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1 MEIN BRUDER, DIE SEE Jack Kerouac ERZäHLUNG

Edel:Books Leseprobe von Jack Kerouac - Mein Bruder die See

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Jack Kerouacs Erzählung "Mein Bruder, die See" (Originaltitel: "The Sea Is My Brother") ist im März 2011 weltweit erstmalig bei Edel erschienen. Der Text wurde übersetzt von Michael Mundhenk.

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Mein bruder, die See

Jack Kerouac

e r z ä h l u n g

2 Jack KerouacMein bruder, die Seee r z ä h l u n g

Aus dem Amerikanischen von

Michael Mundhenk

Jack Kerouac (* 12. März 1922 in Lowell, Massachusetts; † 21. Oktober 1969 in Saint Petersburg; eigentlich Jean Louis Lebris de Kerouac), US-amerikanischer Schriftsteller mit franko-kanadischen Wurzeln, ist einer der wichtigsten Vertreter der Beat Generation.

Michael Mundhenk geb. 1954 in Berlin, Studium der Architektur, Romanistik und Anglistik, ist der Übersetzer von u.a. Margret Atwood, Allen Ginsberg, Barry Lopez, David Adams Richards.

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6 7K A P i T e l e i n S die zerbrochene FlASche

seines Geldes: zwei 25-, ein 10- und ein 5-Cent-Stück. Er kaufte sich einen Apfel und ging, nachdenklich kauend, weiter. Innerhalb von zwei Wochen hatte er alles ausgegeben; wann würde er bloß lernen, umsichtiger zu sein?! Achthundert Dollar in fünfzehn Tagen – wie? wo? und warum?

Als er das Apfelgehäuse wegwarf, fühlte er noch immer das Ver-langen, seine Sinne mit irgendeiner Kleinigkeit zu befriedigen, wes-halb er ein Zigarrengeschäft betrat und sich eine Zigarre kaufte. Er zündete sie erst an, als er sich am Riverside Drive auf einer dem Hudson River zugekehrten Bank niedergelassen hatte.

Am Fluss war es kühl. Hinter ihm stöhnte und pulsierte das kraft-volle Brummen New Yorks, ganz so, als sei die Insel Manhattan eine misstönende, von der Hand eines übermütigen, geschäftigen Dämons angeschlagene Saite. Der junge Mann wandte sich um und ließ seine dunklen, neugierigen Augen an den hohen Dächern der Stadt entlangwandern, bis hinab zum Hafen, wo die Lichterkette der Insel einen gewaltigen Bogen beschrieb, betörende Perlen im Hochsom-merdunst, in wirrer Folge aufgereiht.

Die Zigarre füllte seinen Mund mit dem bitteren Geschmack, nach dem er sich gesehnt hatte; zwischen den Zähnen fühlte sie sich groß und stattlich an. Auf dem Fluss konnte er schwach die Kon-turen der vor Anker liegenden Handelsschiffe erkennen. Eine klei-ne, bis auf ihre Lichter unsichtbare Barkasse glitt auf gewundenem Kurs an den dunklen Frachtern und Tankern entlang. Still stau-nend beugte er sich vor und beobachtete, wie sich die schwebenden Lichtpunkte mit fließender Anmut langsam den Fluss hinabbeweg-ten, seine schon fast krankhafte Neugier gefesselt von Dingen, die anderen wohl eher alltäglich erschienen wären.

Doch war dieser junge Mann kein gewöhnlicher Mensch. Er hat-te ein recht normales Äußeres, war von etwas über mittlerer Größe, schlank, mit eingefallenem Antlitz, an dem sowohl das ausgeprägte Kinn auffiel als auch die markante Oberlippe, der ausdrucksvolle Mund, von dessen Winkeln sich zarte, aber ausgeprägte Falten zur schmalen Nase emporzogen, sowie ein Paar ruhige, sympathische

Ein junger Mann, Zigarette im Mund und Hände in den Hosen-taschen, stieg die kurze, zur Eingangshalle eines Hotels am oberen Broadway führende Backsteintreppe hinab und schlenderte mit einem seltsamen, langsamen Schlurfen in Richtung Riverside Drive.

Es dämmerte bereits. Die warmen Julistraßen, in einen schwülen, die scharfen Broadway-Silhouetten verschleiernden Dunst gehüllt, boten ein prächtiges Schauspiel von durcheinanderwimmelnden Spaziergängern, bunten Obstständen, Bussen, Taxis, glitzern den Autos, koscheren Geschäften, Kinoleuchtreklamen und all den zahl-losen Dingen, aus denen sich die glanzvolle Karnevalsstimmung einer Hauptverkehrsader im hochsommerlichen New York City zu-sammensetzt.

Der junge Mann, leger gekleidet in ein weißes Hemd ohne Kra-watte, ein abgetragenes grünes Garbardinejackett, schwarze Hosen und Mokassin-Schuhe, blieb vor einem Obststand stehen und mus-terte die Waren. In seiner schmalen Hand betrachtete er den Rest

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Augen. Sein Gebaren war allerdings eigenartig. Er war es gewohnt, den Kopf hoch zu halten, so dass er alles mit nach unten gerichte-tem Blick musterte, eine distanzierte Haltung, der eine hochmütige und unergründliche Neugier anhaftete.

