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Einführung in die Literaturwissenschaft 4: Narration

Einführung in die Literaturwissenschaft - uni-erfurt.de · Narrative Narrative lassen sich auf der Handlungsebene von Erzähltex-ten beschreiben. Sie setzen sich aus wiedererkennbaren

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Einführung in die Literaturwissenschaft

4: Narration

Themenübersicht

• Literarizität: Was unterscheidet Literatur von anderen sprachlichen Äußerungen?

• Zeichen und Referenz: Wie stellt Literatur den Bezug sprachlicher Äußerungen auf ›Wirklichkeit‹ dar?

• Rhetorik: Was sind sprachliche ›Figuren‹?• Narration: Wie entstehen Geschichten?

• Autorschaft und sprachliches Handeln: Wie greift Schreiben in Wirklichkeit ein?

• Intertextualität und Intermedialität: Wie bezieht sich Literatur auf andere Texte / andere Medien?

Wie entstehen Geschichten? 1. Grundformen des Erzählens

Die Metapher erscheint bei Quintilian als eine elementare Funktion der Sprache, mit der Bezeichnungsmöglichkeiten hergestellt werden. Die Sprache ist ›poetisch‹, oder genauer: ›poietisch‹ (von griech. poiesis = das Machen, Hervorbringen).

Eine solche ›produktive‹ Dimension sprachlicher Äußerungen ist auch auf anderer Ebene gegeben: beim Erzählen.

Es lassen sich Grundformen des Erzählens erkennen, die es ermöglichen, Zusammenhänge von Ereignissen, das heißt Geschichten herzustellen. Geschichten sind also nicht einfach gegeben (um dann erzählt zu werden), sondern sie entstehen im Erzählen. Erzählen heißt, eine geordnete Abfolge von Geschehnissen zu schaffen. Dies vollzieht sich wesentlich auf der Grundlage von Schemabildungen. Erzählschemata nennt man Narrative.

Narrative

Narrative lassen sich auf der Handlungsebene von Erzähltex-ten beschreiben. Sie setzen sich aus wiedererkennbaren Hand-lungselementen zusammen. Ein Beispiel für eine sehr verbreite-tes, wohl universelles Narrativ wäre das folgende Schema:

1. Der Held überschreitet die Grenze des Gewöhnlichen.2. a) Er wird dadurch stigmatisiert. b) Er wird dadurch ausgezeichnet.3. Er findet Mitstreiter, Helfer, Bewunderer.4. Ein Widersacher stellt sich ihm entgegen.5. a) Der Held wird besiegt. Er muss sich den herrschenden Normen beugen. b) Der Held überwindet den Widersacher und verändert die Normen.

(Vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt/Main 2012, S. 48)

»Stille-Post-Spiel mit umgekehrtem Effekt«

Zur Veranschaulichung der narrativen Schemabildung stellt Koschorke einen Vergleich des Erzählens mit dem Stille-Post-Spiel her. Das Erzählen, genauer: das Weitererzählen, würde einem »Stille-Post-Spiel entsprechen, nur mit dem umgekehrten Effekt. […] [A]m Ende [käme] nicht eine verrücktere Botschaft heraus, als ursprünglich in die Nachrichtenkette eingespeist wurde, sondern es würde sich durch Ausdünnung und Anpassung des Erzählstoffs immer wieder ein altbekanntes narratives Grundmuster abzeichnen. Das Erzählen wäre hier also weniger ein Transportmittel als ein Filter. […] Auch die Zutat kann eine Ersparnis bedeuten, sofern sie ein bereitstehendes Schema komplettiert. Schemabildung beruht mithin auf drei Grundvorgängen: Verknappung, Angleichung, Vervollständigung.« (Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 32)

Erzählschema-Analyse nach Vladimir ProppIm Wieder- oder Weitererzählen werden die grundlegenden Schematisierungen deutlich, auf denen alle Narrationen be-ruhen. Der russische Philologe Vladimir Propp hat dafür Mär-chen – genauer gesagt: russische Zaubermärchen – als Modell-fall herangezogen. In seiner Morphologie des Märchens (1928) hat er gezeigt, dass sich die Zaubermärchen auf eine bestimm-te Anzahl von Handlungselementen zurückführen lassen (31 so-genannte Funktionen) sowie auf eine begrenzte Zahl von Hand-lungsträgern (7 sogenannte Aktanten). Unter Funktion versteht Propp eine Aktion einer handelnden Person, die unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für den Gang der Handlung definiert wird, zum Beispiel 'Kampf gegen das Böse', 'Rettung des Helden', 'Erfüllung einer auferlegten schwierigen Aufgabe'. Aktanten sind: der Held, sein Gegenspieler, das Opfer (und ihr Vater), der falsche Held, der Geber des Zaubermittels, der Helfer, der Aussender des Helden.

Narrative und GattungenDie Erzählschema-Analyse, wie Propp sie begründet hat, ist vor allem für formelhafte Gattungen fruchtbar (wie etwa das Mär-chen). Bei komplexeren Erzählformen gelangt diese Vorgehens-weise aber an Grenzen – etwa im Fall des modernen Romans, der sich mit Erzählschemata auseinandersetzt, indem er gegen sie verstößt.

Für Thomas Glavinics Roman Die Arbeit der Nacht (2006) etwa wäre es schwierig, eine Analyse der Funktionen und Aktanten durchzuführen. Der Roman erzählt ja gerade davon, dass es bis auf den Helden keine Handlungsträger mehr gibt.

Propps Ansatz führt zu der Überlegung, dass Narrative sich in bestimmten literarischen Gattungen ausprägen und dadurch Möglichkeiten des Erzählens entfalten – dass aber auch diese Gattungen eine eigenständige konstitutive Bedeutung für das Erzählen haben. Dies gilt z.B. im Falle Kleists für die Anekdote.

