25
Leseprobe aus: Stephen Hawking Eine kurze Geschichte der Zeit Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © 2015 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

Leseprobe aus:

Stephen Hawking

Eine kurze Geschichte der Zeit

Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.

Copyright © 2015 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Page 2: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

Stephen Hawking

Eine kurzeGeschichte der Zeit

Aus dem Englischenvon Hainer Kober

Rowohlt Taschenbuch Verlag

Page 3: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

Neuausgabe Dezember 2011

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag,Reinbek bei Hamburg, April 1991Copyright © 1988, 1997, 2011 by Rowohlt Verlag GmbH,Reinbek bei HamburgDie Originalausgabe erschien 1988 unter dem Titel«A Brief History of Time: From the Big Bang to Black Holes»im Verlag Bantam Books, New York«A Brief History of Time»Copyright © 1988, 1996 by Stephen HawkingAbbildungen Copyright © 1988 by Ron MillerUmschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München,nach einem Entwurf von any.way, HamburgSatz Sabon PostScript bei pagina GmbH, TübingenDruck und Bindung CPI – Clausen & Bosse, LeckPrinted in GermanyISBN 978 3 499 62600 5

Page 4: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

INHALT

Vorwort 7

Kapitel 1 – Unsere Vorstellung vom Universum 11

Kapitel 2 – Raum und Zeit 27

Kapitel 3 – Das expandierende Universum 53

Kapitel 4 – Die Unschärferelation 75

Kapitel 5 – Elementarteilchen und Naturkräfte 87

Kapitel 6 – Schwarze Löcher 109

Kapitel 7 – Schwarze Löcher sind gar nicht so schwarz 133

Kapitel 8 – Ursprung und Schicksal des Universums 151

Kapitel 9 – Der Zeitpfeil 185

Kapitel 10 – Wurmlöcher und Zeitreisen 199

Kapitel 11 – Die Vereinheitlichung der Physik 213

Kapitel 12 – Schluß 233

Albert Einstein 239

Galileo Galilei 241

Isaac Newton 243

Glossar 245

Dank 252

Register 255

Page 5: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen
Page 6: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

7

Vo r w o r t

Für die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor-wort geschrieben – das hat freundlicherweise damals Carl

Sagan übernommen. Statt dessen verfaßte ich einen kurzen Ab-schnitt mit dem Titel «Dank», um dort, wie man mir riet, alleLeute und Institutionen aufzuführen, die mir geholfen hatten.Allerdings waren einige der Stiftungen, die mich unterstützthatten, über diese Erwähnung nicht sehr erfreut, sahen sie sichdoch in der Folgezeit mit einer Flut von Anträgen konfrontiert.

Ich glaube, niemand – weder mein Verleger noch mein Agent,noch ich selbst – hatte mit einem derartigen Erfolg des Buchesgerechnet. Auf der Bestsellerliste der Sunday Times hielt es sich237 Wochen, länger als irgendein anderes Buch (die Bibel undShakespeare natürlich ausgenommen). Es ist in etwa vierzigSprachen übersetzt und so oft verkauft worden, daß ungefährein Exemplar auf jeweils 750 Männer, Frauen und Kinder die-ser Welt kommt. Nathan Myhrvold von Microsoft (ein ehema-liger Student von mir) hat wohl recht, wenn er sagt, von meinenBüchern über Physik seien mehr verkauft worden als von Ma-donnas Büchern über Sex.

Der Erfolg der «Kurzen Geschichte der Zeit» läßt daraufschließen, daß es ein weitverbreitetes Interesse an den Grund-fragen unserer Existenz gibt: Woher kommen wir? Warum istdas Universum so, wie es ist?

Deshalb habe ich die Gelegenheit genutzt, um das Buch aufden neuesten Stand zu bringen. Zu diesem Zweck habe ich vieleErkenntnisse und Beobachtungsdaten aufgenommen, die seitder Erstveröffentlichung (1. April 1988) hinzugekommen sind.Ferner gibt es ein neues Kapitel über Wurmlöcher und Zeitrei-

Page 7: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

8

sen. Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie scheint uns dieMöglichkeit zu eröffnen, Wurmlöcher zu schaffen und zu nut-zen – kleine Röhren, die verschiedene Regionen der Raumzeitmiteinander verbinden. Wenn dies so wäre, könnten wir einesTages in der Lage sein, Blitzreisen durch die Milchstraße oderdurch die Zeit zu unternehmen. Gewiß, wir haben noch nie-manden aus der Zukunft erblickt (oder doch?), aber ich werdeeine mögliche Erklärung dafür erörtern.

Außerdem beschäftige ich mich mit den Fortschritten, die inletzter Zeit bei der Suche nach «Dualitäten» oder Entsprechun-gen zwischen scheinbar verschiedenen physikalischen Theorienerzielt worden sind. Diese Entsprechungen sind ein starkes In-diz dafür, daß es eine vollständige vereinheitlichte Theorie derPhysik gibt, sie lassen aber auch erkennen, daß es vielleichtnicht möglich ist, diese Theorie in einer einzigen fundamentalenFormulierung auszudrücken. Statt dessen müssen wir uns even-tuell in unterschiedlichen Situationen an verschiedene Aspekteder grundlegenden Theorie halten – so als wären wir nicht inder Lage, die Erdoberfläche auf einer einzigen Karte abzubil-den, und müßten für verschiedene Regionen verschiedene Kar-ten benutzen. Das wäre zwar eine Revolution in unserer Ein-stellung zur Vereinheitlichung der wissenschaftlichen Gesetze,würde aber an dem wichtigsten Punkt nichts ändern: daß dasUniversum durch eine Reihe rationaler Gesetze bestimmt wird,die wir entdecken und verstehen können.

