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Ein Campus – zwei Welten Text Stefan Rettich und Dieter Hennicken verhandlungen zwischen SPD und FDP diskutiert und die Empfehlung für einen innerstädtischen Campus in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde. Der politische Grundstein für den Campus am Holländischen Platz war gelegt. Auf dem Areal an der Schnittstelle zwischen der Kasseler Innenstadt und der Nordstadt wurde zuvor Industriegeschichte geschrieben. Das Fa- milienunternehmen Henschel & Sohn hatte sich ausgehend von einer Gieße- rei zu einem Maschinen- und Fahrzeugbaukonzern von internationaler Bedeutung entwickelt. Nach Umwandlung in eine AG und weiterer Fusionen wurde das Stammwerk am Holländischen Platz 1972 stillgelegt und eine universitäre Nachnutzung ab 1977 möglich. Es sollte ein Zeichen für die jun- ge Gesamthochschule gesetzt werden. Bei dem 1977 ausgelobten offe- nen städtebaulichen Ideenwettbewerb wurden mit Ausnahme des histori- schen Gießhauses und des ehemaligen Verwaltungsgebäudes K10 (K steht für den Standort Kassel) in das in der Zwischenzeit der Fachbereich Archi- tektur, Stadtplanung und Landschaftsarchitektur (ASL) eingezogen war, alle Gebäude zur Disposition gestellt, auch die mächtigen Produktionshallen. Wie eine zu heiß gewaschene italienische Kleinstadt Den Zuschlag erhielten die Architekten Lutz Kandel und Horst Höfler mit einem Paradoxon: Ihr Vorschlag eines postmodernen „Hochschuldorfes“ und die Idee städtebaulich wieder an Historie und Tradition anzuschlie- ßen, bedeutete zugleich, dass die konkrete Geschichte der Henschel-Wer- ke entsorgt werden musste. Auf fast quadratischem Grundriss entwickel- ten sie eine städtebauliche Figur, die durch eine diagonale Achse geteilt ist, an der sich alle zentralen Funktionen aufreihen. Östlich die Hochschul- bibliothek als kleinteilig gegliedertes Großvolumen. Westlich zwei Hörsaal- zentren und Hofanlagen mit Instituten und Seminarräumen für die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften – passend dazu, Backsteinarchitektur mit weißen Sprossenfenstern und Wohnbauten mit Putzfassade. Nicht über- zeugend war schon in der Planung der nördliche Abschluss. Dort, wo sich die Zentralmensa befindet verliert sich die Diagonale im Naturraum. Am Fachbereich ASL stieß das Konzept nicht auf Gegenliebe und es wur- den Alternativen mit dem Erhalt der alten Henschelhallen gezeichnet, was zu einer existentiellen Krise in der Gründungsphase führte. Denn die Fragt man nach Kassel, bekommt man graue Antworten: Hessisch Sibirien, triste Nachkriegsarchitektur und ein Bahnhof weit draußen, durch den man oft fährt, aber ungern aussteigt. Doch die Regiopole Kassel hat sich zu einem bedeutenden Kunst- und Kulturstandort entwickelt, nicht zu- letzt im Zuge des Aufstiegs der documenta. Die Straßen in der Innenstadt sind zwar immer noch zugig und autogerecht ausgebaut, aber an inner- städtischen und landschaftlich reizvollen Stellen hat sich über die Jahr- zehnte vom Bergpark