So rauchte er auch seine Zigarre und beobachtete die auf dem Riverside Drive vorbeiflanierenden Fußgänger, äußerlich in Frieden mit der Welt. Doch er war pleite, und er wusste es; morgen würde er ohne einen Penny dastehen. Mit dem Hauch eines Lächelns, den er zustande brachte, indem er einen Mundwinkel anhob, versuchte er sich daran zu erinnern, wie er seine achthundert Dollar ausgegeben hatte.

Der gestrige Abend, so viel war ihm klar, hatte ihn seine letzten hundertfünfzig Dollar gekostet. Nach zwei Wochen Suff war er in einem billigen Hotel in Harlem endlich wieder nüchtern gewor-den; von dort, so entsann er sich, hatte er ein Taxi zu einem kleinen Restaurant in der Lenox Avenue genommen, in dem ausschließlich Spareribs serviert wurden. Dort hatte er dann diese süße kleine Farbige kennengelernt, die dem Kommunistischen Jugendverband angehörte. Er wusste noch, dass sie zusammen mit einem Taxi ins Greenwich Village hinuntergefahren waren, wo sie einen bestimm-ten Film sehen wollte ... War es nicht Citizen Kane gewesen? In einer Kneipe in der MacDougall Street hatte er sie dann aus den Augen verloren, als er sechs abgebrannten Matrosen von einem im Trocken-dock liegenden Zerstörer begegnete. Er wusste noch, dass er später mit ihnen in einem Taxi gesessen und dabei alle möglichen Lie-der gesungen hatte und bei Kelly's Stables in der 52nd Street aus-gestiegen und reingegangen war, um sich Roy Eldridge und Billie Holliday anzuhören. Einer der Matrosen, ein stämmiger, dunkelhaa-riger Sanitätsfähnrich, erzählte die ganze Zeit von Roy Eldridges Trompete und weshalb er allen Jazzmusikern zehn Jahre voraus sei, außer vielleicht zwei anderen, die montags bei Minton in Harlem jammten, irgendein Lester und Ben Webster; und dass Roy Eldridge wirklich ein phänomenaler Denker mit unendlich vielen musika-lischen Ideen sei. Dann waren sie alle zusammen zum Stork Club

gefahren, wo einer der Matrosen schon immer hingewollt hatte, wa-ren jedoch zu benebelt, um reingelassen zu werden, weshalb sie zu einem Dime-a-Dance-Schuppen gingen, wo er eine Rolle Tanzbons für die ganze Meute kaufte. Von dort waren sie zu einem Laden auf der East Side gefahren, wo ihnen die Puffmutter drei Literflaschen Scotch verkaufte, sich aber, als sie fertig waren, weigerte, sie dort schlafen zu lassen, und sie rauswarf. Allerdings hatten sie die Nase von dem Laden und den Mädchen sowieso voll, und so fuhren sie stadtaufwärts und in Richtung Westen, zu einem Hotel am Broad-way, wo er eine Doppelsuite bezahlte und sie den Scotch austranken und sich in die Sessel, auf die Erde und in die Betten hauten. Am Tag darauf war er dann spätnachmittags aufgewacht und fand drei der Matrosen ausgestreckt zwischen leeren Flaschen, Matrosenmüt-zen, Gläsern, Schuhen und Klamotten liegen. Die anderen drei wa-ren irgendwohin verschwunden, vielleicht auf der Suche nach Bro-mo-Seltzer oder Tomatensaft.

Dann hatte er sich, nach einer ausgiebigen Dusche, gemächlich in Schale geworfen und war, nachdem er den Schlüssel am Empfang abgegeben und den Hotelier gebeten hatte, seine schlummernden Kumpel nicht zu stören, gegangen.

Und so saß er hier, bis auf fünfzig Cent abgebrannt. Der letzte Abend hatte ihn, mit den ganzen Taxifahrten, Getränkerunden, Hotel- rechnungen, Frauen, Eintrittsgeldern und allem Drum und Dran, an die $ 150 gekostet; für ihn hatte das lustige Leben erst einmal ein Ende. Er lächelte bei der Erinnerung daran, wie komisch es gewesen war, als er ein paar Stunden zuvor auf dem Fußboden zwischen ei-nem Matrosen und einer leeren Scotchflasche aufgewacht war, mit einem seiner Mokassin-Schuhe am linken Fuß, während der andere im Bad auf dem Boden lag.

Den Zigarrenstummel wegwerfend, erhob er sich und überquerte den Riverside Drive. Als er wieder am Broadway war, ging er lang-sam stadtaufwärts, betrachtete mit ruhigen, neugierigen Blicken die kleinen Schuhgeschäfte, Radioreparaturwerkstätten, Drogerien, Zei-tungskioske und schwach beleuchteten Buchläden.

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Vor einem Obststand blieb er abrupt stehen; zu seinen Füßen miaute eine kleine Katze leise klagend zu ihm hinauf, das rosa Mäulchen wie eine herzförmige Knospe geöffnet. Der junge Mann bückte sich und hob die Katze auf. Es war ein niedliches kleines Kätzchen mit grau gestreiftem Fell und einem für sein Alter bemer-kenswert buschigen Schwanz.

