielt, da Mallarmés Existenz als Dichter ganz auf sie angelegt war. Er versteht darunter im Sinn von Piatons Idealismus den noeti-schen Akt, in dem das reine Sein als das Absolute schlechthin ein-leuchtet, also das Schauen, das seherische Ahnen der Ideen. Wenn George die Existenzformel Mallarmés nennen wollte, so mußte er von nichts anderem ausgehen. Borchardt zweifelt keinen Augenblick, daß das auch seine Absicht war und daß George, wenn er denkbild sagte, „Idee" meinte. Er wählte nur ein unangemessenes Wort und be-stätigte damit, was ihm grundsätzlich vorzuwerfen sei, eine Unsicher-heit des Geschmacks und des Stilgefühls.

4 Alle George-Zitate nach der Gesamtausgabe der Werke. Endgültige Fassung. Bd. 1-18. Berlin 1927-1934.

5 Paul Gerhard Klussmann, Stefan George. Zum Selbstverständnis der Kunst und des Oiàiters in der Moderne. Mit einer George-Bibliographie. Bonn 1961 (= Bonner Arbeiten z. dt. Lit. Bd. 1), S. 7.

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Die George-Forschung hat sich diese Kritik nicht zu eigen gemacht. Claus Victor Bock weist sie in der Vorrede zu seiner Wort-Konkor-danz zum Werk Georges mit Schärfe zurück®. Er spricht von einer „mangelhaft fundierten, leichthin aufgestellten Behauptung"7. George habe die Worte „ewe" und „denkbild" nicht aus dem holländischen Barock in unser Deutsch geschwärzt, das Denkbild finde sich bereits bei Winckelman und Herder. Klussmann versucht sie dadurch zu ent-kräften, daß er die Wortwahl Georges in dem fraglichen Vers mit dem Hinweis rechtfertigt, „Denkbild" bringe das Bild- und Gestalthafte des Platonischen „Eidos", das auch im „Idee''-Begriff Mallarmés noch gegenwärtig sei, im Deutschen unmittelbar zur Aussage. Er schränkt dann allerdings seine Zustimmung dahin gehend wieder ein, das Wort „Denkbild" könnte als Übertragung von Mallarmés „l'idée" eine falsche Vorstellung geben, indem es das Moment des Bildhaften zu sehr betont. „Denn für Mallarmé ist die Wirklichkeit der 'Idee' weniger bildhaft als musikalisch, weniger greifbar gegenständliche Setzung, als intellektuelle Erfindung. Der Unterschied zwischen 'Idee' und 'Denkbild' weist bereits andeutend voraus auf die spezifische Abwandlung, die die symbolistische Doktrin Mallarmés durch George erfahren sollte8." Man kann gegen Klussmanns Ansicht geltend machen, „Denkbild" bringe durch das semantische Element „denken", neben dem Bild- und Gestalthaften seiner Setzimg, durchaus etwas Intellektuelles zur Sprache und erweise sich gerade dadurch als ge-eignet, Mallarmés Intellektualismus (Borchardt leugnet ihn) zum Aus-druck zu bringen. Das Wort „Denkbild" leistete dann eben das, was Klussmann ihm glaubt absprechen zu sollen: es würde den denke-rischen Impetus im Dichten Mallarmés unterstreichen. Es wird eine Interpretationsfrage bleiben, was George hier wirklich meinte, als er denkbild sagte. Es ist nicht ausgeschlossen, daß „Denkbild", neben allen anderen Bedeutungen in seiner platonischen Aura, auch noch der Begriff des Gedichts mallarméscher Prägung ist und also einen Ge-dichttypus bezeichnen soll, das Gedicht, dem der Meister sich opfert®.

6 Claus Victor Bock, Wort-Konkordanz zur Dichtung Stefan Georges. Amster-dam 1964, S. IX.

7 Ebd. 8 P. G. Klussmann, a. a. O., S. 7. 9 Maurice Boucher (Ste fan George. Choix de poèmes. Deuxième et dernière

période. 1900-1933. Paris 1943, S. 62) übersetzt den Vers so: Et toi soldat sanglant de l'Idée MALLARMÉ.

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Borchardt behauptet in der zitierten Anmerkung seiner Rezension, „das 'Denkbild' stand zuerst in der Introduktion zu den 'Hymnen'10." Er muß sich in diesem Punkt irren. Es kommt in den Hymnen nicht vor. Richtig ist jedoch, daß George „Denkbild" in Franken nicht zum erstenmal gebraucht. Die Konkordanz von Bock kann es insgesamt fünfmal belegen. Der erste Beleg findet sich in einem frühen Gedicht des Bandes Die Fibel, und hier scheint die Bedeutung enger als in der Mallarmé-Zeile:

(warum) Ist nur das widrige denkbild erschienen Das niemals mir zu verwischen gelang? (1,109)

Denkbild bedeutet an dieser Stelle etwa soviel wie „lebhafter Ge-danke, Vorstellung". Gewählt wurde es, um einen möglichst hohen Grad von Plastizität des Vorstellungsinhaltes, von dem die Rede ist, glaubhaft zu machen. Die Verbindung von denkbild und widrig schließt eine platonische Lesart aus.

Gewichtiger ist der zweite Beleg. Er datiert ebenfalls noch vor Franken. In einer der großen Selbstdarstellungen Georges Des sehers wort ist wenigen gemeinsam aus dem Jahr der Seele (IV, 52-53), einer Rückbesinnung auf das, was den seher in seiner Jugend erfüllte, lau-ten die Schlußverse :

Als er zum lenker seiner lebensfrühe Im beten rief ob die verheissung löge ... Erflehend dass aus zagen busens mühe Das denkbild sich zur sonne heben möge. (V17-20)

Die Kommentatoren und Interpreten Georges sind sich nicht ganz einig, wie das Wort zu lesen sei. Morwitz schreibt, unter „Denkbild" verstehe der Dichter, von der holländischen Sprache ausgehend, nicht die Idee, sondern das Ideal, nämlich das Bild des volle Erfüllung brin-genden Gefährten, das bisher nur in seinen Träumen geformt war und das er im Licht der Sonne auf dieser Erde verleiblicht zu finden sein Leben lang strebte11. Nach Hildebrandt ist „die Idee des neuen Werkes" gemeint, „das die erste große Wende in seinem Leben be-deutet: DAS VORSPIEL, der Mythos des Engels"12. H.Stefan

10 a. a. O., S. 267, Arvm. 1. 11 Ernst Morwitz, Kommentar zu dem Werk Stefan Georges. München und

Düsseldorf 1960, S. 126. 12 Kurt Hildebrandt, Das Werk Stefan Georges. Hamburg 1960, S. 102 f.

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Schultz bezieht es auf Georges Wunsch, „eine ideale Gestalt mît sei-ner Wirklichkeit, eine lebendige Gestalt mit einem Traum" zu zeugen18.

Wenn Morwitz auch „Denkbild", seinen Gehalt von „Idee" zu „Ideal" verschiebend, als einen Vollkommenheitsbegriff auslegt, wäh-rend Hildebrandt und Schultz auf das absehen, was gestalthaft in der prophetischen Sicht erscheint, und demzufolge am Ideenbegriff fest-halten („Georges Wort für ,Idee' ist ,Denkbild' . . . " H. St. Schultz)14, so sind das doch nur unterschiedliche Versionen ein und desselben künstlerischen Piatonismus. Er wird als die geistige Grundlage von Georges Künstlertum betrachtet15.

Als gesichert kann dies gelten: George zieht „Denkbild" dem Fremdwort „Idee" vor, und zwar deswegen, weil es lebendiger, unbegrifflicher, vor allem tauglicher ist, das Sehen des Übersinnlichen zu einem cöncretissimum zu machen. Die Beimischung des Intellek-tuellen durch den Wortbestandteil „denken" nimmt er lieber in Kauf als die Abstraktheit des Wortes „Idee", das nach seinem Sprachgefühl zum Begriff geworden ist und sich vom platonischen „Eidos" ent-schieden entfernt hat. Bocks Konkordanz gibt für „Idee" nicht einen einzigen Beleg.

Georges begründete Abneigung gegen das Wort macht es ver-ständlich, daß ihn Borchardts Kritik nicht beeindruckt hat. Sie wird ihm als puristische Philologenkritik vorgekommen sein. Und wohl mit Recht. Borchardt läßt eins außer acht: In einem großen Gedicht ist jedes Wort eine Neugeburt. Seine Wertigkeit kann nur sehr be-dingt nach der Sprachgeschichte und dem Wörterbuch beurteilt werden.

George fährt also fort, „Denkbild" zu verwenden. Bode kann es nach dem Siebenten Ring noch zweimal belegen, nämlich in einem Schüler gewidmeten Gedicht in Der Stern des Bundes (Strich deine

13 H. Stefan Schultz, Studien zur Diâitung Stefan Georges. Heidelberg 1967, S. 148 f.

14 a. a. O., S. 148. 15 Aufschlußreich ist wieder Maurice Bouchers Übersetzung:

Suppliant que du doute où travaillai son cœur, La vision surgisse et naisse à la lumière!

„Denkbild" ist hier also nicht „l'idée", sondern „la vision" (Maurice Bouclier, Stefan George. Choix de poèmes. Première période 1890-1900. Paris 1941, S. 171).

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hand auf schal- und urnenscherbe/ So stand fast körperhaft vor uns dein denkbild. VIII, 46) und in der Maximin-Gedenkrede (Je mehr wir ihn kennen lernten desto mehr erinnerte er uns an unser denk-bild .. .). Es pendelt hier zwischen der Bedeutung eines konkreten Erinnerungsbildes und einer eingeborenen gesteigerten Idealansicht des Freundes. Das Spektrum des Wortes reicht also vom erinnernden Sehen bis zur platonischen Schau.

Wie kommt „Denkbild" nun eigentlich in den Wortschatz Ge-orges? Wenn man nicht annehmen will, daß er es erfunden hat, wozu m. E. kein Anlaß ist, bleiben zwei Quellen: die niederländische Sprache und vermutlich das Grimmsche Wörterbuch, denn weder in der deutschen Umgangssprache noch in der Literatursprache war es zu der Zeit, da George es zu verwenden begann, lebendig. Rudolf Borchardt - offenbar auch Ernst Morwitz" - hält es für eine Ent-lehnung aus dem Niederländischen. Claus Victor Bock ist dagegen der Ansicht, George habe auf ein in älterer Zeit gebräuchliches deut-sches Wort zurückgegriffen und verweist auf Winckelmann und Her-der17. Hierbei stützt er sich wohl auf das Grimmsche Wörterbuch, das für „Denkbild" neben einem Beleg aus einem Werk von Caspar Stieler, Winckelmann und Herder anführt18. Daß Bock die Möglichkeit einer Entlehnung aus dem Niederländischen so entschieden zurück-weist, hat, wie es scheint, seinen Grund in der Absicht, Borchardts Kritik zu entkräften. Statt nur die Behauptung zu bestreiten, „Denk-bild" sei ein häßliches Wort, weigert er sich auch noch anzunehmen, George könnte das Wort aus dem Niederländischen haben. Tat-sächlich spricht vieles für diese Annahme. George war durch seine Freundschaft mit Albert Verwey19 und durch andere Verbindungen mit der Kultur und der Geschichte der Niederlande, insbesondere mit der niederländischen Literatur vertraut. Das niederländische „Denk-beeld", ein völlig integriertes Wort der gesprochenen und geschrie-benen Sprache, konnte ihm schwerlich entgehen. Möglicherweise hat er, einmal darauf aufmerksam geworden, auch das Grimmsche Wör-terbuch konsultiert. Wie intensiv Rilke es benutzt hat, ist bekannt.

18 E. Morwitz, a. a. O., S. 126. " C. V. Bock, a. a. O., S. IX. 18 DWb II, Sp. 927. 19 Vgl. Jan Aler, Albert Verwey en Stefan George. Hun vriendschap - Het

keerpunt Duitse Kroniek 18, 1966, S. 6-59. Ferner: Rudolf Pannwitz, Albert Verwey und Stefan George. Heidelberg und Darmstadt 1965.