Die bei weitem wichtigsten Beobachtungsdaten sind die Mes-sungen von Fluktuationen im kosmischen Mikrowellenhin-tergrund durch COBE (den Satelliten Cosmic Background Ex-plorer) und andere Projekte. Diese Fluktuationen sind derFingerabdruck der Schöpfung, winzige Unregelmäßigkeiten indem sonst regelmäßigen und gleichförmigen frühen Universum– Unregelmäßigkeiten, die sich später zu Galaxien, Sternen undall den anderen Strukturen um uns her entwickelt haben. IhreForm entspricht den Vorhersagen der Hypothese, das Univer-sum weise keine Grenzen oder Ränder in imaginärer Zeitrich-

Page 8: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

9

tung auf. Allerdings sind weitere Beobachtungen erforderlich,um diese Hypothese zu bestätigen und andere mögliche Er-klärungen für die Fluktuationen im Mikrowellenhintergrundauszuschließen. Jedenfalls sollten wir in ein paar Jahren wissen,ob wir daran glauben können, daß wir in einem Universumleben, das vollkommen in sich geschlossen und ohne Anfangund Ende ist.

Cambridge, im Mai 1996 Stephen Hawking

Page 9: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen
Page 10: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

11

1U n s e r e Vo r s t e l l u n g v o m

U n i v e r s u m

E in namhafter wissenschaftler (man sagt, es sei Bert-rand Russell gewesen) hielt einmal einen öffentlichen Vor-

trag über Astronomie. Er schilderte, wie die Erde um die Sonneund die Sonne ihrerseits um den Mittelpunkt einer riesigen An-sammlung von Sternen kreist, die wir unsere Galaxis nennen.Als der Vortrag beendet war, stand hinten im Saal eine kleinealte Dame auf und erklärte: «Was Sie uns da erzählt haben,stimmt alles nicht. In Wirklichkeit ist die Welt eine flacheScheibe, die von einer Riesenschildkröte auf dem Rücken getra-gen wird.» Mit einem überlegenen Lächeln hielt der Wissen-schaftler ihr entgegen: «Und worauf steht die Schildkröte?» –«Sehr schlau, junger Mann», parierte die alte Dame. «Ichwerd’s Ihnen sagen: Da stehen lauter Schildkröten aufeinan-der.»

Die meisten Menschen werden über die Vorstellung, unserUniversum sei ein unendlicher Schildkrötenturm, den Kopfschütteln. Doch woher nehmen wir die Überzeugung, es besserzu wissen? Was wissen wir vom Universum, und wieso wissenwir es? Woher kommt das Universum, und wohin entwickelt essich? Hatte es wirklich einen Anfang? Und wenn, was geschahdavor? Was ist die Zeit? Wird sie je ein Ende finden? NeuereErkenntnisse in der Physik, die teilweise phantastischen neuenTechnologien zu verdanken sind, legen einige Antworten aufdiese alten Fragen nahe. Eines Tages werden uns diese Antwor-ten vielleicht so selbstverständlich erscheinen wie die Tatsache,

Page 11: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

12

daß die Erde um die Sonne kreist – oder so lächerlich wie derSchildkrötenturm. Nur die Zukunft (was auch immer das seinmag) kann uns eine Antwort darauf geben.

Schon 340 v. Chr. brachte der griechische Philosoph Aristote-les in seiner Schrift «Vom Himmel» zwei gute Argumente fürseine Überzeugung vor, daß die Erde keine flache Scheibe, son-dern kugelförmig sei. Erstens verwies er auf seine Erkenntnisseüber die Mondfinsternis. Sie werde, schrieb er, dadurch verur-sacht, daß die Erde zwischen Sonne und Mond trete. Der Erd-schatten auf dem Mond sei immer rund, also müsse die Erdeeine Kugel sein. Wäre sie eine Scheibe, hätte der Schatten einelängliche, elliptische Form, es sei denn, die Mondfinsternis träteimmer nur dann ein, wenn sich die Sonne direkt unter dem Mit-telpunkt der Scheibe befände. Zweitens wußten die Griechenvon ihren Reisen her, daß der Polarstern im Süden niedriger amHimmel erscheint als in nördlichen Regionen. (Aufgrund derLage des Polarsterns über dem Nordpol scheint er sich dort di-rekt über einem Beobachter zu befinden, während er vomÄquator aus betrachtet knapp über dem Horizont zu stehenscheint.) Aus der unterschiedlichen Position des Polarsterns fürBeobachter in Ägypten und Griechenland glaubte Aristotelessogar den Erdumfang errechnen zu können. Er kam auf 400 000Stadien. Die exakte Länge eines Stadions ist nicht bekannt, siedürfte aber über 180 Meter betragen haben, wonach Aristote-les’ Schätzung doppelt so hoch läge wie der heute angenom-mene Wert. Die Griechen hatten noch ein drittes Argumentdafür, daß die Erde eine Kugel sein muß. Wie sollte man es sichsonst erklären, daß man von einem Schiff, das am Horizont er-scheint, zuerst die Segel und erst dann den Rumpf sieht?