Heinrich von Kleist: »Der Griffel Gottes«

»In Polen war eine Gräfin von P...., eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution erteilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet! – Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen.«

Die Anekdote: Gattungsmerkmalegriech. anekdoton (Plural: anekdota), „das nicht Herausgegebene, Unveröffentlichte“: ursprünglich eine noch nicht bekannt gewordene, nicht veröffentlichte Schrift, im Lateinischen häufig auch als historia arcana, „geheime Geschichte“, übersetzt

eine kurze und unterhaltsame Erzählung, die nicht durch poetisch ‚Wahrscheinliches‘ (im Sinne von Aristoteles), sondern durch einen Bezug auf historisch ‚Wirkliches‘ geprägt ist

das Erzählte muß jedoch nicht authentisch sein, es kann sich z.B. um etwas einer historischen Persönlichkeit ‚Nachgesagtes‘, Zugeschriebenes handeln

oszilliert zwischen Faktizität und Fiktion, Tatsachenbericht und bloß erfundener Geschichte

Anekdoten haben nicht eigentlich einen Autor, sondern nur jemanden, der sie weitererzählt

Hintergründe von Kleists Anekdote »Der Griffel Gottes«

Die Anekdote wurde zuerst in den Berliner Abendblättern, einer von Kleist herausgegebenen Tageszeitung, veröffentlicht (5.10.1810), und zwar ohne Verfassernamen.

»Vielleicht hat Kleist die Geschichte vom Fürsten Anton Heinrich von Radziwill (1775-1833) gehört, der sie später in Rahel Varnhagens Salon erzählte und die Buchstaben ›Potempiona‹ auf einen Zettel schrieb; Varnhagen [d.h. der Mann Rahels] vermerkte auf demselben Zettel: Vom Fürsten Anton Radziwill aufgeschrieben, 1828 bei Rahel. Eine polnische Dame hatte sich ein prächtiges Grabmal errichten lassen, mit einer stolzen Inschrift, die ihr, ungeachtet ihres sehr weltlichen Wandels die Seligkeit zusprach. Bald nach ihrem Tode schlug der Blitz in das Denkmal, und ließ von der Inschrift nur die nebenstehenden Buchstaben in der angegebenen Ordnung stehen. Das [polnische] Wort, welches sie bilden, heißt so viel als Verdunkelt, Verdammt.« (In: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Band 3. Hg. von Klaus Müller-Salget. Frankfurt/Main 1990, S. 921f.)

Kleist: Der »Griffel Gottes« oder die Stimme Mephistos?

Die Anekdote kursiert in mehreren Varianten. Ihr Ursprung ist unklar. Vom Grafen Radziwill wurde sie im Salon der Varnhagen erst beinahe 20 Jahre nach ihrer Veröffentlichung in den Berliner Abendblättern erzählt.

Die Anekdote ist auf komplizierte Weise überliefert. Z.B. hat sie der Graf Radziwill nicht selbst aufgeschrieben, sondern seine Erzählung wird von Varnhagen nacherzählt und bezeugt. Dabei dient der handschriftliche Zettel als ein Beweisstück.

Kleists Fassung der Anekdote hebt das Moment der Zeugenschaft hervor (»Der Vorfall […] ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen.)« (Mit »dieser Stadt« ist Berlin gemeint; vgl. den Veröffentlichungsort Berliner Abendblätter.)

Aber zugleich enthält Kleists eine Anspielung auf die letzte Szene von Faust I, die Kerkerszene, in der Mephisto über Gretchen sagt: »Sie ist gerichtet.«

Der Ursprung der Geschichte in der erzählerischen Gattung

Durch das Nebeneinander von Augenzeugenschaft (= Authentizität) und literarischem Zitat (= literarische Erfindung) spielt Kleist hier mit dem Verhältnis von Fakt und Fiktion. Dabei macht er sich die Gattung der Anekdote zunutze. Das Erzählte ist gewissermaßen dieser Gattung entsprungen.

Die Anekdote gibt durch Nennung von historischen Namen, Orten Zeiten, Umständen usw. vor, sich auf Wirkliches zu beziehen. Sie prägt eine literarische Erzählgattung aus, die sich wesentlich über diese bestimmte Art der vorgeblichen Referenz definiert.

Erst mit dem Wissen um die elementare erzählerische Form der Anekdote erschließt sich die Erzählung von Kleist. Die Frage nach der Weise, in der sich in literarischen Texten Bezüge auf Wirklichkeit darstellen, kehrt hier auf der Ebene erzählerischer Gattung wieder.

André Jolles: »Einfache Formen« (1930)

Grundformen des Erzählens, die nicht weiter zurückführbar, nicht weiter zerlegbar sind, nennt der Literaturwissenschaftler André Jolles ›Einfache Formen‹. Dazu zählen:

Legende Kasus

Sage Memorabile

Mythe Märchen

Rätsel Witz

Spruch

Jolles, »Einfache Formen«: Sprache als Arbeit

Für Jolles sind Einfache Formen »jene[] Formen [...], die sich, sozusagen ohne Zutun eines Dichters, in der Sprache selbst ereignen, aus der Sprache selbst erarbeiten« (S. 10).

›Sprache‹ wird von Jolles als ›Arbeit‹ begriffen. Dabei ist die Tätigkeit des Dichters, die poetische Werke hervorbringt, nur die letzte von mehreren produktiven Instanzen.

Die erste Instanz ist die »benennende Arbeit« der Sprache. Sie erzeugt Sachverhalte.

Die zweite Instanz schafft eigenständige Gestalten, Fiktionen. Dies ist die Ebene der Einfachen Formen.

Die dritte Instanz gibt Deutungen dieser Fiktionen. Dies ist die Arbeit der literarischen Werke, die einem Autor zugeschrieben werden können (Beispiele: Verarbeitung des Mythos bei Homer, der Faust-Legende bei Goethe etc.).

