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Urtümliche Landschaften und ein Junge mit großen Augen: Der Berlinale-Siegerfilm „Bal - Honig“ kommt jetzt ins Stadtkino. Anlass für eine Reise zu den Drehorten. katja nicodemus D en Spuren eines Films zu folgen heißt, den Bil- dern im eigenen Kopf hinterher zu reisen. Heißt, sich an einen Ort zu begeben, von dem man schon verführt ist, ohne ihn wirklich gesehen zu haben. Verführt ist man von der zeitlosen, verwunschenen Stimmung in Semih Kaplanoğlus Bal - Honig. Der Film, der in diesem Jahr den Goldenen Bären der Berlinale gewann und ab 3. September im Wiener Stadtkino gezeigt wird, spielt in der abgelegenen Region des türkischen Kaçkar-Gebirges. Er handelt von der innigen, wortlosen Liebe eines kleinen Sohnes zu seinem Vater, einem Bienenzüchter. Und er erzählt in urtümlicher Landschaft eine große Geschichte von Leben und Lernen, Kindheit und Vergänglichkeit. Mit den Augen des kleinen Helden Yusuf entdeckt, man karge Hochalmen und tiefgrüne Wälder, blickt in Täler, auf deren Grund sich wilde Bäche hinabstürzen. Es ist eine Natur, in deren selbstvergessene Ma- jestät man eintreten möchte. Wer auf dem Weg zu diesen Bildern das Flugzeug besteigt und in der nordanatolischen Großstadt Trabzon wieder ausgespuckt wird, findet sich zunächst in einem völlig anderen Film. Ein brutales Schnellstraßensystem zerschneidet die Schwarzmeer- küste. Die ehemals christliche Kaiserstadt Trapezunt kauert wie ein graues Betonmonster am Meer. Und das Leben geht selt- same Wege in dieser Hafenmetropole mit ihren 1,4 Millionen Einwohnern. Ein Hafen ist Trabzon heute vor allem für russische, ukrai- nische und georgische Prostituierte, im türkischen Volksmund Nataschas genannt. Und für ihre anatolischen Freier, die aus dem Hinterland zu Tausenden in die unzähligen Stundenho- tels strömen. Man begegnet den durchweg blondierten Frauen überall. Sie umlagern die Pools der teureren Hotels. Sie warten auf Kundschaft in Restaurants mit russischen Namen und rus- sischen Menüs. Sie stehen am Straßenrand und an den Sammel- Inhalt Schlingensief, revisited 7 Filme von Christoph S. im Stadtkino - Nachruf,Vorschau. 4/5/6 Moullet im O-Ton Ein Interview über „La terre de la folie“ 9 „Koma“-Kino Begegnung mit dem Regisseur Ludwig Wüst 10 Zulassungsnummer GZ 02Z031555 Verlagspostamt 1150 Wien / P.b.b. Ein Wald für sich. Fortsetzung auf Seite 2 » das kommunale kino Wiens, schwarzenbergplatz 7-8, 1030 Wien september 10 | #482 Semih Kaplanoğlu, Bal - Honig, ab 3. September 2010 im Stadtkino Luc Moullet, La terre de la folie, ab 3. September 2010 im Filmhaus Kino In memoriam Christoph Schlingensief, ab17. September 2010 im Stadtkino Ludwig Wüst, Koma ab 17. September 2010 im Filmhaus Kino Renzo Martens, Enjoy Poverty ab 17. September 2010 im Filmhaus Kino

Ein Wald für sich

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Page 1: Ein Wald für sich

Urtümliche Landschaften und ein Junge mit großen Augen: Der Berlinale-Siegerfilm „Bal - Honig“ kommt jetzt ins Stadtkino. Anlass für eine Reise zu den Drehorten. katja nicodemus

Den Spuren eines Films zu folgen heißt, den Bil-dern im eigenen Kopf hinterher zu reisen. Heißt, sich an einen Ort zu begeben, von dem man schon

verführt ist, ohne ihn wirklich gesehen zu haben. Verführt ist man von der zeitlosen, verwunschenen Stimmung in Semih Kaplanoğlus Bal - Honig. Der Film, der in diesem Jahr den Goldenen Bären der Berlinale gewann und ab 3. September im Wiener Stadtkino gezeigt wird, spielt in der abgelegenen Region des türkischen Kaçkar-Gebirges. Er handelt von der innigen, wortlosen Liebe eines kleinen Sohnes zu seinem Vater, einem Bienenzüchter. Und er erzählt in urtümlicher Landschaft eine große Geschichte von Leben und Lernen, Kindheit und Vergänglichkeit. Mit den Augen des kleinen Helden Yusuf entdeckt, man karge Hochalmen und tiefgrüne Wälder, blickt in Täler, auf deren Grund sich wilde Bäche hinabstürzen. Es ist eine Natur, in deren selbstvergessene Ma-jestät man eintreten möchte.

Wer auf dem Weg zu diesen Bildern das Flugzeug besteigt und in der nordanatolischen Großstadt Trabzon wieder ausgespuckt wird, findet sich zunächst in einem völlig anderen Film. Ein brutales Schnellstraßensystem zerschneidet die Schwarzmeer-küste. Die ehemals christliche Kaiserstadt Trapezunt kauert wie ein graues Betonmonster am Meer. Und das Leben geht selt-same Wege in dieser Hafenmetropole mit ihren 1,4 Millionen Einwohnern.

Ein Hafen ist Trabzon heute vor allem für russische, ukrai-nische und georgische Prostituierte, im türkischen Volksmund Nataschas genannt. Und für ihre anatolischen Freier, die aus dem Hinterland zu Tausenden in die unzähligen Stundenho-tels strömen. Man begegnet den durchweg blondierten Frauen überall. Sie umlagern die Pools der teureren Hotels. Sie warten auf Kundschaft in Restaurants mit russischen Namen und rus-sischen Menüs. Sie stehen am Straßenrand und an den Sammel-

InhaltSchlingensief, revisited7 Filme von Christoph S. im Stadtkino -Nachruf, Vorschau. 4/5/6

Moullet im O-TonEin Interview über„La terre de la folie“ 9

„Koma“-KinoBegegnung mit dem RegisseurLudwig Wüst 10

Zulassungsnummer GZ 02Z031555Verlagspostamt 1150 Wien / P.b.b.

Ein Wald für sich.

Fortsetzung auf Seite 2 »

das kommunale kino Wiens, schwarzenbergplatz 7-8, 1030 Wien september 10 | #482

Semih Kaplanoğlu, Bal - Honig, ab 3. September 2010 im StadtkinoLuc Moullet, La terre de la folie, ab 3. September 2010 im Filmhaus Kino

In memoriam Christoph Schlingensief, ab17. September 2010 im StadtkinoLudwig Wüst, Koma ab 17. September 2010 im Filmhaus Kino

Renzo Martens, Enjoy Poverty ab 17. September 2010 im Filmhaus Kino

Page 2: Ein Wald für sich

stellen der Minibusse. Wenn man dann an der Küste entlang in Richtung Osten fährt, um nach etwa zwei Stunden in die Berge abzu-biegen, in die Natur, zur Idylle, wird man die traurig-verlebten Gesichter der Nataschas so schnell nicht los.

Der Weg ins Kaçkar-Gebirge führt durch das lang gezogene, sich verengende Tal des Fırtına-Flusses. Die Straße scheint dem Wald mühsam abgetrotzt, mit Steinschlag, Lehmflu-ten und heruntergefallenen Ästen erobert die Natur sie zurück. Etwas oberhalb des Ortes Çamlıhemşin liegt das Hotel Doğa, eine fast romantisch anmutende Herberge. Es ist direkt am wilden Fluss gelegen, mit einer riesigen Glasveranda und Balkonen, auf denen man sofort in der Abenddämmerung lümmeln will. Hier wohnte das Filmteam von Bal während der dreimonatigen Dreharbeiten.

Gebaut wurde das Hotel von Idris Duman, mit eigenen Händen, wie er betont. Früher reiste der 80-Jährige als Elektroingenieur um den Erdball. Dann trieb ihn die Sehnsucht zu-rück. Duman spricht Französisch und Englisch. Er ist ein Kosmopolit, der in der Ferne die Fürsorge für seine Heimat entdeckt hat. Leicht gebeugt steht er an der mit Kladden, Zetteln, Fotos und Prospekten überladenen Rezeption des Hotels. In seinem breiten Lächeln fehlen ein paar Zähne. “Wir haben schon auf Sie ge-wartet«, sagt er, »mögen Sie Fisch?“

Der Honig aus dem Kaçkar -Gebirge schme-ckt, als koste man den Wald.

Man kann sich vorstellen, wie der Regisseur Semih Kaplanoğlu und seine Crew abends vom Set zurückkamen. Wie der Fluss die Erschöp-fung nach dem Drehtag mit seinem Rauschen überlagerte. Tatsächlich hat dieses beständige Geräusch etwas Meditatives. Es scheint, als verbinde sich das Wasser auf angenehme Weise direkt mit den Gedanken. Idris Duman sagt, er höre den Fluss gar nicht mehr.

Duman ist ein Hemşinli, Angehöriger einer ethnischen Minderheit, um deren Geschichte und Kultur sich viele Geheimnisse ranken. Ihre Wurzeln sind nicht genau erforscht. Fest steht, dass die Hemşinli Türken armenischer Prägung sind. Obwohl sie zum Teil schon vor Jahrhun-derten vom Christentum zum Islam konver-tierten, haben sie sich nie ganz der muslimischen Umgebung assimiliert. Im Fırtına-Tal sprechen die Hemşinli einen türkischen Dialekt mit ar-menischen Lehnwörtern. Noch heute tragen ihre Frauen auch im Alltag eine farbenfrohe, mit Pailletten und Perlen bestickte Tracht.

Ihre Dörfer bauten die Hemşinli auf den umliegenden Hügeln über dem Fluss. Wie riesige Schweizer Almhütten thronen die ge-räumigen, mit schwungvollen Schnitzereien verzierten Holzhäuser über den waldigen Tä-lern, aus denen immer wieder Nebel aufsteigt. Auch Yusuf, der fünfjährige Held von Bal lebt mit Vater und Mutter in einem solchen Haus. Abends, wenn die kleine Familie zum Essen zusammenkommt, ist die Leinwand erfüllt von der Gemütlichkeit knarrender Dielen und des prasselnden Ofenfeuers.

Das Haus, in dem der Film gedreht wurde, liegt nicht weit vom Hotel. Es ist unbewohnt, der Garten verwildert, die Tür verrammelt. Aber unten, im Erdgeschoss, kann man den Kuhstall betreten. In der Ecke liegt ein Joch, seit Jahrzehnten unbenutzt. Bilder aus Bal schieben sich vor die Leere. In diesem Stall umarmt der von der Schule enttäuschte Yusuf eine Kuh.

Auch Idris Duman wurde in einem sol-chen Haus geboren. Wenn der alte Mann mit jungenhaftem Lächeln von der Mühsal des Schulwegs spricht, vom leeren Bauch auf dem Rückweg, muss man an den großäugigen kleinen Helden aus Bal denken. Genau wie Yusuf wanderte der kleine Idris allmorgend-lich vom Berg ins Tal, zur Schule. Eine Stunde hin, eine Stunde zurück, bei Hitze und Regen, Schnee und Eis. „Wir wollten einfach lernen“, sagt Duman, „deshalb war uns der Weg völlig egal.“ In der zeitlosen parabelhaften Gegen-wart von Bal verströmt der Schuljunge Yusuf einen ähnlichen Stoizismus.

Folgt man den Lehmwegen, die immer wie-der von kleinen Bächen durchbrochen sind, hinab ins Tal, erlebt man die wilde Schönheit und Ruhe der Landschaft. Man bekommt aber auch eine Ahnung von der täglichen Anstren-gung der Kinder beim Gang zur Schule.

Genau wie Yusufs Sippe zog Idris Duman mit seiner Familie im Sommer auf die Alm, mit Sack und Pack und Vieh. Und genau wie im Film lebte die Familie zu einem Gutteil vom Teeanbau. Bis heute werden die hoch gelegenen Teefelder der Hemşinli von den Frauen gehegt und abgeerntet. Kleine hand-betriebene Seilbahnen bringen mit hellgrünen Blättern gefüllte Säcke ins Tal.

Am Morgen nach der Ankunft führt Duman die Besucherin nach Yeşim, ins Dorf seiner Kindheit, auf einen der Hügel über dem Fluss. Es ist ein melancholischer Gang. Die meisten Häuser stehen leer und modern in stolzer Schönheit vor sich hin. Ihre Eigentümer sind fortgezogen, nach Istanbul oder Ankara. „Frü-her war eine Stadt wie Ankara die Zukunft“, sagt Duman auf dem engen Weg zwischen Häusern und Hang, „das hat sich geändert.“ Er hält einen kleinen Vortrag über die Back-tradition der Hemşinli, die ihre honigsüßen Kuchen in die ganze Welt exportierten. Über seinen Großvater, der in Moskau eine Kondi-torei besaß. Doch wegen der Industriebäckerei sei diese Kunst heute weniger gefragt.

