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Nils C. Bandelow · Wilhelm Bleek (Hrsg.) Einzelinteressen und kollektives Handeln in modernen Demokratien

Einzelinteressen und kollektives Handeln in modernen Demokratien ||

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Page 1: Einzelinteressen und kollektives Handeln in modernen Demokratien ||

Nils C. Bandelow · Wilhelm Bleek (Hrsg.)

Einzelinteressen und kollektives Handeln in modernen Demokratien

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Forschung Politik

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Nils C. BandelowWilhelm Bleek (Hrsg.)

Einzelinteressen und kollektives Handeln in modernen Demokratien Festschrift für Ulrich Widmaier

Page 4: Einzelinteressen und kollektives Handeln in modernen Demokratien ||

.1. Auflage Januar 2007

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007

Lektorat: Monika Mülhausen / Marianne Schultheis

Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesonderefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesemWerk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solcheNamen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachtenwären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

ISBN 978-3-531-14877-9

Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Page 5: Einzelinteressen und kollektives Handeln in modernen Demokratien ||

Inhaltsverzeichniss 5

InhaltInhaltsverzeichnis Nils C. Bandelow und Wilhelm BleekVorwort..................................................................................................................7

Nils C. Bandelow und Wilhelm Bleek Einleitung...............................................................................................................9

Heidrun AbromeitProbleme einer Demokratisierung der Europäischen Union – oder:

Warum es so schwer ist, einen gemeinsamen Nenner zu finden.........................13

Hendrik Meyer und Klaus Schubert Vom nationalen Wohlfahrtsstaat zum europäischen Sozialmodell?....................29

Josef SchmidInteressenvermittlung und Policy-Making im europäischen

Mehrebenensystem. Vom Korporatismus zum Pluralismus zur

organisierten Anarchie?.......................................................................................43

Thomas König Das Europäische Puzzle oder: Warum das Europäische Parlament an

Macht gewonnen hat............................................................................................59

Diana Schumann Kollektive und individuelle Interessenvermittlung großer Unternehmen

im europäischen Mehrebenensystem...................................................................75

Wilhelm BleekDer nordamerikanische „Softwood Lumber War“:

Unterschiedliche Interessenvermittlung durch Parteien und Verbände

in USA und Kanada .............................................................................................91

Jörg BogumilVerwaltungspolitik im Bundesländervergleich – Große Entwürfe

statt inkrementalistische Reformen?..................................................................111

Page 6: Einzelinteressen und kollektives Handeln in modernen Demokratien ||

6 Inhalt

Heiderose Kilper Zur Neujustierung von privaten und öffentlichen Interessen in der

europäischen Infrastrukturpolitik – das Beispiel der Wasserversorgung...........123

Nils C. BandelowUnwissen als Problem politischer Steuerung in der Verkehrspolitik.................139

Uwe WilkesmannEinzelinteressen und kollektives Handeln in Organisationen.

Das Dilemma der Steuerung wissensintensiver Arbeit......................................163

Ursula Hoffmann-Lange und Trygve GulbrandsenDie Verankerung der sozioökonomischen Konfliktlinie in den

deutschen Eliten.................................................................................................187

Werner VoßDeutschland im OECD-Vergleich. Ein statistischer Annäherungsversuch.......209

Lothar R. Waas Gemeinwohl – a posteriori oder a priori? Ein Blick in die politische

Ideengeschichte in pluralistischer Absicht.........................................................239

Erich Weede Jenseits von Webers Bürokratietheorie: Einzelinteressen und

parteipolitisches Handeln...................................................................................259

Peter Hauptmanns und Hiltrud Niggemann/Barbara Ostendorf und Wolfgang Rogalski Einzelinteressen und kollektives Handeln im „Team Widmaier“.