Beispiel: die Legende

Als erste Einfache Form nennt Jolles die mittelalterliche Heiligenlegende. Sie ist der deutlichste Fall einer ›schöpferischen‹ elementarliterarischen Form:

»Was uns zunächst an der Weise auffällt, wie ein Heiliger – wir wollen sagen – zustande kommt, ist, daß er – ich muß mich wieder vorsichtig ausdrücken – selbst so wenig dabei beteiligt ist.« (S. 34)

Ein Heiliger ist jemand, der nach seinem Tode in einem komplizierten rechtlich Verfahren der Kanonisation von der Kirche zunächst selig und dann heilig gesprochen wird. Anlass für die Kanonisation sind die Geschichten, die, ebenfalls nach seinem Tode, über jemanden kursieren, und die besagen, dass er ein vorbildlich tugendhaftes Leben geführt hat, dass er Wunder bewirkt hat und dass er auch nach seinem Tode Wunder bewirken kann.

Die Heiligenlegende ermöglicht es, den Heiligen anzurufen und ihn nachzuahmen. Sie erschafft den Heiligen.

Legende»Der Heilige, in dem als Person die Tugend sich vergegenständlicht, ist eine Figur, in der seine engere und seine weitere Umgebung die imitatio erfährt. Er stellt tatsächlich denjenigen dar, dem wir nacheifern können, und er liefert zugleich den Beweis, daß sich, indem wir ihn nachahmen, die Tätigkeit der Tugend tatsächlich vollzieht.« (S. 36)

»Die abendländisch-katholische Legende [...] gibt das Leben des Heiligen, oberflächlich gesagt seine Geschichte – sie ist eine Vita. Diese Vita als eine sprachliche Form hat aber so zu verlaufen, [...] daß sich in ihr dieses Leben noch einmal vollzieht. Es ist nicht damit getan, daß sie Ereignisse, Handlungen unparteiisch protokolliert, sondern sie muß diese in sich zu der Form werden lassen, die sie von sich aus noch einmal verwirklicht.« (S. 39)

»Die Vita, die Legende überhaupt zerbricht das ›Historische‹ in seine Bestandteile, sie erfüllt diese Bestandteile von sich aus mit dem Werte der Imitabilität und baut sie in einer von dieser bedingten Reihenfolge wieder auf. Die Legende kennt das ›Historische‹ in diesem Sinne überhaupt nicht, sie kennt und erkennt nur Tugend und Wunder.« (S. 40)

Legende

Die Legende erzählt das Leben einer Person so, dass sie streng nach Beispielhaftigkeit – den Kriterien des Wunders und der Tugendhaftigkeit – selektiert. Dabei verwirklicht sie narrativ das Prinzip der Wiederholung: indem sie Tugendhaftigkeit nachahmbar macht und indem sie Wunder so darstellt, dass sie als jederzeit wieder möglich erscheinen.

Im Weitererzählen der Legende werden die Beispiele von Tugendhaftigkeit und von Wundern vermehrt.

So kann etwa ein Märtyrer aus dem 3. Jahrhundert schließlich zum Heiligen Georg werden, der die Jungfrau vor dem Drachen errettet etc.

Kleist: Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik. Eine Legende

»Um das Ende des sechzehnten Jahrhunderts, als die Bilderstürmerei in den Niederlanden wütete, trafen drei Brüder, junge, in Wittenberg studierende Leute, mit einem Vierten, der in Antwerpen als Prädikant angestellt war, in der Stadt Aachen zusammen. […] Nach Verlauf einiger Tage, die sie damit zugebracht hatten, den Prädikanten über die merkwürdigsten Auftritte, die in den Niederlanden vorgefallen waren, anzuhören, traf es sich, daß von den Nonnen im Kloster der heiligen Cäcilie, das damals vor den Toren dieser Stadt lag, der Fronleichnamstag festlich begangen werden sollte; dergestalt, daß die vier Brüder, von Schwärmerei, Jugend und dem Beispiel der Niederländer erhitzt, beschlossen, auch der Stadt Aachen das Schauspiel einer Bilderstürmerei zu geben. […] [U]nd [als] der Tag über den Zinnen der Stadt aufgegangen, versahen sie sich mit Zerstörungswerkzeugen aller Art, um ihr ausgelassenes Geschäft zu beginnen.«

Kleist: Die heilige Cäcilie

»Nun fügte es sich, zur Verdoppelung der Bedrängnis, daß die Kapellmeisterin, Schwester Antonia, welche die Musik auf dem Orchester zu dirigieren pflegte, wenige Tage zuvor, an einem Nervenfieber heftig erkrankte; dergestalt, daß abgesehen von den vier gotteslästerlichen Brüdern, die man bereits in Mäntel gehüllt, unter den Pfeilern der Kirche erblickte, das Kloster auch, wegen Aufführung eines schicklichen Musikwerks, in der lebhaftesten Verlegenheit war.«

»Inzwischen waren in dem Dom, in welchen sich, nach und nach, mehr denn hundert, mit Beilen und Brechstangen versehene, Frevler, von allen Ständen und Altern, eingefunden hatten, bereits die bedenklichsten Auftritte vorgefallen; […] als Schwester Antonia plötzlich, frisch und gesund, obschon ein wenig bleich im Gesicht, erschien, und den Vorschlag machte, ungesäumt noch das alte […] italienische Musikwerk, auf welches die Äbtissin so dringend bestanden hatte, aufzuführen. […] [Sie] setzte sich selbst, von Begeisterung glühend, an die Orgel, um die Direktion des trefflichen Musikstücks zu übernehmen.«

Kleist: Die heilige Cäcilie»Demnach kam es, wie ein wunderbarer, himmlischer Trost in die Herzen der frommen Frauen [...]: die Messe ward, mit der höchsten und herrlichsten, musikalischen Pracht aufgeführt; es regte sich kein Odem, während der ganzen Darstellung, in den Hallen und Bänken; besonders […] bei dem Gloria in excelsis war es, als ob die ganze Kirche, von mehr denn dreitausend Menschen erfüllt, gänzlich tot sei; dergestalt, daß, den vier gottverdammten Brüdern zum Trotz, auch der Staub auf dem Estrich nicht verweht ward, und das Kloster noch, bis am Schluß des dreißigjährigen Krieges bestanden hat«.

