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SCHWEIZER ILLUSTRIERTE SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 42 43 Fotos HO Die Organe eines Toten können andere Menschen retten. SWISSTRANSPLANT entscheidet über die Zuteilung. Eine Reportage über Leiden, Leben und zu lange Listen. TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS KURT REICHENBACH A n einem Morgen im April dieses Jahres, exakt um 7.18 Uhr, lösen die Chir- urgen im Zürcher Kinder- spital die Klemme an der Hauptschlagader, und das eingenähte, neue, kleine Herz in Ivanas aufgesägtem Brustkorb beginnt sich zu regen, bewe- gen – und schlägt. Ivana ist vier Jahre alt. Vor zwei Jahren wurde sie «gelis- tet», man setzte sie auf die Warteliste für Patienten, die hoffen, dass ihnen ein neues Herz transplantiert wird. Derzeit hängt überall in der Schweiz Werbung für Organspende. Auch Ivana lacht von einem der Plakate und wird zitiert: «Ich bin seit 5 Monaten tot … eigentlich. Da war aber jemand, der mir nach seinem Tod sein Herz gespendet hat.» Stirbt ein Mensch, können seine Organe einen anderen vor dem Tod retten. Spenden und empfangen, von einem Leben zum anderen. Die Zutei- lung der Organe übernimmt die Stiftung Swisstransplant in Bern. Im Jlmenhof 9a, einem 200-jährigen, verträumt wir- kenden Haus mit Mansardendach und Sprossenfenstern werden Spender er- fasst, Empfänger gelistet und Organ- Verpflanzungen koordiniert. Hier ist die Schaltstelle des Schweizer Transplanta- tionswesens. Dessen Herz sozusagen. Ein Tag im August. 1246 Personen stehen heute Morgen auf der Warteliste, 1246 hoffen auf eine neue Lunge, Leber, Niere, auf ein Herz oder eine Bauchspei- cheldrüse. 1246 Menschen läuft die Zeit davon. Im Dachgeschoss von Swisstrans- plant arbeiten sechs Koordinatoren. Überall stehen farbige Ordner mit Auf- schriften wie «Daten Herzbericht» oder «European children heart list», auf einem Regal liegt ein Schoggikäfer mit einer Dankeskarte: «Liebe Grüsse, Insel- spital Bern». Bei Swisstransplant wird 365 Tage im Jahr gearbeitet, 24 Stun- Eindrückliche Plakate In der Schweiz machen derzeit Organempfänger auf ihr Schicksal aufmerksam. Auch Ivana Rellstab, 4, macht bei dieser Kampagne von Swisstransplant mit. Organe nehmen und geben Swisstransplant- Chef Franz Immer und Koordinatorin Franziska Beyeler in der Berner Zentrale. Eine Spende fürs Leben Ihr neues, kleines Herz Ivana Rellstab, 4, aus Rapperswil-Jona SG kommt mit einem Herzfehler zur Welt. Täglich schluckt sie Dutzende Medika- mente, aus Angst vor Infektionen darf sie nicht mit anderen Kindern spielen, und da sie selbst zum Essen zu schwach ist, wird sie künstlich ernährt. Vor drei Jahren über- lebt sie einen 45-minütigen Herzstillstand. Seit April 2013 hat Ivana ein neues Herz. Es geht ihr gut. Fragt man sie, wie sie sich fühlt, deutet sie strahlend auf ihre Brust – da, wo ihr neues Herz schlägt. u

Eine Spende fürs Leben - Swisstransplant · fürs Leben Ihr neues, kleines Herz Ivana Rellstab, 4, aus Rapperswil-Jona SG kommt mit einem Herzfehler zur Welt. Täglich schluckt sie

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Page 1: Eine Spende fürs Leben - Swisstransplant · fürs Leben Ihr neues, kleines Herz Ivana Rellstab, 4, aus Rapperswil-Jona SG kommt mit einem Herzfehler zur Welt. Täglich schluckt sie

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s HO

Die Organe eines Toten können andere Menschen retten. SWISSTRANSPLANT entscheidet über die Zuteilung. Eine Reportage über Leiden, Leben und zu lange Listen.

TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS KURT REICHENBACH

An einem Morgen im April

dieses Jahres, exakt um

7.18 Uhr, lösen die Chir-

urgen im Zürcher Kinder-

spital die Klemme an der

Hauptschlagader, und das eingenähte,

neue, kleine Herz in Ivanas aufgesägtem

Brustkorb beginnt sich zu regen, bewe-

gen – und schlägt. Ivana ist vier Jahre

alt. Vor zwei Jahren wurde sie «gelis-

tet», man setzte sie auf die Warteliste

für Patienten, die hoffen, dass ihnen ein

neues Herz transplantiert wird. Derzeit

hängt überall in der Schweiz Werbung

für Organspende. Auch Ivana lacht von

einem der Plakate und wird zitiert: «Ich

bin seit 5 Monaten tot … eigentlich. Da

war aber jemand, der mir nach seinem

Tod sein Herz gespendet hat.»

Stirbt ein Mensch, können seine

Organe einen anderen vor dem Tod

retten. Spenden und empfangen, von

einem Leben zum anderen. Die Zutei-

lung der Organe übernimmt die Stiftung

Swisstransplant in Bern. Im Jlmenhof

9a, einem 200-jährigen, verträumt wir-

kenden Haus mit Mansardendach und

Sprossenfenstern werden Spender er-

fasst, Empfänger gelistet und Organ-

Verpflanzungen koordiniert. Hier ist die

Schaltstelle des Schweizer Transplanta-

tionswesens. Dessen Herz sozusagen.

Ein Tag im August. 1246 Personen

stehen heute Morgen auf der Warteliste,

1246 hoffen auf eine neue Lunge, Leber,

Niere, auf ein Herz oder eine Bauchspei-

cheldrüse. 1246 Menschen läuft die Zeit

davon. Im Dachgeschoss von Swisstrans-

plant arbeiten sechs Koordinatoren.

Überall stehen farbige Ordner mit Auf-

schriften wie «Daten Herzbericht» oder

«European children heart list», auf

einem Regal liegt ein Schoggikäfer mit

einer Dankeskarte: «Liebe Grüsse, Insel-

spital Bern». Bei Swisstransplant wird

365 Tage im Jahr gearbeitet, 24 Stun-

Eindrückliche Plakate In der Schweiz machen derzeit Organempfänger auf ihr Schicksal aufmerksam. Auch Ivana Rellstab, 4, macht bei dieser Kampagne von Swisstransplant mit.

Organe nehmen und geben Swisstransplant-Chef Franz Immer und Koordinatorin Franziska Beyeler in der Berner Zentrale.

Eine Spende fürs Leben

Ihr neues, kleines HerzIvana Rellstab, 4, aus Rapperswil-Jona SG kommt mit einem Herzfehler zur Welt. Täglich schluckt sie Dutzende Medika-mente, aus Angst vor Infektionen darf sie nicht mit anderen Kindern spielen, und da sie selbst zum Essen zu schwach ist, wird sie künstlich ernährt. Vor drei Jahren über-lebt sie einen 45-minütigen Herz stillstand. Seit April 2013 hat Ivana ein neues Herz. Es geht ihr gut. Fragt man sie, wie sie sich fühlt, deutet sie strahlend auf ihre Brust – da, wo ihr neues Herz schlägt.

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den. Denn 80 Prozent der Organ-

spenden passieren ausserhalb der Büro-

zeiten. So wie gestern Abend.

Gegen 17 Uhr ist ein Spender gemel-

det worden, eine junge Frau, Mutter von

drei Kindern, Hirnblutung, Hirntod. Die

Frau hat einen Organspendeausweis,

auch ihre Angehörigen stimmen einer

Organspende zu. Damit beginnt für

Swisstransplant eine hektische Nacht.

Franziska Beyeler, 46, ist Leiterin

Nationale Koordination bei Swisstrans-

plant. Früher war sie Pflegefachfrau mit

Zusatzausbildung in Intensivpflege, heu-

te begegnen ihr Tod und Leben nur noch

in Tabellenform auf ihrem Computer.

«Der PC-Bildschirm schafft eine gewisse

Distanz und Nüchternheit, das erleichtert

die Arbeit», sagt sie. Doch manchmal be-

kommen Fälle Gesichter. Etwa wenn

Organempfänger Briefe an Swisstrans-

plant schicken, mit der Bitte, diese an die

Spenderfamilie weiterzu leiten. Da das

Transplantationswesen anonym abläuft,

schwärzt Franziska Beyeler heikle Brief-

passagen wie Wohnort, Datum, Namen

und leitet die Post dann weiter.