Vor Dumans Geburtshaus treffen wir eine Gruppe von Frauen in Hemşinli-Tracht. Eine stickt, die anderen tratschen. Weggezogene Fa-milienmitglieder auf Urlaub bei der alten Ver-wandtschaft. „Die Jungen werden irgendwann begreifen, dass sie hierher zurückkommen müssen“, sagt Duman. Es klingt hoffnungsvoll. Aber wer ist schon so jung wie dieser 80-Jäh-rige, der mit Mitte 50 wieder in die Heimat kam und dort eigenhändig ein Hotel baute?

Zurück ins Tal geht es durch den Wald, über Bachläufe, wieder vorbei an Teefeldern. Das Grün dampft, es ist schwül. Es scheint, als hät-te man einen deutschen Wald in subtropische Gefilde verpflanzt. Seine Vegetation wirkt ver-traut. Aber er ist gefüllt mit anderen Mythen, Geschichten, Lebensformen. Und da, an einer Wegbiegung, hängt eine Art Holztonne in einem Baum. Ein Bienenbehälter. Ein Bild aus dem Film. Auch in Bal-Honig hängt der Vater seine hölzernen Bienenstöcke in hohen Bäu-men auf, dreißig, vierzig Meter über dem Bo-

den. Es ist ein mühsames, gefährliches Geschäft. Eine Ernte, die der Natur mit Seilen und Ba-lanceakten abgetrotzt werden muss. Als die Bie-nen sich rar machen, muss der Imker im Film in ferne Wälder wandern. Sehnsüchtig wird seine Rückkehr von Frau und Sohn erwartet.

Das Kaçkar-Gebirge ist berühmt für diesen Honig. „Heutzutage stellen die meisten ihre Bienenstöcke vor den Häusern auf“, sagt Idris Duman. „Da werden die Bienen mit Zucker gefüttert.“ Der echte Waldhonig hingegen sei sehr rein und daher sehr teuer. Am nächsten Morgen bringt Duman ein Schälchen der goldbraunen Kostbarkeit an den Frühstück-stisch. Es ist, als schmecke man den Wald.

Heute führt die Suche nach den Filmbildern in die Höhe. Auf zweieinhalb, dreitausend Metern liegen die Hochtäler und Plateaus, in deren spröder Weite die Hemşinli früher die Sommermonate verbrachten. Die Alm, auf der Semih Kaplanoğlu einige Szenen von Bal drehte, heißt Elevit und wird immer noch be-wirtschaftet. Endlos schlängelt sich der Weg einen langen Bergrücken empor. Der Unter-boden des Mietwagens ist gar nicht erfreut

über die Stein- und Schotterstrecke. Auch die Tankuhr beginnt irgendwann zu protestieren. Wie gut, dass ein freundlicher Ladenbesitzer aus der Tiefe eines Schuppens einen wohlge-füllten, von Spinnweben überzogenen Benzin-kanister herbeischleppt.

Die Nebelfelder werden dichter, die Vegeta-tion wird spärlicher, die Luft dünner. An den Wegbiegungen gibt es Ausblicke auf endlose blumengesprenkelte Talfluchten. Wie eine In-sel im Nebel liegt der Ort Elevit in der Höhe. Eine christliche Kirchenruine. Ein Café, in dem Männer seit hundert Jahren bei Tee und Backgammon zu sitzen scheinen. Ein Laden, in dem von Schokocreme über eingelegte Gurken bis zu Pflastern alles für Ausflügler und Bergwanderer zu haben ist.

Der Besitzer ist ein etwa 80-jähriger Mann mit verschmitztem Gesicht. Sein Name, Ziya Bekiroğlu, prangt an der Ladenfront. Gemein-sam mit einem Bekannten lädt Herr Bekirog-lu zum Tee. Als die Rede auf die Dreharbeiten

von Bal kommt, springt er auf und tippt sich an die Brust: „Ich bin in dem Film! In einer Szene habe ich mich selbst gespielt! Die ganze Crew hat bei mir gegessen und getrunken!“ Für einen Augenblick sieht Herr Bekiroğlu aus wie ein türkischer General, der von einer Schlacht erzählt. Im Film sieht man ihn freundlich grü-ßend vor seinem Laden sitzen, während Yusuf vorbeischlendert. Die Szene dauert etwa fünf Sekunden. Aber es ist ein Auftritt.

Und was ist mit Boran Ataş, dem kleinen Hauptdarsteller von Bal? Angeblich soll er in einem Dorf ganz in der Nähe wohnen. Am nächsten Morgen sind wir schon im Auto un-terwegs nach Konaklar, ein paar Flussbiegungen weiter. Dort hat Duman den Jungen, dessen rührendes Gesicht einen ganzen Film trägt, kürzlich auf einem Fußballplatz gesehen.

In Bai spielt Ataş ein schweigsames Kind, das in der Schule stockend vorliest und sich nur flü-sternd mit seinem Imker-Vater unterhält. In der Wirklichkeit des Fırtına-Tals sehen wir einen verschwitzten Bengel, der gerade laut jubelnd sein drittes Tor schießt. Nur widerstrebend lässt sich Boran Ataş an der Hand des alten Mannes vom Bolzplatz ziehen. Die Begegnung mit der deutschen Presse ist kurz, aber klar. Auf die ein-zige Frage, wie es ihm in Deutschland, in Berlin, auf den Filmfestspielen gefallen habe, antwortet der Kleine: „Das Essen war schlecht.“

Wahrend der Rückfahrt zur Herberge sagt Idris Duman: „Wie schön wäre es, wenn die Kinder im Tal blieben.“ Er träumt von einem maßvollen Tourismus, der die Region beleben soll. Tatsächlich ist das Kaçkar-Gebirge mit sei-nen Almen, Bergpässen, Gletscherseen, Fluss-läufen und Hochdörfern touristisch kaum erschlossen. „In den Häusern der Väter und Großväter kann man wunderbar wohnen“, sagt Duman. »Die Regierung müsste den Rückzug fördern!“ Aber welche Familie will heute noch wie in Bal leben, mit Holzofen, Kühen und Hühnerstall? Und so sehr Semih Kaplanoğlu diese Landschaft in seiner Kind-heitsparabel feiert, geht er doch nicht so weit, eine verschwindende Lebensweise zu verklä-ren. Bal offenbart sich durchaus als fragiles, von vornherein bedrohtes Sehnsuchtsbild.

„Man kann die Häuser auch an Touristen vermieten«, sagt Duman. „Man kann sie mo-dernisieren, reparieren. Wir sollten das Erbe erhalten!“ Das Gegenteil seiner Vision findet ein Tal weiter im nahe gelegenen Ayder statt. Bis vor Kurzem war der Ort noch eine ver-schlafene Alm mit Thermalquellen. Jetzt wird Ayder von türkischen Ausflugsbussen über-

StadtkinoZeitung02 Semih Kaplanoğlu, „Bal – Honig“

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Das Haus, in dem gedreht wurde, ist unbewohnt, der Garten verwildert, die Tür verrammelt...

Natur und Veränderung aus der Kinderperspektive: Bora Altas in „Bal“.

Page 3: Ein Wald für sich

StadtkinoZeitung 03Semih Kaplanoğlu, „Bal – Honig“

Semih KaplanoğluBal / Honig(Türkei / Deutschland 2010)

Regie Semih KaplanoğluDrehbuch Semih Kaplanoglu, Orçun KöksalDarsteller Bora Altaş, Erdal Beşikçioğlu,Tülin ÖzenKamera Baris OzbicerSchnitt Ayhan Ergürsel, Semih Kaplanoğlu,S. Hande GüneriMusik Tobias FleigTon Matthias HaebProduktion Kaplan Film Productionund HeimatfilmVerleih Stadtkino FilmverleihLänge 103 Min.Technik 35mm / Farbe / 1:1,85Fassung Türkische Originalfassung mitdeutschen UntertitelnAuszeichnungen Goldener Bär 2010 für den besten Film

Ab 3. September 2010im Stadtkino am Schwarzenbergplatz

rollt, deren Passagiere einen kurzen Blick auf die alpine Idylle werfen. Schneller Besuch und schnelles Geld. In Ayder wurde und wird un-kontrolliert gebaut, ohne auf Straßenanschlüs-se und Abwasserentsorgung zu achten. „Ayder ist eine Katastrophe“, sagt Idris Duman. ‚

Das Fırtına -Tal schlitterte vor ein paar Jahren nur knapp an einer anderen Katastrophe vorbei. Durch ein geplantes Staudammprojekt wäre die einmalig schöne Landschaft beinahe zerstört worden. Zum Glück gelang es einer Bürgerbe-wegung, das Projekt zu stoppen. Vorerst.

„Der Plan war dumm, dumm, dumm“, sagt Duman. Man merkt, wie sehr ihm die Em-pörung noch in den Knochen steckt. „Der Mensch braucht das Land, die Erde, die Natur. Alles andere kann man kaufen. Man kann auch Elektrizität kaufen oder in kleineren lokalen Anlagen produzieren. Aber diese Natur hier, die kann man nicht kaufen. Also muss sie bewahrt werden!“ Das versucht Idris Duman. Genauso wie die junge Özlem Erol, die in Çamlıhemşin das Café Mòyy mit Gästezimmern eröffnet hat. Es wirkt wie eine kleine Lounge-Oase im Fırtına - Tal. Neben gutem Kaffee, Wodkacock-tails und Beerenlikören gibt es hier ökologische Produkte aus der Umgebung. Irgendwann habe sie es in Ankara nicht mehr ausgehalten, sagt Erol, während sie hinter der Theke einen Ku-chen mit Obst belegt. „Ich brauche die Stille, den Fluss.“ Sie ist mit Bauern und Bergführern vernetzt, die sich für einen schonenden Touris-mus einsetzen. Idris Duman sei ein guter Freund von ihr, sagt sie. Aber er sei zu allein. Er brauche junge Leute um sich, die denken wie er.

Was wird diese jungen Leute erwarten? Und wie übersteht man die langen, schneereichen Winter des Kaçkar -Gebirges? Wahrend der kalten Monate arbeitet Özlem Erol als Mode-designerin in Istanbul. Im Sommer kehrt sie in die Landschaft ihrer Jugend zurück. Auch Du-mans Hotel ist im Winter geschlossen. Er selbst lebt dann in Ankara und Istanbul.

Schon merkwürdig. Man folgt einem Film an einen Ort, der genauso und doch ganz anders ist. Man entdeckt eine Natur, die sich nahtlos mit den Kinobildern verbindet, und die Spuren ei-ner Lebensform, die fast verschwunden ist. Über allem schwebt der kleine Yusuf auf seinem Schul-weg, in der Zeitlosigkeit des Filmbildes. Und ir-gendwo dazwischen sitzt Idris Duman auf seiner Veranda, in der Abenddämmerung am tosenden Fluss. Duman der einst wie Yusuf war und heute auf die Jugend von morgen wartet. Man wünscht ihm sehr, dass er sie noch kommen sieht. •

Der vorliegende Bericht erschien erstmals imReisefeuilleton der „Zeit“.

DIE YUSUF-TRILOGIEBal/Honig ist der dritte Film meiner Yusuf-Trilogie. Die Idee dazu entstand beim Über-arbeiten eines Drehbuchs, das ich vor langer Zeit geschrieben hatte und das die Geschichte Yusufs als junger Student behandelt, die ich in meinem Films Süt/Milch erzähle. Während ich an der Figur des Yusuf arbeitete, begann ich mir Gedanken über die Zukunft dieses jungen Mannes als Erwachsener (Yumurta/Ei) und sei-ne Vergangenheit als junger Knabe (Bal/Honig) zu machen. Daraus entwickelte sich die Idee der Trilogie. Ich fing dann mit Yumurta/Ei an, vielleicht weil ich die Figur langsam heraus-schälen und zu ihrem Kern vordringen wollte. Man hat mich gefragt, ob die drei Yusuf-Fi-guren ein und dieselbe Person sind.

Ich ziehe es vor, darauf nicht zu antworten, um die Geheimnisse der Figur, die direkten und indirekten Bezüge zwischen den Filmen, ihr Rätsel nicht aufzulösen.

EIGENE ERFAHRUNGENAls ich die Figur des Yusuf entwickelte, habe ich auch auf Erfahrungen aus meiner eige-nen Vergangenheit zurückgegriffen. Auch für Bal/Honig diente meine eigene Kindheit als Bezugspunkt. Meine Probleme und Nöte in der Schule, als ich lesen und schreiben lernte; meine Fragen, die von den Erwachsenen un-beantwortet blieben; das Erleben der Natur in ihrer Grausamkeit und ihrem Reichtum... In gewisser Weise formt ein Kind seine Per-sönlichkeit, während es mit Neugier die Welt erkundet. Ein zufälliges Missverständnis, das zu naiven Fehlern, Träumen, Freuden und Nöten führt, hilft ihm, die Wahrheit zu entdecken. Ich hoffe, Bal/Honig erlaubt es uns, Yusufs Wahr-heit zu entdecken.