Wilhelmshöhe, der seit 2013 zum UNESCO Weltkul- turerbe gehört, bis zur Grimmwelt eine kulturelle Perlenkette entwickelt. In diese Kulturgeschichte reiht sich auch die junge Hochschullandschaft von Kassel ein. Die 1971 gegründete Gesamthochschule und heutige Uni- versität Kassel startete mit 3000 Studenten in den Lehrbetrieb, heute sind es 25.000. Für Kassel, damals in Zonenrandlage, eine wichtige Struktur- förderung und Frischzellenkur für den anstehenden Wandel im industriel- len Sektor. Die Neugründung war kein Kaltstart. Man konnte auf zahlrei- che höhere Bildungsanstalten aufbauen, wie die Hochschule für bildende Künste, die staatlichen Ingenieurschulen sowie höhere Fachschulen für Sozialpädagogik, Pädagogik und Musik. Deshalb unterhält die Universität bis heute eine Reihe dezentraler Standorte. Der prominenteste ist die Kunsthochschule oberhalb der Karlsaue, ein brutalistischer Bau von Paul Friedrich Posenske aus dem Jahr 1969. Typisch für den Zeitgeist war als Hauptstandort ein Campus am Stadt- rand geplant. Im süd-westlich gelegenen Stadtteil Oberzwehren war Platz, und es gab ein Zementwerk, das für den Bau einer kurz zuvor fertig ge- stellten Großwohnsiedlung errichtet worden war. Im besten Sinne fordisti- scher Raumproduktion erschien es billig, daran anzuknüpfen, um mög- lichst schnell die dringend erforderlichen Räume für die junge Hochschule bereit zustellen. Tatsächlich wurde unmittelbar nach Gründung mit dem Bau begonnen. Bis heute sind dort der forschungsintensive Fachbereich Mathematik und die Naturwissenschaften untergebracht. Zu dieser Zeit waren am Fachbereich Architektur mit Gernot Minke oder Lucius Burckhardt einige Querdenker berufen, die dem modernistischen Planen und Bauen kritisch gegenüberstanden. Unter Klaus Pfromm, da- mals Professor für Stadt- und Regionalplanung, wurde vom Fachbereich ein Standortgutachten eingereicht, der 1974 in den hessischen Koalitions- Die Universität Kassel erweitert auf beinahe neun Hektar ihren Campus – innerstäd- tisch. Wie sieht das räumliche Scharnier zwischen postmodernem Hochschuldorf und silbernen Polygonen aus? Bauwelt 26.2018 54 THEMA StadtBauwelt 220 55 THEMA Die Universität Kassel baut. Luftaufnahme von 2014. Inzwischen wurden das Lern- café und der ASL-Neubau fertiggestellt. Der Baubeginn für die Naturwissenschaf- ten ist 2023. Foto: Alia Diana Shuaiber 1 Hörsaalzentrum I (1980er) 2 Technik III (1995) 3 Geistes- und Kulturwis- senschaften (2004–2011) 4 Bibliothek (1980er) 5 Mensa (1986 mit Erweite- rung von 2013) 6 Campus Center (2015) 7 Lerncafé LEO (2016) 8 Studentenwohnheim und Kita (2014) 9 ASL-Neubau (2015) 10 Fachgebiet ASL (Umbauten ab 1990er) 11 Science Park (2015) 12 Kopfbauten (1910, Fertig stellung Umbau 2019) 13 Grundstück Naturwissen- schaften (ab 2023) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Ein Campus – zwei Welten · Ein Campus – zwei Welten Text Stefan Rettich und Dieter Hennicken verhandlungen zwischen SPD und FDP diskutiert und die Empfehlung für einen innerstädtischen