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Die Tatsache, daß Stefan George „Denkbild" in seinen Wortschatz aufgenommen hat, wirft eine Reihe interessanter Interpretations-fragen auf. Sie sind es indessen nicht, die uns angeregt haben, dem Wort nachzugehen. Der Grund ist vielmehr die Beobachtung, daß es immer häufiger vorkommt und selbst in die Sprache der Wissen-schaft und in die Umgangssprache einzudringen beginnt. Es ist eini-germaßen überraschend, ihm in einer Wendung wie „Denkbild der NATO-Strategie" im politischen Kommentar einer Tageszeitung zu begegnen. Die folgenden Anmerkungen wollen etwas Licht in die Geschichte des Wortes bringen und, soweit es sich ergibt, seine Bedeutung klären.

Die Entstehung von ndl. „Denkbeeld" bringt Borchardt auf die Formel: Holländische Pedanten der Barockzeit . . . buken das Worf0. Im ganzen dürfte das, die Wertung beiseite gelassen, richtig sein. Im Mittelniederländischen läßt es sich nicht nachweisen21. Allem An-schein nach ist es ein Produkt des humanistischen Sprachnationalismus und seiner gegen das Fremdwort gerichteten Reinigungstendenzen. Franck's Etymologisch Woordenboek der Nederlandsàie Taal (s'Gra-venhage 21912, p. I I I ) sagt zwar, „Denkbeeld" gebe es seit dem 18. Jahrhundert, und das Woordenboek der Nederlandsche Taal läßt durch die Belege, die es bringt22, Ähnliches folgern, ältere Wörter-bücher aus dem frühen Ιδ . Jahrhundert kennen es jedoch bereits33, und wenn man einen angemessenen Spielraum zwischen der Zeit ein-räumt, da es in der Sprache auftaucht, und dem Zeitpunkt seiner Auf-nahme in Wörterbücher, erfahrungsgemäß etwa fünfzig Jahre, kommt man zu dem Schluß, daß es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts schon im Gebrauch gewesen sein muß, und so ist es auch. Bei Louis Meyer (Nederlandsche Woordenschat. De Vierde Druk. Amsterdam 1663), der als Sammler des ndl. puristischen Wortschatzes eine ähn-

20 a. a. O., S. 267, Anm. 1. 21 Vgl. Middelnederlandsch Woordenboek. Hg. von E. Verwijs und J. Verdam.

s'Gra venhagen 1882. - Middelnederlandsch Handwoordenboek. Hg. von J. Veerdam. s'Gravenhagen 1949.

22 Woordenboek der Nederlandsche Taal III, 2, Sp. 2406-2408. 33 A Large Dictionary, English and Dutch. Hg. von W. Sewel. 2. Teil. p. 87".

Amsterdam 1708: „Denkbeeld (N), an Idea, a Notion." - Neder-Hoog-Duitsch en Hoog-Neder-Duitsch Dictionaire. Hg. von Matthias Kraamer. Niirenbefg [1719], S. 64: „Denk-beeld, Denck- od. Gedenckbild."

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liehe Rolle wie Caspar Stieler bei uns spielte, ist es verzeichnet24. Daß es benutzt wurde, bezeugt Willem Goerees Inleydinge Tot de Al-ghemene Teycken-konst (Middelburgh 1668)25. Wir kommen auf dieses Werk noch zurück, da Zesen es ins Deutsche übersetzt hat. Die Übersetzung erschien bereits 1669, ein Jahr nach dem Original, in Hamburg28.

Es ist selbstverständlich, daß ein Wort von so hohem Allgemein-charakter wie „Denkbeeld" einen ganzen Fächer von Bedeutungen öffnet. Es kann, indem es zwischen dem Denk- und dem Vorstellungs-vermögen einen Zusammenhang herstellt und das eine oder das andere betont, folgendes bedeuten27:

1. Gedanke, verstanden als ein Bild, das durch das Denken erzeugt oder geformt ist.

2. Das Bild, das sich der menschliche Geist von einer Sache macht, im Sinne von Vorstellung oder Begriff.

24 S. 140: „Ideen, . . , denkbeeiden"; S. 449: „Idea, . . . denkbeeldt." Ich verdanke diesen Beleg einem freundlichen Hinweis von Herrn Dr. Herbert Blume, Wolfenbüttel.

25 S. 6: „dendc-beelden". 20 Anweisung zur algemeinen Reis- und Zeichenkunst : darinnen die

Cruende/ und Eigenschaften! die man/ einen unfehlbaren Verstand in der Zeichenkunst zu erlangen/ nohtwendig wissen musf kurtzbuendig! doch klaehrlidh angewiesen werden: nicht allein den anfahenden ZeichnernI Kup-ferstechern! Mahlern! Glaßsdireibern/ Bildhauern/ und dergleichen Kunst-lern zu erbauung und hülfe; sondern audi allen Liebhabern dieser! oder anderer daraus entspriessender Kuenste! zur Lust! und erlangung so viel Kunde! als ihnen von allen hierher gehoerigen Kunststuekken volkoemlich zu urteilen noehtig! beschrieben durch den Kunsterfahrnen Wilhelm Goerer(l); und! mit mueglichstem fleisse/ in das Hodideutsdie versetzet durch Filip von Zesen. Zu Hamburg/ bei Johan Nauman! und Georg Wolfen! Buchhaendlern! 1669.

27 Vgl. das Woordenboek der Nederlandsche Taal III, 2, Sp. 2406-2408: „1. Voortbrengsel van het denkvermogen, beeld door het denkvermogen ge-

vormd; gedachte. 2. De afbeelding, die de menschelijke geest van een zaak vormt. 3. De inhoud van den geest met betrekking tot eene zaak. a. Gedachte,

b. Meening. 4. AI wat tot het geheel van meeningen en overtuigingen behoort, die

iemands gezichtskring, zijne denkwijze, zijne levensbesdiouwing vormen; opvatting.

5. De voorstelling, die men zieh schept van iets, dat nog werkelijheid moet worden of de overweging iets tot stand te breugen.

6. Eene enkele maal in den zin van: standbeeld als gedenkteeken."

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3. Der Inhalt des Geistes, als Gedanke, als Meinung, in bezug auf eine Sache.

4. Etwas, was einen ganzen Gesichtskreis, eine Denkart, eine Lebens-anschauung formt.

5. „Idee" im platonischen Sinn, also eine nicht auf die Wirklichkeit der Sache bezogene Vorstellung.

6. Standbild (monumentum).

Diesen Inhalt bringt das Wort ins Deutsche ein, wo er entweder gar nicht oder dann doch auf sehr spezifische Weise abgewandelt wird. Wie nun aber kein Aufschluß darüber zu gewinnen ist, wer „Denk-beeld" ins Niederländische gebracht hat, eine Neuschöpfung, die es bei aller Vielfalt der Bedeutungen an Treffsicherheit und prägender Kraft mit dem Glücksfund „Empfindsamkeit" im Deutschen auf-nehmen kann, so bleibt auch dunkel, wer es bei uns eingeführt hat. Justus Georg Schottelius (Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache .. . Braunschweig 1663) kennt es offensichtlich nicht. Im Lib. II, Cap. XII : De Compositione Nominis. Von der Doppelung des Nennwortes führt er an:

S .428: 36. Denk/memorandus,

exitans memoriam. Denkbrot/Lev. 24. vers. 7. Denkmahl/ Denkzeit/Epocha Denkring! Denkstunde. Denkwürdig/ Denklose Zeit/

Β eyfügig/praefixum. Denkzettel (Scheda memoriae

gratia Wehn. pag. 100) (Tempora in ipsa oblivione sepulta.)

Denkspruchf Symbolum/ &c.

S. 509: 218. Bild/imago Grund/subjectum.

Wesenbild/Idea essentiae. Vorbild/etc. Harsd.

Sinnbild/Emblema. Himmelbild. Wird Bild bey fügig/sagt man: Abbild/ Misbild/ Ebenbild Bildseule/lerem. 43. v. 13 Personbildung/Prosopopaeja. Bildhauer/Bildschnitzer Jammerbild Christi/Luth. Bildgiesser/Bildstokk/ Traumbild/Luth. Rahtselbild/ Bildweide/Bildstumm/&c.

Hars. Trunkenbold/q. d. imago ebriosi.

Trunkenbild/Sauf bild. Weichbild/(Wikbild) ...

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Auch in den Verb- und Stammwörterreihen kommt es nicht vor, ebensowenig unter den Bezeichnungen von Sprichwörteren und Sprichwortlichen Redarten (Lib. V. Tract. 3, 15)28. Erst für das letzte Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts konnte es nachgewiesen werden. Von den drei Belegen, die das Grimmsche Wörterbuch hat, gehört der früheste Caspar Stieler: denk- oder gedenkbild = mnemosynum (DWb II, Sp. 927). Es spricht wenig dafür, daß Stieler der Erfinder dieses Neologismus ist, er wird ihn lediglich aufgenommen haben. Eher ist an Zesen zu denken, auf den viele Neubildungen nach nieder-ländischem Muster zurückgehen. „Denk- oder Gedenkbild" war bis-her nicht darunter29. Wenn nun Willem Goerees Inley dinge Tot de Al-ghemeene Teycken-konst, wie erwähnt, denckbeelden hat und Zesen das Werk übersetzte, verspricht der deutsche Text Aufschluß darüber, wie Zesen das Wort las. Die fragliche Passage lautet:

... : naemlich sie [die Zeichenkünstler] muessen einen ge-schikten/ stillen/ und darbei tiefsinnigen und weit nachdenken-den geist haben; sie muessen auf alles/ was ihnen vorkomt/ gantz genau acht schlagen/ bei sich selbsten darvon urteilen! und alles ueberschlagen/ wie sie die vornehmsten teile dessen! was sie sehen! ihnen einbilden sollen/ also daß ihr geist/ durch die einbildung/ gleich den spiegeln sei/ welche sich in eine solche gestalt und solches bildnues veraendernl als ihnen vorgestellet wird! und sotahnig einer zweiten natur gleich werden. Daruem mus sich auch ein junger Zeichner! der begierig ist in dieser kunst die hoechste Staffel zu erreichen! sich gewoehnen mit seinen gedanken in staehtiger uebung zu sein; und so viel ueberlegungen/ und sonderliche einfaelle von gedenkbildern bei

28 Schottelius (a.a.O., S. 1109) führt hier u.a. an: Emblema - Sinnbild Hieroglyphica - Heilige Bildereyen Symbola - Denksprüche Aenigmata - Ratzel Sententia, dicta - Sprüche, Lehrsprüche Imagines - Bildnisse Insignia - Wapen Pictura - Gemählte Proverbia, adagia - Sprichwörter Apophthegmata - besondere Sprichwörter.

29 Vgl. Hugo Harbrecht, Verzeichnis der von Zesen verdeutschten Lehn- oder Fremdwörter. Zeitschr, für dt. Wortforschung 14, 1912/13, S. 71-81.

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sich selbsten machen/ als ihm bildnuesse/ die anschauens wuer-dig seindi aufstoßen30.

Der philologische Sachverhalt ist einfach: Zesen gibt ndl. „denck-beelden" durch „gedenkbilder" wieder, also durch eine Variante des Wortes „Denkbild", die das Moment des erinnernden Sehens hervor-hebt. Was gemeint ist, scheint dieses zu sein: Der Künstler muß fähig sein, das, was er an Bildern in der Außenwelt sieht, denkend zu ent-wickeln. Der Vorgang wird einbilden genannt. Das Verhältnis des Künstlers zur Wirklichkeit, an die er selbstverständlich gebunden bleibt, da Kirnst sich letztlich als Mimesis auffassen muß, regelt der geist. Er soll geschikt, stille, tiefsinnig und weit nachdenkend sein; von ihm wird verlangt, daß er urteilt und ueberschlaegt. Das Spiegel-gleichnis, ein Topos hohen Alters, paßt nicht recht in den Zu-sammenhang, da der geist, in den von außen das Bild einfällt, gerade nicht passiv, widerspiegelnd, sondern formend sein soll. Im Denken legt sich der Künstler, das ist entscheidend, das Bild zurecht, das heißt, er übersetzt es aus der empirischen Wirklichkeit, auswählend, erinnernd und vergleichend, in die Kunstwirklichkeit. Ein Hauch von Piatonismus liegt über der Passage, vielleicht sogar eine vage, Ana-logien ertastende Ahnung der Anamnesis-Lehre. Das erinnert noch einmal daran, daß „Denkbeeld" nichts anderes als das niederlän-dische Wort für „Idee" war, Ersatz eines Fremdwortes, das aller-dings längst seinen Ursprung vergessen hatte81.