»Hallo, Tiger«, grüßte er es und legte eine Hand unter seinen kleinen Kopf. »Wo wohnst du denn, he?«

Das Kätzchen miaute zur Antwort, und der zerbrechliche kleine Körper schnurrte in seiner Hand wie ein zartes Instrument. Mit dem Zeigefinger streichelte er das klitzekleine Köpfchen. Der Schä-del war so winzig, dass man ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hätte zerquetschen können. Er drückte seine Nasenspitze gegen das kleine Maul, bis das Kätzchen verspielt hineinbiss.

»Hah! Ein kleiner Tiger!«, lächelte er. Der Besitzer des Obststandes stand vor seinen Auslagen und ar-

rangierte sie um.»Ist das Ihre Katze?«, erkundigte sich der junge Mann und ging

mit dem Kätzchen zu ihm hinüber.Der Obstmann wandte ihm sein dunkelhäutiges Gesicht zu.»Ja, die Katze gehört meiner Frau.«»Sie war auf dem Bürgersteig«, sagte der junge Fremde. »Ein

kleines Kätzchen gehört nicht auf die Straße, da kommt's unter die Räder.«

Der Obstmann lächelte: »Da haben Sie recht; es muss aus der Wohnung ausgebüxt sein.« Der Mann blickte über den Obststand hin-weg hoch und rief: »Bella!«

Kurz darauf trat eine Frau ans Fenster und steckte den Kopf hin-aus: »Ja?«

»Deine Katze ist hier. Sie wär fast verloren gegangen«, rief der Mann.

»Puum-puum!«, gurrte die Frau, als sie das Kätzchen in den Hän-den des jungen Mannes erspähte. »Bring sie hoch, Charley, sonst passiert ihr auf der Straße noch was.«

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Der Mann lächelte wieder und nahm dem Fremden die Katze aus der Hand; ihre schwachen kleinen Krallen lösten sich nur ungern.

»Danke schön!«, trällerte die Frau von oben herab.Der junge Mann winkte mit der Hand.»Sie wissen ja, wie Frauen sind«, meinte der Obstverkäufer kum-

pelhaft, »sie lieben kleine Kätzchen ... sie lieben diese hilflosen Din-ger ohne Ende. Aber was Männer anbelangt, verstehen Sie, da hätten sie's gern brutal.«

Der Fremde lächelte dünn.»Hab ich recht?«, lachte der Mann, klopfte dem jungen Mann

auf den Rücken und kehrte, leise in sich hineinglucksend, mit der Katze in seinen Laden zurück.

»Schon möglich«, murmelte der junge Mann in sich hinein. »Wo-her zum Teufel soll ich das denn wissen?«

Er lief, mehr oder weniger ziellos, noch fünf Straßen weiter stadt-aufwärts, bis er, gleich neben dem Campus der Columbia Universi-ty, zu einer Kneipe kam, die gleichzeitig auch Cafeteria war. Er trat durch die Drehtür und setzte sich auf einen freien Hocker am Tresen.

Der Raum war voller Zechbrüder, die düstere Atmosphäre fiebrig von Rauch, Musik, Stimmen und der allgemeinen Unruhe, die jeder kennt, der seine Sommerabende gern in Kneipen verbringt. Der jun-ge Mann hatte sich schon fast entschlossen, wieder zu gehen, als sein Blick auf ein kaltes Glas Bier fiel, das der Barkeeper gerade vor einen anderen Gast hinstellte. Und so bestellte er sich auch eins. Er tauschte lange Blicke mit einem Mädchen namens Polly, die mit Freunden zusammen in einer Nische saß.

Ein paar Sekunden starrten die beiden sich auf die soeben be-schriebene Weise an; dann wandte sich der junge Mann mit salopper Vertraulichkeit an Polly: »Na, wo willst du denn hin?«

»Wo ich hin will?«, lachte Polly, »ich will nirgendwohin!«Doch noch während sie über die ungewöhnliche Frage des Frem-

den lachte, wunderte sie sich unwillkürlich über die besitzergrei-fende Art, die er sofort an den Tag gelegt hatte: einen Augenblick lang kam er ihr vor wie ein alter Freund, den sie schon seit vielen

Jahren vergessen und der sie jetzt zufällig getroffen und den vertrau-ten Umgang mit ihr sofort wieder aufgenommen hatte, als spiele die Zeit in seinem Denken keine Rolle. Doch sie war sich sicher, ihm noch nie begegnet zu sein. Also starrte sie ihn mit einigem Erstau-nen an und wartete auf seinen nächsten Zug.

Er tat nichts, wandte sich lediglich wieder seinem Bier zu und nahm einen nachdenklichen Schluck. Durch sein unlogisches Ver-halten verwirrt, saß Polly ein paar Minuten bloß da und beobachtete ihn. Scheinbar wollte er nur eins, nämlich sie fragen, wo sie hin-wolle. Was bildete er sich eigentlich ein? ... Ihn ging das überhaupt nichts an. Und trotzdem, warum hatte er sie behandelt, als kenne er sie schon ewig, als gehöre sie ihm schon seit jeher?

Mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln verließ Polly die Nische und trat neben den Fremden. Die Fragen, die ihre Freunde ihr nachrie-fen, ließ sie unbeantwortet; stattdessen sprach sie den jungen Mann mit der Neugier eines Kindes an.