»Der Arzt, der […] befehligt ward, den Zustand der gedachten jungen Leute zu untersuchen, […] konnte schlechterdings, aller Forschungen ungeachtet, nicht erfahren, was ihnen in der Kirche, wohin sie noch ganz mit gesunden und rüstigen Sinnen gekommen waren, zugestoßen war. [...] [E]inige Bürger der Stadt, die während der Messe, in ihrer Nähe gewesen waren, […] sagten aus, daß sie, zu Anfang derselben, zwar einige […] Possen getrieben hätten: nachher aber, beim Beginnen der Musik, ganz still geworden, andächtig, Einer nach dem Andern, auf's Knie gesunken wären, und […] zu Gott gebetet hätten.«

Kleist: Die heilige Cäcilie

»Bald darauf starb Schwester Antonia die Kapellmeisterin, an den Folgen des Nervenfiebers, an dem sie, wie schon oben erwähnt worden, daniederlag; und als der Arzt sich, auf Befehl des Prälaten der Stadt, ins Kloster verfügte, um die Partitur des, am Morgen jenes merkwürdigen Tages aufgeführten Musikwerks zu übersehen, versicherte die Äbtissin demselben, indem sie ihm die Partitur, unter sonderbar innerlichen Bewegungen übergab, daß schlechterdings niemand wisse, wer eigentlich, an der Orgel, die Messe dirigiert habe. Durch ein Zeugnis, das vor wenigen Tagen, in Gegenwart des Schloßvogts und mehrerer andern Männer abgelegt worden, sei erwiesen, daß die Vollendete in der Stunde, da die Musik aufgeführt worden, ihrer Glieder gänzlich unmächtig, im Winkel ihrer Klosterzelle danieder gelegen habe«.

Kleist: Die heilige Cäcilie

»Demnach sprach der Erzbischof von Trier, an welchen dieser sonderbare Vorfall berichtet ward, zuerst das Wort aus, mit welchem die Äbtissin, aus mancherlei Gründen, nicht laut zu werden wagte: nämlich, daß die heilige Cäcilia selbst dieses, zu gleicher Zeit schreckliche und herrliche, Wunder vollbracht habe. Der Papst, mehrere Jahre darauf, bestätigte es; und noch am Schluß des dreißigjährigen Krieges, wo das Kloster, wie oben bemerkt, säkularisiert ward, soll, sagt die Legende, der Tag, an welchem die heilige Cäcilia dasselbe, durch die geheimnisvolle Gewalt der Musik rettete, gefeiert, und ruhig und prächtig das Gloria in excelsis darin abgesungen worden sein.«

Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik?

Kleist greift die Gattung der Heiligenlegende auf. Es scheint so, als könne die heilige Cäcilie noch nach ihrem Tod Wunder bewirken.

Dabei bezieht er sich jedoch eher auf den erzählerischen Stoff der Legende als auf ihre Form.

So erzählt Kleist keine Heiligenvita, die aus geschichtlichen Zusammenhängen herausgebrochen wird (wie Jolles über die Legende sagt), sondern er verdeutlicht sehr genau die historischen Bedingungen des Geschehens.

Dies wirft verstärkt die Frage auf, ob sich überhaupt ein Wunder ereignet hat. So wird erzählt, wie eine Untersuchung in Gang gesetzt wird, ein Arzt hinzugezogen wird usw.

Auch der Titel deutet in diese Richtung: Hat tatsächlich die heilige Cäcilie interveniert? Oder handelt es sich um die Erschütterungskraft (die »Gewalt«) der Musik?

Tradierungen und Verarbeitungen Einfacher Formen

Kleist verhandelt die Legende mit einem historischen Abstand (das Kloster ist längst säkularisiert). Bei der Überschreitung der Form der Legende wird das Ästhetische zur Alternative vormoderner Wundergläubigkeit.

Jolles betont immer wieder, dass Einfache Formen wie die Legende an das Weitererzählen, die mündliche Tradierungen gebunden sind und dass man sie als Text immer nur in verarbeiteter, reflektierter, in größere Zusammenhänge eingebundener Gestalt finden kann.

Kleists »heilige Cäcilie« gibt im Zeichen der sogenannten »Gewalt der Musik« ein weiteres Beispiel für das, was Rancière als ästhetisches Regime der Kunst bezeichnet. Die Eigengesetzlichkeit der Kunst entfaltet sich hier im Verhältnis zu einer bestimmten Erzählgattung – indem gegen deren Regeln verstoßen wird.

Dabei wird deutlich, wie der literarische Text aus der ›Arbeit‹ (Jolles) der erzählerischen Gattung hervorgeht.

Die Form des RomansIn der modernen Literatur ist der Roman seit dem 18. Jahrhundert die wich-tigste Erzählgattung, die alle möglichen anderen Formen in sich integriert.Im Unterschied zu den einfachen Formen und deren mündlicher Überlieferung ist der neuzeitliche Roman schriftgebunden. Ohne die Erfindung des Buchdrucks wäre seine Entstehung kaum denkbar.Die Gattung Roman unterliegt – anders als andere literarische Formen (wie etwa die Tragödie; poetische Formen wie das Sonett; oder die Fabel etc.) – keiner strengen Gattungspoetik. Die wichtigste literarische Form der neueren Literatur ist undefinierbar. Dies macht den Roman exemplarisch für das moderne ›ästhetische Regime der Kunst‹ (Rancière). Weder gelten formale Kriterien, die für den Roman zwingend sind, noch gibt es für seine Stoffwahl bindende Einschränkungen. Seine relative Länge wird oft hervorgehoben, aber das ist ein sehr vages Kriterium. Ein Roman muß nicht in Prosa sein, denn es gibt auch Versromane – Beispiel: Christoph Ransmayr, »Der fliegende Berg« (2006). Ein Roman muß nicht fiktional sein, denn es gibt auch Romane nach Tatsachen. Oft wird gerade mit dem Roman die Erwartung größerer ›Wirklichkeitsnähe‹ verbunden. Schreibweisen des ›Realismus‹ (Barthes) entwickelten sich vor allem im Roman.