Die Übernahme von „Denkbeeld" in der Form „Gedenkbild" aus Goerees Zeichenkunst ist einer der Fälle, in denen wir nachprüfen können, woher Zesen die Anregungen zu seinen Neologismen be-kommen hat82. Der Nachweis der Übernahme ist freilich noch kein Beweis dafür, daß er es in unsere Sprache eingeführt hat. Derselbe Vorgang kann unabhängig davon schon ein paar Jahre früher wo-anders vonstatten gegangen sein.

80 Das erste Hauptstuekke. Was die Zeichenkunst sei/ und worin sie bestehe! u. a. m. (a. a. O., S. 6).

81 Vgl. Kurt Bauch, Imago. In: Studien zur Kunstgeschichte. Berlin 1967, S . 2 : „,Denkbeeld' ist das niederländische Wort für , Idee ' . . . " - Vgl. auch das Duitsch Woordenboek. Hg. von J. van Gelderen. 2. Deel: Ν ederlandsch-Duitsdi. 4. Aufl. Groningen - Den Haag 1921, S .160: „denkbeeld, der Ge-danke, der Begriff, die Vorstellung, die Idee."

32 Herr Dr. Blume (Wolfenbüttel) und Herr Dr. Volker Meid (Frankfurt a. M.) teilten mir auf eine Anfrage mit, daß sie bei ihren Studien zur Sprache Zesens keinen weiteren Beleg für „Denkbild" od. „Gedenkbild" feststellen konnten.

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Eine Zukunft hatte das Wort hier zunächst nicht. Es hielt sich sogar recht mühsam am Leben. Das den Wortschatz des 18. Jahr-hunderts am vollständigsten sammelnde Wörterbuch von Adelung (1793) bringt es nicht. Wo es in anderen Wörterbüchern vereinzelt auftaucht, ist seine Bedeutung stark reduziert, etwa auf „Denkmal" oder „Denksäule"38. Interessant ist, daß es im Bereich der Hiero-glyphik vorkommen kann, und auch hier zeigt sich das Niederlän-dische in der Vermittlerrolle. In Amsterdam erschien 1735 ein Werk Romeyn de Hooghes unter dem Titel Hieroglyphica of Merkbeeiden der onde Volkeren .. .34. Ein Jahrzehnt später folgte, ebenfalls in Amsterdam, eine deutsche Übersetzung davon: Hieroglyphica oder Denkbilder der alten Völker, namentlich der Egyptier, Chaldäer, Phönicier, Juden, Griechen und Römer ect. vorgestellet durch Romeyn de Hooghe, Rechtsgelehrten. Übersehen und besorgt von Ava. Henr. Westerhovius, ins Hochdeutsche übersetzt mit des Holländers Baum-gartens Vorrede. Amsterd. 1744. Hamann gibt als der unersättliche Leser, der er war, Kunde davon, daß er es wahrgenommen hat85; Les-sing nennt es in seiner Schrift Wie die Alten den Tod gebildet (1769) in einer beiläufigen kritischen Abfertigung88. Weder Hamann noch Les sing nimmt das Wort in Gebrauch, wohl aber Winckelmann in der Geschichte der Kunst des Altertums, und zwar in jenem Abschnitt, wo er die antiken Glasarbeiten rühmt:

Wie unendlich prächtiger müßten nicht solche Geschirre von Kennern des wahren Geschmacks geachtet werden, als alle so sehr beliebeten Porcellangefäße, deren schöne Materie bisher noch durât keine ächte Kunstarbeit edler gemachet worden, so daß auf so kostbaren Arbeiten noch kein würdiges und be-

33 Vgl. das Τeutsch-Englische Lexicon. Hg. von Christian Ludwig. Leipzig 1745 (unveränderter Abdruck der Ausgabe von 1716), Sp. 435: „Denckbild (das), das denckmahl, die dendcsäule, a monument/'

34 Mario Praz, Studies in Seventeenth-Century Imagery. Π. London 1947, S. 372. - Zur Hieroglyphik : Karl Giehlow, Die Hieroglyphenkunde des Humanismus in der Allegorie der Renaissance. Wien und Leipzig 1915; Lud-wig Volkmann, Bilderschriften der Renaissance. Hieroglyphik und Emble-matik in ihren Beziehungen und Fortwirkungen. Leipzig 1923.

35 Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke. Hg. von Josef Nadler. 5. Bd.: Tagebuch eines Lesers. 1753-1788. Wien 1953, S. 285.

38 Gotthold Ephraim Lessings sämtliäie Schriften. Hg. von Karl Lachmann. 11. Bd. Stuttgart 1895, S. 32.

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lehrendes Denkbild eingepräget gesehen wird. Das mehrste Porcellan ist in lächerliche Pupen geformet, wodurch der daraus erwachsene kindische Geschmack sich allenthalben ausgebreitet ha?7.

Winckelmann wendet sich hier gegen den nach seinem Urteil ver-dorbenen Geschmack des Rokoko in der Porzellankunst. Das spiele-risch Zwecklose einer alles verharmlosenden Gesellschaftskunst, die gerade im Porzellan ein ebenso modisches wie gefälliges Material entdeckt hatte, widerstrebt seiner Idealansicht einer klassisch schlich-ten, großzügigen, in den Absichten ernsten Darstellungsart. Das ist der Hintergrund der Denkbildstelle. Winckelmann wünscht, daß nach dem Muster der antiken Glasarbeiten Porzellangefäße mit würdigen und belehrenden Denkbildern, statt der Schäfergruppen und Rollen-figuren nach der Comrnedia dell'arte, geschaffen werden. Er versteht darunter, wie der Zusammenhang erkennen läßt, halberhobene Figu-ren, Reliefs mythologischen Inhalts38. Die mythologischen Szenen heißen also „Denkbilder". Für Winckelmann sind es, mit einer Defi-nition Campes zu reden, Bilder, „unter welchen man sich etwas denkt, vorstellt, welches gewisse Gedanken veranlaßt"39. Bs ist vielleicht überraschend, in solcher Weise die Mythologie der Alten auf das Denken bezogen zu sehen. Winckelmann hat aber bekanntlich eine vom Standpunkt seines Klassizismus barock und anachronistisch an-mutende Allegorienlehre40 verfaßt und läßt dort keinen Zweifel daran aufkommen, daß er die Homerische Götterwelt „allegorisch" versteht; er nennt sie so. Daß diese enge Auffassung sowohl der griechischen Götterwelt wie der sich ihr darstellend nähernden Kunst in einem eklatanten Widerspruch zu seinem an sich viel weiteren Kunst- und Mythologiebegriff steht - es braucht nur an seine Beschreibungen der Plastiken oder an die Kunstgeschichte erinnert zu werden -, ist er-

37 Johann Winckelmanns sämtliche Werke. Hg. von Joseph Eiselein. 3. Bd. Donauöschingen 1825, S. 121.

88 Er erwähnt unter den erhoben gearbeiteten Bildern in Glas eines in flach, erhobenen weissen Figuren, auf einem dunkelbraunen Grunde, Bakchus in dem Schooße der Ariadne liegend nebst zween Satyrs (a. a. O., S. 119).

39 Wörterbuch der deutschen Spraàie. Hg. von Joachim Heinrich Campe. Braun-schweig 1807. l .Theil. , S. 702b: „Das Denkbild, . . . ein Bild, unter weldtem man sich etwas denkt, vorstellt, welches gewisse Gedanken veranlaßt."

40 Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst. (Sämtl. Werke, ed. Eiselein. 9. Bd., S. 5-270).

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kannt worden41. Hier genügt es, das Wort „Denkbild" von Winckel-manns Allegorienlehre her zu verstehen, um seine fundamentale Be-deutung zu erkennen. Sie wird nicht geschmälert dadurch, daß es nicht öfter belegt werden kann. Bedeutsam ist nicht seine terminologische Wertigkeit oder Verbreitung, sondern seine Reichweite in einem wich-tigen Teilgebiet von Winckelmanns Theorie.

Nicht minder interessant ist der Gebrauch des Wortes „Denkbild" durch Herder. 1793 veröffentlichte dieser in der Fünften Sammlung der Zerstreuten Blätter eine Reihe von Parabeln seines alten geliebten ]oh. Valent Andrea*2. Um sie aus ihrer Entstehungszeit zu Beginn des 17. Jahrhunderts seinen Lesern verständlich zu machen, fügte er einige erklärende Seiten hinzu. Er berichtet, der Autor habe an die 300 dieser Parabeln, die er Apologen nannte, gedichtet, und zwar um Bilder von Tugenden und Lastern des menschlichen Lebens43 vor Augen zu stellen:

Schon diese Erklärung zeigt, daß es dem Verfasser um eigent-liche äsopische Fabeln nicht zu thun war. Wenige seiner Dich-tungen grenzen an diese Fabel; die meisten gehen auf Sinn-und Denkbilder (Embleme), auf Allegorien, auf Per-soniftcationen hinaus, die in die eigentliche Fabel nicht gehören".

Er erläutert dann im weiteren diese Formen als Ausdruck der Emblem-liebhaberei des 16. und 17. Jahrhunderts, nicht ohne ihre Grenzen gegen die grosse, offene Poesie45 hin sichtbar zu machen und seine Absicht zu bekunden, bei Gelegenheit den Geist der reinen griechi-schen Allegorie vom emblematischen Schatten späterer Zeiten näher zu unterscheiden4\ „Denkbild" für „Emblem" kommt im Text noch dreimal vor und wird zum Parabel-Begriff in Beziehung gesetzt, wenn es heißt:

41 Vgl. Werner Kohlsdimidt, Winckelmann und der Barock. In: W. K., Form und Innerlichkeit. Beiträge zur Geschichte und Wirkung der deutschen Klassik und Romantik. München 1955, S. 27 ff. - Ferner: Reinhold Klinge, Die Allegorienlehre in Winckelmanns Kunstansâiauung. Diss. Kiel 1953 (Masch.).

42 Herders Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. 16. Bd. Berlin 1887, S.131.

43 Ebd. S. 160. 44 Ebd. S. 160. 45 Ebd. S. 161. 46 Ebd. S. 161 f.

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Kurz Parabel ist eine Gattung Gedichte, die zwisdien der Fabel, dem Emblem, der Allegorie und Personification in der Mitte liegt, und wenn sie enthüllt wird, die schwersten und leichtesten Denksprüche auf ihrem breiten Rücken tragen kann".

Herder, soviel ist wohl deutlich geworden, verwendet „Denkbild" in diesen Erläuterungen zu Andrea als Gattungsbegriff. Er führt ihn für „Emblem'' ein. Kein Zweifel, daß es ein wirkliches Äquivalent ist, denn Emblem wendet sich durch die Vereinigung von Spruch, Bild und deutendem Gedicht sowohl an das Auge wie an den Verstand, an das Vorstellungsvermögen ebenso wie an das Denkvermögen48. „Denk-bild" ist nun zwar eine treffende, aber nicht die erste Übertragung des Emblem-Begriffs ins Deutsche. In den Frauenzimmer Gesprächspielen erörtert HarsdÖrffer schon mehr als ein Jahrhundert früher die Frage, ob man dafür das unbekannte Wort der SinnbilderM einführen solle. Die Entscheidung fällt für „Sinnbild" oder auch „Sinnen-Bild". Die Neubildung Harsdörffers setzte sich überall durch, gefördert durch einen Parallelvorgang in den Niederlanden, also im wichtigsten Be-reich der Emblemkunst, wo für „Emblemata" „Zinnebeeiden" er-scheint5*. Selbst Herder führt das ältere Wort noch mit, denn er nimmt es zunächst in seinen Begriff für „Emblem" auf und sagt „Sinn- und Denkbilder", wenn er „Emblemata" meint. Erst im letzten Teil seiner Erläuterungen streift er es ab, und dann heißt es: Der Name Em-blem (Denkbilder) war dem ... Werk zu eng*1. Man wird sich fragen, warum Herder nicht einfach an dem eingebürgerten deutschen Gattungsnamen festhielt. EHe Antwort kann nur lauten, weil er das Wort „Sinnbild" für einen höherwertigen Sachverhalt zurückgewin-nen wollte, um der grossen offenen Poesie willen™, die in der sym-bolischen Dichtung der Klassik vor Herders Augen und unter seiner

47 Ebd. S. 164. 48 Vgl. Albrecht Schöne, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock.

München 1964, S. 21 f.; Dietrich Walter Jons, Das „Sinnen-Bild". Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius. Stuttgart 1966 Germanist. Abh. 13), S. 3.