»Wer bist du?«, fragte sie.»Wesley.«»Und weiter?«»Wesley Martin.«»Kenn ich dich von irgendwoher?«»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte er ruhig.»Und«, begann Polly, »warum hast du? ... Warum? ... Wie kannst

du ...?«»Wie kann ich was?«, lächelte Wesley Martin, einen Mundwinkel

hochziehend.»Ach verdammt!«, rief Polly und stampfte ungeduldig mit dem

Fuß auf. »Wer bist du denn nun?«Auf Wesleys Gesicht lag noch immer der Hauch eines belustigten

Lächelns: »Ich hab dir doch gesagt, wer ich bin.«»Das meine ich doch nicht! Pass auf, warum hast du mich gefragt,

wo ich hinwill? Das ist es, was ich wissen möchte.«»Nun?«»Nun, Herrgott nochmal, bring mich nicht auf die Palme – ich

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stelle hier die Fragen, nicht du!« Mittlerweile schrie Polly ihm ge-radezu ins Gesicht; das amüsierte Wesley, denn jetzt starrte er sie, die Augen weit aufgerissen, den Mund aufgesperrt, mit einer kons-tant anhaltenden Heiterkeit an, in der sich Ernst und Vergnügen die Waage hielten. Er schien drauf und dran, in schallendes Gelächter auszubrechen, tat es jedoch nicht; vielmehr starrte er sie bloß mit spitzbübischem Staunen an.

Als Polly beinahe so weit war, sich durch sein despektierliches Verhalten gekränkt zu fühlen, drückte ihr Wesley freundschaftlich den Arm und wandte sich wieder seinem Bier zu.

»Wo kommst du her?«, dränglte Polly.»Vermont«, murmelte Wesley, dessen Aufmerksamkeit den Ver-

richtungen des Barkeepers am Zapfhahn galt.»Und was machst du in New York?«»Ich bin an Land«, lautete die Antwort.»Was heißt das?« beharrte Polly mit ihrer kindlichen Neugier.»Wie heißt du?«, erkundigte sich Wesley, ihre Frage ignorierend.»Polly Anderson.«»Polly Anderson – Pretty Polly«, setzte Wesley hinzu.»Toller Spruch!« lächelte das Mädchen schief.»Was heißt das?«, lächelte Wesley. »Komm mir bloß nicht so ... Ihr tut alle so unschuldig, es ist wirk-

lich erbärmlich«, meinte Polly. »Willst du etwa sagen, dass die Män-ner in Vermont keine Sprüche auf Lager haben? Versuch bloß nicht, mir was vorzumachen, ich war da nämlich schon mal.«

Wesley wusste nichts zu erwidern; er durchsuchte seine Hosen-taschen und zog ein 25-Cent-Stück hervor.

»Willst'n Bier?«, bot er Polly an.»Klar – aber lass uns an meinem Tisch trinken; komm einfach

rüber und setz dich zu uns.«Wesley bezahlte die Biere und trug sie zu der Nische, wo Polly

gerade dabei war, eine neue Sitzordnung zu arrangieren. Als die beiden nebeneinander saßen, stellte Polly ihren neuen Freund kurz als »Wes« vor.

»Was machst'n so, Kumpel?«, fragte der mit Everhart angespro-chene Mann, der in der Ecke saß und Wesley durch seine Hornbrille verstohlen anstarrte.

Wesley warf dem, der ihn dort verhörte, einen kurzen Blick zu und zuckte die Schultern. Dieses Schweigen faszinierte Everhart; während die Runde wieder zu ihrer geschwätzigen Ausgelassenheit zurückfand, studierte er den Fremden ein paar Minuten lang; als Wesley einmal flüchtig zu Everhart hinübersah und merkte, dass dieser ihn durch seine unglaubliche Brille hindurch angaffte, ma-ßen sie sich mit kämpferischen Blicken, Wesleys kühl und zurück-haltend, Everharts eine bohrende Herausforderung, die Blicke eines unverfrorenen Skeptikers.

Mit fortgeschrittener Stunde wurden die Mädchen, und mehr noch George Day, äußerst laut; George, dessen seltsame Phantasie eine neue Blüte getrieben hatte, lachte jetzt mit schmerzverzerrter Grimasse; dann versuchte er, den Grund seiner Heiterkeit zu erklä-ren, doch jedes Mal, wenn er zu der Pointe der Geschichte kam, die ihn derart amüsierte, und im Begriff war, den anderen den Witz da-ran zu verraten, bekam er plötzlich einen Lachkrampf. Und der war ansteckend: die Mädchen kreischten, Everhart lachte in sich hinein, und Polly, den Kopf an Wesleys Schulter, konnte gar nicht mehr aufhören zu kichern.

Wesley seinerseits fand Georges Dilemma genauso lustig wie zu-vor Pollys Ungeduld, so dass er Ersteren jetzt mit offenem Mund und großen, erstaunten Augen anstarrte, ein Ausdruck der Belustigung, der so drollig war, dass er ihn allemal selbst gern gesehen hätte.