Wissenschaft als soziales Ereignis.....................................................................273

Nils C. Bandelow und Wilhelm BleekEinzelinteressen und kollektives Handeln in unterschiedlichen

politischen, historischen und kulturellen Kontexten.........................................285

Lebenslauf von Ulrich Widmaier.......................................................................297

Schriftenverzeichnis von Ulrich Widmaier........................................................299

Autorenverzeichnis.............................................................................................309

Page 7: Einzelinteressen und kollektives Handeln in modernen Demokratien ||

Nils C. Bandelow und Wilhelm Bleek 7

VorwortNils C. Bandelow und Wilhelm Bleek Ulrich Widmaier feiert am 22. Januar 2007 seinen 63. Geburtstag. Zum großen

Bedauern seiner Freunde, Kollegen, Schüler und Studierenden muss er bereits zu

diesem Zeitpunkt aus gesundheitlichen Gründen als Lehrstuhlinhaber für Ver-

gleichende Regierungslehre und Politikfeldanalyse an der Ruhr-Universität Bo-

chum ausscheiden.

Mit dem vorliegenden Band nutzen wir diesen Anlass, um das Werk und die

Person Uli Widmaier zu ehren. Alle Beiträge knüpfen an die Perspektive und an

Ergebnisse des wissenschaftlichen Werks des Jubilars an. Uli Widmaier hat sich

stets zum Ziel gesetzt, wissenschaftliche Erklärungen politischer Varianzen mit

großem Informationsgehalt zu finden. Er drängt darauf, zunächst klare und rele-

vante Fragestellungen zu formulieren. Es soll nach möglichst allgemeinen Erklä-

rungen gesucht werden, die idealerweise auf wenigen und plausiblen Annahmen

beruhen. Komplexere und fallspezifische Erklärungen lehnt er aber nicht ab. Sie

müssen aber jeweils ihren jeweiligen Erklärungsbeitrag verdeutlichen und damit

die Notwendigkeit eines Verzichts auf einfachere Modelle legitimieren.

Aus dieser Sicht haben etwa Ansätze in der Tradition des Rational-Choice-

Institutionalismus einen besonderen Wert für Uli Widmaier: Sie kommen mit

einfachen Annahmen aus und sind daher auf fast alle politischen Phänomene

anwendbar. Widmaier leitet aber aus der Eleganz und dem hohen Informations-

gehalt dieser Perspektive keinen Ausschließlichkeitsanspruch ab: Er hat stets

erkannt, dass auch elegante Erklärungen ihre blinden Flecken haben. Daher ist er

offen für Sichtweisen jenseits des Rational Choice. Von dieser Offenheit haben

vor allem seine Schüler immer wieder profitiert. Er hat sich etwa für Arbeiten

mit lerntheoretischen Zugängen nicht nur interessiert, sondern entsprechende

Anliegen von Kandidaten jeweils dazu genutzt, sich selbst intensiv in die ver-

schiedenen Debatten einzudenken. Gleiches gilt auch für seine Bereitschaft zur

Integration von historischen Perspektiven in seine Vergleichende Regierungsleh-

re. Unabhängig von der jeweiligen theoretischen Perspektive haben viele Gene-

rationen von Studierenden von Widmaiers klarem methodischen Verständnis

profitiert. So ist der regelmäßige „Jour Fixe“ seines Lehrstuhls nie zum trocke-

nen Kolloquium verkommen, sondern hat jeweils konstruktive Debatten ausge-

löst, von denen alle Teilnehmer deutlich profitieren konnten.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes greifen ein zentrales Thema des

Werkes von Uli Widmaier auf: das Olsonsche Paradox kollektiven Handelns.