49 Zitiert nach Albrecht Schöne, a. a. O., S. 21 f. Vgl. audi D. W. Jons, a. a. O., S. 14, Anm. 1.

50 Vgl. Anne Gerard Christiaan de Vries, De Nederlandsdie Emblemata. Ge-sdiiedenis en Bibliographie tot de J8de eeuw. Amsterdam 1899. Dort zahl-reiche Belege. - Jons vermutet, „daß zur Entstehung von ,Sinnenbild' nieder-ländischer Einfluß beigetragen hat" (a. a. O., S. 14).

51 Herder (ed. Suphan) 16, S. 164. 52 Ebd. S. 161.

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Mitwirkung entstand. Man kann etwas ganz Ähnliches in einer Anmerkung Meyers zum zweiten Kapitel von Winckelmanns Versuch einer Allegorie beobachten, wo vom Standpunkt des neuen Symbol-begriffs der Klassik Winckelmanns Allegoriebegriff eingeschränkt wird53. Es ist jetzt unannehmbar, die griechischen Götter als Alle-gorien erklärt zu sehen.

Und gerade in diesem Zusammenhang ist es nun sehr merkwürdig, wie Herder das Wort „Denkbild" zur Bezeichnung eines Sachverhaltes benutzt, der nicht nur mit der Emblematik nichts zu schaffen hat, der ihr dem Geist nach sogar entgegengesetzt ist.

In den Briefen zur Beförderung der Humanität, und zwar im 70., feiert Herder den idealen, Mythen hervorbringenden Sinn der Grie-chen. Sie erfanden und vollendeten Ideale. Sie bildeten den reinen göttlichen Begriff unsres Geschlechts zart und vielseitig aus, indem sie die hohen Sternbilder, die geordneten Sonnen-Systeme ihres Götter-himmels schufen54. Es läßt sich nicht umgehen, einen längeren Ab-schnitt im vollen Wortlaut zu zitieren, schon um den Ton dieser

53 „Über das Ganze des zweiten Kapitels erlauben wir uns hier folgende Be-merkung. Die Bilder der Götter griechischer Kunst sind nur alsdann im eigentlichen Sinne allegorische Darstellungen zu nennen, wenn die ihnen beigelegte Handlungen oder Zeichen noch eine fernere Bedeutung haben, Götterbilder aber, an sich selbst, haben keine fernere Beziehung, sondern sind wirklich was sie darstellen: . . . also Charaktere von der höchsten Art, oder allgemeine von der Kunst verkörperte Begriffe, und soldie Darstellun-gen nennt man, zum Unterschiede von eigentlichen Allegorien, S y m b o l e . In ihnen spricht si<h die Kunst höher und ihrer selbst würdiger aus, als in Allegorien geschehen kann, weil diese nicht so vollkommen, selbständig und einfach im Anschaulichen und Dargestellten, sondern mehr in einer sinn-reichen, manchmal auch nur wizigen, aus der Darstellung abzuleitenden Bedeutung sich zeigen. S y m b o l e hingegen erfordern allemal das höchste schöpferische Kunstvermögen, wenn sie gelingen sollen; und dies ist wahr-scheinlich die Ursache, warum keiner der neueren Künstler je ein vorzügliches, den Antiken vergleichbares Werk solcher Art zu Stande gebracht hat. In der Allegorie hingegen, da dieselbe nach ihrer Haupteigenschaft, der B e d e u -t u n g , vielmehr auf dem Geiste der Erfindung als auf höchstmöglicher Voll-kommenheit, Würde und Kraft der Kunst in der schöpferischen Darstellung selbst beruhet, können auch aus neueren Werken durchaus musterhafte, den besten des Altertums an Gehalt fast gleichkommende Allegorien nach-gewiesen werden. Die symbolische Darstellung ist der versinnlichte all-gemeine Begriff s e l b s t , die allegorische Darstellung b e d e u t e t blos einen von ihr selbst verschiedenen allgemeinen Begriff." Winckelmann (ed. Eiselein) 9, S. 66 f., Anm. 1.

54 Herder (ed. Suphan) 17, S. 368.

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Sätze zu bewahren, der nicht gleichgültig ist, hauptsächlich aber der Umgebung wegen, in der „Denkbild" hier vorkommt:

Jede reine idee, die ein vollendetes Bild gibt, theilt nachbar-lichen Ideen Klarheit mit; dies zeigt die griechische Kunst in hohem Grade. Aus jener bescheidenen Aphrodite ward mit einer kleinen Veränderung eine Νemesis; aus ihr und aus allen ursprünglich wenigen Götterformen, wie viel Ideen sind erwachsen! Parcen und Eumeniden, Grazien und Hören, Nym-phen allerlei Art, Schutzgöttinnen der Länder und Personen, personificirte Tugenden und Ideen. Eine Genealogie dieser Gestalten würde zeigen, von wie wenig Hauptformen sie ent-sproßen sind, und wie sich, der einmal festgestellten Ordnung nach, immer Gleiches zu Gleichem gesellte. Bis auf die Münzen der Römer in ziemlich späten Zeiten erstreckte sich diese Frucht-barkeit jener kleinen Anzahl griechischer Ideen; auf ihnen er-hielten sich Bilder sittlicher Humanität selbst in Zeiten, da alles dem Gesetz und Krieg, dem Zwang und der Noth diente. Sollten also jene Denkbilder reiner Formen der Menschheit je einem Sterblichen den Weg zu Ideen verschließen oder ver-schloßen haben? Niemals; nur lange Jahrhunderte waren in so dunklem Nebel, daß auch der Umriß solcher Formen nicht er-kannt werden mochte. Endlich zerfloß der Nebel; der mensch-liche Geist gelangte wieder zu einigermaassen hellen Begriffen; Andacht und Liebe verkürzten den Weg dahin, und so sind jene Bildniße erschienen, die wie Morgensterne aus der weichenden Nacht hervorschimmern. Man humanisierte seine Religions-begriffe; und so trat vor allen andern die gebenedeite Jung-frau, die Mutter des Weltheilandes in einer eignen Idee her-vor, zu der ihr die griechischen Musen nicht halfen. Der Gruß des Engels half ihr dazu, der sie die Holdselige, die Got-tesgeliebte; ihre eigne Demuth half ihr dazu, in der sie sich die Magd des Herren nannte. Aus diesen beiden Zügen floß ihr liebliches Wesen zusammen, das sich dem menschlichen Herzen sehr vertraut machte55.

Es ist wohl spürbar, daß der Begriff „Denkbild" hier wieder jene Höhe der Anschauimg gewinnt, von wo es nur ein Schritt zu den Ideen Piatons ist, jene Höhe auch, die George später dem deutschen

55 Ebd. S. 368-369.

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Wort erneut in seiner E>ichtung einräumt. Herder betrachtet die mythologischen Bilder als Projektionen des menschlichen Geistes in die Anschauung. Wie, auf welche Weise das Menschengeschlecht sich in Vollkommenheit denken kann, so stellen es seine Götter gestalt-haft vor den inneren Sinn oder durch Kunst vor das Auge. Denk-bilder reiner Formen der Menschheit sind es, die zu den höchsten Vorstellungen leiten, die der Mensch von sich selbst haben kann. Im Licht dieser „Denkbilder" teilt sich das Dunkel seiner mannigfachen Bedingtheiten durch das, was ihm nur seine Sinne zeigen oder seine Vorurteile einreden.

Herder meint, daß der ideenbildende, in die Formen drängende und in ihnen sich reflektierende Geist niemals aussterben werde. Dafür leisteten die griechischen Kunstwerke Gewähr genug. In ihnen sei ein ewiger Same zu seiner Neubelebung*.

Soviel ist zu erkennen: Wo Herder „Denkbild" nicht einfach für „Emblem" verwendet, ist es dem Wort „Idee" benachbart als Bezeich-nung einer der Anschauung nahen und dem Denkvermögen anver-trauten geistigen Tatsache. Über das hinaus, was es zu bezeichnen hat, ist ihm eine Ausstrahlung eigen, wie sie manchen Wörtern Her-ders verliehen ist, dann nämlich, wenn es sich um verbale Kristalli-sationspunkte seiner dichterischen Einbildungskraft handelt. In die-sem Bereich, nicht im Terminologischen, liegt sein Besonderes57.

58 Ebd. S. 370. 57 Neben „Denkbild" hat Herder noch die Form „Gedankenbild", die nidit den

Vollzug des anschauenden Denkens, sondern das in einem Bild fest gewor-dene Gedachte ausdrückt:

Die Zeit ist ein Gedankenbild nachfolgender, in einander verketteter Zustände·, sie ist ein Maas der Dinge nach, der Folge unserer Ge-danken; die Dinge selbst sind ihr gemessener Inhalt. (Suphan 17, 80).

Hierzu einige weitere Belege. (1) Friedrich von Schiller an Wolf gang von Goethe, d. 6. 4.1798:

... daß ich nur erst das Gedankenbild aus mir herausstelle, weil ich es dann heller anschauen kann (Jonas 5, 366).

(2) Novalis: Was kann die Spraâie für eine Art von Gedankenbild der Natur liefern {Schriften, ed. P. Kludchohn und R. Samuel 2,189).

(3) Moritz von Schwind schickte Mörike eine Illustration zu dem Märchen vom sichern Mann. Mörike an M. v. Schwind, d. 5. 3.1867: Ihre Auffassung des ungeschlachten Riesen könnte besser und wahrer unmöglich sein; und zudem muß ich sagen, sie läßt, was Bestimmtheit und malerische Eigenschaften betrifft, mein eigenes Gedankenbild weit hinter sich (Eduard Mörike, Briefe. Hg. von F. Seebaß. Tübingen 1940, S. 791).

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Wie Herder zu dem Wort „Denkbild" gekommen ist, wer wollte das entscheiden. Es gibt mindestens drei Möglichkeiten, unter denen zu wählen wäre : 1. Er kann es bei Winckelmann, bei Lessing, bei Hamann oder bei

einem Autor gelesen haben, der uns verborgen geblieben ist. 2. Seine Quelle kann das Niederländische sein. 3. Es kann sich um eine spontane Neubildung handeln. Am wenigsten wahrscheinlich ist die zweite, am wahrscheinlichsten die dritte. Das Wortbildungsproblem ist in diesem Fall ja sehr einfach. Warum sollte es nicht nach dem Muster M. Chr. Derlings entstanden sein, der in den Nachahmungen edler Dichter (Leipzig 1754) vor-schlägt: „Wir wollen ζ. E. das Wort denken nehmen und davon das Wort Denkbild ableiten58." Wir lassen die Frage auf sich beruhen.

In dem großen Zeitraum zwischen Herder und George fehlen uns die Belege, ob aus Mangel an Belesenheit oder weil tatsächlich keine vorhanden sind, sei dahingestellt580. Goethe kennt das Wort zwar,

(4) Jacob Burckhardt an Friedrich von Preen, d. 24. 7.1889 : Mein Gedankenbild von den terribles simplificateurs, welche über unser altes Europa kommen werden, ist kein angenehmes ... (Jacob Burckhardts Briefe an seinen Freund Friedrich von Preen. 1864-1893. Stuttgart und Berlin 1922, S. 248).

(5) Thomas Mann in Schopenhauer: ... die Idee des Löwen, das reine und allgemeine Gedankenbild i?on ihm . . . (GW 9, 532).