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Page 1: Ein Campus – zwei Welten · Ein Campus – zwei Welten Text Stefan Rettich und Dieter Hennicken verhandlungen zwischen SPD und FDP diskutiert und die Empfehlung für einen innerstädtischen

Ein Campus – zwei WeltenText Stefan Rettich und Dieter Hennicken

verhandlungen zwischen SPD und FDP diskutiert und die Empfehlung für einen innerstädtischen Campus in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde. Der politische Grundstein für den Campus am Holländischen Platz war gelegt.

Auf dem Areal an der Schnittstelle zwischen der Kasseler Innenstadt und der Nordstadt wurde zuvor Industriegeschichte geschrieben. Das Fa-milienunternehmen Henschel & Sohn hatte sich ausgehend von einer Gieße-rei zu einem Maschinen- und Fahrzeugbaukonzern von internationaler Bedeutung entwickelt. Nach Umwandlung in eine AG und weiterer Fusionen wurde das Stammwerk am Holländischen Platz 1972 stillgelegt und eine universitäre Nachnutzung ab 1977 möglich. Es sollte ein Zeichen für die jun-ge Gesamthochschule gesetzt werden. Bei dem 1977 ausgelobten offe-nen städtebaulichen Ideenwettbewerb wurden mit Ausnahme des histori-schen Gießhauses und des ehemaligen Verwaltungsgebäudes K10 (K steht für den Standort Kassel) in das in der Zwischenzeit der Fachbereich Archi-tektur, Stadtplanung und Landschaftsarchitektur (ASL) eingezogen war, alle Gebäude zur Disposition gestellt, auch die mächtigen Produktionshallen.

Wie eine zu heiß gewaschene italienische KleinstadtDen Zuschlag erhielten die Architekten Lutz Kandel und Horst Höfler mit einem Paradoxon: Ihr Vorschlag eines postmodernen „Hochschuldorfes“ und die Idee städtebaulich wieder an Historie und Tradition anzuschlie-ßen, bedeutete zugleich, dass die konkrete Geschichte der Henschel-Wer-ke entsorgt werden musste. Auf fast quadratischem Grundriss entwickel -ten sie eine städtebauliche Figur, die durch eine diagonale Achse geteilt ist, an der sich alle zentralen Funktionen aufreihen. Östlich die Hochschul-bibliothek als kleinteilig gegliedertes Großvolumen. Westlich zwei Hörsaal-zentren und Hofanlagen mit Instituten und Seminarräumen für die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften – passend dazu, Backsteinarchitektur mit weißen Sprossenfenstern und Wohnbauten mit Putzfassade. Nicht über-zeugend war schon in der Planung der nördliche Abschluss. Dort, wo sich die Zentralmensa befindet verliert sich die Diagonale im Naturraum.

Am Fachbereich ASL stieß das Konzept nicht auf Gegenliebe und es wur-den Alternativen mit dem Erhalt der alten Henschelhallen gezeichnet, was zu einer existentiellen Krise in der Gründungsphase führte. Denn die

Fragt man nach Kassel, bekommt man graue Antworten: Hessisch Sibirien, triste Nachkriegsarchitektur und ein Bahnhof weit draußen, durch den man oft fährt, aber ungern aussteigt. Doch die Regiopole Kassel hat sich zu einem bedeutenden Kunst- und Kulturstandort entwickelt, nicht zu-letzt im Zuge des Aufstiegs der documenta. Die Straßen in der Innenstadt sind zwar immer noch zugig und autogerecht ausgebaut, aber an inner-städtischen und landschaftlich reizvollen Stellen hat sich über die Jahr-zehnte vom Bergpark Wilhelmshöhe, der seit 2013 zum UNESCO Weltkul-turerbe gehört, bis zur Grimmwelt eine kulturelle Perlenkette entwickelt.

In diese Kulturgeschichte reiht sich auch die junge Hochschullandschaft von Kassel ein. Die 1971 gegründete Gesamthochschule und heutige Uni-versität Kassel startete mit 3000 Studenten in den Lehrbetrieb, heute sind es 25.000. Für Kassel, damals in Zonenrandlage, eine wichtige Struktur-förderung und Frischzellenkur für den anstehenden Wandel im industriel-len Sektor. Die Neugründung war kein Kaltstart. Man konnte auf zahlrei-che höhere Bildungsanstalten aufbauen, wie die Hochschule für bildende Künste, die staatlichen Ingenieurschulen sowie höhere Fachschulen für Sozialpädagogik, Pädagogik und Musik. Deshalb unterhält die Universität bis heute eine Reihe dezentraler Standorte. Der prominenteste ist die Kunsthochschule oberhalb der Karlsaue, ein brutalistischer Bau von Paul Friedrich Posenske aus dem Jahr 1969.