KEIN GEWÖHNLICHER ORTFür Yusuf und seinen Vater Yakup stellt der Wald einen märchenhaften Ort dar, der viele Geheimnisse birgt. Der Wald ist ein magisches Reich, in dem sie verschwinden und aus dem sie wieder auftauchen. Es ist kein gewöhnlicher Ort, zu dem sie gehen und der die Grundlage ihres Lebensunterhalts ist. Er stellt eine andere Welt dar, mit riesigen, alten Bäumen, mit ge-heimnisvollen Geschöpfen wie dem Esel und dem Falken, die sie in den Wald begleiten. Es war nicht leicht einen Ort zu finden, an dem es diese hohen, mächtigen, stämmigen Bäume gibt, und der sowohl für das Aufstellen von Bienenstöcken wie auch für die visuelle Welt geeignet war, die ich in Bal/Honig schaffen wollte. Wir haben in verschiedenen Wäldern gearbeitet, vor allem in solchen, in denen seit Jahrhunderten Bienenstöcke aufgestellt wer-den. Sie waren 30 bis 40 Kilometer voneinan-der entfernt, auf verschiedenen Höhen weit über dem Meeresspiegel und mit einem unge-heuren Reichtum an Baumarten.

YAKUP DER IMKERYakup, Yusufs Vater, ist ein Imker, der den für die Region besonderen schwarzen Honig erntet, eine der erlesensten Honigsorten der Welt. Dieser therapeutische Honig ist für die Bewohner der Region die Essenz einer alten Welt, unberührter Natur und heiligsten Wis-sens. Er wird von einer immer weiter schwin-denden Zahl von Imkern produziert; Yakups Handwerk wird bald ausgestorben sein. Zu dieser harten Arbeit gehört auch das Aufhän-gen der speziell gefertigten Bienenstöcke in den schwindelerregend hohen Baumkronen in den Gebirgswäldern. Dieser Beruf ist eben-so anstrengend wie gefährlich.

Yusufs Bewunderung für seinen Vater hat sicherlich viel mit dieser ungewöhnlichen Arbeit zu tun. In meiner Sicht der Dinge hat diese Arbeit viel mit Yusufs späterer Tätigkeit, der Dichtung, zu tun.

DAS FEHLEN DES VATERSWir können nicht sagen, dass es für Yusuf in der Yusuf-Trilogie keine Vaterfigur gibt, da

wir in Bal/Honig klar sehen, dass er mit sei-nem Vater lebt und eine starke Beziehung zu ihm hat. Der springende Punkt ist, wie Yusuf die spätere Abwesenheit des Vaters erlebt und wie er irgendwie Ersatz für ihn findet. Aus psychoanalytischer Sicht könnte der frühe Verlust des Vaters Yusuf dazu gebracht haben, sein Verhältnis zur Autorität über die Mutter zu entwickeln, siehe Süt/Milch. Vielleicht ist darin der Grund für seine Zerbrechlichkeit, Introvertiertheit, Unentschlossenheit und schließlich seine Wiederentdeckung zu se-hen, wie sie in Yumurta/Ei gezeigt werden. Aber all diesen psychologischen Aspekten schenke ich in meinen Geschichten keine Beachtung. Ich versuche, die Situation auf einer spirituelleren Ebene zu zeigen. Anstatt unsere Existenz im Labor der Psychologie zu analysieren und das Leben in Beziehungen von Ursache und Wirkung einzuschließen, versuche ich, mich auf eine größere Macht zu beziehen. Ich würde die Yusuf-Trilogie lieber

aus der Perspektive des Propheten Jakob und des Propheten Yusuf analysieren, deren Träu-me auch von der Perspektive von Hoffnung und Furcht bestimmt sind.

SCHWARZMEERKÜSTE Wir haben Bal/Honig in der Gegend der klei-nen Stadt Çamlihemşin gedreht, in der Pro-vinz Rize an der Schwarzmeerküste im Nord-osten der Türkei. Der Grund, in diese Region zu gehen, liegt in ihrer Natur; nur hier habe ich die Wälder gefunden, nach denen ich ge-sucht hatte. Die geografischen Gegebenheiten dort haben uns allerdings beim Drehen sehr zu schaffen gemacht, vor allem bei den Waldsze-nen. Mit den Fahrzeugen konnten wir nur bis zu einem bestimmten Punkt kommen, dann mussten wir aussteigen und mit der gesamten Ausrüstung zu Fuß bis zum Drehort marschie-ren, der ziemlich weit entfernt lag. Drehen mussten wir dann an einem ziemlich steilen Ort, wo man kaum stehen konnte. Zudem ist das Wetter an der Schwarzmeerküste sehr un-vorhersehbar. Oft wechseln Regen, Sonne und Nebel innerhalb einer Stunde, was uns etliche Schwierigkeiten bei den Anschlüssen inner-halb der Szenen bereitet hat.

DIE KINDHEITDER MENSCHHEITWenn wir die moderne Zeit als das Erwach-senenalter der Menschheit begreifen, dann kann ich sagen, dass die Orte, an denen wir Bal/Honig gedreht haben, noch die Kindheit der Menschheit erleben. Wir arbeiteten in Bergdörfern, die bald ganz verlassen sein wer-den von den Menschen, die bis heute noch versuchen, nach der alten Tradition zu ar-beiten, unter Bedingungen und Regeln, die von der Natur bestimmt werden. In diesen Gegenden können wir beobachten, wie die natürlichen Wasserressourcen durch den Bau

von Kraftwerken zerstört werden. Das ist ein Problem, das möglichst schnell in den Griff zu bekommen ist.

YUSUFS STOTTERNAls er in die Schule kommt, lernt Yusuf lesen und schreiben. Wenn er mit seinem Vater allei-ne ist, gelingt ihm das Lesen, indem er alle Sil-ben langsam ausspricht, aber in der Klasse wird er nervös und stottert. Als ihn seine Freunde hänseln, zieht er sich zurück in Schweigen und Einsamkeit. So wie er in Süt/Milch nicht zum Militärdienst zugelassen wird, ist sein Versagen beim lauten Vorlesen vor seinen Klassenkame-raden in Bal/Honig ein Wendepunkt für Yusuf. Eine Auszeichnung für gutes Vorlesen ist für einen Erstklässler sehr wichtig. Hier zu versa-gen und von seinen Klassenkameraden ausge-lacht zu werden führt Yusuf dazu, sich in sich selbst zurückzuziehen und in der Folge eine starke Beziehung zu Wörtern und Dichtung zu entwickeln.

DIE VERWANDLUNGVON BORA IN YUSUFWährend der Dreharbeiten von Bal/Honig war Bora Altaş sieben Jahre alt. Er hat einen ganz anderen Charakter als der Yusuf, dessen Ge-schichte ich geschrieben hatte, er ist sehr kon-taktfreudig. Er musste also tatsächlich jemand anderen spielen. Wir arbeiteten hart, mit groß-er Geduld. Ich erklärte ihm den Yusuf in Bal/Honig Szene für Szene, so gut es mir möglich war. Wir entwickelten eine starke Bindung, die auf Vertrauen beruhte. Ich kann sagen, dass ich letztlich so mit ihm gearbeitet habe, wie ich es mit erwachsenen Schauspielern tue. Ich habe selbst viel gelernt bei dem Versuch, bei einem so kleinen Kind die Konzentration auf seine Rolle herzustellen. Da ich selbst keine Kinder habe, fehlte mir die Erfahrung. Der Enthusias-mus und das Engagement Boras und der an-deren Kinder wird mir immer unvergesslich bleiben.

SPIRITUELLER REALISMUSIch habe während der Arbeit an den drei Fil-men der Yusuf-Trilogie in den vergangenen Jahren viel gelernt und erfahren. Es war ein Prozess, der mir dabei geholfen hat, meine Vorstellungen vom Filmemachen weiter zu entwickeln, einen Stil, den ich versuchsweise „Spiritueller Realismus“ nenne.

Einen Film zu machen bedeutet, sich durch den Spiegel dieses Films selbst zu entdecken, sogar sich zu definieren. Das gilt nicht allein für den Regisseur, sondern für jeden im Team. Meine Mutter zum Beispiel stellte beim Haus in Yumurta/Ei große Ähnlichkeiten zu un-serem Haus fest, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Sie fing an zu erzählen, Details, über die wir nie gesprochen hatten, Famili-engeschichten, die ich nicht kannte – einige davon habe ich später in Süt/Milch und Bal/Honig verwendet. •

Kommentare des Regisseurs und Schriftstellers Semih Kaplanoğlu

Spiritualität und Alltag: „Bal“.

Man entdeckt eine Natur, die sich nahtlos mit den Kinobildern verbindet.

Page 4: Ein Wald für sich

StadtkinoZeitung04 In memoriam Christoph Schlingensief

„Erinnern heißt: Vergessen“

These days I seem to think about / How all the changes came about my ways.“ – Nico auf YouTube in der

Endlosschleife. Dazu Lektüre in den letzten Blogs auf www.schlingensief.com: Videoclips von Bestrahlungstorturen, Bilder aus dem Operndorf in Afrika, Einträge wie: „denke an die anderen, die dich ertragen müssen. die ha-ben mehr hölle auf erden als erlaubt ist. die müssen nicht nur deine chaotische art ertragen oder deinen großen pessimismus! nein, diese leute sehen jemanden, der sich schon auf dem abschiedsweg befindet. und der dann so redet, als müsse er nun halbwegs erträglich bleiben, damit er in guter erinnerung bleibt. dazu wür-de ich gerne später mal mehr schreiben. mal schauen, wann das geht. es geht nicht immer alles, wenn ich will.“

Finstere Tage. Dennoch das sture Gefühl, dass der Dialog mit Christoph einfach weiter geht. Weil es eine Schande wäre, wenn da et-was „abreissen“ würde. Selbst, wenn die Stör-geräusche im Hintergrund zunehmen, so wie im letzten, im allerletzten Eintrag, in dem je-der Rechtschreibfehler Wunde und Rettung zugleich ist. Keine Ahnung, ob Christoph sich noch ein weiteres vorletztes Fläschchen Wein genehmigt hatte oder ob er im Kopf ein wenig atemlos war, als er schrieb: „DIE BILDER VERSCHWINDEN AUTOMA-TISCH UND ÜBERMALEN SICH SO ODER SO! ERINNERN HEISST: VER-GESSEN! (Da können wir ruhig unbedingt auch mal schlafen!)“

Überwach bis zum letzten „und“ und ohne Punkt am Ende: „Wie lange war es still... lange stiill. stoße jetzt nach ca. 3 wochen auf das letzte video hier. habe ich gleich ge-löscht. wen soll das das interessieren? viel-leicht sind solche vidoeblogs oder einträgen nur dann von intererrägen, wenn die angst zu gross wird. die angst, weil diese kleine il-lussion von --- aber nun nach den knapp 4 wochen scheint es anderes zu sein. die bilder (ixen) sich aus... da ist ja kein sentimentaler schmerz. die bausupsanz ist erstaunlich gut... und nun? wieder ein neues bild? wieder infos zu neuen dingen, die ,...... ja eigentlich was ?..... alles sehr oberflächlich und rechtschrei-befehler häufen sich die dinge .... das baut läufz seit tmc auf. der appetetit läßt rasant nach. - ARD- TATORTREKA7 ...(warum werde ich icht nicht denn nicht wenigstes ei-ner meiner halbwegs siution normalererenen situatuin aufgeklärt. so macht es mich nur traurig, piasch und“

Die Bilder ixen sich aus. Die letzte Geste: ein zarter Hieb auf die Löschtaste. Und wel-che Bilder bleiben dann übrig? Christoph, wie er in Island gemeinsam mit Klaus Beyer gegen einen Strauss und einen Wäschetrock-ner kämpft. Die letzten Hobbits. Unheilbar verwundet. Abfahrt in die Grauen Anfurten. Ja, heult nur.

Das vorliegende Photo ist mir passiert: Patti Smith begutachtet ein Polaroid, das sie gerade in einem Slum ausserhalb von Lüderitz/Na-mibia, der sogenannten AREA 7, gemacht hat. Man sieht auf meinem Bild die grauenhafte Armut nicht, die dort quasi strikt geometrisch in Form von Blechwohncontainern ins san-dige Niemandsland verwiesen und abgescho-ben worden ist. Also wirkt der Mann, der da auf ihrem Photo ein Tau über eine Bootsre-ling wirft, erst recht aus der Zeit und aus dem Raum gefallen: Christoph.

Es ist nicht auszumachen, ob er mit dem Tau etwas festzurren will, oder ob er jetzt die letzten Leinen kappen und quasi auf offene See hinaustreiben wird. Auch wenn er in der Wüste festsitzt. Aber (und deswegen finde ich wohl auch, dass mein Bild „stimmt“) diese Unklarheit begleitete uns in diesen Wochen im Oktober 2006 in Südwestafrika fortwäh-rend: Wie Christoph da die Dreharbeiten zu einem Film mit dem Arbeitstitel „The Afri-

can Twin Towers“ vorantrieb, das hatte zu-nehmend etwas Quälendes. So als würde er mit jedem weiteren Bild, jeder weiteren Sze-ne diesen Film weiter verunmöglichen und kaputt machen.