Im Grunde war Wesley nicht betrunken: er hatte inzwischen fünf Gläser Bier zu sich genommen und, seit er sich der Runde in der Nische angeschlossen hatte, fünf kleine Gläser Gin pur, die Everhart ihm gut gelaunt ausgegeben hatte. Doch die Atmosphäre in der Kneipe, der schwere Rauch und Geruch diverser Hochprozen-tiger und Biere, das Klappern und Klirren sowie das ständige, laute Hämmern der Musik aus dem Musikautomaten bewirkten, dass sich seine Sinne trübten, dass sie durch die langsamen, rauschhaften,

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exotischen Rhythmen in dumpfe Betäubung versetzt wurden. All dies zusammengenommen, und Wesley war dann doch so gut wie betrunken; normalerweise vertrug er viel mehr. Langsam spürte er ein Kribbeln in den Gliedern und merkte, dass sein Kopf biswei-len hin und her schwankte. Pollys Kopf wurde ihm schwer auf der Schulter. Wesley begann, sich, wie er es in betrunkenem oder zu-mindest fast betrunkenem Zustand zu tun pflegte, in ein Schweigen zu hüllen, das genauso stur war wie die Unerschütterlichkeit, die es begleitete. Folglich hörte er, während Everhart sprach, zu, zog es jedoch vor, sich dabei in ein völlig gleichgültiges Schweigen zu hüllen.

Everhart, jetzt ganz schön vollgetankt, konnte nur noch reden; und das tat er auch, obwohl sein Publikum mehr daran interessiert schien, eine lächerliche Art von Säuferwürde aufrechtzuerhalten. Niemand hörte ihm zu, außer Wesley auf seine indirekte Weise; eins der Mädchen war eingeschlafen.

»Was sage ich denn, wenn sie wissen wollen, was ich mit mei-nem Leben anfangen will?«, fragte Everhart mit großer Offenheit an alle gewandt. »Ich erzähle denen bloß, was ich nicht tun werde; was das Gegenteil betrifft, da weiß ich nichts, also sag ich auch nichts.«

Hastig trank Everhart seinen Drink aus und fuhr fort: »Alles, was ich übers Leben weiß, ist negativ: ich weiß, was falsch ist, aber ich weiß nicht, was gut ist ... Versteht mich nicht falsch, Kinder ... Ich will nicht sagen, dass es das Gute nicht gibt. Wisst ihr, für mich be-deutet ›gut‹ Vollkommenheit ...«

»Halt die Klappe, Everhart«, warf George betrunken ein.»... und ›böse‹ oder ›falsch‹ Unvollkommenheit. Meine Welt ist

unvollkommen, es gibt in ihr keine Vollkommenheit, und daher auch nichts wirklich Gutes. Und so beurteile ich die Dinge nach ihrer Unvollkommenheit, nach dem, was falsch an ihnen ist; auf dieser Grundlage kann ich sagen, was nicht gut ist, aber ich weigere mich, meine Zeit zu verschwenden an das, was angeblich gut ist ...«

Polly gähnte laut; Wesley zündete sich eine weitere Zigarette an.»Ich bin kein glücklicher Mensch«, bekannte Everhart, »aber ich

weiß, was ich tue. Wenn es um John Donne und den Barden geht, da weiß ich, was ich weiß; ich kann meinen Studenten klarmachen, was die beiden sagen wollen. Ich würde sogar so weit gehen zu sa-gen, dass ich Shakespeare verstehe, durch und durch – er war sich, genau wie ich, menschlicher Unvollkommenheiten bewusster, als allgemein angenommen wird. Über Othello sind wir uns einig, der, wäre da nicht seine angeborene Leichtgläubigkeit und Naivität, in Jago die Gehässigkeit einer harmlosen kleinen Termite, gleicher-maßen schwach und ohnmächtig wie belanglos, erkennen würde. Und Romeo mit seiner phantasiereichen Ungeduld! Und Hamlet! Unvollkommenheit, Unvollkommenheit! Das Gute gibt es nicht; es gibt keine Grundlage für das Gute, und keine Grundlage für mora-lische ...«

»Hör auf, mir die Ohren vollzublasen!«, unterbrach ihn George, »ich bin nicht einer von deinen dämlichen Studenten.«

»Blabla!«, setzte eins der Mädchen hinzu.»Ja!«, intonierte Everhart. »›Eine hohe Hoffnung auf einen niedrig-

hängenden Himmel‹! schrieb Shakespeare in Verlorene Liebesmü-he! Jawohl! Das ist es! Ein niedrighängender Himmel, und Men-schen mit hohen Hoffnungen ... Aber, Kinder, ich kann mich nicht beschweren: ich habe eine gute Stelle an der Universität, wie wir sie zu nennen belieben; und ich lebe mit meinem alten Vater und wilden jungen Bruder glücklich in einer komfortablen Wohnung; ich esse regelmäßig, ich schlafe gut; ich trinke genug Bier; ich lese Bücher und besuche zahllose kulturelle Veranstaltungen; und ich kenne ein paar Frauen ...«

»Ach, wirklich!«, rief George, der den Kopf zurücklehnte, um während des Monologs zu schlummern.