Johann Gottfried Herder (1744-1803) über den Roman

»Keine Gattung der Poesie ist von weiterem Umfange, als der Roman; unter allen ist er auch der verschiedensten Bearbeitungen fähig: denn er enthält oder kann enthalten nicht etwa nur Geschichte und Geographie, Philosophie und die Theorie fast aller Künste, sondern auch die Poesie aller Gattungen und Arten – in Prose. Was irgend den menschlichen Verstand und das Herz interessiret, Leidenschaft und Charakter, Gestalt und Gegend, Kunst und Weisheit, was möglich und denkbar ist, ja das Unmögliche selbst kann und darf in einen Roman gebracht werden, sobald es unsern Verstand oder unser Herz interessiret. Die größesten Disparaten läßt diese Dichtungsart zu: denn sie ist Poesie in Prose.«

In: Briefe zur Beförderung der Humanität. Achte Sammlung (1796)

Wie entstehen Geschichten?2. Techniken des Erzählens

Als eine Antwort auf die ungeregelten Gattungseigenschaften des Romans ist die moderne Erzähltheorie entstanden.

Weil der Roman nicht mehr den Vorschriften einer Gattungspoetik unterworfen ist, sondern den Anspruch ästhetischer Eigengesetzlichkeit erhebt, wird die Aufmerksamkeit auf die erzählerischen Verfahren gelenkt, die jeden einzelnen Roman (und jeden Erzähltext) auf je besondere Weise auszeichnen.

Um diese erzählerischen Verfahren jeweils genau bestimmen zu können, muß eine begriffliche Grundlage geschaffen werden. Die Erzähltheorie (Narratologie) hat sich die Ausbildung einer solchen Grundlage zur Aufgabe gemacht.

Fabel und Sujet

Im russischen Formalismus wird zwischen der Fabel und dem Sujet unterschieden:

»Fabel heißt die Gesamtheit der miteinander verbundenen Ereignisse, von denen in einem Werk berichtet wird [...]. Im Gegensatz zur Fabel steht das Sujet: die gleichen Ereignisse, aber in ihrer Darlegung, in jener Reihenfolge, in der sie im Werk mitgeteilt werden, und in jener Verknüpfung, in der die Mitteilungen über sie im Werk gegeben sind.« (B. Tomaševskij, 1925; zitiert nach Lotman: »Die Struktur literarischer Texte«, S. 330)

Eine solche Unterscheidung (die bei verschiedenen Theoretikern mit verschiedenen Begriffen vorgenommen worden ist) bildet den notwendigen Ausgangspunkt jeglicher Erzähltheorie.

Erzählanalyse ist Sujetanalyse

Die Erzählanalyse interessiert sich weniger für die Fabel als vielmehr für das Sujet eines Textes (die ›Form‹, in der er eine Geschichte hervorbringt).

Denn von der Fabel wissen wir immer nur durch die Art und Weise, wie uns eine Geschichte mitgeteilt wird. Die Fabel ist nicht an und für sich gegeben, sondern wir müssen sie aus dem Sujet (aus der Reihenfolge, in der Ereignisse dargelegt werden, und aus den Verknüpfungen der Mitteilungen über sie) extrapolieren.

Die Fabel ist dasjenige, was wir glauben als ›Inhalt‹ einer Erzählung ›zusammenfassen‹ oder ›nacherzählen‹ zu können.

Grundregel: Wenn wir eine Erzählung analysieren wollen, müssen wir darauf achten, uns nur möglichst knapp über die Fabel auszulassen und möglichst genau das Sujet in den Blick zu nehmen. (Für Kleists »Heilige Cäcilie« z.B. läßt sich schwer sagen, was genau geschieht, aber es läßt sich sagen, wie erzählt wird.)

Ereignisse als kleinste Einheiten des Sujets

Das kleinste Element (sozusagen das ›Atom‹) des Sujetaufbaus ist das Ereignis. Nach Jurij M. Lotman kann im strengen Sinne nur dann von einem Ereignis gesprochen werden, wenn Umstände oder Begebenheiten vorliegen, die dem, was innerhalb einer gegebenen Ordnung erwartet werden kann, zuwiderlaufen. Nur solche widersprechenden Vorfälle werden erzählt:

»Stellen wir uns vor, ein Ehepaar hätte sich wegen unterschiedlicher Bewertung der abstrakten Kunst zerstritten und wende sich nun an die Polizei, um den Fall zu Protokoll zu geben. Der Polizeibeamte wird sich, nachdem er festgestellt hat, daß weder Tätlichkeiten noch sonstige Verletzungen der Zivil- und Strafgesetze vorgefallen sind, weigern, ein Protokoll abzufassen, da kein ›Ereignis‹ vorliegt.« (Lotmann, »Die Struktur literarischer Texte«, S. 333)

Von Telefonbüchern, Kalendern und Gebrauchsanweisungen: sujetlose Texte

Als ›Ereignis‹ fungiert demnach eine Begebenheit, die zu bestimmten bedeutsamen Kontexten in einem Differenzverhältnis steht. ›Ereignisse‹ sind daher nicht zuletzt eine semantische oder, allgemeiner: eine sprachliche Angelegenheit. (Sie verhalten sich zu anderen, ›gewöhnlichen‹ Sachverhalten wie ›schwarz‹ zu ›weiß‹.)