(6) Oskar Loerke in einer Rezension: ... sie lassen wunderbar leuchtende Bündel von Vergleichen, Asso-ziationen, entzündende Gedankenbilder radial ausschwärmen (Oskar Loerke, Der Bücherkarren. Heidelberg und Darmstadt 1965, 5. 48).

(7) Walter F. Otto, Die Bahn der Götter. Ein Fragment: Sie selbst [d. Götter] solle» uns führen und nicht unsere Logik. Jedes Zeichen, das sie von sich geben, ist kostbar, so unvergleichlich kostbar, daß wir das kleinste nicht preisgeben wollen gegen ein eindeutiges, widerspruchsloses Gedankenbild, das unseren Verstand befriedigt (Die Wirklichkeit der Götter. Hamburg 1963 = rde 170, S. 71).

58 S. 164. Ich verdanke diesen und einige weitere Belege, die ich. im folgenden durch das Sigle „DWb-Archiv" kenntlich machen werde, dem Archiv des Deutschen Wörterbuchs, Berlin. Herrn Dr. Mantey, dem Leiter der Berliner Arbeitsstelle, danke ich für die Erlaubnis, sie mitzuteilen.

58a Während der Korrekturen wurde ich auf eine wichtige „Denkbild"-Stelle in Fr. Th. Vischers Aesthetik hingewiesen. Da sie sehr umfangreich ist, kann ich sie nicht im Wortlaut mitteilen. Vgl. Fr. Th. Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. 3. Theil, 2. Abschn., 5. Heft: Die Dichtkunst. Stutt-gart 1857, § 836, S. 1164 f.; § 837, S. 1166 f. und § 850, S. 1215 f.

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räumt ihm aber nur einen bescheidenen Platz in seinem Vokabular ein. Unter dem Titel Fürst Blüchers Denkbild teilt er in Kunst und Altertum (2. Bd., 1. Heft. 1818) ein Schreiben, vermutlich Schadows, über den Guß eines Blücher-Denkmals in Berlin mit59. „Denkbild" ist nichts weiter als das zur Erinnerung an die Verdienste eines Feld-herrn aufgerichtete Standbild. Das ist übrigens die einzige Bedeutung, unter der Trübners Wörterbuch es verzeichnet (II, 42). Den Sinn von monumentum hat es auch in einer charakteristischen Szene der Nacht-wachen des Bonaventura. Ein Selbstmörder führt um Mitternacht auf einem Grab kniend den Dolch gegen die Brust:

... da blieb dem Manne plötzlich der schon zum Todesstoß aufgehobene Arm erstarrt, und er kniete wie ein steinernes Denkbild auf dem Grabsteineo.

Goethe spricht dann noch einmal in einem Brief an C. D. Rauch (Kon-zept vom 26. 3.1829), in dem er für die Zusendung eines Gips-abgusses dankt, das Wort aus: Gypsabguß und Pasten sind mir von des edlen Welsers Denkbild zugekommen81. Gemeint ist wohl eine jener in der Renaissance so zahlreichen Bildnismedaillen, die dem Andenken bedeutender Männer dienten. „Denkbild" ist in diesem Fall als mnemosynum zu lesen.

Alle diese Zeugnisse sind nur lexikalisch von Wert. Wortgeschicht-lich oder literaturgeschichtlich beanspruchen sie kein besonderes Inter-esse. Das ändert sich mit Beginn der Moderne, wie schon die Analyse der Denkbild-Stellen bei George gezeigt hat. Das Wort kommt jetzt überhaupt sehr viel häufiger vor, und wenn es auch über das von Herder und George gesetzte Maß hinaus an Tiefe nicht mehr zu-nehmen konnte, so konnte es jedenfalls seine Anwendbarkeit auf die vielfältigste Weise erproben.

Zum Beispiel Thomas Mann in den Joseph-Romanen. Joseph befindet sich in der Szene mit Potiphars Weib in einer höchst gefähr-lichen Lage :

Als es, all seiner Redegewandtheit zum Trotz, beinahe schon mit ihm dahingehen wollte, erschien ihm das Bild des Vaters. Also Jakobs Bild? Gewiß, das seine. Aber es war kein Bild mit geschlossen-persönlichen Zügen, das er da oder dort gesehen

s» WA 492, 79. 60 Nachtwachen des Bonaventura. Hg. von H. Michel. 1904 ( = DLD), S.30 (DWb-

Archiv). 61 WA Br. 45, 208, 17.

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hätte im Raum. Er sah es vielmehr mit seinem Geiste und in seinem Geiste: Ein Denk- und Mahnhild war es, das Bild des Vaters in weiterem und allgemeinerem Verstände, - .. .ez

Das Vaterbild, das Joseph mit seinem Geiste sieht, ist ohne Zweifel die Idee des Vaters, und sie steigert sich zur Idee eines Vatergottes, denn der Erzähler fügt hinzu: und viel gewaltigere Züge noch trug es alles in allem und über diese Ähnlichkeiten hinaus63. Das Bild des Vaters erscheint64 Joseph nicht von ungefähr. Es erinnert an die väter-liche Autorität und ist dergestalt eine Mahnung für den Wankenden, nicht vom Pfad der Tugend abzugehen. Zugleich ist es ein Zeichen dafür, daß der Vater den Sohn in seiner Pein nicht vergessen hat und ihm Schutz gibt. Im Wort „Denkbild" verschmelzen die Bedeutungen von „Idee", „Erinnerung" und „Mahnung" zu einer einzigen, Pla-tonisches und Biblisches bindenden Aussage.

Einfacher sind die beiden nächsten Belege. Der erste stammt wieder aus den Joseph-Romanen:

Die Majestät dieses Gottes, hieß es, habe geträumt einmal, daß sieben Kühe sieben Ähren fräßen, und das andere Mal, daß sie-ben Kühe gefressen würden von sieben Ähren, — kurzum ein Zeug, wie es keinem Menschen auch nur im Traume einfällt, aber ein wenig half es dem Joseph doch auf den Weg, und seine Gedanken umspielten die Denkbilder der Nahrung, der Hun-gersnot und der Vorsorge65.

Joseph wird aus seiner Gefangenschaft vor Pharao gerufen, um ihm seinen Traum von den Kühen und den Ähren zu deuten. Auf dem Eilboot, während der Reise nach On, der Sonnenstadt, wohin Pharao Amenhotep, seinen philosophischen Neigungen folgend, sich aus der Residenz wiederholt zurückzieht, meditiert Joseph über die Einzel-heiten des Traumes, wie sie in offenbar entstellter und sehr konfuser Form im Volk bekannt geworden sind und wie der Bote sie ihm er-zählt hat. Die idea realis des Brotes, des Mangels an Brot, der

62 GW V, 1259, 83 Ebd. 64 Was mit „erscheinen" gemeint ist, stellt der Erzähler klar:

Dies rettete ihn; oder vielmehr (wir wollen vernünftig urteilen und nicht einer Geistererscheinung, sondern denn doch ihm selbst das Ver-dienst an seiner Bewahrung zuschreiben): oder vielmehr, er rettete sich, indem sein Geist das Mahnbild hervorbrachte (GW V, 1259 f.).

65 GW V, 1374.

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Beschaffung von Brot beschäftigt seinen Geist, den Geist Josephs des Ernährers, denn dazu hatte ihn sein Gott fernerhin bestimmt. Die Denkbilder sind die teils geschauten, teils gedachten Gegenstände der Meditation.

Der andere Beleg ist dem Roman Der Erwählte entnommen. Der Erzähler gibt dem Leser Einblick in das Wesen des jungen Grigorß:

Dabei will ich sagen und weiß, wie wahr es ist, daß in all der Wissenserwerbung seine Seele nur halb bei der Sache war. Und ich will hinzufügen, was hier rätselhaft klingen mag, daß, wenn die feine Gelehrsamkeit es war, die ihn der Hütte seiner Herkunft entfremdete, es noch andere Dinge, Gefühle und Denkbilder gab, die ihm nun wieder zuweilen sogar auch die Lust am Klosterwissen und an den Büchern verdarb, indem ihm war, als sei er nicht nur von den Seinen verschieden nach Stoff und Art, sondern passe auch zu den Mönchen und Mitscholaren im Grunde nicht, passe nicht in sein Kleid, in seinen Stand, in seines Lebens Umlauf nicht, worin das Knien mit dem Sitzen über Büchern wechselte, und sei ein heimlich Fremder so hier wie dort™.

Das Rätsel dieser Fremdheit löst sich in dem sonderbaren Schicksal des Helden und Heiligen, das ihn nach Verhängnissen und schweren Bußen auf den Stuhl Petri führt, für den er, und für keinen Platz sonst, das will der Erzähler zu verstehen geben, von Anbeginn vor-gesehen ist. Dinge, Gefühle, Denkbilder formen eine wohlüberlegte Triade. Nach der urchristlichen Anthropologie besteht der Mensch aus Fleisch, Seele und Geist (Pneuma). Darauf spielt sie an, sie ist gewissermaßen das Echo davon in der Wirklichkeit der Wahrneh-mungen, Empfindungen und Gedanken des jungen Grigorß. Die Denkbilder sind in solcher Schichtung Bestandteil des reinen Geistes, und so sind hier vielleicht weniger Wunschträume und Vorstellungen darunter zu verstehen, wie es zuerst scheinen will, als Gedanken und Ideen oder sogar Ideale.

Daß sich das Wort „Denkbild" in den Joseph-Romanen einstellt, überrascht nicht. Diese Erzählgebilde sind selbst Denkbilder, Bilder der menschlichen Sitten in ihrer mythischen Urform, transparent gemacht, entmythologisiert und damit humanisiert durch den ver-ständnisvoll analysierenden, lächelnd ironisierenden Geist. Kaum ein

ββ GW VII, 88.

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treffenderes Wort läßt sich finden, um Thomas Manns Kunstabsicht auf eine Formel zu bringen. Denkbilder sind seine Werke insgesamt, Unterhaltungen eines denkenden Lesers. Das rationale Element domi-niert in ihnen, und man darf wohl sagen, daß im Wort „Denkbild", wie er es verwendet, der Akzent auf dem vorderen Teil liegt. Das Denken führt das Sehen.

Grillparzer sagt einmal von Jean Paul, er denke in Bildern; und wenn er gern in Bildern denkt, so malt er dafür audi manchmal in Begriffen. Das geht auf seine unvergleichliche Kraft der Vergegen-wärtigung, die sogar den Begriffen noch Leben einhaucht. Oskar Loerke zitiert den Satz in seinem Jean-Paul-Essay®7 zustimmend, nicht nur, weil er ihn im Blick auf Jean Paul für richtig hält, sondern weil in ihm eine Ansicht von Dichtung, von der Weise, wie Dichtung Welt erfaßt, zum Ausdruck kommt, die er teilt. Er bejaht sie mit seiner allem Abstrakten abgeneigten Natur. Dabei geht er so weit, Wirk-lichkeit und Bild ganz wie ein und dasselbe zu betrachten, um der Vorstellung des Abbildlichen und Abgeleiteten erst gar keinen Raum zu geben. Dies eine Reale ist aber nicht schon selber ein Sinn, es ist Gleichnis eines Sinnes, der in ihm als offenbares Geheimnis zwar vor Augen liegt, doch der Enträtselung bedarf. Das dichterische Wort hat den Gleichnissinn auszusprechen, indem es die im Bildrealen liegende geistige Ordnung ans Licht bringt.

Und Bild um Bild erbangt nach einem Sinn Ob Worten, die wir sonst im Sinne hatten.

(Die Vogelstraße. GuP I, 255; V 29-30)

Clemens Heselhaus hat, das Enträtselnde dieser Lyrik hervorhebend, von ihrem emblematischen Charakter gesprochen und eine Verbin-dung hergestellt zwischen Loerkes „sinnbildlicher Ausdeutung von Naturzeichen" und der Emblematik der Renaissance und des Barock, wo etwas Ähnliches geschah®8. Die Loerke-Forschung scheint dem die Zustimmung zu verweigern. Bedenken sind laut geworden, ob ein Begriff wie der des Emblems, mit seinem genau begrenzten Inhalt und seiner historischen Fixierung, überhaupt übertragen werden

07 Oskar Loerke, Gedickte und Prosa. 2. Bd. Frankfurt a. M. 1958, S. 380. 98 Clemens Heselhaus., Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan

Göll. Die Rüdekehr zur Bildlichkeit der Sprache. Düsseldorf 1961. Vgl. das 10. Kap.: Oskar Loerke. Das emblematische Gedicht (S. 357-379).