»Aber das ist alles nebensächlich«, stellte Everhart fest. »Heute zählt allein die Revolution des Proletariats, und wenn nicht die, dann etwas, was damit eng verbunden ist – der Sozialismus, der in-ternationale Antifaschismus. Revolten hat es schon immer gegeben, doch heute zeigen sie sich in voller Stärke. Wenn die Geschichte des auf diesen Krieg folgenden Friedens geschrieben wird, wird ein

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wahres Feuerwerk entfacht werden ... Es gibt zwei Definitionen des Nachkriegsfriedens: den guten Frieden und den vernünftigen Frie-den. Der vernünftige Frieden ist, wie wir alle wissen, der Frieden des Geschäftsmannes; aber natürlich will der Geschäftsmann einen vernünftigen Frieden, der auf den amerikanischen Traditionen ba-siert – er ist Geschäftsmann, er will Geschäfte machen! Das über-sehen die Radikalen: sie vergessen, dass der Geschäftsmann im gleichen Maße vom Geschäft abhängt wie die Radikalen von priva-ter Unterstützung ... Nimmt man beides weg, verschwinden die bei-den Klassen als Klassen. Der Geschäftsmann will auch leben – doch neigt er naturgemäß dazu, auf Kosten anderer zu leben, weshalb die Radikalen dem moralisch Falschen gegenüber keinesfalls blind sind. Was ich wissen möchte, ist Folgendes: wenn die Radikalen den öko-nomischen Liberalismus nicht befürworten oder das Laissez-faire oder privates Unternehmertum ...«

»Oder was immer du willst!«, ergänzte George.»Klar ... wenn das stimmt, was befürworten die Radikalen dann?

Natürlich eine Menge: ich respektiere es, dass sie das Falsche erken-nen, kann jedoch nicht das Gute sehen, das sie vor Augen haben – Zu-stände der Vollkommenheit, wie die jüngeren und verrückteren Ra-dikalen sie sich vorstellen. Die älteren jedoch, mit ihrer besonnenen Art, über ein Land zu reden, in dem ein Mann seine Arbeit verrich-ten und die Früchte dieser Arbeit genießen kann; wo er außerdem in kooperativer Sicherheit statt in wettbewerbsorientierter Hysterie leben kann – diese älteren Radikalen urteilen etwas differenzierter, obwohl ich immer noch bezweifle, dass sie wissen, was gut ist: sie wissen, genau wie ich, lediglich, was falsch ist. Ihre Träume sind wunderschön, aber unzulänglich und unwahrscheinlich, und vor allem gehen sie nicht weit genug.«

»Und warum?«, fragte Everhart sich selbst. »Weil die progressive Bewegung nicht den Geist berücksichtigt: es ist eine rein materialis-tische Bewegung, sie ist begrenzt. Sicher, eine Welt der wirtschaftli-chen Gleichheit und kooperativen Glückseligkeit kann bedeutende Dinge für den Geist fördern – kulturelle Erneuerungen, Renaissance –,

aber im Großen und Ganzen ist es eine materialistische Doktrin, und zwar eine kleinkarierte. Sie ist keinesfalls so visionär, wie die Marxisten glauben. Ich sage, geistige Bewegungen für den Geist! Und trotzdem, Genosse und Edelfrauen, wer kann den Sozialismus leugnen? Wer kann sich hinstellen und den Sozialismus als ein Übel bezeichnen, wenn man in den tiefsten Tiefen des Gewissens weiß, dass er moralisch wahr ist. Ist er jedoch etwas Gutes? Nein! Er ist nur eine Ablehnung, sagen wir mal, des Nicht-Guten ... und bis sich, in den Mühlen der Zeit, das Gegenteil herausstellt, so lange werde ich mich nicht für ihn begeistern, sondern lediglich mit ihm sympa-thisieren. So lange muss ich weitersuchen ...«

»Such nur weiter!«, rief George und fuchtelte dramatisch mit dem Arm.

»Und dabei werde ich frei sein: wird mir dabei die Freiheit ver-wehrt, so suche ich nicht weiter. Ich werde zu jeder Zeit um jeden Preis frei sein: der Geist gedeiht allein in denen, die frei sind.«

»Die Zeit schreitet voran!«, merkte Polly müde an. »Wisst ihr was?«, fragte Everhart.»Ja, ich weiß was!«, verkündete George.»Die Sozialisten werden für die Freiheit kämpfen, gewinnen

und die Friedensbedingungen diktieren – in diesem oder im nächs-ten Krieg, und wenn sie dann sterben, so nach einem Leben für die unantastbaren Rechte des Menschen. Ist der Weg erst einmal geeb-net, dann kommen die Humanisten, und diese Humanisten – große Wissenschaftler, Denker, Wissenssystematiker, Lehrer, Führer ... kurz, Baumeister, Handwerker, Bauunternehmer – werden, während der Zeit, in der kein Krieg herrscht, das Fundament legen für eine zu-künftige Welt, in der nie wieder Krieg herrscht. Die Humanisten wer-den sich ins Zeug legen und einem fabelhaften, endgültigen Men-schengeschlecht den Weg ebnen, das in einer Epoche auf die Erde kommen wird, der die Welt seit Jahrhunderten entgegenblutet, der Epoche des universellen Friedens und der universellen Kultur. Die-ses fabelhafte, endgültige und unumgängliche Menschengeschlecht wird nichts anderes zu tun haben, als kulturell tätig zu sein, sich