Aristoteles glaubte, die Sonne, der Mond, die Planeten unddie Sterne bewegten sich in kreisförmigen Umlaufbahnen umdie Erde, während diese in einem unbewegten Zustand verharre– eine Auffassung, der seine mystische Überzeugung zugrundelag, die Erde sei der Mittelpunkt des Universums und die kreis-förmige Bewegung die vollkommenste. Diese Vorstellung ge-

Page 12: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

13

staltete Ptolemäus im 2. Jahrhundert n. Chr. zu einem vollstän-digen kosmologischen Modell aus. In ihm bildet die Erde denMittelpunkt, umgeben von acht Sphären, die den Mond, dieSonne, die Sterne und die fünf Planeten tragen, die damalsbekannt waren – Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn(Abb. 1). Die Planeten selbst bewegen sich in kleineren Kreisen,die mit ihren jeweiligen Sphären verbunden sind. Diese An-nahme war nötig, um die ziemlich komplizierten Bahnen zu er-klären, die man am Himmel beobachtete. Die äußerste Sphäreträgt in diesem Modell die sogenannten Fixsterne, die immer inder gleichen Position zueinander bleiben, aber gemeinsam amHimmel kreisen. Was jenseits der letzten Sphäre lag, wurde niedeutlich erklärt; mit Sicherheit aber gehörte es nicht zu dem Teildes Universums, der menschlicher Beobachtung zugänglich war.

Page 13: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

14

Der Ptolemäische Kosmos lieferte ein Modell, das hinrei-chend genau war, um die Positionen der Himmelskörper vor-herzusagen. Doch zur präzisen Vorherbestimmung dieser Posi-tionen mußte Ptolemäus von der Voraussetzung ausgehen, derMond folge einer Bahn, die ihn manchmal doppelt so nahe andie Erde heranführte wie zu den anderen Zeiten. Das wiederumbedeutete, der Mond müßte manchmal doppelt so groß erschei-nen wie sonst! Ptolemäus war sich dieser Schwäche seines Sy-stems bewußt. Dennoch wurde es allgemein, wenn auch nichtausnahmslos, akzeptiert. Die christliche Kirche übernahm es alsBild des Universums, da es sich in Einklang mit der HeiligenSchrift bringen ließ, denn es hatte den großen Vorteil, daß esjenseits der Sphäre der Fixsterne noch genügend Platz für Him-mel und Hölle ließ.

Ein einfacheres Modell schlug 1514 Nikolaus Kopernikus,Domherr zu Frauenburg (Polen), vor. (Vielleicht aus Angst, vonseiner Kirche als Ketzer gebrandmarkt zu werden, brachte erseine Thesen zunächst anonym in Umlauf.) Er vertrat die Auf-fassung, die Sonne ruhe im Mittelpunkt, um den sich die Erdeund die Planeten in kreisförmigen Umlaufbahnen bewegten.Fast ein Jahrhundert verging, bis man sein (heliozentrisches)Modell ernst zu nehmen begann. Den Anstoß gaben zweiAstronomen, Johannes Kepler in Deutschland und Galileo Ga-lilei in Italien, die für die Kopernikanische Theorie öffentlicheintraten, und das, obwohl die von ihr vorhergesagten Umlauf-bahnen mit den tatsächlich beobachteten nicht ganz überein-stimmten. Zur endgültigen Widerlegung des Aristotelisch-Pto-lemäischen (geozentrischen) Modells kam es 1609. In diesemJahr begann Galilei, den Nachthimmel mit einem Fernrohr zubeobachten, das gerade erfunden worden war. Als er den Pla-neten Jupiter betrachtete, entdeckte er, daß dieser von einigenkleinen Satelliten oder Monden begleitet wird, die ihn umkrei-sen. Galileis Schlußfolgerung: Nicht alles muß direkt um dieErde kreisen, wie Aristoteles und Ptolemäus gemeint hatten.(Natürlich konnte man auch jetzt noch glauben, daß die Erde

Page 14: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

15

im Mittelpunkt des Universums ruhe und daß die Jupitermondesich auf äußerst komplizierten Bahnen um die Erde bewegten,wobei sie lediglich den Eindruck erweckten, sie kreisten um denJupiter. Doch die Kopernikanische Theorie hatte einen ent-scheidenden Vorteil: Sie war weitaus einfacher.) Zur gleichenZeit hatte Johannes Kepler an einer Abwandlung der Koper-nikanischen Theorie gearbeitet und schlug vor, daß sich diePlaneten nicht in Kreisen, sondern in Ellipsen bewegten (eineEllipse ist ein länglicher Kreis). Jetzt deckten sich die Vorher-sagen endlich mit den Beobachtungen.

Für Kepler waren die elliptischen Umlaufbahnen lediglicheine Ad-hoc-Hypothese und eine ziemlich abstoßende dazu,weil Ellipsen weit weniger vollkommen sind als Kreise. Nach-dem er fast zufällig entdeckt hatte, daß elliptische Umlaufbah-nen den Beobachtungen recht genau entsprachen, konnte er siejedoch nicht mit seiner Vorstellung in Einklang bringen, daßmagnetische Kräfte die Planeten um die Sonne bewegten. EineErklärung wurde erst viel später geliefert, im Jahre 1687, als SirIsaac Newton die «Philosophiae naturalis principia mathema-tica» veröffentlichte, wahrscheinlich das wichtigste von einemeinzelnen verfaßte physikalische Werk, das jemals erschienenist. Dort entwarf Newton nicht nur eine Theorie der Bewegungvon Körpern in Raum und Zeit, sondern entwickelte auch daskomplizierte mathematische Instrumentarium, das zur Analysedieser Bewegungen erforderlich war. Darüber hinaus postu-lierte er ein allgemeines Gravitationsgesetz, nach dem jederKörper im Universum von jedem anderen Körper durch eineKraft angezogen wird, die um so größer ist, je mehr Masse dieKörper haben und je näher sie einander sind. Dieselbe Kraft be-wirkt auch, daß Gegenstände zu Boden fallen. (Die Geschichte,ein Apfel, der Newton auf den Kopf gefallen sei, habe ihm zudieser Eingebung verholfen, gehört wohl ins Reich der Legende.Newton selbst hat lediglich erklärt, der Gedanke an dieSchwerkraft sei durch den Fall eines Apfels ausgelöst worden,als er «sinnend» dagesessen habe.) Daraus leitete Newton dann