Ich verbinde diese Zeit noch heute mit ei-ner großen Anspannung, Ermüdung, Desori-entierung, Melancholie. Es war im weiteren nur logisch, dass die folgende große Burg-theaterinstallation AREA 7, die ursprünglich als szenische Adaption von Bachs „Matt-häuspassion“ angekündigt gewesen war, zu einem finster irrlichternden Labyrinth, zu einer Abhandlung über einen beständig su-chenden und gleichzeitig abgelenkten Blick geriet. Mochte man ihm auch die gesamte luxuriöse Burgtheater-Maschinerie zu Fü-

ßen legen: Christoph konnte darüber nicht „meisterlich“ triumphieren. Er konnte nur ausstellen, wie sehr ihn dieses ganze Theater, die Welterklärungssicherheit (Afrika!), die guten Texte und die richtigen Bilder und die selbstsicheren Rufzeichen zweifeln und ver-zweifeln ließen.

Es war damals, auch weil Christoph sich in-tensiv mit seinen begehbaren Filmdrehbüh-nen, den Animatographen beschäftigte, sehr viel von der Frage die Rede, was das bedeu-ten kann: „Ins eigene Bild treten“. Was soviel bedeuten mochte wie: Sich nicht nach voll-endeter Produktion feist vor die Leinwand, Bühne, Galerienwand zu flätzen und Applaus aus den Vorder- und Hinterreihen zu kassie-ren, sondern sich dem, was man da angerich-tet hat, wirklich selbst auszusetzen. Mit allen gewünschten und unerwünschten Nebenwir-kungen. Als gut ein Jahr später das Mail von Patti Smith kam, „Christoph is very ill“ – da war die erste Assoziation: Er ist in seinem Bild

geblieben. Wie in einem dieser trashigen Hor-rorfilme, in dem plötzlich ein Haus, in dem der Held von mehreren Untoten umringt ist, keinen Ausgang mehr hat.

Aber das ist nur die halbe Geschichte, oder richtiger: Es ist nur eine Facette einer Ge-schichte, die immer weiter erzählt werden wird und in der Christoph weiterhin hier unter uns sein wird und in der man sehr viel auch über Heiterkeit und Großzügigkeit und „Durch-geknalltheit“ (Fritz Ostermayer, „Im Sumpf“) erzählen kann.

Meine Lieblingsepisode aus der AREA 7 geht so: Eine Schutzgöttin auf der (Irr-)Fahrt nach Namibia war, neben Patti Smith, Elfrie-de Jelinek. Großzügig wie immer hatte sie Christoph einen hochkomplexen Text für die

Reise geschrieben und mitgegeben, und als es nun später am Burgtheater darum ging, dass dieser Text – sein Titel: „Parsifal: (Laß o Welt o Schreck laß nach)“ – auch nur irgendwie Ein-gang ins Bühnengeschehen finden sollte, da befand Christoph nach langem Hin und Her, dass eigentlich nur eine ihn wirklich adäquat lesen kann. Nämlich Elfriede Jelinek selber. Er wolle sie dabei filmen. Und ich, vorher „em-bedded journalist“ in Namibia und jetzt dra-maturgischer Kollaborateur, sollte mit ihr dafür einen Termin bei ihr zuhause ausmachen.

Wer sich halbwegs ausmalen kann, welches Unbehagen bei Elfriede Jelinek Besuche und/oder Ton- und Bildaufnahmen auslösen, ahnt: Das Unternehmen war schnell an Be-dingungen geknüpft. Erstens sollte der Be-such nicht lange dauern, zweitens sollte vor allem der Dreh nicht lange dauern, drittens bitte mit ganz reduziertem Equipment, also am besten eigentlich nur mit einem klei-nen Diktiergerät, und so weiter. „Jaja“, sagte

Es war damals viel von der Frage die Rede, was das bedeuten könne: „Ins eigene Bildtreten“. Sich dem, was man da angerichtethatte, selbst auszusetzen...

.. schrieb zuletzt Christoph Schlingensief. Dennoch wird - auch im Stadtkino -der Dialog mit ihm weitergehen. Ein ganz persönlicher „Nachruf“. cLaus PHiLiPP

Christoph, als ich ihm das ausrichtete, „super, danke, das machen wir.“

Wer stieg also an besagtem Abend mit ei-ner riesigen Kamera, samt Kamerafrau, samt Megastativ, Tonarm, Riesenmikro, Schein-werfer vor Jelineks Haus aus dem Taxi, und schmetterte der erbleichenden Dichterin ein fröhliches „Hallo, da sind wir also!“ entgegen? Christoph. An die gewünschte reduzierte Le-sung war nicht zu denken. Jelinek wurde an die nächste Wohnzimmerwand gedrängt, mit Licht angeknallt, und von Christoph mit der Kamera in Minimaldistanz umkreist, als wäre sie ein sehr seltener Tiefseefisch. „Anspan-nung“ war für diese Situation ein drastisch harmloser Begriff, alles, was ich Jelinek ver-sprechen hatte müssen, war nicht eingelöst. Ich saß da auf einem der im Wohnzimmer herumstehenden Designerplastikstühle und versuchte einfach unsichtbar zu werden, bis, ja, bis eben dieser, ganz gewiss mit sehr viel Lie-be und Kenntnis ausgesuchte Designerplastik-stuhl unter meinem Hintern mit einem lauten Knall explodierte.

Die Selbstdisziplin und die Grandezza, die Jelinek bei der Lesung gezeigt hatte, wich blanker Fassungslosigkeit. Später meinte sie: Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ein älterer und weniger geistesgegenwärtiger Mensch auf diesem offenkundig längst ka-putten Stuhl gesessen wäre. Ich wiederum muss unglaublich schuldbewusst dreingesehen haben, denn was tat Christoph? Er begann laut zu lachen und sagte: „Jetzt schau bitte nicht so, als ob etwas Schlimmes passiert wäre.“ Der Abend war gerettet. Auf einem Gruppenfoto, das noch irgendwo in meinen Papierbergen herumkugeln muss, sehen wir alle, inklusive Elfriede Jelinek, so aus, als hätten wir viel Spaß gehabt. Haben wir.

These days... Wie schrieb Patti Smith in einem Lied, das sie für Christoph geschrieben hat und das sie hoffentlich irgendwann einmal auf einem Album veröffentlichen wird: „We rose as children / To climb a ladder of gold / Our ship shall see no river / Yet hope shall hold“. •

Der vorliegende Text erschien erstmals am 28. Au-gust 2010 in der Reihe „Ein Mensch im Bild“ in der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“.

Patti Smith betrachtet in Namibia eines ihrer Polaroids von Christoph Schlingensief. Foto: C.P.

Page 5: Ein Wald für sich

StadtkinoZeitung 05In memoriam Christoph Schlingensief

„Genial obszön!“

TUNGUSKA –DIE KISTEN SIND DA

„Ein grossartiges Kinodebüt!“ DIE ZEIT

„Alfred Edel in seiner besten Rolle!“DIE WELT

„Chaotisch und gemein. „ FR

„Avantgardeforscher am Rande des Nerven-zusammenbruchs. Ein Pärchen auf der Suche nach Benzin und Alfred Edel, der sie alle fertigmacht.“ C.S.

INHALTEinem eigenen und eigenwilligen Filmver-ständnis verleiht Schlingensief erstmals 1983/84 mit der Trilogie zur Filmkritik Ausdruck. Sie trägt den bezeichnenden Untertitel „Film als Neurose“ und besteht neben zwei Kurzfilmen aus Schlingensiefs erstem Langfilm - Tungus-ka - Die Kisten sind da (1984). Ein im Vorspann des Films verlesenes Manifest formuliert die Absicht, neue Aspekte von Zeitgeist und Film-sprache zu entdecken und zu erforschen. Es gelte, die Hysterie um einen in die Jahre ge-kommenen Neuen Deutschen Film aufzude-cken und seine aus politischen und ästhetischen Utopien bestehende Maskerade zu erkennen. Schlingensief verspürt den Drang zum Han-deln, verspürt „die verbrecherische Lust, einen Film zu machen“. Dementsprechend ist seine Trilogie weniger eine Kriegserklärung an die Vertreter eines stringenten Erzählkinos als viel-mehr eine Aufforderung zum Befreiungskampf gegen die Vorschriften des filmischen Realis-mus. Die unmündige Position des ausgeliefer-ten Zuschauers soll bewusst gemacht werden.

Buch, Regie: Christoph Schlingensief, Kame-ra: Dominik(us) Probst, Tricks: Norbert Schlie-we, Christoph Schlingensief, Schnitt: Barbara Lamsfuß, Orgel: Christoph Schlingensief, Trommel: Baba Yoro Diop, Christoph Gerozis-sis, Mathias Colli, Jugendorchesterleitung: Wolfgang Dehnert, Darsteller: Irene Fischer, Mathias Colli, Anna Fechter, Alfred Edel, Vladi-mir Konetzny, Norbert Schliewe, Volker Bertzky, Christopher Krieg (= Christoph Schlingensief) Produktion: DEM Film, Oberhausen,BRD 1983/84

17. September 2010, 21.30 Uhr

TUNGUSKA - DIE KISTEN SIND DA

MENU TOTAL

„Sein bester Film!“ EPD FILm

„Genial obszön!“ DIE ZEIT

„Die grösste Sauerei aller Zeiten!“TagESSPIEgEL BERLIn

Helge Schneider, der auch die Musik zum Fim gemacht hat, in einem widerlichen Film. Auf der Berlinale 1986 ausgepfiffen. Wim Wenders ging nach 10 Minuten. Alfred Edel kotzt sich durch den ganzen Film. „Mein bester Film!“ C.S.

Schlingensiefs Filme sind vor allem Familien- und Geschichtsalben, in denen sich jede Men-ge Ballast angesammelt hat, den man nicht ent-sorgen kann, weil niemand darüber sprechen will. Gerade deshalb sind seine Figuren so sehr damit beschäftigt, zu brüllen, zu bluten, zu kot-zen. Menu Total (1986) verzichtet auf eine kon-ventionelle Handlung. Wieder geht es darum, die narrativen Ketten seriengeschädigter Zu-schauerwahrnehmung zu sprengen, ohne dabei dem als selbstgefällig empfundenen Ernst einer besserwisserischen Avantgardekunst und ihrer strapaziösen Theorielastigkeit zu verfallen.

„In erster Linie bin ich Filmemacher“, sagte Christoph S. bis zuletzt:Highlights seiner Kinoarbeit zeigt das Stadtkino ab 17. September.

Buch, Regie, Kamera: Christoph Schlingen-sief, Script: Volker Bertzky, Schnitt: Eva Will, Musik: Helge Schneider, Darsteller: Helge Schneider, Volker Bertzky, Dietrich Kuhlbrodt, Alfred Edel, Reinald Schnell, Anna Fechter, Joe Bausch, Annette Bleckmann, Thirza Bruncken, Wolfgang Schulte, Länge: 81 min, Format: 35 mm (Super-16mm blow-up), 1:1.66, Farbe: s/wProduktion: DEM Filmproduktion, Oberhausen / Hymen II, BRD 1985/86

18. September 2010, 21.30 Uhr

MENÜ TOTAL

EGOMANIA -INSEL OHNE HOFFNUNG

„Udo Kier und Tilda Swinton: grandios!“CInEma

„Schlingensiefs traurigster, romantischsterund komischster Film.“DER SPIEgEL

„Ein Oratorium voller Hass,Intrige und Mord.“ DIE ZEIT

INHALTTilda Swinton und Udo Kier im ewigen Eis. Gedreht auf einer Hallig in der Nordsee. Wetterchaos. Liebesdrama Swinton/Schlin-gensief. Musik von Tom Dokupil und natür-lich kein Geld.

Auf einer trostlosen Ostseeinsel herrscht der unheimliche, vampirähnliche Baron Tan-te Teufel. Wo früher Friede und Freude das Leben der Inselbewohner bestimmte, walten nun Hoffnungslosigkeit und Zwietracht. Als plötzlich eine wahre Liebe die Tristesse seiner Insel „bedroht“, dreht der Baron durch...

Früher lebten die Menschen auf der trost-losen Insel in der Ostsee in Frieden und Par-tylaune, doch nun hat Zwietracht und Hoff-nungslosigkeit Besitz von der Gesellschaft ergriffen. Der Herrscher des winterlich ver-wehten Eilands ist der verdächtig an einen Vampirgraf erinnernde Baron Tante Teufel, dem schon einige junge Mädchen zum Op-

fer gefallen sind. Als plötzlich wahre Liebe die Eiseskälte zu brechen droht, sieht der wahnsinnige Blaublütler buchstäblich rot. Um die Liebe im Keim zu ersticken, scheut er vor nichts zurück...