Eigeninteressierte Akteure setzen sich danach nicht immer gemeinsam für ge-

meinsame Ziele ein. Diese Ausgangsthese besticht zunächst durch ihre Klarheit,

doch sie erfordert Differenzierungen, wenn man der Vielfalt empirischer Befun-

de genügen will. Dies gilt etwa für die unterschiedlichen ideengeschichtlichen,

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8 Vorwort

historischen und institutionellen Grundlagen moderner Demokratien. Die Beiträ-

ge dieses Bandes wollen so zur theoretischen oder empirischen Debatte über das

Spannungsfeld zwischen individuellen Interessen und kollektivem Handeln in

modernen Industriegesellschaften beitragen. Die inhaltlichen Schwerpunkte

orientieren sich dabei an den Arbeitsgebieten von Uli Widmaier. Der frühe Wid-

maier interessierte sich vor allem für theoretische und methodische Fragen. Auf

diesem Fundament hat er dann eine vor allem international vergleichende Per-

spektive entwickelt. Seit seiner Tätigkeit in Bochum interessiert Widmaier sich

auch für die Governanceformen in der Europäischen Union. Theorie und Empirie

sind dabei für ihn keine Gegensätze. Empirische Forschung soll einerseits dazu

beitragen, die Validität theoretisch entwickelter Konzepte und Hypothesen zu

verdeutlichen. Gleichzeitig beweist empirische Forschung ihre eigentliche Rele-

vanz darin, dass sie ihrerseits die Weiterentwicklung der Theoriedebatte fördert.

Dieses Wissenschaftsverständnis ist modern und praxisnah zugleich. Es verfällt

nicht der Illusion einer endgültigen Falsifikation oder gar Verifikation von

Hypothesen. Vielmehr wird von einem Wechselverhältnis zwischen Theorie und

Praxis ausgegangen. Dieser pragmatische Zugang zeichnet auch die Beiträge des

vorliegenden Bandes aus.

Zu dieser Festschrift haben nicht nur die Autoren beigetragen. Besonderen

Dank verdient Angelika J. Hüpen, die als langjährige Sekretärin von Uli Wid-

maier gerne bereit war, auch diese Festschrift redaktionell zu betreuen. Katharina

Knüttel hat selbstständig und mit großem Engagement eine Druckfassung er-

stellt. Tobias Kwetina hat mühevolle Recherchen zur Vervollständigung des

Schriftenverzeichnisses beigetragen. Die Veröffentlichung dieses Bandes ist ein

gemeinsames Geschenk der Bochumer Fakultät für Sozialwissenschaft.

Uli Widmaier hat in der typischen Art seines trockenen Humors immer

wieder vor Festschriften gewarnt. Wir hoffen sehr, dass wir ihn mit dem vorlie-

genden Band von dem besonderen Wert dieser Schriftform überzeugen können.

Braunschweig/Toronto, im September 2006

Nils C. Bandelow und Wilhelm Bleek

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Einleitung 9

Einleitung

Nils C. Bandelow und Wilhelm Bleek

Die Diskussion über die Organisation von Einzelinteressen in unterschiedlichen institutionellen Kontexten prägt seit Ende der 1970er Jahre die Debatte in der neuen politischen Ökonomie (vgl. Widmaier 1978). Zuvor wurde bis Ende der 1960er Jahre üblicherweise bei Gruppen mit übereinstimmenden Interessen ein kollektives Handeln als selbstverständlich angenommen. Diese Annahme findet sich gleichermaßen bei marxistischen wie bei neopluralistischen Theorien. Die Infragestellung dieser Erwartung basiert auf dem Perspektivwandel in der politi-schen Ökonomie, der letztlich auf Joseph Schumpeter zurückgeht (vgl. Widmaier 2005: 146-149). Nach einer Anwendung dieses neuen Paradigmas auf Wahlen und Parteien, die als Stimmenmarkt interpretiert wurden (Downs 1957), weitete Mancur Olson diesen Ansatz zu seiner allgemeinen These vom „Paradox“ kol-lektiven Handelns aus (Olson 1965). Olson zeigte, dass unter der Voraussetzung individuell nutzenmaximierender Akteure die Annahme keineswegs zutrifft, dass Gruppen mit gemeinsamen Interessen immer auch gemeinsam für diese Interes-sen eintreten. Vielmehr ist es für Individuen oft rational, sich als Trittbrettfahrer zu verhalten und keinen Beitrag zur Bildung von Interessenverbänden oder ande-ren Kollektivgütern der Gruppe zu leisten. Olson differenzierte seine These ur-sprünglich vor allem im Hinblick auf die Zusammensetzung der Gruppe und die Art der jeweiligen Güter. Danach treten Kollektivgutprobleme vor allem in gro-ßen, heterogenen Gruppen auf. Sie werden verstärkt, wenn der Nutzen für das Individuum klein und die individuellen Kosten groß sind.