Page 15: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

16

ab, daß nach seinem Gesetz die Schwerkraft den Mond zu einerelliptischen Bewegung um die Erde und diese sowie die anderenPlaneten zu elliptischen Bahnen um die Sonne veranlaßt.

Das Kopernikanische Modell löste sich von den Ptolemäi-schen Himmelssphären und damit von der Vorstellung, dasUniversum habe eine natürliche Grenze. Da die «Fixsterne»ihre Positionen nicht zu verändern schienen – von einer Rota-tion am Himmel abgesehen, die durch die Drehung der Erde umihre eigene Achse verursacht wird –, lag die Annahme nahe, sieseien Himmelskörper wie die Sonne, nur sehr viel weiter ent-fernt.

Newton bemerkte, daß sich die Sterne seiner Gravitations-theorie zufolge gegenseitig anziehen mußten; also konnten siedoch nicht in weitgehender Bewegungslosigkeit verharren.Mußten sie nicht alle in irgendeinem Punkt zusammenstürzen?In einem Brief an Richard Bentley, einen anderen bedeutendenGelehrten jener Zeit, meinte Newton 1691, dies müßte in derTat geschehen, wenn es nur eine endliche Zahl von Sternengäbe, die über ein endliches Gebiet des Raums verteilt wären.Wenn hingegen, so fuhr er fort, die Anzahl der Sterne unendlichsei und sie sich mehr oder minder gleichmäßig über den unend-lichen Raum verteilten, käme es nicht dazu, weil kein Mittel-punkt vorhanden wäre, in den sie stürzen könnten.

Dieses Argument ist ein typisches Beispiel für die Fallen, dieauf uns lauern, wenn wir über das Unendliche reden. In einemunendlichen Universum kann jeder Punkt als Zentrum betrach-tet werden, weil sich von jedem Punkt aus eine unendliche Zahlvon Sternen nach jeder Seite hin erstreckt. Erst sehr viel spätererkannte man, daß der richtige Ansatz darin besteht, vom er-sten Fall auszugehen, einem endlichen Raum, in dem alle Sterneineinanderstürzen, um dann zu fragen, was sich verändert,wenn man mehr Sterne hinzufügt, die sich in etwa gleichmäßigaußerhalb dieser Region verteilen. Nach Newtons Gesetz wür-den die äußeren Sterne im Mittel ohne Einfluß auf das Verhal-ten der inneren bleiben, die also genauso rasch ineinanderstür-

Page 16: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

17

zen würden wie in der zuvor beschriebenen Situation. Wir kön-nen so viele Sterne hinzufügen, wie wir wollen, stets würden siekollabieren. Heute wissen wir, daß kein unendliches, statischesModell des Universums denkbar ist, in dem die Gravitationdurchgehend anziehend wirkt.

Die Tatsache, daß bis dahin niemand den Gedanken vor-gebracht hatte, das Universum könnte sich ausdehnen oderzusammenziehen, spiegelt das allgemeine geistige Klima vor Be-ginn des 20. Jahrhunderts in einer interessanten Facette wider.Man ging allgemein davon aus, das Weltall habe entweder seitjeher in unveränderter Form bestanden oder es sei zu einem be-stimmten Zeitpunkt mehr oder weniger in dem Zustand er-schaffen worden, den wir heute beobachten können. Zum Teilmag dies an der Neigung der Menschen gelegen haben, anewige Wahrheiten zu glauben, und vielleicht ist es auch demTrost zuzuschreiben, den sie in dem Gedanken fanden, daß sieselbst zwar alterten und starben, das Universum aber ewig undunveränderlich sei.

Selbst diejenigen, die wissen mußten, daß nach NewtonsGravitationstheorie das Universum nicht statisch sein kann, ka-men nicht auf die Idee, es könnte sich ausdehnen. Statt dessenversuchten sie, die Theorie zu modifizieren, indem sie die An-ziehungskraft bei sehr großen Entfernungen zur Abstoßungs-kraft erklärten. Das hatte keine nennenswerten Auswirkungenauf ihre Vorhersagen über die Planetenbewegungen, gestattetees aber einer unendlichen Verteilung von Sternen, im Gleichge-wicht zu verharren. Die Erklärung nach dieser Theorie: Die Ab-stoßungskräfte von den weiter entfernten Sternen heben die An-ziehungskräfte zwischen nahe zusammenliegenden auf. Heutehat sich indessen die Auffassung durchgesetzt, daß ein solchesGleichgewicht instabil wäre: Wenn die Sterne in irgendeinerRegion nur ein wenig näher rückten, würden sich die Anzie-hungskräfte zwischen ihnen verstärken und die Oberhand überdie Abstoßungskräfte gewinnen, so daß das Ineinanderfallender Sterne nicht aufzuhalten wäre. Wenn sich die Sterne ande-

Page 17: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

18

rerseits ein bißchen weiter voneinander entfernten, würden dieAbstoßungskräfte überwiegen und die Sterne unaufhaltsamauseinandertreiben.