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in kreative Fragen zu versenken, zu essen, sich zu lieben, zu reisen, sich zu unterhalten, zu schlafen, zu träumen und in Plastik toiletten zu urinieren. Kurz, die großen Romantiker werden in voller Stärke angekommen sein, und es wird ihnen freistehen, sämtliche Aufga-ben der Menschheit zu erfüllen, frei von allen Sorgen außer der, dass die Engländer noch immer Shakespeare den Vorzug geben, während die ganze Welt Everhart liest!«

George blickte kurz unter dem Tisch hervor, wohin er sich auf der Suche nach einem verirrten 10-Cent-Stück begeben hatte: »Aber Bill, wieso hast du mir denn nicht erzählt, dass du Schriftsteller werden willst?«

Bill Everhart winkte lässig mit der Hand: »Meinst du nach alle-dem nicht, dass ich einen hervorragenden Schriftsteller abgäbe?«

George verzog das Gesicht: »Bleib beim Unterrichten. Ich glaube, du wärst ein lausiger Schriftsteller. Und außerdem, Everhart, bist du ein unverbesserlicher Schulmeister und eine akademische Nerven-säge und ein aufdringlicher, widerlicher kleiner Pedant.«

»Kurz, Bill«, setzte Polly mit einem trockenen Lächeln hinzu, »du bist ein fieser Hund.«

»Und obendrein noch ein Schaumschläger«, sagte George. »Ein schmollendes Stück Nippes auf dem Kaminsims der Ewigkeit«, mit sichtlichem Behagen durch die Nase schnaubend, »und ein Pickel im Antlitz der Wirklichkeit.«

Polly begann erneut zu kichern, den langen weißen Hals nach unten gestreckt, wodurch das feine Kettchen mit dem Kreuz, das sie trug, sichtbar wurde. Wesley blickte sie zärtlich an, drehte, die Hand auf ihren Nacken legend, ihr Gesicht zu sich und küsste ihre überraschten, geöffneten Lippen. Er stellte fest, dass sie, mit unver-hohlener Leidenschaft, sofort darauf reagierten. Polly lachte und vergrub ihr Gesicht in seinem Revers, ihr Pagenkopf ein üppiges braunes Kissen für seine sich anschmiegende Wange.

»Day, ich halte dich immer noch für einen Galgenvogel«, sagte Everhart anklagend.

»Herrgott noch mal, hört auf mit dem dummen Gequatsche! Ich

bin müde. Lasst uns gehen!« Diese Worte kamen von Eve, dem Mäd-chen, das eingeschlafen war. Gähnend wandte sich an ihre Freundin: »Bist du nicht müde, Ginger?«

Ginger, die sich, bis auf die gelegentlich mit ihrem Begleiter Everhart ausgetauschten Küsse, den Großteil des Abends in ein ge-langweiltes Schweigen gehüllt hatte, gähnte bejahend.

»Nee, Mensch! Wir wollten uns doch heute Abend voll laufen lassen«, protestierte Polly von Wesleys Schulter aus. »Wir haben noch überhaupt nichts getrunken!«

»Na, dann sollen die 'ne Flasche besorgen ... Ich will weg aus die-sem Laden, wir waren lange genug hier«, sagte Eve und zog einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche. »Auwei, ich seh ja scheußlich aus!«

»Du hast heute Abend nicht gerade viel gesagt, Kumpel«, meinte Ginger und lächelte Wesley neckisch zu. Sie wurde mit einem dün-nen, geschwungenen Lächeln belohnt.

»Ist er nicht süß!«, rief Polly entzückt.Wesley hob zum Spaß die Hand, als wollte er sie schlagen.»Wo willst du denn jetzt hin?«, fragte George Eve.»Ach, lass uns hochgehen. Wir können Platten spielen und

tanzen. Außerdem muss ich für morgen früh noch ein Paar Reyons waschen.«

»Ich dachte, die hast du heute Nachmittag schon gewaschen!«, sagte Ginger.

»Ich hab abgefangen, in einem True Story-Heft zu lesen, und sie dann völlig vergessen.«

»Schlafmütze!«»Lasst uns einen draufmachen!«, meinte Everhart und schlug

auf den Tisch. »Ich will bis zum Kragen voll sein.«»Bist du doch schon, Hosenmatz«, erwiderte Ginger. »Eve, wäschst

du meine Seidenstrümpfe mit, wenn du schon dabei bist ... Ich brauch sie morgen Abend.«

»Mach ich, wenn du dafür morgen bei Macy's meinen Toaster abholst.«

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»Oh, aber ich muss doch morgen Nachmittag von zwei bis vier Kleider vorführen«, hielt Ginger dagegen und wandte sich ihr ganz zu. Einige Augenblicke dachten sie beide nach, derweil George Day gähnte. »Aber du kannst ihn doch hinterher abholen!«, rief Eve.

Ginger überlegte einen Augenblick.»Von dir bis ins Zentrum sind's doch nur fünf Straßen«, steuerte

Polly bei, die sich zunehmend interessiert an den Angelegenheiten ihrer Welt zeigte.

»Aber ich muss mir doch meine Dauerwelle machen lassen, Polly«, erklärte Ginger mit einer Spur von Verzweiflung.