In Egomania scheint die Harmonie in der Welt zerbrochen, alle Hoffnung gescheitert. Wüst ist das Land, und die See geht hoch. Schlingensiefs wahnhaft dunkle Insel ohne Hoffnung ist ein Dorado für Schimmelreiter. Schlingensief sagt: „Handle, wie dir dein Dä-mon vorschreibt.“ Und wir hören Schiller: „Gehorcht dem Dämon, der Euch sinnlos wütend treibt.“ Er zeigt drei schwarzver-mummte Frauen, die wie verzweifelte Tiere die Leiche eines Märtyrers ins Eis schleppen, und wir denken an die Hexen aus Macbeth. Natürlich treiben auch Schlingensiefs Eis-schollen nicht vom Ozean, sondern von Cas-par David Friedrich auf uns zu, und als wir auf einer Schrifttafel in schwarzen Lettern lasen „Ein Schiff wird kommen“ war die Frage nur, in welcher Variante der Holländer-Mythos erscheinen wird. Schließlich klebte eine fliegende Holländerin am segellosen Mast einer elenden Rostschüssel. Durch dieses Chaos der schiefen Zitate, unter-

stützt von dröhnenden Geräuschen aus der Punkzeit taumelt Schlingensief dem Ende der Illusion entgegen. Rette sich, wer kann, vor gebildeten Exegeten. Denn erst auf der Flucht vor den Zitaten findet man in die Be-wegung des Films, in der alles zu Ende geht. Noch spannender wird sein, was auf das Pa-thos dieser letzten Vorstellung folgt. (Helmut Schödel in: DIE ZEIT)

Buch, Regie: Christoph Schlingensief, Kame-ra: Dominik(us) Probst, Schnitt: Thekla von Mülheim (= Christoph Schlingensief), Beatrice Hasler, Musik: Tom Dokoupil, Christoph Schlin-gensief, Helge Schneider, Ella JohnsonDarsteller: Udo Kier, Tilda Swinton, Uwe Fellensiek, Anna Fechter, Anastasia Kudelka, Volker Bertzky, Dietrich Kuhlbrodt, Wolfgang Schulte, Ark Boysen, Melf Boysen; Sprecher: Werner Funke, Anna Fechter, Christopher Krieg (= Christoph Schlingensief), Produktion: DEM

Filmproduktion, Mülheim, Länge: 84 min, For-mat: 16mm, 1:1.66, Farbe, BRD 1986

19. September 2010, 21.30 Uhr EGOMANIA

MUTTERS MASKE

„Helge Schneider, so ekelhaft wie nie zuvor! Sehenswert!“ TIP

„Exaltiert, durchgeknallt und in entschie-dener, aber entscheidender Schieflage.“DIE ZEIT

„Helges Musik ist göttlich. Der Film teuflisch. Das passt und bringt eine Menge Spass.“ SPEX

„Dallas und Lindenstrasse, Baudelaire und Visconti, Harlan und Fassbinder, alles gut durchgeschüttelt = Mutters Maske!“ FR

INHALTSeinen Hang zum Ausverkauf gängiger Fließ-bandformate beweist Schlingensief mit Mut-ters Maske (1988), einer freien Adaption des Films Opfergang (1944) von Veit Harlan. Unter Verwendung von Motiven aus Baudelaires Blumen des Bösen zeichnet er das Drama ei-ner im Ruhradel angesiedelten Familie nach.

Das verhasste Erzählkino führt Schlingensief mit Mutters Maske ad absurdum, indem er des-sen Regelhaftigkeit selbst anwendet und über-beansprucht. Ein wichtiges Moment, auch für Schlingensiefs spätere Theaterarbeit: Er macht Bekanntschaft mit dem für ihn prägenden Stil-mittel der Affirmation. Durch eine freiwillige Lächerlichkeit reduziert er seine Tragikomödie auf das Niveau einer Daily Soap.

Buch (mit Mathias Colli), Regie und Kamera: Christoph Schlingensief, Schnitt: Thekla von Mülheim (= Christoph Schlingensief), Ariane Traub, Musik: Helge Schneider & Menu total, Hatte Grabe, Wally Böcker, Charly Weiss. Gesang (Titelsong): Eva Kurowski, Darsteller: Brigitte Kausch, Karl Friedrich Mews, Helge Schneider, Susanne Bredehöft, Anna Fechter, Volker Bertzky, Dieter Lersch, Andreas Kunze, Conny Jurkait, Regina Stiplosak, Annastasia Kudelka, Baronin Irmgard Freifrau von Bers-wordt-Wallrabe, Conny Fechter, Doris Kreis, Uli Hanisch, Peter Jurkait, Dennis Koehnen, Udo Kier, Produktion: DEM Filmproduktion, Mülheim / Hymen II, Länge: 85 min, Format: 16mm, 1:1.33, Farbe, BRD 1987/88

20. September 2010, 21.30 Uhr

MUTTERS MASKE

100 JAHRE ADOLF HITLERDie letzte Stunde im Führerbunker

„Genial!“ FR

„Scheisse!“ FaZ

„Gefährlich!“ TaZ

„Es gibt noch Filme, die dich aus der Kurve tragen, dich und den täuschenden Vorschein von Ästhetischen und politischen, intimen und historischen Gewissheiten.“ TIP

„Schlingensief hat schon viele Filme gemacht, die bei den Mitwirkenden und Zuschauern die Schmerzgrenze berühren. Die Banalität des Bösen, hier wird sie zum Ereignis.“P. W. Jansen, EPD FILm

Ein Licht, ein Tag, ein Führer. In 16 Stun-den in einem Bunker gedreht. „Laß Sie Dir schmecken, die Nüsse der Russen! Du Nazi-fotze!“ C.S.

Christoph Schlingensief (1960 - 2010), Foto: Patti Smith

Page 6: Ein Wald für sich

StadtkinoZeitung06 In memoriam Christoph Schlingensief

„Neun Personen, fünf Männer, vier Frauen, von einem Handscheinwerfer aus dem Dun-kel herausgezerrt, belauern sich. Wir sehen die letzte Stunde im Führerbunker. In knapp 16 Std. an einem Stück gedreht, in einem Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg. l00 Jahre Adolf Hitler zeigt Inzest und Intrigen, Getöse und Krawall, Drogen, Selbstmord, Blasphemie. Hier wird endlich klar: Die Zeit der pädago-gischen Hitlerbeschwörung ist vorbei. Hitler wohnt gleich nebenan und zeigt die große Geste und den Abgrund und das Lachen, wenn alles gut gegangen ist. Das größte Geheimnis der Menschheit, hier wird es zum Ereignis: Wir selbst!“ FaZ

INHALTDer 60-Minuten-Film l00 Jahre Adolf Hit-ler (1989) wurde an einem einzigen Tag ge-dreht und kommt damit einer Live-Ereignis schon ziemlich nahe. Charakteristisch für das Schlingensiefsche Cinema direct ist der lieblos wirkende und dabei doch sehr präzise Schnitt. Er kennt keine fließenden Übergän-ge, sondern prägt den andauernd bruchstück-haften Charakter der Filmhandlung. Diesen finden wir später - beinahe identisch - in Schlingensiefs Theaterarbeiten, insbesondere auch in seinen TV-Shows (TALK 2OOO, U 3OOO) wieder.

Die Leinwand ist für das Dargestellte un-weigerlich zu klein; ungenügend groß wer-den bald schon Bühnen und Fernsehstudios sein. Spätestens seit l00 Jahre Adolf Hitler ist das Überschreiten von Konventionen, von Wert- und Moralvorstellungen, das schnell ins Peinliche und Entblößende entgleiten kann, beständige Thematik von Schlingen-siefs (Film-)Arbeiten.

Bloßgestellt wird jedoch niemals der Ein-zelne, es ist immer die Gesamtheit der Men-schen - auf und vor (!) der Leinwand - als zufällige gesellschaftliche Auswahl.

l00 Jahre Adolf Hitler ist Schlingensiefs bis dorthin wichtigster Film. Er bringt ihm seitens seiner Fürsprecher den Ruf ein, „der letzte deutsche Heimatfilmer“ (G. Seeßlen) zu sein, der mittels Brüskierung Aufruhr entfacht, um Harmonie und schließlich Heimat zu finden. Mit der Hitlerfigur, die von nun an häufig in seine Arbeit „einmarschiert“, legt Schlingen-sief die Hand - sprich die Handkamera - in die offenste aller deutschen Wunden. Hier ist Hitler keine vergangene Personalkatastrophe, sondern die Fratze des absurden Menschen an sich, der sich als elternlos, als höheres Wesen begreift, dessen völlige Monstrosität jedoch nicht in die Anstalt, sondern an die Macht führt und drauflos wütet.

Man begreift l00 Jahre Adolf Hitler weniger durch die Frage, wo der Film hin will, was er „erreichen“ will, sondern eher durch die Frage, wovor sie weglaufen, vor wem sie flie-hen - und dabei eine Spur der Verwüstung hinterlassen.

Buch, Regie: Christoph Schlingensief, Ka-mera: Foxi Bärenklau, Schnitt: Thekla von Mülheim (= Christoph Schlingensief), Volker Bertzky, Ton: Günther Knon; Musik: Tom Dokoupil, Darsteller: Volker Spengler, Brigitte Kausch, Margit Carstensen, Dietrich Kuhl-brodt, Alfred Edel, Andreas Kunze, Udo Kier, Marie-Lou Sellem, Asia Verdi, diverse Kinder, ein Hund, Produktion: DEM Filmproduktion, Mülheim / Hymen II; Madeleine Remy Filmpro-duktion, Berlin/West, Länge: 60 min, Format: 16mm, 1:1.33, Farbe: s/w, BRD 1988/89

22. September 2010, 21.30 Uhr

100 JAHRE ADOLF HITLER

DAS DEUTSCHEKETTENSÄGENMASSAKERDie erste Stunde der Wiedervereinigung

„Kinotip der Woche!“ BILD

„Ein riesiger Spass. Hart, laut, dreckig und ehrlich.“ DIE ZEIT

„Die ganze Wahrheit über die deutsche Wie-der- vereinigung. Sehenswert!“ TaZ

„Mittlerweile zum Kultfilm avanciert. Eine Abrechnung mit Helmut Kohls Wiederverei-

nigung und eine gelungene Antwort auf die Langeweile des deutschen Films.“SüDDEuTSChE ZEITung

„Jetzt oder nie! Das richtige Geschenk zum 10. Jahrestag der Wiedervereinigung.“SPIEgEL

„Alfred Edel, der beste Metzger seit Erfin-dung der Schlachtplatte.“ KonKRET

„Wir sind das Volk! Von wegen!Ihr ward das Volk!“hELmuT KohL

INHALTIm Deutschen Kettensägenmassaker (1990) zeich-net Schlingensief die erste Stunde der Wie-dervereinigung als ein nationales Schlachtfest nach. Die Nachricht von der Maueröffnung versetzt eine westdeutsche Metzgerfamilie in einen schier hemmungslosen Blutrausch. In einer verwahrlosten Hotelküche meuchelt sie ehemalige DDR-Bürger dahin.

Der Kommentator in der FAZ zur Urauf-führung: „Die chaotische Truppe parodiert mit nicht gerade feinsinnigen Mitteln die Hysterie der Horrorfilme, Motive aus Hitchcocks Psy-cho sind in grobschlächtigen Bildern nachge-stellt. (...) Es ist eine chaotische Mischung aus Punk und Nonsens, die zu einem hämischen und gekonnt geschmacklosen Untergrundfilm angerührt wurde.“

Das Kettensägenmassaker ist eine kurzfristige Reaktion auf eine kurzfristige politische Ent-wicklung. Die rasenden Kamerafahrten, das im Hintergrund stets vernehmbare Geräusch ei-ner Kettensäge und ihre effekthaschende Dar-bietung im konkreten Einsatz am Menschen, verwendet Schlingensief bewusst als Element des Trashs. Als solchen interpretiert der Film auch die deutsche Einheit, als bluttriefenden, kannibalistischen Akt der Einverleibung des Ostens durch den Westen.

Unter dem Titel „Von Menschen und Metz-gern“ schreibt Claudius Seidel im Spiegel: „Die Wut des Regisseurs treibt die Kettensägen an, seine Verzweiflung färbt die Bilder düster, und weil Schlingensief in seiner Raserei nicht zu bremsen ist, wird er manchmal auch zur Ner-vensäge. Der Mann ist ein Triebtäter, kein The-oretiker; er denkt in Bildern, nicht in Wörtern - und wer nach Symbolen und Metaphern sucht, wird sich an diesem Film verschlucken. Denn Schlingensief frisst die deutschen Bilder und Geschichten einfach in sich hinein, und folglich ist Das Deutschen Kettensägenmassaker weniger das Ergebnis eines Reflexions-, eher eines Verdauungsprozesses.“

Buch, Regie: Christoph Schlingensief, Re-gieassistenz: Udo Kier, Kamera: Christoph Schlingensief, Voxi Bärenklau, Schnitt: Ariane Traub, Spezialeffekte: Thomas Göttemann, Darsteller: Karina Fallenstein, Susanne Bredeh, Artur Albrecht, Alfred Edel, Brigitte Kausch, Dietrich Kuhlbrodt, Susanne Bredehöft, Reinald

Schnell, Udo Kier, Produktion: DEM FILM mit RHEWES FILMPRODUKTION GMBH, Länge: 63 min., Farbe, BRD 1990

24. September 2010, 21.30 Uhr

DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER

DIE 120 TAGE VON BOTTROPDER LETZTE NEUEDEUTSCHE FILM

Die letzten Überlebenden der alten Fassbin-der-Zunft tun sich zusammen, um auf dem Potsdamerplatz den wirklich allerletzten Neuen Deutschen Film, ein Remake von Pasolinis „120 Tage von Bottrop“ zu drehen. Schlingensief soll Regie führen, wird aber von einem gewissen „Sönke Buckmann“ er-setzt, dem prompt Katja Riemann den Bun-desfilmpreis überreicht. Eine Hommage an Rainer Werner Fassbinder, an die Exzentrik und den Wahnsinn einer längst vergangenen Zeit. C.S.