Chef von Swisstransplant ist

Franz Immer, 46, ein Mann mit warmer

Stimme und schlanken Fingern, wie sie

Ärzten und Musikern eigen sind. Viele

Jahre arbeitete er als Herzchirurg, leite-

te 1000 Herzoperationen und assistierte

bei über 4500. Er sagt: «Nicht wir ent-

scheiden, an wen die Organe gehen; wir

sammeln nur alle Daten von Spendern

und Empfängern, und eine Software er-

rechnet, wer ein Organ bekommt.» Das

Problem sei, dass 80 Prozent der Schwei-

zer ein transplantiertes Organ anneh-

men, aber nur 40 Prozent eines geben

würden. In keinem anderen Land Euro-

pas werden so wenig Organe gespendet

und ist die Spendebereitschaft so tief.

2012 waren lediglich 96 Verstorbene

Organspender, dazu kamen 101 Le-

bendspender (Nieren und Leber) und 37

aus dem Ausland importierte Organe.

Im Durchschnitt werden 3,5 Organe pro

Spender transplantiert; 2012 erhielten

somit 453 Patienten ein neues Organ.

Gleichzeitig sterben Jahr für Jahr 100

Menschen, weil für sie nicht rechtzeitig

ein Transplantat gefunden wurde.

Vier Organe der hirntoten jungen

Mutter werden schliesslich freigege-

ben – und nun von Swisstransplant an-

geboten. Franziska Beyeler kontrolliert

Hunderte medizinischer Daten der Ver-

storbenen im Computerprogramm

SOAS (Swiss Organ Allocation System).

Das Schweizer Organ-Zuteilungssystem

vergleicht die Spenderdaten mit der Lis-

te der 1246 Wartenden. Zuteilungskrite-

rien sind: medizinische Dringlichkeit,

medizinischer Nutzen und Wartezeit.

Für jedes Spende-Organ erscheint

Spenderin als Schutzengel

«Da bin ich herzlos …»

Michelle Hug, 28, aus Auw AG hat einen angeborenen Herzfehler. Lange Jahre führt sie mithilfe von Medikamenten ein normales Leben. Weil sie und ihr Partner Kinder möchten, werden die Medikamen-te dementsprechend umgestellt. Doch sie verträgt die neuen Mittel so schlecht, dass sie im Februar 2012 ein Spenderherz er-hält. Heute geht es ihr gut. Zur Spender-familie hat sie anonymen Kontakt. Ihre Herzspenderin (ein Mädchen im Gymi-Alter) nennt sie «meinen Schutzengel».

Marcel Steiner, 51, aus Steffisburg BE hat einen angeborenen Herzfehler. Seit 1996 lebt er mit einem Spenderherz. Er habe beschlossen, sagt Steiner und lacht, mit diesem Herz alt zu werden. Dreimal die Woche macht er Sport und engagiert sich im Schweizerischen Transplantierten Ver-ein. Steiner hat nie nachgeforscht, woher sein Herz stammt, er wolle das gar nicht wissen. «In der Sache», scherzt er, «bin ich wohl herzlos. Aber ich habe den Eindruck, mein Spender war ein guter Mensch.»

Michelle Hug geht es mit dem neuen Herz so gut, dass sie heute gar bei der Feuerwehr mitmachen kann.

Vom Herzchirurgen zum Organmanager Die Herz-Skulptur in Immers Büro schenkte ihm der Walliser Transplantierten- Verein A cœur ouvert.

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schliesslich eine Tabelle mit Namen,

einer ist auf Position 1, ganz zuoberst:

der oder die Glückliche. Aus der Warte-

liste ist eine Rangliste geworden.

Franziska Beyeler ruft das zuständi-

ge Transplantationszentrum an, sechs

gibt es in der Schweiz, in Basel, Zürich,

St. Gallen, Bern, Lausanne und Genf.