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kann69. Loerkes Gedichte sind ja nicht „Emblemata". Das poetische Verfahren, das sie hervorbringt, entspricht nur „so ziemlich"70 dem emblematischen Verfahren der Sinnbilddeutung. Da indessen an dem Sachverhalt, der zur Adaption des Emblem-Begriffs geführt hat, nicht zu rütteln ist, was lag näher, als ihn durch einen weniger festgelegten, doch ebenso treffenden zu ersetzen. Es wurde vorgeschlagen, statt „Emblem" lieber Loerkes Ausdruck „Denkbild" zu gebrauchen71. Dagegen ist wenig zu sagen. Da Herder in dieses Wort den Inhalt des alten Emblem-Begriffs eingebracht hat, könnte sogar Heselhaus mit dem Vorschlag einverstanden sein. Es ist fraglos geeignet, ein Gedicht zu bezeichnen, das auf sehr eigene Weise aus der denkenden Anschauung oder aus dem anschauenden Denken, jedenfalls aus beidem, aus der Anschauung wie aus dem Denken, hervorgeht.

Im Nachwort zum Silberdistelwald heißt es an einer Stelle:

Der weite Sternhimmel über der Ebene meiner Kindheit, der-selbe, der jetzt über meinem Dache leuchtet, hat diesem Buche die Überschrift gegeben, doch wäre es natürlich falsch, zu sagen, der Silberdistelwald sei ein Denkbild dieses Himmels72.

Es umfaßt mehr als nur diesen Himmel. Im „Denkbild" sind die Bereiche vermittelt: die einer gegenwärtigen und einer vergangenen Realität, die der Anschauung und der Vorstellung, die des Sehens und des Denkens. So vereinigen sich im Bild des Silberdistelwaldes der Himmel, der jetzt über meinem Dache leuchtet und den das Auge wahrnimmt, mit dem weiten Sternhimmel meiner Kindheit, er ist im Gedächtnis als Erinnerung getreulich aufbewahrt. Es vereinigen sich aber auch in ihm das Angeschaute und Vorgestellte des Sternhimmels

69 Dieter König, Oskar Loerkes Gedichte. Diss, Marburg 1963, S. 202. Vgl. auch Walter Gebhard, Oskar Loerkes Poetologie. München 1968, S. 12, Anm. 30.

70 C. Heselhaus, a. a. O., S. 364. 71 D. König, a. a. O., S. 202. 72 GuP I, 685. - Vgl. ferner den folgenden Abschnitt aus dem Geleitwort zum

Steinpfad: Die Puppe (aus Stück 2), obwohl sie weit weg zu einem andern Kinde geschickt wurde, ist als Denkbild noch da, weil sie eine von unserer Jugend gesegnete richtige Kinderpuppe war, für welche das Kunst-gewerbe gar nichts getan hatte, und für welche die Phantasie alles tun mußte. Der vergoldete Hahn steht ebenso als unverwerfliches Denk-bild auf dem Gartenhäuschen, weil der Freund, der ihn uns schenken wollte, sterben mußte (GuP I, 691).

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oben -und einer mit Distelblüten übersäten Wiese unten, und beides vereinigt sich in der denkenden Wahrnehmung einer Ähnlichkeit, die den Sinn für die Wahrheit öffnet, daß überall die eine kosmische Ordnung herrscht. Die Vereinigung all dieser sinnlichen und geistigen Aspekte macht das Wort Silberdistelwald zu einem „Denkbild".

Wie solche Zeichen entstehen und wie das Gedicht aus einem Mit-einander unterschiedlichster Anregungen in der Sprache empfangen wird, erläutert Wilhelm Lehmann in einem Gespräch mit Siegfried Lenz:

Das Entscheidendste, die Umwandlung eines Phänomens in Sprache, ist vielleicht nicht zu enträtseln. Was ich meine, möchte ich noch einmal klarmachen, im vergangenen Sommer, als nach einem völlig verregneten Juli der August späte Wärme brachte und ich in diesem späten Glanz des Augustlichts ging, fiel mir mit einmal wie ein Blatt auf den Kopf der Ausdruck „resignier-ter Glanz". Ich weiß, dieser Ausdruck speiste sich von dem Ein-druck dieses, weil es zu spät kam, etwas wehmütigen Glanzes. Über diese Umwandlung kann ich nichts sagen, wir würden uns in ein Myzel von Fasern verlieren. Ich kann nur sagen, woher das Gedicht kommt. Es kommt in meinem Fall aus Augenerleb-nissen, aber auch aus Körperempfindungsgegenden. Ich gerate in Bewegung, ob ich will oder nicht. Es mischen sich in solchen Empfindungen Vorstellungs-, Denkbilder ein73.

Die sinnlichen und intellektuellen Kräfte einer disponierten Natur, durch Bndrücke spannungsvoll gegeneinandergeführt, entladen sich - so beschreibt es Wilhelm Lehmann - in verbalen Empfindungen, die wahren Legierungen gleichen, wie der Ausdruck resignierter Glanz. Vorstellungs- und Denkbilder leisten dabei wichtige, wenn auch nicht genau bestimmbare Dienste. Sie leiten die Einbildungskraft auf Ge-formtes hin. Das nur Empfundene verdichtet sich zu Figuren eines weder bloß gedachten noch bloß impressiven Sinns. Solche Figuren sind Schlüssel, die etwas aufschließen, was sonst unzugänglich bliebe. Während Loerke die so entstandenen Figuren „Denkbilder" nennt, bezeichnet Lehmann so, vorausgesetzt, er meint in der zitierten Äuße-rung nicht Erinnerungsbilder, jene auf sie hinführenden Vorstellun-

78 Vor dem Gericht der Natur. Ein Gespräch mit Wilhelm Lehmann von Sieg-fried Lenz. Die Zeit, Nr. 18, vom 4. 5. 62, S. 11.

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gen, die im Entstehungsprozeß des Gedichts die Rolle eines Katalysa-tors spielen. Loerkes „Denkbilder" erleuchten einen Kreis von Vor-stellungen, dessen Mitte sie sind, sie sind wie Lichtpunkte, die eine Dunkelheit zerteilen und erinnern darin entfernt an die „leuchtenden Denkbilder" Valérys, zwischen denen sich, wie Kurt Leonhard sagt, die schwarzen saugenden Abgründe des „Néant" auftun, nur daß es für Loerke keine Dunkelheit des Néant, sondern nur eine Schöpfungs-dunkelheit gibt74.

Während das Wort „Denkbild", wo es „platonisiert" - bezeich-nenderweise spricht Heselhaus in bezug auf Loerke von einem „Pla-tonismus ohne Ideen"75 — etwas Vielsagendes hat, das seinen Nenn-wert beeinträchtigt, kann es sich andererseits auch entschieden, fest-legen und dann klar wie ein Begriff sein. Ein Beispiel war Herders Gebrauch von „Denkbild" für „Emblem". Nicht gerade terminolo-gisch, aber eindeutig verwendet Walter Benjamin es als Überschrift und Sammelname für kleinere Prosastücke verschiedenen Inhalts7®. Es kann sich um Einfälle, Erlebnisse, Träume, Lektüreanregungen, Apho-rismen handeln. Allen diesen Aufzeichnungen ist eins gemeinsam: sie enthalten einen konkreten Sachverhalt (Bild) und eine daran anknüpfende Reflexion (Denken). Das Wort „Denkbild" bezeichnet genau die Sache, zu deren Bestimmung es dienen soll. Wenn nicht zu fürchten wäre, daß etwas Klares durch Vergleiche nur wieder unklar wird, läge es nahe, auf die Verwandtschaft des Verfahrens mit der emblematischen Technik hinzuweisen. Sie ist viel enger als in der Lyrik Loerkes, weil sich hier alles in dem rationalen Klima der Emblematik abspielt. Und davon kann bei Loerke keine Rede sein. Nicht nur, daß Benjamins „Denkbilder", wie die „Emblemata", „vie-lerlei Anlaß zum Nachdenken geben"77, das gilt schließlich von

74 In einem Aufsatz von Kurt Leonhard, Der Geist und der Teufel (Die Neue Rundschau 61, 1950, S. 588-602) heißt es über Valéry: „Tatsächlich kann ich midi nicht entsinnen, dieses Wort [Nihilismus] jemals bei ihm gefunden zu haben - obgleich er das schon durch Mallarmé, Baudelaire und Pascal ge-heiligte ,Néant' ohne S dieu gebraucht, um die schwarzen saugenden Ab-gründe zu bezeichnen, die sich in den Zwischenräumen seiner leuchtenden Denkbilder auftun." (S. 596.)

75 C. Heselhaus, a. a. O., S. 363. - W. Gebhard lehnt diese Formel ab (a. a. O., S. 12).

78 Walter Benjamin, Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Hg. von Siegfried Unseld. Frankfurt a. M. 1961, S. 329 ff.

77 A. Schöne, a. a. O., S. 58.

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anderen Gebilden, ζ. B. dem Epigramm, der Sentenz, der Devise78, dem Aphorismus, der Maxime - da ist kein Ende - auch. Die Nähe zum Emblêm liegt darin, daß gewissermaßen eine res picta (der kon-krete Sachverhalt) res significans ist, also über sich hinausweist, und daß das, worauf der Hinweis zielt, in einer Art von subscriptio aus-gesprochen wird79. Der Vergleich kann, wie gesagt, nur cum grano salis gelten, liegt jedoch nicht so fern, wenn man sich an Benjamins Beschäftigung mit der Emblematik in seinem Buch über den Ursprung des deutschen Trauerspiels80 erinnert.

Es wurde eingangs schon erwähnt, daß das Wort „Denkbild'' in die Umgangssprache einzudringen beginnt. Schrittmacherdienste lei-sten dabei die Wissenschaftler und die Übersetzer. So kann etwa Friedrich Mein ecke in einem seiner Hauptwerke Die Entstehung des Historismus formulieren:

Die Denkbilder, Sitten und Einrichtungen der Primitiven be-schrieb er [d. i. Lafitau] als kluger, intellektuell geschulter, sogar human verstehender und billig abwägender Beobachter -. . .81

Oder Waither Rehm in einem Aufsatz über Johann Hermann Riedesel:

Im Grunde unvoreingenommen, wennschon von den Idealen und Denkbildern seiner Zeit beeinflußt, kommt Riedesel hin-unter ins alte Griechenland . . ,83

Ganz besonders ergiebig ist die Goethe-Literatur. Das zwischen An-schauung und Reflexion ausbalancierte Verhältnis Goethes zur Wirk-lichkeit verlangt zu seiner begrifflichen Bestimmung geradezu nach einem Wort wie „Denkbild", und wäre es nicht schon früher geprägt worden, hätte man es erfinden müssen. Die von Erich Trunz heraus-

78 Auch in der Bedeutung von „Devise" kommt „Denkbild" übrigens vor. Vgl. François Louis Poetevin, Le nouveau Dictionnaire Suisse François-Allemand et Allemand-François. Basel 1754. Campe merkt dazu an: „Schon Poeievin setzt es passend für Devise" (Wörterbuch der deutschen Sprache. 1. Theil. Braunschweig 1807, S. 702b).

79 Manchmal unterbleibt das audi, und der Leser muß dann selber die Lösung finden.

80 1. Aufl. 1928; Neuaufl. Frankfurt a. M, 1963. 81 Friedrich Meinecke, Werke. 3. Bd.: Die Entstehung des Historismus. Mün-

chen 1959, S. 71. 82 Walther Rehm, Johann Hermann von Riedesel, Freund Winckelmanns, Men-

tor Goethes, Diplomat Friedrichs des Großen. In: W. R., Götterstille und Göttertrauer. Aufsätze zur deutsch-antiken Begegnung. München 1957, S. 219.