In manchen Texten gibt es – nach Lotman – keine Ereignisse: z.B. in Telefonbüchern und Kalendern. In ihnen gibt es Ordnung, aber es ereignet sich nichts. Sie sind sujetlos.

Auch Gebrauchsanweisungen sind dafür ein gutes Beispiel. Wenn es darin heißt: »Nachdem Sie die rote Taste gedrückt haben, beginnt die Aufnahme«, so handelt es sich dabei um kein Ereignis. Es gibt demnach auch kein Sujet.

Sujethafte Texte

Andere Texte hingegen sind – nach Lotman – sujethaft: In ihnen wird die Grenze eines »semantischen Feldes«, eines Ordnungs- und Bedeutungszusammenhanges überschritten.

Dafür sind die Heiligenlegenden ein gutes Beispiel: Sie erzählen von Wundern.

Und dafür ist insbesondere Kleists »Heilige Cäcilie« ein gutes Beispiel: Denn dieser Text überschreitet – wie wir gesehen haben – seinerseits die Grenzen der Legende und verweist auf »die Gewalt der Musik«, das heißt auf die Eigengesetzlichkeit (die Autonomie) der Kunst.

Das Problem des künstlerischen RaumesWenn Lotman vom »semantischen Feld« spricht, so bringt er dabei nicht zufällig eine räumliche Metapher ins Spiel. Nach Lotman rufen die Bedeutungszusammenhänge, die er als »semantisches Feld« bezeich-net, tatsächlich räumliche Vorstellungen hervor.

So ist z. B. Kleists Erzählung »Die heilige Cäcilie« von der Unter-scheidung zwischen einem weltlichen Raum (der Straße, der Gast-häuser) bestimmt, in dem sich der Pöbel zusammenrottet, und einem sakralen Raum (dem Kloster, dem Dom). Die Grenze zwischen diesen beiden Räumen wird von den vier Brüdern überschritten.

Nach Lotman sind literarische Texte grundsätzlich durch solche »künstlerischen Räume« strukturiert, die durch eine Grenzziehung in binär entgegengesetzte Bereiche geteilt werden. (Er folgt hier einerseits der Einsicht Kants, die besagt, dass ›Raum‹ und ›Zeit‹ Grundbedingun-gen menschlicher Anschauung sind. Sie entstammen nicht den ›Dingen an sich‹, sondern unserer Wahrnehmung. Andererseits orientiert sich Lotman hier an einer strukturalistischen Logik, die Bedeutungen grundsätzlich auf Binäroppositionen (Gegensatzpaare) zurückführt.)

Franz Kafka: Eine kaiserliche Botschaft

Der Kaiser – so heißt es – hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknieen lassen und ihm die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes – alle hindernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs – vor allen diesen hat er den Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das

Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest Du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; nie-mals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich kämpfen; und gelän-ge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durch-messen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor – aber niemals, niemals kann es geschehen – liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt.

Kafka und das Problem des künstlerischen Raumes

Kafkas Text illustriert Lotmans Theorie des künstlerischen Raumes und verkompliziert sie zugleich.

Der Text ist bestimmt durch einen Raum, der in Zentrum und Peripherie geteilt ist. Der kaiserliche Bote, von dem erzählt wird, würde diesen Raum ausgehend vom Zentrum in Richtung Peripherie durchqueren. Diese Bewegung von einem, der zum Zentrum gehört, aber zur Peripherie vordringt, würde die Sujethaftigkeit des Textes sichern.

Aber diese Sujethaftigkeit ist zugleich alles andere als gewiss – denn die Bewegung kann nicht vollendet werden! Der Raum wird ins Unendliche gedehnt.

Von solchen Verkomplizierungen und Paradoxien sind viele Texte Kafkas bestimmt.

Figur und CharakterLotman leitet aus der Theorie des künstlerischen Raumes auch die Begriffe der ›Figur‹ und des ›Charakters‹ ab.

Dazu unterscheidet er zunächst zwischen Handlungsträgern, von denen im Text die Überschreitung der Grenze eines semantischen Feldes abhängt, und Bedingungen dieser Grenze, die die Umstände der Überschreitung bestimmen. Immer dort, wo es sich um Menschen handelt, trifft der Begriff der ›Figur‹ zu.

Lotman betont, das Handlungsträger nicht zwingend menschlich sein müssen. Der Blitz in Kleists Anekdote vom »Griffel Gottes« ist ein Handlungsträger. Er ist aber keine Figur.

Umgekehrt können die Bedingungen der Grenze eines semantischen Feldes durch Menschen verkörpert werden - in Kleists »Die heilige Cäcilie« zum Beispiel der Stadtkommandant, der dem Kloster Schutz verweigert. Er ist kein Handlungsträger, aber eine Figur.

Der Begriff des ›Charakters‹ dient zur näheren Bestimmung derjenigen Figuren, die zugleich Handlungsträger sind.

Der Charakter als Paradigma

Die nähere Bestimmung des ›Charakters‹ einer Figur ist bei Lotman streng an die binäre Logik der semantischen Felder gebunden.

In komplexen Erzähltexten lassen sich mehrere semantische Felder beobachten, die jeweils durch einen Gegensatz bestimmt und durch eine Grenze geteilt sind.

Zu jedem dieser Gegensätze steht der Handlungsträger in einem spezifischen Verhältnis (er überschreitet zum Beispiel die Grenze von der einen Seite zur anderen).

Die Summe dieser Relationen nennt Lotman ›Charakter.‹

Den Charakter bezeichnet Lotman im Anschluss an Roman Jakobson auch als ›Paradigma‹ (die Achse der Selektion, die bei jeder sprachlichen Äußerung im Spiel ist). Für jedes semantische Feld gibt es jeweils einen Aspekt des Charakters, der auf dieses Feld bezogen ist.