Typisch für den Zeitgeist war als Hauptstandort ein Campus am Stadt-rand geplant. Im süd-westlich gelegenen Stadtteil Oberzwehren war Platz, und es gab ein Zementwerk, das für den Bau einer kurz zuvor fertig ge-stellten Großwohnsiedlung errichtet worden war. Im besten Sinne fordisti-scher Raumproduktion erschien es billig, daran anzuknüpfen, um mög-lichst schnell die dringend erforderlichen Räume für die junge Hochschule bereit zustellen. Tatsächlich wurde unmittelbar nach Gründung mit dem Bau begonnen. Bis heute sind dort der forschungsintensive Fachbereich Mathematik und die Naturwissenschaften untergebracht.

Zu dieser Zeit waren am Fachbereich Architektur mit Gernot Minke oder Lucius Burckhardt einige Querdenker berufen, die dem modernistischen Planen und Bauen kritisch gegenüberstanden. Unter Klaus Pfromm, da-mals Professor für Stadt- und Regionalplanung, wurde vom Fachbereich ein Standortgutachten eingereicht, der 1974 in den hessischen Koalitions-

Die Universität Kassel erweitert auf beinahe neun Hektar ihren Campus – innerstäd-tisch. Wie sieht das räumliche Scharnier zwischen postmodernem Hochschuldorf und silbernen Polygonen aus?

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Die Universität Kassel baut. Luftaufnahme von 2014. Inzwischen wurden das Lern-café und der ASL-Neubau fertiggestellt. Der Baubeginn für die Naturwissenschaf -ten ist 2023.Foto: Alia Diana Shuaiber

1 Hörsaalzentrum I (1980er)

2 Technik III (1995)

3 Geistes- und Kulturwis- senschaften (2004–2011)

4 Bibliothek (1980er)

5 Mensa (1986 mit Erweite- rung von 2013)

6 Campus Center (2015)

7 Lerncafé LEO (2016)

8 Studentenwohnheim und Kita (2014)

9 ASL-Neubau (2015)

10 Fachgebiet ASL (Umbauten ab 1990er)

1 1 Science Park (2015)

12 Kopfbauten (1910, Fertig stellung Umbau 2019)

13 Grundstück Naturwissen- schaften (ab 2023)

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Hochschulleitung beauftragte, um Planungssicherheit zu schaffen, ein Abrissunternehmen. Tatsächlich wurden über Nacht „alle, aber wirklich alle Gebäude gerade mal soviel demoliert, dass sie nun endgültig nicht mehr zu retten waren. Was für ein deprimierendes Bild!“ erinnert sich Mike Wilkens, Mitgründer der Kasseler Baufrösche. Und der ehemalige Kanzler schreibt in seinen Memoiren, dass für die Abbrucharbeiten Poli-zeischutz erforderlich war und sich die Wut der Studenten auch gegen die Hochschulleitung richtete: „Die Dienstzimmer von Präsident und Kanzler wurden überfallartig von Studenten besetzt und wir mussten stundenlang diskutieren, um den angehenden Architekten klarzumachen, dass auch die Hochschulleitung an die Ergebnisse des vom Land ausgelobten Wett-bewerbs (...) gebunden war.“

Selbst nach der Fertigstellung ebbte der Haltungsstreit nicht ab, auch nicht bei ergänzenden Bauten. Eine Gegenposition wurde 1995 mit dem 165 Meter langen technoiden Alu-Riegel „Technik III“ von Kurt Ackermann realisiert – als Sichtblockade auf die beschauliche Postmoderne dahin -ter. Unter lokalen Architekten spricht man bis heute von „Schlumpfhausen“, denn die Proportionen stimmen nicht. Man hat den Eindruck man läuft durch eine italienische Kleinstadt, die zu heiß gewaschen wurde. Doch die Kleinteiligkeit im Konzept hat zu Aneignungen der Höfe und zu dezentra-

len Cafés geführt. Man kommt nicht umhin, die Studenten mögen ihren Campus, die Diagonale bündelt die Ströme und ist über den Tag hinweg belebt. Erst ab 18 Uhr fällt auch dieser Campus in den Schlaf. Die wenigen gewerblichen Flächen und Wohnungen für 150 Studenten schaffen keine ausreichende Funktionsmischung und kein durchgängig urbanes Flair.