Diese „Logik kollektiven Handelns“ wurde zur Grundlage für die Formulie-rung allgemeiner politikwissenschaftlicher Hypothesen, die alle drei Dimensio-nen des Politikbegriffs betreffen. Olson selbst untersuchte die Auswirkungen auf Polity (politische Strukturen) und Policy (Politikinhalte) und kam zu dem Be-fund, dass das Phänomen der asymmetrischen Bildung von Verteilungskoalitio-nen die Strukturen von Demokratien prägt. Ihm zufolge weisen ältere Demokra-tien mehr Verteilungskoalitionen auf, da sich die verschiedenen Interessengrup-pen erst schrittweise etablieren. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Poli-tikinhalte bzw. Politikergebnisse: Die Verteilungskoalitionen in älteren Demo-kratien behindern gemeinwohlorientierte Politik und erschweren somit etwa wirtschaftliches Wachstum (Olson 1982). Widmaier erweiterte in seiner Disser-tation diesen Ansatz auf die Politics-Dimension (politische Prozesse). Ihm ging es darum zu zeigen, dass gewaltsame politische Prozesse eine spezielle Folge institutioneller Strukturen sein können. Politische Gewaltanwendung lässt sich

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10 Nils C. Bandelow und Wilhelm Bleek

im Rahmen der Olson’schen Annahmen darauf zurückführen, dass oppositionel-len Eliten keine Möglichkeiten zur Mitwirkung an Regierungen oder deren fried-licher Ablösung geboten wird (Widmaier 1978).

Diese Debatte soll von den Beiträgen des vorliegenden Sammelbands wei-tergeführt werden. Die zentrale These ist dabei, dass das Olson’sche Paradox kollektiven Handelns in unterschiedlichen Demokratien auf verschiedene Weise auftritt und jeweils unterschiedliche Auswirkungen hat. Sowohl das Auftreten des Paradoxes des kollektiven Handelns als auch seine Auswirkungen sind von den politischen, historischen und kulturellen Institutionen moderner Demokra-tien abhängig. Daher können Analysen aus allen Perspektiven der neuen Institu-tionalismen (Hall/Taylor 1996) einen Beitrag zur Reichweite und Bedeutung dieses Paradoxes leisten. Klassisch ist es, die Perspektive von Olson mit anderen Rational-Choice-Ansätzen zu verbinden. Aus Perspektive eines Rational-Choice-Institutionalismus könnte sich etwa die Anzahl der Vetospieler in einem politi-schen System auf die Wahrscheinlichkeit der Durchsetzung von Gruppeninteres-sen auswirken (Lehner/Widmaier 2002: 45; 145-177; Tsebelis, 2002; Bandelow 2005; Abromeit/Stoiber 2006: 62-81). Der historische Institutionalismus dagegen verweist auf die Pfadabhängigkeit von Interessenvermittlungsstrukturen in ver-schiedenen modernen Demokratien. Damit wird es fruchtbar, auch lange zurück-liegende Konstellationen und Entscheidungen einzubeziehen, um heutige politi-sche Strukturen und Prozesse zu verstehen. Aus Sicht eines soziologischen In-stitutionalismus lassen sich Varianzen nationaler Interessenvermittlung auf spe-zifische Normen und Werte zurückführen. Auch bei gleichen politischen Situati-onen können demnach unterschiedliche Einzelinteressen in verschiedenen De-mokratien auftreten. Diese Einzelinteressen sind dann nicht von der Handlungs-situation abhängig, sondern von den jeweiligen Normen, die etwa kulturell ge-prägt sein können. Die Wahrscheinlichkeit der Orientierung von Akteuren am individuellen Nutzen einerseits und an kollektiven Zielen andererseits hängt somit davon ab, in welchem Umfang Individualismus eine zentrale gesellschaft-liche Norm darstellt.