Erzählung – Geschichte – Narration

Nach Gérard Genette (Die Erzählung. 2. Aufl. München 1998) lassen sich in Erzähltexten grundsätzlich drei Ebenen unterscheiden:

1.die Erzählung (discours):»die narrative Aussage, der mündliche oder schriftliche Diskurs, der von einem Ereignis oder einer Reihe von Ereignissen berichtet«. Dies entspricht (nicht genau, aber doch annähernd) dem Begriff des Sujets.

2.die Geschichte (histoire):»die Abfolge der realen oder fiktiven Ereignisse, die den Gegenstand dieser Rede ausmachen, und ihre unterschiedlichen Beziehungen zueinander«. Dies entspricht (nicht genau, aber doch annähernd) dem Begriff der Fabel.

3.die Narration:»der Akt des Erzählens selbst«.

Edgar Lee Masters: »Spoon River Anthology« (1916)

Photograph Penniwit

Ich verlor meine Kundschaft in Spoon River,Weil ich der Kamera meinen Geist aufzwingen wollte,Um die Seele meiner Modelle einzufangen.Das beste Bild, das ich jemals gemacht habe,War das des Rechtsanwalts Somers.Er saß sehr aufrecht da und bat mich zu warten,Bis er aufgehört habe zu schielen.Und als er soweit war, sagte er: »Jetzt!«Und ich rief: »Die Klage wird abgewiesen!« Darauf verdrehte er

wieder die Augen,Und ich kriegte ihn so, wie er immer aussah,Wenn er sagte: »Ich erhebe Einspruch!«

Erzählung – Geschichte – Narration am Beispiel der »Spoon River Anthology«

Die Geschichte (histoire): Der Photograph Penniwit aus Spoon River hatte die Angewohnheit, seine Kunden so zu porträtieren, daß ihre spezifischen Eigenschaften hervortraten, und zwar ohne Rücksicht auf ihren eigenen Willen. So überlistete er den Rechtsanwalt Somers, um sein Schielen festzuhalten. Auf diese Weise verlor er allmählich seine Kundschaft.

Die Erzählung (discours): Ein Gedicht (in ungebundenen Versen, ohne Reim), das die Geschichte vom Ende her erzählt.

Die Narration: Es handelt sich bei dem Gedicht um die Rede eines Toten, der sich selbst vorstellt. Die »Spoon River Anthology« setzt sich zusammen aus 214 solcher ›Epitaphen‹ (›Grabinschriften‹), in denen ›die Toten von Spoon River‹ (so der Titel der dt. Übersetzung) wechselseitig aufeinander Bezug nehmen. Im Grunde handelt es sich jeweils um eine spezifische rhetorische Figur, mit der einem Toten eine Stimme gegeben wird (Prosopopoiia)

Drei Analysekategorien:Zeit – Modus – Stimme

Die Erzählanalyse basiert auf drei Kategorien, die sich jeweils aus den Verhältnissen zwischen Geschichte, Erzählung und Narration ergeben.

1. Zeit. Dies betrifft das Verhältnis der Erzählung zur Geschichte: Fragen des Verhältnisses von ›Erzählzeit‹ und ›erzählter Zeit‹, z. B. der Chronologie, des Erzähltempos usw.

2. Modus. Dies betrifft wiederum das Verhältnis der Erzählung zur Geschichte, etwa die Erzählperspektive, das Vorkommen direkter oder indirekter Rede usw.

3. Stimme. Dies betrifft entweder das Verhältnis der Narration zur Erzählung, etwa die Formen der Anwesenheit eines Erzählers in der Erzählung (wenn etwa innerhalb einer Erzählung wiederum erzählt wird), oder das Verhältnis der Narration zur Geschichte, etwa die Frage, ob der Erzähler Teil der Geschichte ist oder nicht.

›Zeit‹ als Erzählkategorie: Ordnung

Wie verhält sich die Reihenfolge der Ereignisse einer Geschichte zur Reihenfolge, in die sie erzählt werden? »Mit Prolepse bezeichnen wir jedes narrative Manöver, das darin besteht, ein späteres Ereignis im voraus zu erzählen, und mit Analepse jede nachträgliche Erwähnung eines Ereignisses, das innerhalb der Geschichte zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat« (Genette, Die Erzählung, S. 25)

Bei Edgar Lee Masters ist die Zeile »Ich verlor meine Kundschaft in Spoon River« eine Prolepse. Es wird vorweggenommen, was erst nach der Geschichte mit dem Rechtsanwalt passiert.

›Zeit‹ als Erzählkategorie: Dauer

Die erzählte Zeit und die Erzählzeit können sich in ihrer Dauer sehr verschieden zueinander verhalten.

Die Erzählzeit kann der erzählten Zeit entsprechen. Dies ist z.B. oft bei Dialogen der Fall.

Die Erzählzeit kann langsamer sein als die erzählte Zeit. Dies kann z.B. durch längere deskriptive Passagen verursacht sein.

Die Erzählzeit kann schneller vergehen als die erzählte Zeit.

Bei Edgar Lee Masters etwa wird das ganze Berufsleben eines Photographen in wenigen Zeilen erzählt. (Dies hängt bei Masters zusammen mit der Funktion des ›Epitaphs‹.)

›Zeit‹ als Erzählkategorie: Frequenz

Die Häufigkeit von Ereignissen in der Geschichte kann mit der Häufigkeit ihres Erzählens verglichen werden. Es bestehen drei Möglichkeiten:

1. singulatives Erzählen: Was einmal geschieht, wird einmal erzählt, bzw. was mehrmals geschieht, wird mehrmals erzählt.

2. repetitives Erzählen: Was einmal geschieht, wird mehrmals erzählt.

3. iteratives Erzählen: Was mehrmals geschieht, wird einmal erzählt.

Bei Masters handelt es sich um ein iteratives Erzählen: Er erzähltanhand eines Beispiels, wie Penniwit immer photographiert hat. (Auch eine Grabinschrift, wenn sie erzählt, verfährt in der Regel iterativ.)