„Laut, schrill, obzön - fernab von Sitte, Sinn und Ordnung... Herr Schlingensief, brauchen Sie einen Psychiater“ BILD

„Deconstructing Riefenstahl & Fassbinder: Die deutsche Krankheit Film, der Triumph des Willens zur Kömödie, all das muß totge-macht werden. Einer mußte diesen schmut-zigen Job erledigen. Er hat es für uns getan.“ TaZ

„Wenn man Schlingensief sieht, weiß man was dem deutschen Kino, so gefällig es da-herkommen mag, zumeist abgeht: Eigenart.“ mIChaEL aLThEn, SZ

„Natürlich verdient Christoph Schlingensief allein den Bundesfilmpreis - für öffentlich gelebte, in Kunst verwandelte Dauerpuber-tät und die erfolgreiche Verschmelzung von Selbstmitleid und ernsthaften Unernst.“ BZ

„...Experimentalorgie die ihresgleichen sucht. Schlingensief‘s bester Film seit Jahren.“ DER STanDaRD

INHALTIn den 12O Tagen von Bottrop (1996) wendet sich Schlingensief von der (Anti-)Analyse ty-pisch deutscher Krankheiten ab und setzt sich kritisch, mit unter auch boshaft, mit `seinem´ Medium - dem Film - auseinander.

Vordergründig ist es ein Film über die Hektik, die hässliche Ökonomie des Filme-machens, ein Deutscher Tag als Pendant zu Truffauts Amerikanischer Nacht. Gleichzeitig ist es ein melancholischer Abgesang auf den deutschen Film der späten 60er und 70er Jah-re, auf den sich Schlingensief berufen hat. Ein Abschied von gestern.

In einer Reihe von Anspielungen, Spitzen und Zitaten ist der Film auch ein Rückblick auf die deutsche Filmgeschichte als solche, der

Schlingensief den zeitweiligen Anschein ver-passt, dass sie keine Zukunft haben werde.

Die 12O Tagen von Bottrop sind erwartungs-gemäß verwirrend - auch oder gerade für seine Figuren -, thematisch überladen, ex-zentrisch bis exzessiv, aber auch lustig. Ein Haufen ehemaliger Fassbinderakteure (Margit Carstensen, Irm Hermann, Kurt Raab, Volker Spengler) plant, den letzten neuen deutschen Film zu drehen - ein Remake des Skandal-films Salo oder Die 120 Tage von Sodom von Pier Paolo Pasolini.

Nicht die Figur des Christoph Schlingen-sief, gespielt von Martin Wuttke, der zum Auf-nahmeleiter degradiert wird, sondern der mit Bundesfilmpreisen überhäufte Sönke Buck-mann (Mario Garzaner) übernimmt die Re-gie. Seine optische Ähnlichkeit mit Fassbinder hangelt wie ein Omen über dem Projekt. Der Produzent (V. Spengler), ständig in Kontakt mit seinem Agenten (C. Schlingensief) in Hollywood, ist bemüht, den Visconti-Akteur Helmut Berger für den Film zu engagieren. Der Versuch, an Zeiten des Aufbruchs anzu-knüpfen, gerät mehr und mehr außer Kon-trolle. Die gebeutelten Figuren pendeln zwi-schen Tragik und Komik:

Der AIDS-kranke Kurt Raab kommentiert Margit Carstensens Bemerkung zum Erhalt des Iffland-Ringes, dieser werde jedes Jahr an den besten Schauspieler weitergereicht, mit den Worten: „Das erinnert mich an meine Krankheit.“; Produzent Volker Spengler be-springt Komparsen, während Bundesinnen-minister Kanther in einer Einspielung von der Bundesfilmpreisverleihung Katja Riemann und Till Schweiger - Heroen deutscher Film-kunst - huldigt; Irm Hermann liefert sich, in Erinnerung an gute, alte Fassbinder-Zeiten, eine Schlammschlacht mit Margit Carsten-sen… Christoph Schlingensief (M. Wuttke im Gewand des Dornen gekrönten Jesus Chri-stus) verzweifelt an seinen organisatorischen Unfähigkeiten; die größenwahnsinnige Leni Riefenstahl taucht auf dem Kamerabock auf; Irm Hermann mutiert angesichts dieses Um-standes zu Lieselotte Pulver… Und alle fragen sich, ob und wann denn Helmut Berger am Set eintreffe. Gleichzeitig hetzt Agent Schlin-gensief mit Anzug und Handy durch das hei-ße Hollywood, trifft auf japanische Touristen, Udo Kier und Roland Emmerich. Das Film-projekt muss schließlich scheitern, stellvertre-tend für den von Schlingensief todgeweihten Neuen Deutschen Film.

Hinter all diesen derben, manchmal auch komischen Gags versteckt sich eine verbor-gene Sehnsucht nach jener Zeit des deutschen Films. Ihr entgegen steht die momentane deutsche Film(chen)branche, die vor Wort-manns und Bucks, vor Ben Beckers und Kai Wiesingers - allesamt zu „Kunstschaffenden“ stilisiert - nur so strotzt, und für die Bottrop nur ein müdes, ein sehr müdes Lächeln erübrigen kann. Schlingensief gesteht seinem Abbild ak-tueller Erfolgsregisseure, Sönke Buckmann, zu, das höchst eigene Kettensägenmassaker gedreht zu haben.

Die schmutzig und kratzig wirkenden Bil-der machen allerdings eines deutlich: Die dar-gestellte Zeit ist antiquiert, und Bottrop bildet ihren fulminanten Schlussstrich; ein sarka-stischer Trip durch eine in ihrer Profillosigkeit und Narzissmus erstarrten deutschen Film-landschaft, eine Assoziationskette wahnwit-ziger Szenen zu schmissigem Helge-Schnei-der-Jazz.

Mit Pasolini hat Bottrop kaum etwas zu tun, allein die in Hundehaltung gezwungenen und an der Leine geführten Menschen aus dem Film des italienischen Neorealisten sind ver-arbeitet - unkommentiert und als Detail unter vielen. Der Film ist auch nicht in 120, son-dern in nur fünf Tagen abgedreht worden. …Und - wen wundert es - Bottrop kommt auch nicht darin vor.

Buch (mit Oskar Roehler) und Regie: Christoph Schlingensief, Musik: Helge Schneider, Dar-steller: Margit Carstensen, Irm Hermann, Volker Spengler, Udo Kier, Helmut Berger, Sophie Rois, Martin Wuttke, Frank Castorf, Leander Haußmann, Kitten Natividad, Länge: 60 min, Ton: lautes Mono!, Farbe und s/w, D 1997

25. September 2010, 21.30 Uhr

DIE 120 TAGE VON BOTTROP

Momentaufnahme in Namibia 2005..., Foto: C.P.

Page 7: Ein Wald für sich

Ab 24. September im GArtenbAukino Wien und im kiZ royAl GrAZ

copieconformeEin Film von A b b a s K i a r o s t a m iDREHBUCH : ABBAS KIAROSTAMI - ADAPTION : MASSOUMEH LAHIDJI - KAMERA : LUCA BIGAZZI - SCHNITT : BAHMAN KIAROSTAMI - TON : OLIVIER HESPEL, DOMINIQUE VIEILLARD - AUSSTATTUNG : GIANCARLO BASILI, LUDOVICA FERRARIO - AUSFÜHRENDER PRODUZENT : GAETANO DANIELE - PRODUKTI-ONSLEITUNG : IVANA KASTRATOVIC, CLAIRE DORNOY - PRODUZENTEN : MARIN KARMITZ, NATHANAËL KARMITZ, CHARLES GILLIBERT UND ANGELO BARBAGALLO - KOPRODUZENTEN : BIBI FILM, FRANCE 3 CINÉMA - MIT BETEILIGUNG VON : CANAL +, FRANCE TÉLÉVISIONS, LE CENTRE NATIONAL DE LA CINÉMATOGRAPHIE, RAI CINÉMA - MIT UNTERSTÜTZUNG VON : REGIONE TOSCANA UND TOSCANA FILMCOMMISSION (LOGHI), LE PROGRAMME MEDIA DE LA COMMUNAUTÉ EUROPÉENNE - IN ZUSAMMENARBEIT MIT : ARTÉMIS PRODUCTIONS / PATRICK QUINET, COFINOVA 6, CINÉMAGE 4, SOFICINÉMA 5

juliette binoche„Beste Schauspielerin“ der Filmfestspiele Cannes 2010

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Page 9: Ein Wald für sich

Anderssein: Wahnsinn?StadtkinoZeitung 09Luc Moullet, „La terre de la folie“

Richard Copans Der Wahnsinn ist ein in deinem Werk immer wiederkehrendes Thema.

Der Wahnsinn, der eine Person bedroht, die nicht wie die anderen ist: die nicht schwim-men kann, die eine Coca-Cola-Flasche auf 25 verschiedene Arten öffnen kann, die sich fragt, wo das Zentrum Frankreichs liegt...

Ist der Humor deiner Verrücktheiten die freundliche Seite eines verborgenen krimi-nellen Wahnsinns?Luc Moullet Ja, vielleicht bin ich irgendwie verrückt (wenn es verrückt ist, nicht schwim-men zu können oder eine neue Hauptstadt für mein Vaterland zu suchen – aber dann wären die Brasilianer alle verrückt – oder die fünfundzwanzig Arten, eine Coca-Cola-Flasche zu öffnen, zu erforschen). Aber es ist eine milde Form des Wahnsinns. Eigentlich ist es eher ein Anderssein. Es stimmt, viele Leute halten jedes Anderssein für Wahnsinn. Dieses Anderssein hängt mit meiner Apraxie, meinem Autismus zusammen. Bei mir spielt sich alles (oder fast alles) im Hirn ab. Ich kann meine Schuhe nicht zubinden oder meinen Löffel bei Tisch halten, ich kann nicht Schi-laufen, habe keinen Führerschein, kann weder tanzen noch im Gleichschritt marschieren.

Aber das Anderssein, in dem Wahnsinn steckt oder das als Wahnsinn gesehen wird, kann die Grundlage künstlerischen Schaffens bilden (Fuller, Gance, die japanischen Filme-macher, Maupassant, Poe, Hölderlin, Walser, Nerval, Althusser, Hedayat, Van Gogh, Pollock, etc....). Viele große Künstler sind auch mit dem Gesetz in Konflikt gekommen: entweder aus politischen Gründen (Dostojewski, Cé-line, Voltaire, Hugo, Brasillach, Chénier, Sol-schenizyn, Drieu La Rochelle) oder schlicht als Kriminelle (Villon, Marlowe, Malraux, Genet, Chessman, Godard, Truffaut und sogar Scorsese). Man hält mich manchmal für ver-rückt, weil ich nie danach trachtete, Angestell-ter zu werden, eine gute Pension zu erhalten. Aber Leute, die gar kein bisschen verrückt sind, sind eigentlich recht traurige Gestalten, oder? Wahnsinn, Verrücktheit ... ich halte all die Leute, die nur danach trachten, ein Auto oder einen Mikrowellenherd zu kaufen oder so viel Geld wie möglich zu verdienen, für völlige Spinner. In meinem Film sind ja nicht nur die Mörder verrückt, sondern manchmal auch die interviewten Zeugen, die zunächst ganz normal zu sein scheinen.Copans In deinem vorangehenden Film Le Prestige de la Mort inszenierst du dein Begräb-nis, was filmst du in diesem Film?

Was geschehen wäre, wenn du in dieser tödlichen Gegend geblieben wärst?Moullet Was ich in La Terre de la Folie filme? Sicherlich nicht das, was mir passiert wäre, wenn ich dort geblieben wäre. Zunächst kam ich sehr selten in diese Gegend, bevor ich 14 Jahre alt war – es ist also eine Wahlheimat. Und dann wird man den Wahnsinn ja nicht automatisch dadurch los, dass man fortgeht. In diesem Film ist Luc Moullet ein MacGuf-fin, ein Ariadnefaden, der mir von meinem Produzenten und meinen Mitarbeitern vor-gegeben wurde (aber ich habe nichts gegen Vorgaben). Sie fanden, dass das für den Film besser wäre.

Was hier vor allem zählt, das ist die Be-schreibung der Fakten und Gründe des Wahnsinns in diesem Gebiet. Es ist das erste Mal in der Geschichte des Kinos, dass man versucht, dieses Thema zusammenfassend zu behandeln.