»Da hast du aber trotzdem noch Zeit.«»Sicher!«, pflichtete Polly ihr bei.Ginger saß in der Falle, und sie wusste es; sie saß in der Falle der

hartnäckigen weiblichen Logik, und zwar genauso sicher, wie sie in ihren starken Augenblicken andere in diese Falle gelockt hatte.

»Na gut, ich werd's schon schaffen«, gab sie widerstrebend nach. Zufrieden lehnten sich die beiden anderen Mädchen zurück.

Wesley, der die ganze Zeit zugesehen und zugehört hatte, wäh-rend die beiden anderen Männer in Gedanken verloren dasaßen, lehnte sich jetzt ebenfalls zufrieden zurück. Er betrachtete Polly und wunderte sich über sie: den ganzen Abend über hatte sie sich, seiner Ansicht nach, ausnehmend vernünftig benommen, doch jetzt hatte sie Farbe bekannt. Polly war eine Frau! Als er allerdings ihren Arm drückte und Polly daraufhin mit den Lippen über sein Kinn streifte, leise »Huh!« rief und ihn an der Nase zupfte, kam er zu dem Schluss, dass Frauen auch ihre guten Eigenschaften hatten.

»Wann gehen wir, und wohin?« meldete sich George zu Wort.»Zu uns«, sagte Eve und griff mit ihren langen, glänzenden Fin-

gern nach ihrer Handtasche. »Und einer von euch beiden besorgt noch 'ne Flasche.«

»Ich geh eine holen«, murmelte Everhart. »Herrgott, ich hol gleich zwei.«

»Gehen wir«, rief Polly.Auf der nächtlich kühlen Straße hängte sich Polly an Wesleys

Arm und machte Tanzschritte, während Everhart den Broadway über-querte und zu einem Spirituosenladen ging. Die anderen schwatzten und lachten durcheinander; alle gestanden einander ihre Trunken-heit, außer Wesley, der unschlüssig die Achseln zuckte; sie lachten.

Auf dem Weg zu Eves und Gingers Wohnung waren sie alle äu-ßerst heiter und marschierten zu sechs nebeneinander die Straße entlang, während Everhart die Marseillaise sang. In der Nähe einer Seitengasse ließ Day den ganzen Trupp anhalten und stieß mit einer der beiden Flaschen auf ihre Gesundheit an. Alle folgten seinem Beispiel, wobei Wesley die Flasche nur einmal ansetzte und dann sicher einen halben Liter Whisky hinunterkippte.

»Bist wohl aus Tennessee?«, fragte Ginger gedehnt, während die anderen staunend kicherten.

»In keinster Weise, Mädchen!«, antwortete Wesley mit einem ver-legenen Lächeln.

Sie lachten gröhlend und gingen weiter die Straße entlang. Von da an wusste Wesley nur noch drei Dinge: dass er noch zwei weitere riesige Schlucke aus der Flasche trank; dass es Nacht und er in New York war, denn sie liefen die ganze Zeit durch eine tiefe Schlucht, zwischen hohen, mit Simsen verzierten Gebäuden hindurch, die sich wie wahnsinnig zur Seite neigten, und die Sterne nickten, von alle-dem sehr weit weg, unnahbar und kühl dort oben über ihren Köpfen, und stocknüchtern; und schließlich, dass er, als sie die Eingangs-treppe zu der Wohnung hinaufstiegen, feststellte, dass er eine leere Whiskyflasche in der Hand hielt, weshalb er sich umdrehte und sie weit auf die leere Straße hinunterschleuderte, und als das Glas zer-barst und die Mädchen kreischten, hätte er ihnen am liebsten gesagt, dass er genau das von ihrem Gerede den ganzen Abend über hielt.

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Jack Kerouac, 1922 geboren, gründete Ende der 30er-Jahre die literarische Gruppe »The Young Prometheans«, in der er u.a. mit seinem Freund Sebastian Sampas unterschiedliche Themen aus Literatur und Kunst diskutierte. 1942 trat Kerouac in die U.S. Navy ein, und bis zu Sampas Tod 1944 unterhielten die beiden einen regen Briefwechsel, in dem Kerouac Auskunft über sein Arbeit gab, vor allem über „The Sea is my Brother“, sein erstes größeres literarisches Werk.

Bisher noch unveröffentlicht, ist diese Erzählung ein zu entdeckendes Juwel. Inspiriert von den Erlebnissen bei der Marine, enthält sie viele Elemente, die dann Kerouacs späteres Werk unverwechselbar machen. Der Autor findet hier zu seinem individuellen, unverwechselbaren Stil.

Über 50 zeitgenössische Meister-Fotografien (Margaret Bourke-White, Cornell Capa,Henri Cartier-Bresson, Alfred Eisenstaedt, Elliot Erwitt, Andreas Feininger, Dorothea Lange, Carl Maydans, Weegee) machen diesen Band zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis.

Jack KerouacMein Bruder, die See

Übersetzt von Michael Mundhenkca. 208 Seiten, Hardcover mit Fadenheftung, gedruckt in Duotone, geprägter Einband, Format 22 × 30 cm€ 39,95 (D) / € 41,10 (A)ISBN 978-3-941378-80-3WG: 1954Auslieferung am 03.März 2011