Bewusster KontrastIn der Rückschau zeigt sich – Paradigmenwechsel brauchen Zeit. Es be-durfte erst die IBA Emscher Park, um den Wert von Industriekultur zu er-kennen und im Mainstream der Stadtplanung zu verankern. In Kassel hat man durch den Kahlschlag früher als anderswo zu einem differenzierten Umgang mit historischen Industriebauten gefunden, insbesondere bei der in den 1990er Jahren einsetzenden Erweiterung auf das nördlich gelegene Gottschalkgelände. Von der klassischen Sanierung über die Schattner-Fuge bis hin zur Komplettüberformung wurden unterschiedlichste Konzepte umgesetzt. Mittlerweile wird die Postmoderne selbst historisch und steht vor dem Umbau. Die Mensa von 1986 wurde 2013 von den Architekten Au-gustin und Frank erweitert (Bauwelt 22.2013).

Für die Erweiterung der Universität auf dem etwa 8,5 Hektar große Gott-schalkgelände, das unmittelbar nördlich anschließt, wurde 2009 ein Ideen-

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Alt und neu stehen sich ge- genüber. Oben: die Mensa-erweiterung von Augustin und Frank. Linke Seite: Das Campus Center von raumzeit am Lucius-Burck-hardt-Platz.Fotos: René Graf

Laubengänge, Brücken und viele verschachtelte Wege, die an Seminarräumen vor-beiführen und einem das Gefühl geben, den dort statt-findenden Unterricht zu stören, führten zum Spitzna-men „Schlumpfhausen“.

und Realisierungswettbewerb ausgelobt (Bauwelt 4.2009). Hauptanliegen war dabei den Fachbereich Mathematik und Naturwissenschaften auf den innerstädtischen Campus zu holen und die studentische Infrastruktur auf die heutigen Erfordernisse anzupassen. Als Sieger ging das Berliner Büro raumzeit mit K1 Landschaftsarchitekten hervor, die neben dem Masterplan auch mit dem Bau eines neuen Hörsaalzentrums (Bauwelt 40.2015) und dem ASL-Neubau sowie mit der Umsetzung der Freiraumgestaltung beauf-tragt wurden. Die Aufgabe war komplex, galt es doch verschiedene denk-malgeschützte Hallen, aber auch Fragmente privater Blockrandbebauung in die Planung zu integrieren und schließlich ein räumlich überzeugendes Scharnier zum „Süd-Campus“ herzustellen.

Die Raumwirkung der beiden Campi könnte unterschiedlicher nicht sein und doch gibt es auch auf dem Campus Nord eine zentrale, lineare Zone – ein Nord-Süd-Boulevard als Raumfolge sich verjüngender und erweitern-der Platzfolgen. Was beide Raumlogiken zudem verbindet, ist, dass sie nicht additiv agieren, sondern auf ein differenziertes, vernetztes Freiraum-system setzen. Nur ist die Raumbildung jetzt weniger formal, lässt mehr Spielraum bei der Entwicklung, ist aber an entscheidenden Stellen präziser: An einer durch Gebäude gefassten Engstelle ist eine große Freitreppe angelegt, die die beiden Hauptebenen verbindet und dies räumlich insze-

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niert. Die Baukörper, die topografisch geschickt auf drei Plateaus angeord-net sind, unterstützen die räumliche Wirkung durch polygonale Ausfor-mung. Es gibt ein umfangreiches Gestalthandbuch, das diese sowie vor-gegebene Farbfamilien für einzelne Teilbereiche aufführt, was bereits durch Leitbauten manifestiert wurde. Sie werden bewusst in Kontrast zu den Bestandsbauten gesetzt, die als „urbane Merkzeichen“ aufgefasst und materiell wie typologisch als Alleinstellungsmerkmale hervorgehoben werden sollen.

Ein weiterer übergeordneter Aspekt ist die konzentrierte und verdich-tete Bebauung an der westlichen Seite des Areals. Sie gibt Raum für ei-nen Grünzug auf der Ostseite entlang der Ahna, ein kleiner Zufluss der Fulda, der den Kasseler Norden bis hinunter – durch den Süd-Campus – an den Rand der Innenstadt heranführt. An dieser Schnittstelle zum Park sind die Naturwissenschaften angeordnet. Leider müssen sich die Naturwissen-schaftler noch etwas gedulden, bis der Umzug aus Oberzwehren Realität wird. Für den ersten Baustein (Physik) ist der Baubeginn für 2023 geplant.