Der Wahnsinn hängt damit zusammen, dass der südliche Teil der Provenzalischen Voralpen ein entlegenes, schwer erreichbares Gebiet ist. Die Kretins der Alpen ... Alle unsere Bergre-gionen sind betroffen, außer den Pyrenäen. Warum diese Ausnahme? Weil die Pyrenäen nicht wirklich entlegen sind... Sie stellen eine sehr kurze Barriere dar, die in 30 km über-wunden werden kann. Daher keine entle-

genen Landstriche. Während die Alpen mit ihren Voralpen zweihundert Kilometer weit sind. Gut, aber warum findet der Wahnsinn hier heute noch immer statt, während die Isolierung dank des Autos verschwunden ist? Zunächst, weil es weder Wander- noch Skigebiet ist, und es daher wenige Bewohner gibt, also keine Zeugen oder einfach Men-schen, die einschreiten könnten. Und dann weil sich hier gewissermaßen eine Tradition herausgebildet hat (da Herr Sowieso getötet hat, warum nicht auch ich?).

Und schließlich weil diese Wüste Aussteiger anzieht, was Konflikte zwischen den Ausstei-gern und den bodenständigen Einheimischen zur Folge hat. Es gibt auch das Tarifa-Syn-drom. Tarifa ist diese andalusische Stadt, in der es viel Wind gibt und daher viele Verrückte. Letztlich gibt es tausend Gründe. Ich zähle sie auf, ohne einen bevorzugt zu behandeln. Was uns hier interessiert, ist die Spurensuche, die

Suche nach der Wahrheit.Komik, Tragik. Manche mögen über die

Komik in all diesen in Wirklichkeit tragischen Geschichten erstaunt sein: über vierzig Tote. Diese Woge des Schreckens löst eine Abwehr-reaktion in Form von Lachen aus. Und die Reaktionen der Mörder und der Verrückten sind so abseitig und skurril, dass sie unver-meidlich Lachen provozieren.

In der Lebensrealität sind Komik und Tragik eng verbunden. Ich erinnere mich, dass meine Mutter mit 79 Jahren, am Ende ihrer Kräfte einwilligte, das Spital, das sie nicht länger behalten wollte, um in ein Heim zu ziehen. Der Übersiedlungstermin war am Montag, aber sie meinte, dass das Spital noch einen ganz besonderen, sehr schwierigen Eingriff vornehmen müsse. In Wirklichkeit ging es um einen Einlauf... Sie meinte, man könne sie nicht einfach so hinauswerfen. Aber die Trage war schon da. Sie stand vor vollendeten Tatsa-

chen, mehr oder weniger. Da sagt sie zu mir: „Das werde ich mir aber merken...“. Diese Aussage entbehrte nicht einer gewissen Ko-mik, da ich wusste, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte: sie starb einundzwanzig Tage danach. Gleichzeitig ist dieser Satz in diesem Zusammenhang auch äußerst tragisch.

Ich glaube, dass in der Welt alles auf binären Einheiten beruht, die zwar gegensätzlich sind, aber nicht voneinander getrennt werden können und die in dieser Form die einzige Wahrheit darstellen: Religion und Atheismus, Kunst und Industrie, Pazifismus und Kriegs-hetze, Judentum und Islam, Vernunft und Wahnsinn, Liebe und Hass, Komik und Tra-gik, etc.... Und vergessen wir nicht, dass die Komik Tragik erfordert, sie ist ein Hindernis, das die vis comica überwinden muss. Copans Kannst du improvisieren?Moullet Es stimmt, dass ich wenig improvi-siere. Diesbezüglich stehe ich in der Tradition von Rohmer und Hitchcock, wenngleich einige Stufen darunter: ich habe gerne alles auf kariertem Papier vorbereitet. Aber dieser Mangel ist mir sehr bewusst.

Das Kino (und die Kunst ganz allgemein) befindet sich in einem Stadium, in dem alles gemacht und gesagt wurde, in dem Fortschritte nicht durch Zufall erzielt werden können. Aber da nahezu alles schwarz auf weiß festge-legt ist, kann ich es mir auch einige Leerstellen erlauben, die ich füllen oder überspringen kann. Im Rahmen des Dokumentarfilms ist die Improvisation natürlich notwendig. Die beste Stelle in Genèse d’un Repas ist die sehr bewe-gende Einstellung der Kinder, die vergnügt jauchzend vierzig Kilo Bananen am Rücken tragen. Fünf Minuten davor, hatte ich nicht gewusst, dass ich das drehen würde.Copans Du hast den Ruf eines „armen“ Filmemachers, der mit kleinen Budgets arbei-tet...Ist es hilfreich, viel Geld für einen Film zu haben?Moullet Ich bin ein Filmemacher von nie-derer Herkunft. Mein Urgroßvater Fortuné Moullet (1860-1945) besaß Hühner, einige Schafe, einen kleinen Garten und ein Schwein. Mein Großvater war Briefträger. Mein Vater Vertreter .... Eine Großmutter war Hausmei-sterin, eine andere Pfarrersköchin. Allesamt finanziell sehr eingeschränkt also. Bis zum Alter von 32 Jahren lebte ich in einer Einzim-merwohnung mit einer einzigen Wasserstelle, ohne Kühlschrank. Das hat mich nie gestört.

Luc Moullet, der heitere Altmeister der „Nouvelle Vague“, über sein jüngstes Meisterwerk,die dokumentarische Farce „La terre de la folie“. RicHaRd coPans

Daher habe ich keine aufwendigen Bedürf-nisse. Ich weiß gar nicht, welche neuen Dinge ich kaufen sollte. So sind auch meine Filme.

Jedenfalls ist der teuerste Film eines Filme-machers fast immer auch der schlechteste, je-denfalls der enttäuschendste: Die zehn Gebote von De Mille, der 13 Millionen Dollar ko-stete, ist deutlich schlechter als sein Kindling, der für 10.209 Dollar gedreht wurde. Das ist normal, denn ein großes Budget ist schwierig zu bewältigen und es gibt immer jede Menge von Anforderungen zu erfüllen. Keine Regel ohne Ausnahmen: Tati, Ophüls. Ich erinnere mich, dass Jacques Doillon zu Jean-Claude Brisseau sagte: „Mach nie einen Film für mehr als 10 Millionen Francs. Darüber wird man dich bis aufs Blut quälen“.

Diese Geschichte mit dem Geld, das ist Blödsinn. Einer meiner Filme war bei einem Festival ein Riesenerfolg. Und er hatte 56.000 Francs gekostet, also sehr wenig. Und der Film eines Kollegen hatte gar keinen Anklang gefunden. Einer seiner Freunde hatte ihm Vorwürfe gemacht. Und unser Filmemacher hatte geantwortet: „Na, was soll ich schon mit nur 300.000 Francs anfangen...“. Geldmangel ist das Alibi des Dummkopfs.Copans Ist La Terre de la Folie ein moralischer Film?Moullet La Terre de la Folie ist ein moralischer Film, da er sich im Sinne von Rohmer „auf den Geist bezieht“ (den Geistes der Wahnsinnigen).

Aus dem Französischen von Werner Rappl

Luc MoulletLa terre de la folie(Frankreich 2009)

Regie Luc MoulletDrehbuch Luc MoulletKamera Pierre StoeberSchnitt Anthony VerpoortTon Olivier SchwobProduktion les films d´iciVerleih Stadtkino FilmverleihLänge 90 Min.Technik 35mm / Farbe / 1:1,66Fassung Französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln

Ab 3. September 2010im Filmhaus Kino am Spittelberg

„Es stimmt, dass ich wenig improvisiere“: Luc Moullet beim Dreh zu „La terre de la folie“.

Vergessen wir nicht, dass die Komik immer Tragik erfordert.

Page 10: Ein Wald für sich

„Du musst nur erscheinen, aber es istverboten, dich so zu zeigen, wie du bist.“

StadtkinoZeitung10 Ludwig Wüst, „Koma“

„Bis es licht wird...“

Sie haben sich für Ihren ersten Langfilm an ein sehr heftiges Thema gewagt. Jenseits der Gewalt erzählt „Koma“ vor allem von Einsamkeit und emotionaler Hilflosigkeit. Was war für Sie der erste Themenimpuls, als sie begannen, am Drehbuch zu schreiben?Ludwig Wüst Es gab zwei: Das eine war die Geschichte mit den jungen Burschen, die Snuff-Videos aus dem Internet sammeln. Das Internet bedient das hervorragend. Ich hab mir die Frage gestellt, welche Menschen mit welchen Geschichten da dahinter stehen? Der erste Gedanke, den ich verfolgte, war der, was passiert, wenn der Sohn ein Snuff-Video herunterlädt und im Laufe des Films drauf-kommt, dass sein Vater da im Spiel ist.

Den eigentlichen Auslöser lieferte mir ein Mann, den ich vor Jahren flüchtig kannte und der eine Frau, die im Wachkoma lag, zu Hause gepflegt hat und ich wusste, dass sie auch ein Liebespaar waren. Da wollte ich weitergehen.

Beziehen Sie den Titel in erster Linie auf das Wachkoma der Frau oder spielt es auch ans emoti-onale Koma mancher der Figuren an?Wüst Es gab bei der Uraufführung in Moskau eine interessante Interpretation: Ein Journalist im Saal meinte, der Titel beschreibt den Zustand einer Gesellschaft, in der solche Dinge möglich sind. Es wird kaum miteinan-der kommuniziert, alles bleibt sehr ober-flächlich, daneben existiert die Gewalt und es gibt überhaupt keine Auseinandersetzung. Alle sind in einer Art von Koma oder blind. Das Eigentliche wird nicht thematisiert, was überall bleibt, ist die große Einsamkeit.

Sie arbeiten immer wieder mit Einstellungen, die so gewählt sind, dass man als Zuschauer nicht sofort ein klares Bild darüber hat, was gerade passiert. Es entsteht der Eindruck, dass Sie das Publikum irritieren bzw. ihm einiges an freier Assoziation überlassen möchten.Wüst Wir haben neun Monate am Schnitt gearbeitet und mich hat immer die Sorge begleitet, ob ich schon zu viel verraten habe. Offensichtlich doch nicht, wenn Sie mir diese Frage stellen. Ich denke schon, dass bei mei-nen Filmen viel im Kopf des Zuschauers ent-steht und dass er grundsätzlich nachwirkt, weil Fragen offen bleiben: Wie viel Zeit ist seit der Tat vergangen? Welches Verhältnis hat Hans zu seiner Frau? Eine wichtige bildtechnische Entscheidung war auch, eine Handkamera zu verwenden. Ich wollte aber kein wackeliges Bild, sondern ein Bild, das atmet. Alles sollte fließend und schwebend und nicht starr sein. Ich habe sehr lange mit meinem Kameramann diskutiert, ich wollte, dass der Kader nicht unbedingt ganz perfekt ist und es war mir stets ein Anliegen, nicht allzu viel zu verraten.

Eine der markantesten Elemente ist eine Einstel-lung, die zehn Minuten dauert. Was hat Sie zu dieser Plansequenz veranlasst. Was heißt es vor allem für die Schauspielerin, diesen langen Mono-log zu spielen?Wüst Ich liebe Plansequenzen, weil sie Zeit zulassen. In Koma bestand die Notwendigkeit zu sagen, wir sind am Ort des Verbrechens und die Kamera wurde wie eine Überwa-chungskamera eingesetzt. Man sieht auch kurz, dass sie wie ein Spion in der Tür montiert ist und es ist durchaus vorstellbar, dass so etwas in solchen Etablissements wirklich existiert, zumindest in den Gängen. Deshalb konnte nur eine Echtzeit-Sequenz in Frage kommen. Die Szene hatte ich ganz bewusst für eine Fränkin geschrieben, weil das Fränkische im Vergleich zum Wienerischen eine Qualität hat, wo man ganz wilde Geschichten formulieren kann, ohne dass sie obszön, schmutzig oder grauslich klingen, wie das beim Wienerischen durch-kommt. Ich habe Anke Armandi vor einigen Jahren entdeckt und dann die Szene geschrie-ben. Gertruds ehemalige Kollegin (Armandi)

Ein ungewöhnlicher Film „über das Verstecken“: Der österreichischeAusnahmeregisseur Ludwig Wüst über „Koma“. kaRin scHiefeR

führt den Täter da wirklich an den Punkt. Und ich hatte das Gefühl, dass es unmöglich war, diese Szene in Schuss/Gegenschuss aufzulösen. Ich wollte nicht schummeln.