Ein anderer Einwand gegen ein unendliches, statisches Uni-versum wird meist dem deutschen Arzt und HobbyastronomHeinrich Olbers zugeschrieben, der sich 1823 zu dieser Theorieäußerte. Tatsächlich aber haben schon verschiedene Zeitgenos-sen Newtons dazu Stellung genommen, und Olbers’ Abhand-lung war keineswegs die erste Zusammenstellung begründeterGegenargumente. Doch fand er mit ihnen als erster allgemeineBeachtung. Die Schwierigkeit liegt darin, daß in einem unend-lichen, statischen Universum nahezu jeder Blick auf die Ober-fläche eines Sterns treffen müßte. Deshalb müßte der Himmelselbst nachts so hell wie die Sonne sein. Olbers wandte dagegenein, das Licht ferner Sterne würde infolge der Absorption durchdazwischenliegende Materie matt werden. Träfe dies jedoch zu,würde sich diese Materie erhitzen, so daß sie schließlich ebensohell glühte wie die Sterne. Die Schlußfolgerung, daß der ge-samte Nachthimmel hell wie die Sonnenoberfläche sein müßte,ist nur durch die Annahme zu vermeiden, die Sterne leuchtetennicht seit jeher, sondern hätten zu irgendeinem Zeitpunkt in derVergangenheit mit der Emission begonnen. Diese Annahmeließe die Erklärung zu, daß sich die absorbierende Materie nochnicht erhitzt oder daß das Licht ferner Sterne uns noch nicht er-reicht habe. Und dies führt uns zu der Frage, was die Sterne ur-sprünglich zum Leuchten gebracht haben könnte.

Über den Beginn des Universums hatte man sich natürlichschon lange zuvor den Kopf zerbrochen. Einer Reihe früherKosmologien und der jüdisch-christlich-islamischen Überliefe-rung zufolge entstand das Universum zu einem bestimmten undnicht sehr fernen Zeitpunkt in der Vergangenheit. Ein Grundfür einen solchen Anfang war die Überzeugung, daß man eine«erste Ursache» brauche, um das Vorhandensein des Univer-sums zu erklären. (Innerhalb des Universums erklärt man einEreignis immer als ursächliche Folge irgendeines früheren Er-

Page 18: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

19

eignisses, doch das Vorhandensein des Universums ließe sichauf diese Weise nur erklären, wenn es einen Anfang hätte.) Einanderes Argument trug Augustinus in seiner Schrift «Der Got-tesstaat» vor. Unsere Kultur, schrieb er, entwickle sich ständigweiter, und wir erinnerten uns daran, wer diese Tat vollbrachtund jene Technik entwickelt habe. Deshalb könne es den Men-schen und vielleicht auch das Universum noch nicht allzu langegeben. Ausgehend von der Genesis, kam Augustinus zu dem Er-gebnis, Gott habe die Welt ungefähr 5000 v. Chr. erschaffen.

Aristoteles und die meisten anderen griechischen Philoso-phen dagegen fanden keinen Gefallen an der Vorstellung einerSchöpfung, weil sie zu sehr nach göttlicher Intervention aussah.Der Mensch und die Welt um ihn her hätten schon immer exi-stiert, behaupteten sie, und daran werde sich auch nichts än-dern. Sie hatten sich bereits mit dem oben beschriebenen Fort-schrittsargument auseinandergesetzt und es entkräftet, indemsie erklärten, es sei immer wieder zu großen Überschwemmun-gen und anderen Katastrophen gekommen, die die Menschenstets gezwungen hätten, wieder am Punkt Null zu beginnen.

Die Fragen, ob das Universum einen Anfang in der Zeit habeund ob es räumlich begrenzt sei, behandelte später ImmanuelKant ausführlich in seinem monumentalen (und schwer ver-ständlichen) Werk «Kritik der reinen Vernunft», das 1781 er-schien. Er bezeichnete diese Fragen als Antinomien (das heißtWidersprüche) der reinen Vernunft, weil nach seiner Meinungebenso überzeugende Gründe für die These sprachen, das Uni-versum habe einen Anfang, wie für die Antithese, daß es seit je-her existiere. Sein Argument für die These: Wenn das Univer-sum keinen Anfang hätte, läge ein unendlicher Zeitraum vorjedem Ereignis. Das hielt er für absurd. Das Argument für dieAntithese: Wenn das Universum einen Anfang hätte, läge einunendlicher Zeitraum vor diesem Anfang. Warum aber solltedas Universum dann zu irgendeinem bestimmten Zeitpunkt be-gonnen haben? Kant bedient sich also des gleichen Argumen-tes, um These und Antithese zu begründen. Beide beruhen sie

Page 19: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

20

auf der stillschweigenden Voraussetzung, die Zeit reiche unend-lich weit zurück, ganz gleich, ob das Universum einen Anfanghabe oder nicht. Wie wir noch sehen werden, ist ein Begriff vonZeit vor Beginn des Universums sinnlos. Darauf hat schonAugustinus hingewiesen. Als er gefragt wurde: Was hat Gottgetan, bevor er das Universum erschuf?, erwiderte er nicht: Erhat die Hölle gemacht, um einen Platz für Leute zu haben, diesolche Fragen stellen. Seine Antwort lautete: Die Zeit sei eineEigenschaft des von Gott geschaffenen Universums und habevor dessen Beginn nicht existiert.