Die Studenten profitieren: Das lange, schmale Wohnheim mit integrierter Kindertagesstätte bietet zusätzliche Wohnungen in zentraler Lage, mit „LEO“ ist ein gelungener Hybrid aus Café und Lernlandschaft entstanden,

Ein Campus im Campus: Hinter dem ASL-Neubau (oben) befinden sich wei -tere Bauten, die zum Fach-gebiet Architektur und Stadtplanung gehören, wie das „Fachwerkhaus“, „Kolbenseeger“ (links), Ha-feka, Torhaus A und B.Foto oben: Werner Huthma-cher, links: René Graf

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mit dem Studierendenhaus, das gerade in den Kopfbauten der Gottschalk-Werke entsteht, erhalten die Studentenvertretungen ein eigenes klei -nes Reich – entworfen und geplant von Architekturstudenten des Fachbe-reichs ASL.

Mehrere Altbauten, die sich jetzt um einen kleinen Platz versammeln, bil-den gemeinsam mit dem Neubau für Architekten und Stadtplaner einen Campus im Campus. Als bislang letzter Baustein wurde ein Torhaus in die-sem Jahr bezogen, das in der Hauptsache studentische Arbeitsräume aufnimmt. Wenn dann noch die für das kommende Jahr geplante Inbetrieb-nahme der alten Gottschalk Produktionshalle erfolgt, dann stellt sich ein, für was die Studenten des Fachbereichs vor vierzig Jahren gestritten ha-ben: Studieren und Arbeiten in alten Industriehallen.

Zusammenprall der PlanungskulturenWas in Städtebau und Architektur aufgeht, löst sich leider in der Freiraum-gestaltung nicht ein. Es zeigen sich zwar Aneignungsprozesse aber diese sind keine zeitgemäße Antworten. Auch sind die Übergänge zu den histori-schen Altbauten plump, zu hohe Mauern sperren diese regelrecht aus dem öffentlichen Raum aus – und das an einer Universität, an der eine kritische

Freiraumplanung gepflegt wird. Am Übergang zum alten Campus sind die Planungskulturen aufeinandergeprallt, als über Nacht die informelle Frei-raummöblierung abgeräumt und Fakten für die Neugestaltung geschaffen wurde. Jetzt ist die Fläche ein unansehnlicher Hybrid (S. 56), der nieman-den richtig zufriedenstellt, vor allem kann er gestalterisch nicht zwischen altem und neuem Campus vermitteln. Auch das dort neu gebaute Hör-saalzentrum (Bauwelt 40.2015) kann die wichtige Scharnierfunktion nicht erfüllen, die an dieser Stelle nötig wäre. Hier liegt es weniger an der neu -en Freiraumgestaltung, sondern an dem Malus des alten Campus, dessen Achse ins Leere läuft. Nur durch bauliche Eingriffe in das alte Hörsaalzent-rum hätte sich dies reparieren lassen.

Die Übergänge – nicht nur zwischen alt und neu – sondern vor allem in den städtischen Kontext, ist eine weitere Zukunftsaufgabe, denn die Uni-versität ist trotz ihrer zentralen Lage immer noch schlecht mit den umge-benden Quartieren verknüpft. Das mag sich mit dem Städtebau von raum-zeit ändern, der auf Vernetzung angelegt ist und unzählige Zugänge auf den Campus bietet. Eine weitere Option eröffnet sich nun am Holländi-schen Platz: Im Herbst wurde entschieden, hier das geplante documenta-Institut anzusiedeln. Was für eine Chance.

Die Campuserweiterung erstreckt sich über zwei Plateaus. Die weiten Plätze stehen im Kontrast zum alten Campus. Links im Bild das Studentenwohnheim.Fotos: Thomas Wolf

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