Die Entscheidung zwischen einer rationalistischen, historischen oder eher soziologischen Perspektive ergibt sich weder automatisch aus einem Gegenstand noch aus einer Methode. Dies soll bei den Beiträgen zu diesem Band deutlich werden. So finden sich bei den am Anfang des Bandes stehenden Beiträgen zur Interessenvermittlung im europäischen Mehrebenensystem gegensätzliche Per-spektive, deren Erkenntnisse sich jeweils ergänzen. Gleiches gilt für die dann folgenden paarweisen Vergleiche zwischen jeweils ausgewählten Demokratien. Am Ende des Bandes stehen theoretisch und empirisch orientierte Beiträge, die jeweils über die Kategorien der bestehenden Debatten hinausführen und dabei

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Einleitung 11

vor allem Anregungen für weiterführende Hypothesen zum Verhältnis von Ein-zelinteressen und kollektivem Handeln in modernen Demokratien bieten sollen.

Literatur

Abromeit, Heidrun/Stoiber, Michael, 2006: Demokratien im Vergleich. Wiesbaden. Bandelow, Nils C., 2005: Kollektives Lernen durch Vetospieler? Konzepte britischer und

deutscher Kernexekutiven zur europäischen Verfassungs- und Währungspolitik. Ba-den-Baden.

Downs, Anthony, 1957: An Economic Theory of Democracy. New York. Hall, Peter A./Taylor, Rosemary C. R., 1996: Political Science and the Three New Institu-

tionalisms, in: Political Studies 44/5, 936–95. Lehner, Franz/Widmaier, Ulrich, 2002: Vergleichende Regierungslehre. 4. überarbeitete

Auflage. Opladen. Olson, Mancur, 1965: the Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of

Groups. Cambridge/Mass. Olson, Mancur, 1982: Rise and Decline of Nations. New Haven/London. Widmaier, Ulrich, 1978: Politische Gewaltanwendung als Problem der Organisation von

Interessen. Eine Querschnittsstudie der soziopolitischen Ursachen gewaltsamer Kon-fliktaustragung innerhalb von Nationalstaaten. Meisenheim a. Glan.

Widmaier, Ulrich, 2005: Joseph A. Schumpeter (1883-1950), in: Bleek, Wilhelm/Lietz-mann, Hans J. (Hrsg.): Klassiker der Politikwissenschaft. Von Aristoteles bis David Easton. München, 137-150.

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Probleme einer Demokratisierung der EU 13

Probleme einer Demokratisierung der Europäischen Union – oder: Warum es so schwer ist, einen gemeinsamen Nenner zu finden Probleme einer Demokratisierung der EU Heidrun Abromeit

Seit über zehn Jahren wird die Europaforschung geprägt von der Debatte über das europäische Demokratiedefizit, zu dessen Behebung eine überzeugende und konsensfähige Lösung nach wie vor nicht in Sicht ist – weder theoretisch noch praktisch. Das sollte eigentlich verwundern, wird doch bei offiziellen Anlässen immer wieder darauf verwiesen, dass Europa in den ‚abendländischen Werten’ geeint sei, und zu diesen zählt in vorderster Linie das Bekenntnis zum ‚demo-kratischen Verfassungsstaat’. In der Tat verstehen die Mitgliedstaaten sich alle ‚irgendwie’ als Demokratien (das ist schließlich die Beitritts-Voraussetzung), doch liegt der Verdacht nahe, dass sie mit dem Begriff Demokratie ganz Unter-schiedliches verbinden.

Die Frage, die uns im Folgenden beschäftigen wird, lautet darum: Gibt es wirklich ein gemeinsames Grundverständnis von Demokratie, das die Basis für eine erfolgreiche Demokratisierung der EU abgeben könnte? Natürlich kann ein kurzer Beitrag die Frage nicht erschöpfend behandeln. Was er zu leisten ver-sucht, ist vielmehr, eine Systematik vorzulegen, an Hand derer das Thema abge-arbeitet werden kann. Dazu gehe ich in zwei Schritten vor: (1) Welche Demo-kratie-Konzeptionen lassen sich in Anlehnung an die gängige Definition des ‚Regieren durch und für das Volk’ denken und welche Institutionalisierungen implizieren sie – und lassen sich auf dieser grundlegenden Stufe des Vergleichs Gemeinsamkeiten ausmachen? (2) Welche Denktraditionen verbinden sich nati-onal mit der jeweiligen Demokratiepraxis und -geschichte? Hierzu kann ver-ständlicherweise derzeit nur Vorläufiges ausgesagt werden, denn den Vergleich demokratischer Denktraditionen gibt es noch nicht. Immerhin kann man sich Gedanken darüber machen, wie man bei einem solchen Vergleich vorzugehen hätte. Am Schluss (3) steht die Frage, welche Elemente eines gemeineuropäi-schen Demokratiemodells sich erkennen lassen und wie auf deren Basis die Chancen einer Demokratisierung der EU zu beurteilen sind.