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gegebene Hamburger Ausgabe83 gibt in den Kommentaren des Her-ausgebers zahlreiche Beispiele für einen differenzierten Gebrauch des Wortes. Einige seien genannt:

(1) Über den Geniebegriff: Er ist eins der Denkbilder, bei denen wir die Welt mit seinen [Goethes] Augen sehen . .. (HA I, 426).

(2) Zum Motiv der Pfauenfeder im Koran in dem Diwm-Gedicht Ich sah mit Staunen ... : Das persische Motiv war Goethe will-kommen, da er daran sein Denkbild des Ewigen im Vergäng-lichen exemplifizieren konnte. . . (HA II, 619; erst seit der 7. Aufl.).

(3) Kommentar zu Faust: In anderen Werken hat Goethe begriff-lich über Polarität und Steigerung gesprochen; in den Schriften zur Natur hat er diese und verwandte Denkbilder erläutert. .. (HA III, 476).

(4) Goethes Denkbild der Steigerung durchzieht das ganze Werk, . . . ( H A III, 481).

(5) Zwar hat Goethe erst im Alter sein Denkbild der Steigerung theoretisch ausgesprochen, aber als Anschauung lebt es schon früher, . . . (HA III, 494).

(6) Zum Kompositum Brandschandmalgeburt in Urfaust V1326: Die Wortbildung hier - ... - ist Vorklang jener wilden, sym-bolstarken Denkbild-Verbindungen der Schlußszene (HA III, 637)®4.

Wie sich „Denkbild" in der Goethe-Forschung bis zum Begriff ent-wickeln läßt, zeigt der folgende Beleg aus einem Buch Grete Schae-ders :

Das Nebeneinander der Farbenlehre und der „Wahlverwandt-schaften" ist für das Verständnis der Persönlichkeit Goethes unschätzbar und unentbehrlich. Hier gewinnt der Leser bei geduldiger Versenkung einen lebendigen Eindruck davon, wie sich in der Einbildungskraft des Dichters die Fäden zwischen den einzelnen Lebensgebieten hin und her spinnen. Wie die Denkbilder des Naturerkennens in dichterische Bilder über-

88 Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz. 14 Bde. Ham-burg 1948 ff.

84 Erich Trunz war in früheren Jahren als Lektor für deutsche Sprache und Lite-ratur in den Niederlanden tätig. „Denkbild" kam auf dieselbe Weise in sei-nen Wortschatz, wie bei Zesen: aus dem Niederländischen.

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gehen, weil beide aus einer einheitlichen Ideenbildung hervor-gewachsen und von dem gleichen Gestaltungsvermögen durch-drungen werden85.

Denkbilder des Naturerkennens und dichterische Bilder bezeichnen, fast terminologisch unterscheidend, benachbarte, doch bei aller Offen-heit der Grenze, getrennte Bereiche der Anschauung Goethes86.

Nach den Wissenschaftlern die Übersetzer. Jede Sprache hat in der Sensibilität ihrer großen Übersetzer eine Feinwaage des Ausdrucks. Darum ist das Übersetzen, abgesehen einmal von dem Wert dessen, was es inhaltlich an Fremdem in den Gesichtskreis einer Sprachgruppe zieht, so notwendig. Im Transport der Wörter von einer Sprache in die andere gewinnt das eigene Idiom an Schliff. Außerdem bereichert sich der Wortschatz durch Fremdwörter, durch Neologismen. Sie be-nennen etwas Neues, und das Neue ist, indem es benannt wird, über-haupt erst vorhanden. Das läßt sich sogar von dem Wort sagen, um das es hier geht. „Denkbild" kann etwas ausdrücken, wofür es sonst keine Bezeichnung gibt. Dafür ein Beispiel aus der deutschen Pound-Rezeption.

85 Grete Schaeder, Gott und Welt. Drei Kapitel Goethesdier Weltanschauung. Hameln 1947, S. 297.

88 Vgl. ferner: (1) Wilhelm Worringen Problematik der Gegenwartskunst. München o. J-, S. 14: Übergang von der Kunst der Malbilder zur Kunst der Denkbilder, der sich in dieser neuen Literatur schon abzuzeichnen beginnt (DWb-Archiv). (2) Kurt Breysig, Persönlichkeit und Entwicklung. Stuttgart und Berlin 1925, S. 20: Wer aber von der Seele und ihren Kräften spricht, handhabt unver-gleichlich viel weicher umrissene Denkbilder, denen es an Grenzlinien zwar nicht gänzlich mangelt, deren Natur es aber mit sich bringt, daß sie leicht ihren Umriß wechseln (DWb-Archiv). (3) Ausgewählte Briefe Rudolf Hayms. Hg. von Rosenberg. Stuttgart und Berlin 1930, S. 367: Diese Denkbilder... [= Ricarda Huchs Blütezeit der Romantik] (DWb-Archiv). (4) Robert Minder, Das Bild des Pfarrhauses in der deutschen Literatur von Jean Paul bis Gottfried Benn. In: R. M., Kultur und Literatur in Deutschland und Trankreich. Frankfurt a. M. 1962 (=Insel-Bücherei 771), S. 50: . . . in ihrer [d. Dichter] Weltanschauung, ihren großartigen Denkbildern ... (5) Karl Richter, Resignation. Eine Studie zum Werk Theodor Fontanes. Stuttgart - Berlin - Köln - Mainz [1966], S. 25: Aber was im Falle Bothos betonter die soziale Determination bezeichnet, erkennen wir in der Gestalt van der Straatens mehr auf das Denkbild der Prädestination bezogen.

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Eine wichtige Voraussetzung der dichterischen Weltaneignung Pounds ist seine Ansicht vom Erkenntnisproblem. Für Pound ist der Weg zu einer Erkenntnis, genauer gesagt, zu den platonischen Ideen oder zu den Universalien, ein gestufter. Von einer „keimhaften oder schöpferischen Schicht der Begriffsbildung"87 schreitet die Erkenntnis zu starren, abstrakten Formeln fort. In der vor-abstrakten Phase des Erkenntnisvorgangs sind die Universalien den Dingen, den Ge-genständen und Fakten der Außenwelt nahe, dann lösen sie sich von ihnen ab und werden immer mehr zu bloßen begrifflichen Zeichen, die man nach den Gesetzen der Logik beliebig systematisieren kann. Sie bilden dann schon nicht mehr Erkenntnis, sondern spiegeln Schein-erkenntnisse vor. Wahre Erkenntnis ist nur im vor-abstrakten Raum in der Dingnähe der Bezeichnungen zu gewinnen, und dort ist der Ort der Dichtung. Es ist ein ethisches Postulat, daß die Dichtung bei der Wirklichkeit bleibe, denn sie stürzt sonst aus der Wahrheit, die bei den Phänomen ist, in Schein und Lüge. Wenn aber Worte auf-hören, eng an den Dingen zu haften, stürzen Königreiche ein, Welt-reiche verfallen und schwinden88.

Es ist also notwendig, zwischen „Ideen" zu unterscheiden, die zu abstrakten, leeren Begriffen geworden sind, in denen kaum noch ein Rest von Anschauung, von Dinglichkeit und damit von Wahrheit ist, und solchen „Ideen", die sich an den Phänomenen bilden und kraft ihrer Nähe zu ihnen imstande sind, sie auch wahrheitsgemäß zu be-nennen. Donald Davie löst in seiner Arbeit Ezra Pound: Poet as Sculptor*9 (von Eva Hesse gekürzt und von Hiltrud Marschall ins Deutsche übersetzt)*0 das Bezeichnungsproblem, indem er die sich angesichts der Dinge bildenden Vorstellungen im vor-abstrakten Be-reich nicht „ideas", sondern „fantasies" nennt. Er läßt sich dabei von dem Kunsthistoriker Adrian Stokes anregen, der zum Freundeskreis Pounds gehörte. Die deutsche Übersetzerin nun wählt mit feinem

87 Vgl. Ezra Pound, 22 Versuche über einen Dichter. Hg. und eingel. von Eva Hesse. Bonn 1967, S. 263 f. - Hier eine ausführliche Analyse der Gedanken Pounds durch Eva Hesse.

88 motz el son. Zit. nach Ezra Pound, 22 Versuche über einen Dichter, a. a. O., S.264.

80 Oxford University Press. New York 1964. 90 Donald Davie, Ezra Pound - Der Dichter als Bildhauer. In: Ezra Pound,

22 Versuche über einen Dichter, a. a. O., S. 267-279.

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Sprachgefühl für „fantasy" „Denkbild" und schaffte dem Wort in Anlehnung an Davie einen eigenen Sinn im Vorfeld des Idee-Begriffs, an dem auch über den Anlaß hinaus, einen speziellen Sach-verhalt bei Pound zu verdeutlichen, festgehalten werden sollte81. Die weit fortgeschrittene Abstraktheit des Idee-Begriffs - sie ist bis zum Nichtssagenden fortgeschritten - läßt sich nicht mehr rückgängig machen. So erscheint es durchaus vertretbar, das von diesem Begriff preisgegebene vor-abstrakte Bedeutungsfeld dem Wort „Denkbild" zu übereignen. „Idee" und „Denkbild" hätten dann die Aufgabe, zwei Phasen des Erkenntnisvorgangs zu benennen.

Ein anderes Kapitel „,Denkbild' in Ubersetzungen" steht im Zei-chen Baudelaires. Eine Abteilung der Fleurs du Mal, die erste, hat die Überschrift Spleen et Idéal. Die Erwartung, daß Stefan George in sei-ner Übertragung „Idéal" mit „Denkbild" wiedergegeben haben könnte, trügt. Er übersetzt Spleen et Idéal mit Trübsinn und Ver-geistigung, eine Losung, die Walter Benjamin, der ja selber ein Baude-laire-Ubersetzer war, mit den Worten billigt, George habe damit die wesentliche Bedeutung des Ideals bei Baudelaire getroffen®2. Fried-helm Kemp entschließt sich zu Spleen und Ideal93 und bleibt damit ganz in der Nähe des Originals, es dem Leser überlassend, wie er die Uberschrift lesen will. Carlo Schmid jedoch wählt die Version, die George hätte geben können: Trübsinn und DenkbildBi. Wir wider-stehen der Versuchung, darüber zu spekulieren, warum George nicht „Denkbild" für „Idéal" sagte, und bleiben bei den Fakten. Zu den Fakten gehört Carlo Schmids Vorliebe für das Wort. Nicht nur, daß er es in seiner Ubersetzung der Fleurs du Mal noch an anderer Stelle

91 Dieser Sachverhalt wird deutlich, wenn Davie schreibt: „,Denkbild', wie Adrian Stokes das Wort . . . gebraucht, scheint . . . genau dem Geisteszustand zu entsprechen, worin die Ideen auf der Schwelle des Ausgesprochenwerdens vibrieren" (a. a. O., S. 275 f.). - Etwas Ähnliches hat Jean Dubuffet im Sinn (Wider die Kultur. 1951): „Ich versuche, die Bewegung des Gedankens so weit unten an der Wurzel als nur möglich zu erfassen, an einer Stelle, wo die Säfte sehr viel reicher strömen . .. Was mich am Gedanken interessiert, ist nicht der Augenblick, in dem er sich in geformten Ideen kristallisiert, son-dern die vorhergehende Phase/'

92 Illuminationen, a. a. O., S. 246. 9S Baudelaire, Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen. Aus dem Fran-

zösischen übertragen von Friedhelm Kemp. Mit einem Nachwort von Karl Maurer. Frankfurt a. M. 1962 (= Exempla Classica 63).

M Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen. Ubertragen von Carlo Schmid. München o. J. (= Goldmann Taschenbücher 535).

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gebraucht95, er fügt es, wie seine Reden und Zeitungsartikel beweisen, seinem Wortschatz ein:

Nun ist es richtig, daß Staat und Gesellschaft den Fachmann außerordentlich nötig haben, sei er Empiriker oder wissen-schaftlich ausgebildeter Praktiker oder ganz ausschließlich sei-nen Forschungen hingegebener Wissenschaftler. Wenn wir aber neben ihm nicht den Intellektuellen haben, das heißt den Men-schen, der Wertordnungen aufrichtet, der primär vom Denkbild aus an die Beurteilung der Realität herangeht, dann werden uns die Fachleute langsam aber sicher einer Welt zuführen, darin vor lauter Tüchtigkeit und Sättigung durch das gute Ge-wissen, das der Erfolg schenkt, nicht mehr sehr viel vom Wehen des lebendigen Geistes zu spüren sein wird".