Solange die meisten Menschen das Universum für weitge-hend statisch und unveränderlich hielten, gehörte die Frage, obes einen Anfang habe oder nicht, in den Bereich der Metaphy-sik und Theologie. Was man beobachtete, ließ sich mittels derVorstellung von einem seit jeher existierenden Universum er-klären wie anhand der Theorie, es sei zu einem bestimmtenZeitpunkt auf eine Weise in Bewegung gesetzt worden, daß esden Anschein ewigen Bestehens erwecke. Doch im Jahre 1929machte Edwin Hubble die bahnbrechende Entdeckung, daßsich die fernen Galaxien, ganz gleich, wohin man blickt, raschvon uns fortbewegen. Mit anderen Worten: Das Universumdehnt sich aus. Dies bedeutet, daß in früheren Zeiten die Ob-jekte näher beieinander waren. Es hat sogar den Anschein, alshätten sie sich vor ungefähr zehn bis zwanzig Milliarden Jahrenalle an ein und demselben Ort befunden und als sei infolgedes-sen einst die Dichte des Universums unendlich gewesen. Mitdieser Entdeckung rückte die Frage nach dem Anfang des Uni-versums in den Bereich der Wissenschaft.

Hubbles Beobachtungen legten die Vermutung nahe, dasUniversum sei zu einem bestimmten Zeitpunkt, Urknall ge-nannt, unendlich klein und unendlich dicht gewesen. Unter sol-chen Bedingungen würden alle Naturgesetze ihre Geltung ver-lieren, und damit wäre auch keine Voraussage über die Zukunftmehr möglich. Wenn es Ereignisse gegeben hat, die vor diesemZeitpunkt lagen, so können sie doch nicht beeinflussen, was ge-

Page 20: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

21

genwärtig geschieht. Man kann sie außer acht lassen, weil siesich nicht auf unsere Beobachtungen auswirken. Man kannsagen, die Zeit beginnt mit dem Urknall – in dem Sinne, daßfrühere Zeiten einfach nicht definiert sind. Es sei betont, daßsich dieser Zeitbeginn grundlegend von jenen Vorstellungen un-terscheidet, mit deren Hilfe man ihn sich früher ausgemalt hat.In einem unveränderlichen Universum muß ein Anfang in derZeit von einem Wesen außerhalb dieser Welt veranlaßt wer-den – es gibt keine physikalische Notwendigkeit für einen An-fang. Die Erschaffung des Universums durch Gott ist buchstäb-lich zu jedem Zeitpunkt in der Vergangenheit vorstellbar. Wennsich das Universum hingegen ausdehnt, könnte es physikalischeGründe für einen Anfang geben. Man könnte sich noch immervorstellen, Gott habe die Welt im Augenblick des Urknalls er-schaffen oder auch danach, indem er ihr den Anschein verlieh,es habe einen Urknall gegeben. Aber es wäre sinnlos anzuneh-men, sie sei vor dem Urknall geschaffen worden. Das Modelleines expandierenden Universums schließt einen Schöpfer nichtaus, grenzt aber den Zeitpunkt ein, da er sein Werk verrichtethaben könnte!

Wenn wir uns mit der Beschaffenheit des Universums befas-sen und Fragen erörtern wollen wie die nach seinem Anfangoder seinem Ende, müssen wir eine klare Vorstellung davonhaben, was eine wissenschaftliche Theorie ist. Ich werde hiervon der einfachen Auffassung ausgehen, daß eine Theorie auseinem Modell des Universums oder eines seiner Teile sowie auseiner Reihe von Regeln besteht, die Größen innerhalb des Mo-dells in Beziehung zu unseren Beobachtungen setzen. EineTheorie existiert nur in unserer Vorstellung und besitzt keineandere Wirklichkeit (was auch immer das bedeuten mag). Gutist eine Theorie, wenn sie zwei Voraussetzungen erfüllt: Siemuß eine große Klasse von Beobachtungen auf der Grundlageeines Modells beschreiben, das nur einige wenige beliebige Ele-mente enthält, und sie muß bestimmte Voraussagen über die Er-gebnisse künftiger Beobachtungen ermöglichen. So war bei-

Page 21: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

22

spielsweise die Aristotelische Theorie, alles bestehe aus den vierElementen Erde, Luft, Feuer und Wasser, einfach genug, umden genannten Bedingungen zu genügen, führte aber zu keinendeutlichen Vorhersagen. Newtons Gravitationstheorie dagegen,die auf einem noch einfacheren Modell beruht – Körper ziehensich mit einer Kraft an, die ihrer Masse proportional und demQuadrat der Entfernung zwischen ihnen umgekehrt proportio-nal ist –, sagt die Bewegungen der Sonne, des Mondes und derPlaneten mit großer Präzision voraus.