Sie bewegen sich thematisch wie formal gerne an den Grenzen und reizen diese auch aus. Damit geraten Sie wohl auch an die Frage, was den Schauspielern zumutbar ist?Wüst Nenad Smigoc kenne ich sehr gut aus unserer Theaterarbeit. Ich hab mit ihm vor zwei Jahren im Hotel Orient Die Traumnovelle gemacht. Ich habe damals schon vom Filmpro-jekt gesprochen und angekündigt, dass es, falls wir zusammenarbeiten, keine Grenzen geben würde. Ich versuche von Beginn an ab, Klarheit

zu schaffen, was ich vorhabe. Natürlich hatte ich Bedenken bei der Liebesszene zwischen den beiden. Beim Dreh war es so, dass es bei der Waschszene, der Essszene und der Bettszene jeweils nur einen Take gab. Ich hab mit dem Kameramann vorher besprochen, dass ich keine der Szenen wiederholen wollte und gleichzei-tig wusste ich aber nicht, was die Schauspieler machen würden. Ich war absolut sicher, dass die Kollegen aufs Ganze gehen. Insgesamt haben unsere Dreharbeiten nur acht Tage gedauert

und davor haben wir eine Woche geprobt. Ich wusste bei allen Szenen, dass ich sehr lange nicht „Cut“ sagen würde. Auch meine Schau-spieler wissen, dass sie alle Zeit der Welt haben. Durch die langen Gespräche, die ich mit ihnen im Vorfeld führe, entstehen eine solche Energie und ein solcher Sog. Es ist ein Luxus, einen Schauspieler zu haben, der bereit ist, sich ein halbes Jahr vor dem Dreh jede Woche mit mir zu treffen. Das möchte ich auch beibehalten.

Arbeiten Sie auch mit nicht-professionellenDarstellern?Wüst Mit Nenad Smigoc, der Hans spielt, Claudia Martini als Gertrud und Roswitha

Soukup als Ehefrau hatte ich drei Profis, die schon sehr lange im Geschäft sind. Anke Ar-mandi ist eine hochbegabte Laiendarstellerin, und auch Daniel, der Sohn, und sein Freund sind von keinen Profis gespielt. Ich würde sagen es war ungefähr halb-halb. Oberstes Gebot ist bei mir Authentizität. Ich reagiere sehr situativ auf die Leute wie auch auf die Orte und integriere die dortigen Gegeben-heiten in die Handlung. Ich liefere den Anlass, aber sobald ich weiß, wo und mit wem ich arbeite, explodiert das Ganze.

Es wird bei den Szenen in den Innenräumen sehr wenig Licht verwendet, auch hier haben Sie wahr-scheinlich die Grenzen des Machbaren ausgereizt?

Wüst Das Haus, in dem wir gedreht haben, aber auch das Haus, in dem ich aufgewach-sen bin; sie alle haben etwas Düsteres. Das Haus von Koma mit seinen dunklen Möbeln und Teppichen vermittelt etwas nicht sehr Lebensfrohes. Natürlich mussten wir auch Scheinwerfer zu Hilfe nehmen, auch wenn es mir am liebsten gewesen wäre, keine zu verwenden. Ganz pur hätte ich natürlich vorgezogen. Gleichzeitig habe ich nicht das Gefühl, dass die Bilder so besonders düster

aussehen. Eines der Hauptthemen im Film ist das Verstecken. Dieser Mann versteckt alles, er versteckt sich selbst und er verstummt. Es ist eigentlich ein katastrophaler Lebenszustand, bis er endlich wegfährt und es licht wird und er sich seinem Leben stellt.

Wenn es eine Liebe zwischen Hans und Ger-trud geben kann, so wird es eine sonderbare Liebe bleiben, die Ehefrau hat einen neuen Liebhaber, der wiederum schweigend auf der Couch liegt. Trotz des friedlichen Endes ist das kein sehr rosiger Blick auf die Verhältnisse zwischen Mann und Frau.Wüst Die Ehefrau halte ich für eine extrem positive Figur, sie ist ein „Stehaufmänn-

chen“, obwohl sie es weder mit ihrem Mann noch mit ihrem Sohn einfach hat. Ich halte ihr Verhalten für sehr vital und notwendig. Sie macht das Beste aus ihrem Leben, das nicht leicht ist. Hans und Gertrud haben sich auf eine besondere Weise gefunden, dazu kann ich jetzt wenig sagen. Es ist kein Lebensmodell. Es ist so einmalig, dass jemand sagt, ich übernehme die Verant-wortung und kümmere mich nur noch um diesen Menschen. Wovon sie leben werden, weiß man nicht, das bewegt sich im Bereich der Utopie. Sie können meiner Meinung nach nicht alt werden, dazu ist die Sache zu extrem. Ich halte es aber für wichtig, die Geschichte zu erzählen, ausgehend vom ur-

sprünglichen Gedanken dieses Sado Maso-Aspektes. Ich glaube, dass der Film ganz gewaltig an einigen Tabus in dieser Rich-tung rührt: Wie darf man in dieser Pflegesi-tuation mit jemanden leben? Ist Sexualität zwischen den beiden erlaubt? Es passieren in diesen Szenen ja unheimlich zärtliche, phantastische Dinge.

„Alle sind in einer Art Koma oder blind...“ (Ludwig Wüst)

Ich wußte bei allen Szenen, dass ich sehrlange nicht „Cut“ sagen würde...

Ludwig WüstKoma(Österreich 2009)

Regie Ludwig WüstDrehbuch Ludwig WüstDarsteller Nenad Šmigoc, Claudia Martini, Roswitha Soukup, Anke Armandi, StefanMansberger, Daniela Gaets, WernerLandsgesell, Heinrich Herki, Manfred Stella, Casaluce/Geiger, Francesca Geiger, Marcus Geiger, Lukas Zahner, Georg Peter Raab,Otmar Schöberl, ThomKamera Klemens KoscherSchnitt Samuel KäppeliMusik Sounddesign: Jochen PetriTon Gregor RašekProduktion film.planet.netVerleih Stadtkino FilmverleihLänge 82 Min.Technik HD / Farbe / 16:9Fassung Originalfassung

Ab 17. September 2010im Filmhaus Kino am Spittelberg

Page 11: Ein Wald für sich

Impressum Telefonische Reservierungen Kino 712 62 76 (Während der kas-saöffnungszeiten) Büro 522 48 14 (mo. bis do. 8.30–17.00 uhr fr. 8.30–14.00 uhr) 1070 Wien, spittelberggasse 3 www.stadtkinowien.at / [email protected] Stadtkino 1030 Wien, schwarzenbergplatz 7–8, tel. 712 62 76 Herausgeber, Medieninhaber stadt-kino filmverleih und kinobetriebsgesellschaft m.b.H., 1070 Wien, spittelberggasse 3 Graphisches Konzept markus Raffetseder Redaktion claus Philipp Druck Goldmann druck, 3430 tulln, königstetter straße 132 Offenlegung gemäß Mediengesetz 1. Jänner 1982 Nach § 25 (2) stadtkino filmverleih und kinobetriebs-gesellschaft m.b.H. Unternehmungsgegenstand kino, Verleih, Videothek Nach § 25 (4) Ver-mittlung von informationen auf dem sektor film und kino-kultur. ankündigung von Veranstal-tungen des stadtkinos. Preis pro Nummer 7 Cent / Zulassungsnummer GZ 02Z031555 Verlagspostamt 1150 Wien / P.b.b.

StadtkinoZeitung 11Renzo Martens, „Enjoy Poverty“

Thomas Bernhard

Heldenplatz

Premiere am 9. September 2010

im Theater in der Josefstadt

mit Michael Degen, Sona MacDonald, Elfriede Schüsseleder, Gertraud Jesserer, Siegfried Walther, Wolfgang Pampel, Marianne Nentwich u.a.

Infos und Karten unter 01-42700-300 oder unter www.josefstadt.org

„The Horror...!“

Als ginge es darum, ein Äquivalent für Joseph Conrads Herz der Finster-nis oder für die Weltrettungsmanien

eines Fitzcarraldo zu finden: Der belgische Filmemacher und Videokünstler Renzo Mar-tens sorgt seit dem Kunstenfestival des Arts in Brüssel 2009 für nachhaltige Kontroversen in der Kunst- und Filmwelt. Im dokumenta-rischen Filmessay Enjoy Poverty begibt er sich in den von Hungersnöten und Kriegswirren verwüsteten Kongo, setzt sich real existie-renden Verwahrlosungen bis an den Rand zur Selbstverwirrung aus und provoziert mit folgender Frage: Was, wenn man die Hono-rare für Kriegsfotos nicht länger westlichen Reportern überließe? Hier zwei Statements aus der laufenden Debatte - entlang von Vor-führungen im Rahmen der diesjährigen Ber-liner Kunstbiennale und einer Ausstellung im Grazer Kunsthaus:

„Einer der Höhepunkte der Biennale ist der 90-minütige Spielfilm Enjoy Poverty des Bel-giers Renzo Martens, der eine Art von sati-rischem Dokumentarismus betreibt – ausge-hend von Jonathan Swifts Modest Proposal von 1729, in dem der Autor vorschlägt, dass man doch irische Armenkinder als Nahrungsmit-tel nutzen könnte, um einer durch Überbe-völkerung verursachten Hungersnot beizu-kommen. Von einem solchen Geist beseelt, reist Martens nach Kongo, um die Bewohner der ärmsten Gegenden davon zu überzeugen, ihre Armut endlich zu geniessen – oder we-nigstens selbst Profit daraus zu schlagen. Un-

Bilderproduktion und -suche im Kongo: Renzo Martens’ kontroversiell diskutierterFilmessay „Enjoy Poverty“ ab 17. März im Filmhaus Kino am Spittelberg.

„Crazy heart“DIE OmU, jETzT Im FIlmHAUs KInO

Dem Stadtkino bescherte Oscar-Preis-träger Jeff Bridges trotz Fußball-WM

und Hitzewelle einen der besten Kinosom-mer aller Zeiten. Und immer noch ist Scott Coopers gelassenes Porträt eines Country-

sängers und Alkoholikers einer der größten Publikumserfolge in den Arthouse Kinos: Crazy Heart wird also in der untertitelten OV ab 3. September im Filmhaus Kino am Spittelberg gezeigt. •

Jeff Bridges und Maggie Gyllenhall in „Crazy Heart“.

ter anderem versucht er, zwei Dorffotografen beizubringen, selbst die Bilder ihrer eigenen Misere zu verkaufen (anstatt dieses lukrative Geschäft den Reportern aus dem Westen zu überlassen). Ein Versuch, der ausgerechnet am Widerstand der Ärzte ohne Grenzen schei-tert, die den Bildern der Dorfknipser quasi den Kunstwert aberkennen. Der satirische Ansatz, gemischt mit höchstem persönlichem Engagement, macht Enjoy Poverty zu einem

wirklich ungewöhnlichen Dokumentarfilm, der unter anderem ahnen lässt, dass die gros-sen Konzerne und internationalen Organi-sationen nicht nur die reichen Bodenschätze in Kongo verwalten, sondern letztlich auch noch aus seiner Armut ihren Profit zu ziehen wissen.“ nZZ

Martens ist ein Grenzgänger. In aller Di-rektheit macht er auf Phänomene einer glo-

balisierten Welt aufmerksam, die zwischen versagter Emanzipation, getäuschter und inszenierter Medienwahrheit und konstru-ierter Dokumentationen Empathie heu-cheln. Wann berühren Bilder einer anderen ärmeren oder kriegsgeschüttelten Welt? Ist es distanzierte Fernsehunterhaltung? Wen bemitleidet man beim Betrachten dieser Bilder? Die dargestellten Leidenden, oder sich selbst, weil man diese Bilder eigentlich nicht ertragen will? Muss ich mir das an-tun? Martens Filme verlangen nach einer ernsthaften, durchgehenden Rezeption, sie erlauben kein Kommen und Gehen, wollen von Anfang bis zum Schluss gesehen wer-den. Die scheinbare Oberflächlichkeit, mit der sich Renzo Martens in den Filmen in den Mittelpunkt rückt, verdeutlicht den grenzenlosen Exhibitionismus einer sensati-onsgeilen Berichterstattung. „Genießen Sie die Armut“, schreibt er in Neonbuchstaben zum Fest in die Nacht. Nicht weil er sich lu-stig macht, sondern weil Hilfsorganisationen niemals glückliche Armut abbilden. Für gute Bilder sind Tränen gefragt, nicht wirklich ein selbstbestimmtes Leben. Das Leid der anderen betrachten heißt, dass es Leute gibt, die vom Leid der Anderen leben und em-pathisch Position beziehen. Renzo Martens fordert die Opfer auf, sich selbst leidend so zu inszenieren, dass sie damit Geld verdie-nen. Wer ist für wen und wofür verantwort-lich? Wie bewältigt man das Leben? Wie be-wältigt man Bilder? KunSThauS gRaZ

Ein Slogan hinein ins große Elend im Kongo...

Page 12: Ein Wald für sich

The MaTch FacTory präsenTierT eine sWiFT produKTionin ZusaMMenarbeiT MiT cenTersTaGe producTions - briLLanTe Ma. MendoZa FiLM “LoLa”

aniTa Linda rusTica carpio Tanya GoMeZ JhonG hiLario KeTchup eusebioTon aLberT MichaeL idioMa addiss TabonG sTephane de rocQuiGny schniTT KaTs serraon

aussTaTTunG danTe MendoZa KaMera odyssey FLoresMusiK Teresa barroZo Line producer aurora cruZ

KoproduZenTen connie Go-aLcanTara anTonio de GuZMan Jr.anTonio deL rosario Ferdinand LapuZ

ausFührender produZenT didier cosTeT drehbuch Linda casiMiroreGie briLLanTe Ma. MendoZa

Ein Film von BRILLANTE MA. MENDOZA

Ab 1. oktober 2010 im StAdtkino