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14 Heidrun Abromeit

1 Demokratie-Konzeptionen

Der Vergleich ‚etablierter’ Demokratien ist ein beliebtes Feld der Politikwissen-schaft, eigentlich schon seit diese besteht. Man analysiert verschiedene Institu-tionensysteme, die den Anspruch erheben, demokratisch zu sein – parlamentari-sche, präsidentielle oder semi-präsidentielle, direkt-demokratische – und beur-teilt sie im Hinblick auf ein bestimmtes Kriterium wie etwa dem der Leistungs- oder Problemlösungsfähigkeit. Hierzu hat Ulrich Widmaier Wesentliches beige-tragen (Lehner/Widmaier 2002). In unserem Zusammenhang geht es aber um etwas anderes, nämlich darum, den Vergleich der verschiedenen Institutionalisie-rungen von Demokratie anzureichern mit dem Vergleich der ihnen zugrundelie-genden generelleren Demokratie-Konzeptionen.

1.1 Zwecksetzungen

Für einen solchen Vergleich nimmt man sinnvollerweise die Zielvorstellungen zum Ausgangspunkt, die sich mit Demokratie verbinden und ihre Notwendigkeit begründen. Sie prägen die Logik des jeweiligen Konzepts sowie die Bedeutung der einzelnen möglichen Institutionen und Verfahren, geben also gewissermaßen die ‚Rahmung’ vor.

Am Beginn von Demokratisierungsprozessen stand häufig der Schlachtruf ‚Nieder mit den Tyrannen!’, der auf die Zielsetzung ‚Freiheit’ – des Indivi-duums, des Volks als Ganzem, Freiheit von Intervention – verweist. Doch gemäß Lincolns Definition der Demokratie als „government by the people and for the people“ steht neben dem Freiheitsziel der Zweck der ‘allgemeinen Wohlfahrt’ bzw. das Regieren ‚im Interesse des Volkes’, das ganz unterschiedliche, spezifi-sche Zwecksetzungen umschließt. ‚Regieren im Interesse des Volkes’ kann die paternalistische Variante des ‚im Sinne seiner wohlverstandenen Interessen’ oder ‚zu seinem Besten’ meinen (s. etwa Lorenz von Steins Vorstellung vom „sozia-len Königtum“). Die andere, eher die gesellschaftliche Basis in den Blick neh-mende Variante desselben Prinzips wäre die Orientierung des Regierens an den wie immer aggregierten Individualinteressen (etwa im ‚Verbändestaat’). Als dritte Variante könnte das Regieren im Sinne dessen, was ‚vernünftig’ und dar-um für alle gut und richtig ist, ins Spiel kommen (‚Herrschaft der Vernunft’, in etwa angedacht im aufklärerischen und liberalen Konzept des ‚government by discussion’). Kernprinzip bzw. Medium zur Erfüllung des Zwecks ist bei allen drei Varianten die ‚Teilhabe’ – i.S. des suum cuique in der ersten, der Beteili-gung von Assoziationen an der staatlichen Entscheidungsfindung in der zweiten, der Teilnahme an der öffentlichen Debatte in der dritten Variante.