›Modus‹ als Erzählkategorie: Erzählen von Ereignissen und von Worten

Grundsätzlich läßt sich zwischen einer Erzählung von Ereignissen und einer Erzählung von Worten unterscheiden. Dabei kommt in unterschiedlichem Maße das Problem der Nachahmung ins Spiel.

Die Erzählung von Ereignissen kann auf rhetorischem Wege eine gewisse Lebendigkeit erreichen (Figuren der Evidenz, der Hypotypose), den Eindruck des Konkreten erzeugen (durch historische Bezüge in der Anekdote) oder Effekte von Realismus erzielen (Barthes).

Im strengen Sinne mimetisch (nachahmend) verfährt aber nur die Erzählung von Worten. Beispiel Masters: »Und als er soweit war, sagte er: ›Jetzt!‹«

Mit Worten (aus denen ja jede Erzählung besteht) ist nur eine Nachahmung von Worten möglich.

›Modus‹ als Erzählkategorie: Formen der Erzählung von Worten

1. berichtete Rede (direkte Rede). Diese Form liegt bei Masters vor. Beispiel: »Ich rief: ›Die Klage wird abgewiesen!‹« Zur berichteten Rede zählt auch der innere Monolog.

2. narrativisierte oder erzählte Rede. Z.B. wenn man Masters so umformuliert: »Ich verwendete eine Formel, die bei Gericht zur Abweisung von Klagen gebraucht wird.«

3. transponierte Rede, die als indirekte Rede (style indirect) auftritt, wobei der tatsächlich zugrundeliegende Wortlaut unklar bleibt (z. B.: »Er saß sehr aufrecht da und bat mich zu warten bis er aufgehört habe zu schielen.«), oder auch als erlebte Rede (style indirect libre) (z. B.: » Er saß sehr aufrecht da. Ich sollte gefälligst warten bis er aufgehört hatte zu schielen.«)

›Modus‹ als Erzählkategorie: FokalisierungErzählungen können durch einen Fokus bestimmt werden, der die Aus-wahl dessen bestimmt, was erzählt wird (die Sichtweise, die Perspektive). Die Fokalisierung bestimmt sich im Verhältnis von Erzähler und Figur. Drei Konstellationen sind denkbar. Sie lassen sich in folgenden Formeln und Begriffen ausdrücken:

›Modus‹ und ›Stimme‹

Das Gedicht von Edgar Lee Masters ist eine Erzählung mit Nullfokalisierung.

Es gibt darin zwei Figuren, den Photographen und den Juristen. Der Erzähler sagt mehr als beide Figuren wissen (nämlich daß der Photograph seine Kundschaft verlieren wird). Also liegt keine Fokalisierung vor.

Daß es im Gedicht einen Ich-Erzähler gibt, scheint nahezulegen, daß der Erzähler und die Figur des Photographen identisch sind. Man muß aber unterscheiden zwischen dem Photographen, der seine Kundschaft (und sein Leben) erst noch verlieren wird, und dem Toten, der spricht.

Die Frage, ob es sich um eine Ich-Erzählung oder um eine Erzählung in der dritten Person handelt, hat mit dem Problem der Fokalisierung gar nichts zu tun. Generell muß unterschieden werden zwischen der Frage Wer sieht? (Modus des Erzählens) und der Frage Wer spricht? (Stimme des Erzählens).

›Stimme‹ als Erzählkategorie: narrative Ebenen

In Bezug auf die Instanz des Erzählens, die Stimme, lassen sich verschie-dene Ebenen der Narration unterscheiden, die man ›extradiegetisch‹, ›intradiegetisch‹ und ›metadiegetisch‹ nennt (von griechisch diegesis = Erzählung).

›Stimme‹ als Erzählkategorie: Beziehungen zum Erzählten

Im Hinblick auf die Stimme des Erzählers läßt sich fragen, ob sie als eine Person betrachtet werden kann, die selbst an dem, was sie erzählt, partizipiert.

Wenn der Erzähler zugleich als Protagonist im Erzählten auftritt, nennt man die Erzählinstanz ›homodiegetisch‹. Dies wird durch ein Erzählen in der 1. Person angezeigt, wobei sich das ›Ich‹ auf einen Protagonisten bezieht.

Wenn der Erzähler nicht zugleich als Handelnder im Erzählten auftritt, spricht man von einer ›heterodiegetischen‹ Erzählinstanz. Auch hier ist ein Erzählen in der ersten Person möglich, aber das ›Ich‹ bezieht sich dann nur auf den Erzähler und nicht auf einen Protagonisten (Beispiele: »Ich bitte den Leser um Verzeihung«, »Ich wende mich nun einem anderen Schauplatz des Geschehens zu« etc.).

Im Falle von Masters‘ Gedicht handelt es sich um eine homodiegetische Erzählinstanz. Das ›Ich‹ bezieht sich auf Penniwit als Protagonisten.

›Stimme‹ als Erzählkategorie: Kombinationen von Ebenen und Beziehungen

Narration: Resümee der Grundbegriffe

Narrativ

Funktionen und Aktanten (nach Propp)

Anekdote

Einfache Form

Legende

Roman als Gattung

Fabel / Sujet / Ereignis

sujetlos / sujethaft

semantisches Feld

Figur / Charakter

Erzählung (discours) – Geschichte (histoire) – Narration

drei erzählanalytische Kategorien: Zeit / Modus / Stimme

Prolepse / Analepse

Dauer (Erzählzeit/erzählte Zeit)

Frequenz: singulatives, repetitives, iteratives Erzählen

Erzählung von Ereignissen / Erzählung von Worten

berichtete Rede (direkte Rede, innerer Monolog)

narrativisierte oder erzählte Rede

transponierte Rede (indirekte Rede, erlebte Rede)

Fokalisierung (Nullfokalisierung, interne Fokalisierung, externe Fokalisierung)

extradiegetisch / intradiegetisch / metadiegetisch

homodiegetisch / heterodiegetisch

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