Jede physikalische Theorie ist insofern vorläufig, als sie nureine Hypothese darstellt: Man kann sie nie beweisen. Wie häu-fig auch immer die Ergebnisse von Experimenten mit einerTheorie übereinstimmen, man kann nie sicher sein, daß das Er-gebnis nicht beim nächstenmal der Theorie widersprechenwird. Dagegen ist eine Theorie widerlegt, wenn man nur eineeinzige Beobachtung findet, die nicht mit den aus ihr abgeleite-ten Voraussagen übereinstimmt. In seiner «Logik der For-schung» nennt Karl Popper als Merkmal einer guten Theorie,daß sie eine Reihe von Vorhersagen macht, die sich im Prinzipauch jederzeit durch Beobachtungsergebnisse widerlegen, falsi-fizieren, lassen müssen. Immer wenn die Beobachtungen ausneuen Experimenten mit den Vorhersagen übereinstimmen,überlebt die Theorie, und man faßt ein bißchen mehr Vertrauenzu ihr; doch sobald man auch nur auf eine Beobachtung stößt,die von den Vorhersagen abweicht, muß man die Theorie auf-geben oder modifizieren. Zumindest sollte das der Fall sein,doch es sind natürlich stets Zweifel erlaubt an der Fähigkeit de-rer, die die Experimente durchführen.

In der Praxis sieht dies oft so aus, daß man eine neue Theorieentwickelt, die in Wahrheit nur eine Erweiterung der vorigenist. Beispielsweise ergaben sehr genaue Beobachtungen desPlaneten Merkur, daß seine Bewegung geringfügig von den Vor-hersagen der Newtonschen Gravitationstheorie abweicht. Ge-nau diese Abweichung hatte Einsteins Allgemeine Relativitäts-theorie vorausgesagt. Die Übereinstimmung der Einsteinschen

Page 22: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

23

Vorhersagen mit dem, was man sah, und die Unstimmigkeit derNewtonschen Vorhersagen gehörten zu den entscheidenden Be-stätigungen der neuen Theorie. Für alle praktischen Zweckeverwenden wir jedoch nach wie vor Newtons Theorie, weil derUnterschied zwischen ihren Vorhersagen und denen der allge-meinen Relativität in den Situationen, mit denen wir normaler-weise zu tun haben, verschwindend klein ist. (Newtons Theoriehat überdies den großen Vorteil, daß es sich mit ihr sehr vieleinfacher arbeiten läßt als mit der Einsteinschen!)

Letztlich ist es das Ziel der Wissenschaft, eine einzige Theo-rie zu finden, die das gesamte Universum beschreibt. In der Pra-xis aber zerlegen die meisten Wissenschaftler das Problem inzwei Teile: Erstens gibt es die Gesetze, die uns mitteilen, wiesich das Universum im Laufe der Zeit verändert. (Wenn wirwissen, wie das Universum zu einem gegebenen Zeitpunkt aus-sieht, so teilen uns diese physikalischen Gesetze mit, wie es zuirgendeinem späteren Zeitpunkt aussehen wird.) Zweitens gibtes die Frage nach dem Anfangszustand des Universums. Man-che Menschen finden, daß sich die Wissenschaft nur mit demersten Teil des Problems befassen sollte – sie halten die Fragenach der Anfangssituation für eine Angelegenheit der Metaphy-sik oder Religion. Sie würden vorbringen, Gott in seiner All-macht hätte die Welt in jeder von ihm gewünschten Weise be-ginnen lassen können. Das mag zutreffen, doch dann hätte erauch ihre Entwicklung in völlig beliebiger Weise gestalten kön-nen. Aber anscheinend hat er sich für eine sehr regelmäßigeEntwicklung des Universums, für eine Entwicklung in Über-einstimmung mit bestimmten Gesetzen entschieden. Deshalbscheint es genauso vernünftig, Gesetze anzunehmen, die denAnfangszustand bestimmt haben.

Es hat sich als eine sehr schwierige Aufgabe erwiesen, eineTheorie aufzustellen, die in einem einzigen Entwurf das ganzeUniversum beschreibt. Statt dessen zerlegen wir das Problem ineinzelne Segmente und arbeiten Teiltheorien aus. Jede dieserTeiltheorien beschreibt eine eingeschränkte Klasse von Beob-

Page 23: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

24

achtungen und trifft jeweils nur über sie Vorhersagen, wobeidie Einflüsse anderer Größen außer acht gelassen oder durcheinfache Zahlengruppen repräsentiert werden. Vielleicht ist die-ser Ansatz völlig falsch. Wenn im Universum grundsätzlich allesvon allem abhängt, könnte es unmöglich sein, einer Gesamt-lösung näherzukommen, indem man Teile des Problems isoliertuntersucht. Trotzdem haben wir in der Vergangenheit auf die-sem Weg zweifellos Fortschritte erzielt. Das klassische Beispielist abermals die Newtonsche Gravitationstheorie, nach der dieSchwerkraft zwischen zwei Körpern außer vom Abstand nurvon einem mit jedem Körper verknüpften Zahlenwert abhängt,ihrer Masse, sonst aber unabhängig von deren Beschaffenheitist. So braucht man keine Theorie über den Aufbau und Zu-stand der Sonne und der Planeten, um ihre Umlaufbahnen zuberechnen.