Diese prüfen das angebotene Organ und

benachrichtigen, wenn alles in Ordnung

ist, ihren Patienten. Für viele geht damit

ein oft jahrelanges Hoffen und Bangen

zu Ende. Das Warten, sagt Franz Immer,

sei für die Empfänger extrem nerven-

aufreibend. Es kommt vor, dass Patien-

ten ihn anrufen und wissen wollen, auf

welcher Position sie gelistet seien. Auf

ein neues Herz wartete man letztes Jahr

im Durchschnitt 303 Tage, 457 Tage auf

eine Lunge, 204 Tage auf eine Leber und

944 Tage auf eine Niere.

«Die meisten Spender gehen ver-

loren, weil man ihren Willen nicht

kennt», sagt Franz Immer. Lediglich je-

der zehnte Schweizer hat einen Organ-

spendeausweis. Ist der Wille des Toten

unbekannt, entscheiden die – in solch

emotionalen Momenten oft überforder-

ten – Angehörigen, in 53 Prozent sol-

cher Fälle lehnen diese eine Organspen-

de ab. Andere Länder praktizieren die

«Widerspruchslösung». Wer nicht Or-

ganspender sein will, muss sich vorher

in eine Liste eintragen. Franz Immer

wünscht sich für die Schweiz eine «Wi-

derspruchslösung soft». Wer nicht ex-

plizit verneint, gilt als Organspender, zu-

sätzlich werden die Angehörigen nach

dem Willen des Verstorbenen gefragt.

Aber auch in den Spitälern gibt es

Verbesserungsmöglichkeiten. «Beson-

ders in kleineren Spitälern werden

denkbare Spender oft gar nicht er-

kannt», sagt Franz Immer. Neuerdings

werden Pflegefachpersonen und Ärzte

speziell geschult, die in den Spitälern

dann als Koordinatoren für Organspen-

den figurieren. Sie erkennen und mel-

den mögliche Organspender und spre-

chen mit den Familien von hirntoten

Patienten über das sensible Thema.

Auf dem Bürotisch von Franziska

Beyeler liegt das Protokoll von letzter

Nacht. Alles, was mit den vier Organen

der hirntoten Frau passiert, wird no-

tiert. «Akzeptieren die Leber», steht da,

«Ambulanzfahrer wartet in ZH», «Leber

um 20.40 Uhr losgefahren» und schliess-

lich «Leber ist angekommen». Eben

kommt die Nachricht, ein Zentrum

übernehme eine Niere. «Damit sind alle

Organe vergeben», sagt die Koordinato-

rin und notiert das so im Protokoll, Zeit

10.30 Uhr. Seit dem Hirntod der jungen

Frau, der Mutter von drei Kindern, sind

18 Stunden vergangen. Für vier Men-

schen hat ein neues Leben begonnen.

Letzthin wurde Franz Immer von

einem Mann angerufen. Sein Sohn sei

vor zehn Jahren verunglückt, die Orga-

ne seien gespendet worden, wie es den

Empfängern wohl gehe? Franz Immer

recherchierte und teilte dem Vater mit,

allen Empfängern gehe es gut, nur mit

dem Herz habe man keinen Erfolg ge-

habt. Das Herz seines Sohnes schlage

also nicht mehr, meinte der Vater, das

sei gut zu wissen, dann könne er defini-

tiv Abschied nehmen.

An diesem Tag im August werden

bei Swisstransplant keine neuen Organ-

spender gemeldet. Im Laufe des Nach-

mittags setzt Franziska Beyeler vier

neue Namen auf die Warteliste, drei Pa-

tienten brauchen eine Niere, einer eine

Leber. 1250 Menschen brauchen ein

neues Organ. Dringend. 1250 Menschen

warten auf eine Spende fürs Leben. ----------Infos und Organspendeausweise unter www.swisstransplant.org

Eine englische Lunge

Heirat mit Kunstherz

Andy Röösli, 21, aus Bätterkinden BE be-kam im November 2009 eine Spender-lunge. Er weiss, dass das neue Organ aus England kam. Seit-her reist er immer wieder dorthin, «in England fühle ich mich plötzlich wie daheim». Röösli ge-niesst es, endlich beschwerdefrei le-ben zu können und jetzt sogar Fussballmatches besuchen zu dürfen – «ich bin nämlich grosser YB-Fan!».

Renata Isenschmid, 53, aus Erlenbach ZH hat seit 2004 ein neues Herz. Vor der lebensrettenden Or-ganspende ging es ihr so schlecht, dass sie noch im Spital, angeschlossen an ein Kunstherz, ihren Part-ner heiratete. Das Spenderherz bezeich-net sie als «Wahn-sinns-Geschenk». Ihr Gefühl, so Renata Isenschmid, sage ihr, dass der Spender wohl ein Mann war. «Ich denke täglich an diese Person und danke ihr.»

Nur jeder zehnte Schweizer

hat einen Organspende-

ausweis FRANZ IMMER

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