Ein Intellektueller war Walther Rathenau:

Er hat nicht „die Lage" zum Maßstab gemacht, sondern seinem Denkbild von Deutschland in dem politischen Stoff, den er vor-fand, Gestalt zu geben versucht91.

Wie Schmid hier von einem Denkbild von Deutschland spricht, so in der Gedenkrede auf Thomas Dehler vom Denkbild der Nation™. Ge-meint ist eine ideale Vorstellung in der Bedeutung des Musterhaften, Vorbildlichen, modellhaft Entwerfenden.

85 Vgl. L'irrémédiable: Une Idée, une Forme, un Être/ Parti de l'azur et tombé ... Carlo Schmid übersetzt: Ein Denkbild, ein Wesen, entflogen! Vom hohen Azur, verlor . . . (a. a. O., S. 77). Es sei noch auf eine Baudelaire-Ubersetzung Hausensteins hingewiesen. In dem Sonett L'aube spirituelle heißt die dritte Strophe:

Sur les débris fumeux des stupides orgies Ton souvenir plus clair, plus rose, plus charmant, A mes yeux agrandis voltige incessament.

Hausenstein gibt ihr folgende deutsche Fassung : So schwebt mir ohne Unterlaß vor großen Blicken Auf schwellenden Ruinen meiner blöden Brunst Dein Denkbild, rosenrot verklärt durch holde Gunst.

(Charles Baudelaire, Ausgewählte Gedichte. Deutsch von Wilhelm Hausen-stein. Freiburg i. Br. 1946, S. 65). Kemp übersetzt souvenir mit Bild, Schmid mit Erinnerung.

88 Carlo Schmid, Gehören Intellektuelle in die Politik? Die Zeit, Nr. 12, vom 23. 3.1962.

97 Ebd. 88 Ein Eiferer für das Recht. Abschied von Thomas Dehler. Die Zeit, Nr. 30, vom

28. 7.1967.

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Um zu Carlo Schmid dem Obersetzer zurückzukommen: Es gibt einen Brief von Peter Suhrkamp an ihn, der fast eine Neuauflage der Kontroverse Rudolf Borchardt / Stefan George darstellt, von der wir in diesem Aufsatz ausgingen. Suhrkamp schreibt über eine Valéry-Ubertragung Schmids:

Frankfurt a. M., d. 10. 3 .1959

„ . . . Manchmal übertreiben Sie allerdings Ihre Art, gehen darin zu weit und überbetonen sie, und da kann man dann nicht umhin, Bedenken anzumelden, denn der Text wird da unnötig schwierig und es erhält etwas eine Betonung, die in der Vorlage nicht vorhanden ist. Mir sind generell zwei Dinge dieser Art aufgefallen: 1.) Ihr Be-streben, auf jeden Fall alles einzudeutschen, auch da, wo die verschiedenen Sprachen den gleichen Ausdruck haben, aller-dings mit Nuanceunterschieden: so gleich in dem ersten Auf-satz, wo Sie für ,Idee',Denkbild' gebrauchen. Oder gleich in der Überschrift dieses ersten Aufsatzes ,denen das Feuer zugeord-net ist' ganz auffällig mit dem zugeordnet'. Die Besonderheit Ihrer Form, fast möchte ich sagen, das Deutsche darin, be-schwert diese Uberschrift. Warum nicht einfach ,Von der über-ragenden Würde der Feuerkünste' - das ,Art du Feu' ist auch bei Valéry eine darin kühne Form. Statt ,Denkbild' - um dar-auf noch einmal zurückzukommen, könnte man deutsch doch auch,Vorstellung' sagen, wenn man ,Idee' schon übersetzen will. Ein paar andere Beispiele noch, wo Sie philosophische Termino-logien verwenden, die einen einfachen Sachverhalt, wie man heute sagt, verfremden: neben dem ,Denkbild' ist das ,Inbild', dann ,Gesamtheitseindruck' oder ,ideale Wertigkeit' oder ,Fühl-samkeit'99/'

Carlo Schmid ließ sich durch solche Bedenken, darin George ähnlich, wenig beeindrucken und hielt an seinem Wort „Denkbild" fest, wohl wissend, daß es, so alt es ist, die Frische einer Neuprägung hat10®.

99 Peter Suhrkamp, Briefe an die Autoren. Hg. von Siegfried Unseld. Frankfurt a. M. 1963, S. 149.

100 Im folgenden einige „Denkbild"-Belege aus Übersetzungen: (1) Otto Hauser, Die niederländische Lyrik von 1875-1900. Eine Studie und Übersetzung. Großenhain 1901, S. 28: Ein holländischer Kritiker sagt über

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Wir haben mit Hinweisen auf Adelung, Campe, Grimm, Trübner und andere die Stellung der Wörterbücher zum Wort „Denkbild" bereits kenntlich gemacht. Es sollten vielleicht noch erwähnt werden die Deutschen Wörterbücher und Fremdwörterbücher von Moriz Heyne101, Fr. L. K, Weigand102, Hans Schulz103, Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz104, selbstverständlich auch der Duden. Sie alle kennen „Denkbild" nicht. Ausnahmen sind die Wörterbücher von Jakob Heinrich Kaltschmidt105 und Otto Sarrazin108. Das erstere er-wähnt es mit den Bedeutungen „Redebild, Metapher, Tropus, Alle-gorie, Idee"107, das andere, ein Verdeutschungs-Wörterbuch, schlägt es als Ubersetzung für „Idee" vor108. Die lexikalische Aufnahme-bereitschaft für das Wort steht demnach in keinem Verhältnis zu sei-ner Verbreitung in der Dichtung, in der kritischen Prosa, in Über-setzungen und selbst in Zeitungen. „Denkbild" steht im Begriff, in die gehobene Umgangssprache überzugehen, und verdient daher Be-achtung.

Corter: „Gorter ist ein Dichter, der seine Worte nicht braucht, um Denkbilder auszudrücken, sondern seine Worte - selbst seine Gefühle ausdrücken läßt." ... (2) Emanuel Swedenborg, Himmel und Hölle. Aus der lateinischen Urschrift übersetzt von Dr. J. F. J. Tafel. 2. vollst. Taschenausgabe. Hg. von F. Pochon. Zürich o. J. [1924], S. 276, Anm. 1 : Die Denkbilder der Ehebrecher sind un-rein ... (3) Gedichte des Konstantin Kavafis. Aus dem Neugriechischen übertragen und herausgegeben von Helmut von den Steinen. Frankfurt a. M. 1953, S. 8: Denkbildhafte Stimmen und geliebte / Jener, die starben ... (Stimmen). (4) Mircea Eliade, Ewige Bilder und Sinnbilder. Vom unvergänglichen menschlichen Seelenraum. Übers, von Theodor Sapper. Freiburg i. Br. 1956, S. 21 : All das [die Mythen] findet sich unter vielen anderen Gegebenheiten -doch wie so sehr ,säkularisiert', herabgewertet, übertüncht! - im halbbewuß-ten Fluktuieren einer eher erdgebundenen Daseinsart: in den Tagträumen -in den Melancholien - im freien Spiel der Denkbilder ..

101 Deutsches Wörterbuäi. Hg. von Moriz Heyne. Leipzig 1890. 102 Deutsches Wörterbuch. Hg. von Fr. L. K. Weigand. l .Bd. : Α-K. Gießen 1909. 103 Deutsches Fremdwörterbuch. Hg. von Hans Schulz. Straßburg 1913. im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Hg. von Ruth Klappenbach

und Wolfgang Steinitz. 1. Bd.: Α-deutsch. Berlin 1964. los Vollständiges stamm- und sinnverwandtschaftliâies Gesammt-Wörterbuch

der deutschen Sprache aus allen ihren Mundarten und mit allen Fremd-wörtern. Hg. von Jakob Heinrich Kaltschmidt. Nördlingen 1884.

108 Verdeutschungs-Wörterbuch. Hg. von Otto Sarrazin. Berlin 1912. 107 J. H. Kaltschmidt, a. a. O., S. 163. 108 O. Sarrazin, a. a. O., S. 101.

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Eine Schwäche des Wortes ist sein breites Bedeutungsspektrum, das von der allgemeinen Umschreibung von Erkenntnisakten, über die Metapher, bis zum Begriff reicht und in diesem Rahmen unendlich variabel erscheint. Etwas Proteisches haftet ihm an, wie dem Wort „Idee" auch, von dem es im Niederländischen seinen Ausgang nahm. Seine Vorzüge liegen in dem Vermögen, Denken und Vorstellen, diese so wichtigen menschlichen Leistungen, in einer Wortform zu-sammenzuschließen und einen Ausdruck für Phänomene zu bilden, in denen beide zusammenwirken. Es kommt auf den Gebrauch an, ob seine Schwäche oder ob seine Stärke sich geltend machen kann109.

109 In mehr als einem Betracht gehört diese Arbeit meinen Freunden. Ich ver-danke ihrer Belesenheit manchen Beleg und ihren Kenntnissen manchen gelehrten Fingerzeig. Ihnen sei an dieser Stelle gedankt.

L I T E R A T U R I N S C H L E S W I G - H O L S T E I N

Schleswig-Holstein gehört nicht zu den großen Landschaften unse-rer Literaturgeschichte. Dennoch hat sich auch hier im Norden, am Rande des deutschen Sprachgebietes, ein reiches literarisches Leben entwickelt, und zwar wie überall nach den Bedingungen seines natür-lichen und geschichtlichen Grundes. Diese Bedingungen waren von Anfang an nicht allzu günstig. Die Zentren frühmittelalterlicher Machtentfaltung lagen zu weit im Westen und Süden, als daß ihre kulturelle Ausstrahlung die Küstenländer voll hätte erreichen können. Die Christianisierung Nordelbingens setzte verhältnismäßig spät ein und gewann nur langsam Boden. Der Glanz der höfisch-ritterlichen Welt war diesen Gegenden versagt. Dabei verharrte die Cimbrische Halbinsel keineswegs im Zustand geschichtsloser Ruhe. Im Gegenteil, sie war zu einem Feld mannigfacher Spannungen bestimmt. Wenn Schleswig-Holstein, dessen historische Gestalt sich nach der Belehnung des Grafen Adolf von Schauenburg mit Holstein und Stormarn (1111) klarer abzuzeichnen begann, aus den politischen Spannungen für die auf Anregungen angewiesene Entstehung von Kunst und Literatur nur geringen Nutzen zog, so hat das verschiedene Gründe. Sie können hier im einzelnen nicht erörtert werden. Hervorgehoben sei nur eine schwerwiegende Entwicklungsdifferenz zwischen Stadt und Land. Lübeck brachte eine Stadtkultur hervor, deren Eigenart und Rang so verschieden von der des Landes war, daß sich hier eine Kluft auf tat, die jahrhundertelang nicht zu schließen war. Für eine Kultur Lübecker Prägung gab es auf dem flachen Lande mit seinen kleinen und nicht einmal zahlreichen Städten keinen Nährboden. Es kam noch hinzu, daß Lübeck, obgleich auf holsteinischem Boden entstanden, als freie Stadt und Haupt der Hanse die Verbindung zu seinem politisch um-strittenen Hinterland lockerte und seinen angemessenen Platz in einer geschichtlichen Konstellation höherer Ordnung fand. Erst nach seinem Niedergang im 16. Jahrhundert pflegte es wieder die Anlehnung an das Ursprungsland. Aber das blieb ohne nennenswerte Bedeutung. Seine literarische Aktivität war zu dieser Zeit mit der wirtschaftlichen und politischen erlahmt. Ähnlich wie zu Lübeck gestaltete sich das Verhältnis Schleswig-Holsteins zu Hamburg. Auch diese durch die Schauenburger geförderte Stadt löste sich schließlich aus dem Verband mit Holstein und nahm eine Sonderentwicklung, deren Verlauf noch mehr, als es bei Lübeck der Fall war, ins Weite ging. Durch die Ent-