Heute beschreibt die Physik das Universum anhand zweiergrundlegender Teiltheorien: der Allgemeinen Relativitätstheorieund der Quantenmechanik. Sie sind die großen geistigen Errun-genschaften aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die All-gemeine Relativitätstheorie beschreibt die Schwerkraft und denAufbau des Universums im großen, das heißt in der Größen-ordnung von ein paar Kilometern bis hin zu einer Million Mil-lion Million Million (einer 1 mit 24 Nullen) Kilometern, derGröße des beobachtbaren Universums. Die Quantenmechanikdagegen beschäftigt sich mit Erscheinungen in Bereichen vonaußerordentlich geringer Ausdehnung wie etwa einem milli-onstel millionstel Zentimeter. Leider sind diese beiden Theoriennicht miteinander in Einklang zu bringen – sie können nichtbeide richtig sein. Eine der Hauptanstrengungen in der heutigenPhysik gilt der Suche nach einer neuen Theorie, die beide Teil-theorien enthält – nach einer Quantentheorie der Gravita-tion. Über eine solche Theorie verfügen wir bislang nicht, undmöglicherweise sind wir noch weit von ihr entfernt, aber wirkennen bereits viele der Eigenschaften, die sie aufweisen muß.Und wir werden in späteren Kapiteln sehen, daß wir schon

Page 24: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

25

recht genau die Voraussagen bestimmen können, die eine Quan-tentheorie der Gravitation liefern muß. Die Suche nachihr ist das Hauptthema dieses Buches.

Wenn man der Meinung ist, das Universum werde nicht vomZufall, sondern von bestimmten Gesetzen regiert, muß man dieTeiltheorien zu einer vollständigen vereinheitlichten Theoriezusammenfassen, die alles im Universum beschreibt. Es gibt je-doch ein grundlegendes Paradoxon bei der Suche nach einervollständigen vereinheitlichten Theorie. Die Vorstellungen überwissenschaftliche Theorie, wie sie oben dargelegt wurden, set-zen voraus, daß wir vernunftbegabte Wesen sind, die das Uni-versum beobachten und aus dem, was sie sehen, logischeSchlüsse ziehen können. Diese Vorstellung erlaubt es uns, da-von auszugehen, daß wir die Gesetze, die unser Universum re-gieren, immer umfassender verstehen. Doch wenn es tatsächlicheine vollständige vereinheitlichte Theorie gibt, würde sie wahr-scheinlich auch unser Handeln bestimmen. Deshalb würde dieTheorie selbst die Suche nach ihr determinieren! Und warumsollte sie bestimmen, daß wir aus den Beobachtungsdaten dierichtigen Folgerungen ableiten? Könnte sie nicht ebensogutfestlegen, daß wir die falschen oder überhaupt keine Schlüsseziehen?

Die einzige Antwort, die ich auf dieses Problem weiß, beruhtauf Darwins Prinzip der natürlichen Selektion. Danach wird esin jeder Population sich selbst fortpflanzender Organismen beiden verschiedenen Individuen Unterschiede in der Erbanlageund in der Aufzucht geben. Diese Unterschiede bewirken, daßeinige Individuen besser als andere in der Lage sind, die richti-gen Schlußfolgerungen über die Welt um sie her zu ziehen undentsprechend zu handeln. Für diese Individuen ist die Wahr-scheinlichkeit größer, daß sie überleben und sich fortpflanzen,und deshalb werden sich ihr Verhalten und Denken durchset-zen. Auf die Vergangenheit trifft sicherlich zu, daß Intelligenzund wissenschaftliche Entdeckungen von Vorteil für unserÜberleben waren. Weniger sicher ist, ob dies noch immer der

Page 25: Eine kurze Geschichte der Zeit - rowohlt€¦ · 7 Vorwort F ür die erste ausgabe dieses Buches habe ich kein Vor- wort geschrieben das hat freundlicherweise damals Carl Sagan übernommen

26

Fall ist: Unsere wissenschaftlichen Entdeckungen könnten unsvernichten, und selbst wenn sie es nicht tun, so wird eine voll-ständige vereinheitlichte Theorie unsere Überlebenschancennicht wesentlich verbessern. Doch von der Voraussetzung aus-gehend, das Universum habe sich in regelmäßiger Weise ent-wickelt, können wir erwarten, daß sich die Denk- und Urteils-fähigkeit, mit der uns die natürliche Selektion ausgestattet hat,auch bei der Suche nach einer vollständigen vereinheitlichtenTheorie bewähren und uns nicht zu falschen Schlüssen führenwird.

Da die Teiltheorien, die wir bereits haben, von ganz außerge-wöhnlichen Situationen abgesehen, ausreichen, um genaue Vor-hersagen zu liefern, scheint sich die Suche nach der endgültigenTheorie des Universums aus praktischer Sicht nur schwer recht-fertigen zu lassen. (Hier läßt sich allerdings anmerken, daß manähnliche Einwände auch gegen die Relativitätstheorie und dieQuantenmechanik hätte vorbringen können, und dann habenuns diese beiden Theorien die Kernenergie und die mikroelek-tronische Revolution gebracht!) Möglicherweise wird also dieEntdeckung einer vollständigen vereinheitlichten Theorie kei-nen Beitrag zum Überleben der Menschheit liefern, ja sie wirdsich noch nicht einmal auf unsere Lebensweise auswirken.Doch seit den ersten Anfängen ihrer Kultur haben die Men-schen es nie ertragen können, das unverbundene und unerklär-liche Nebeneinander von Ereignissen hinzunehmen. Stets warensie bemüht, die der Welt zugrundeliegende Ordnung zu verste-hen. Nach wie vor haben wir ein unstillbares Bedürfnis zu wis-sen, warum wir hier sind und woher wir kommen. Das tief-verwurzelte Verlangen der Menschheit nach Erkenntnis istRechtfertigung genug für unsere fortwährende Suche. Und wirhaben dabei kein geringeres Ziel vor Augen als die vollständigeBeschreibung des Universums, in dem wir leben.