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Probleme einer Demokratisierung der EU 15

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16 Heidrun Abromeit

Dagegen ist das Kernprinzip von Demokratiekonzepten, die sich primär am Frei-heitsziel orientieren, das der Selbstbestimmung – der Individuen, der gesell-schaftlichen Gruppen und Gemeinschaften oder auch des Volkes als Einheit (in welchletzterem Fall das Prinzip als solches allerdings leicht unterzugehen droht). Ihr Medium ist, wo immer es um übergreifende Entscheidungen geht, das der Partizipation. Das ‚Nieder mit den Tyrannen’ kann indessen das vorrangige Ziel bleiben (mit der Freiheit als erfreulicher Nebenfolge), und dann bestehen das Kernprinzip und das Medium in der Kontrolle der Mächtigen. In ihm vereinen sich die beiden Teilaspekte der möglichen Abwahl der Herrschenden sowie der gegenseitigen Kontrolle der ‚herrschenden’ Institutionen, sprich der Gewalten-teilung.

1.2 Beteiligungsregime

Aus den unterschiedlichen Zwecksetzungen folgen unterschiedliche Modelle der kollektiven Entscheidung bzw. Beteiligungsregime.a. Das Ziel der individuellen Selbstbestimmung impliziert das vielzitierte

Kongruenzprinzip der Demokratie, demzufolge jeder, der von kollektiven Entscheidungen betroffen ist, an deren Zustandekommen beteiligt gewesen – ja, in strikter Lesart: ihnen zugestimmt haben muss (vgl. Abromeit 2002: 165 ff.). Entscheidungen, die alle betreffen, würden demnach grundsätzlich von allen gemeinsam getroffen. Aus Praktikabilitätsgründen kann dieses Entscheidungs-Regime die quasi-negative Form annehmen, dass jeder ein Einspruchsrecht hat, was vor allem dann relevant wird, wenn die Einheit, in der und für die entschieden wird, weniger homogen ist als idealerweise vor-gestellt und bestimmte Individuen mit häufigerem Überstimmtwerden rech-nen müssen. Das dieser konzeptionellen Demokratie-Variante zuzuord-nende Institutionensystem ist – logischerweise – das der direkten Demokra-tie attischer Provenienz, das nach landläufiger Meinung nur in kleinen Ein-heiten, sprich auf lokaler Ebene umsetzbar ist. In seiner Negativ-Version al-lerdings lässt sich das Modell auch in größeren Einheiten realisieren, indem nämlich den Bürgern über das fakultative Referendum ausgiebig nutzbare Vetorechte eingeräumt werden. Während im ersteren Fall die Ent-scheidungsregel (bei unterstellter Homogenität) die der Mehrheit ist, wäre es im zweiten Fall die der ‚negativen’ Super-Majorität.

b. Das Prinzip der Selbstbestimmung kann auch für die Individuen in ihren (mehr oder weniger naturwüchsigen) Vergemeinschaftungen gelten, denen damit weitgehende Autonomie zugesprochen ist. Übergreifende, d.h. alle Gruppen betreffende Entscheidungen wären – analog zur ersten Variante –

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Probleme einer Demokratisierung der EU 17

ebenfalls gemeinsam, also durch alle Gruppen zu treffen, doch wer an ihnen partizipiert, wären eben nicht alle (Individuen bzw. Mitglieder), sondern die Repräsentanten der Gruppen; d.h. hier befinden wir uns bereits im Bereich der vikarischen Entscheidung, die alle übrigen Demokratie-Varianten kenn-zeichnet. Wie im Fall der gemeinsamen Entscheidung aller Bürger wird das ‚gemeinsam’ gern die Form von (Gruppen-) Vetorechten annehmen, um so mehr als diese Demokratie-Variante nahe liegt in Gesellschaften, die zur Zeit der Demokratisierung bzw. Staatsbildung eher heterogen sind. Institu-tionalisierungsformen lassen sich diverse denken – (demokratisierte) Stän-desysteme, Föderationen, ‚versäulte’ Systeme etc. Wenn keine der Gruppen dauerhaft zurückgesetzt werden soll, ist die Entscheidungsregel diejenige eines (weitgehenden) Konsenses.

c. Ist die ‚allgemeine Wohlfahrt’ die oberste Zwecksetzung, läuft die Teilhabe an Leistungen bzw. am Wohlstand der Beteiligung an kollektiven Entschei-dungen den Rang ab. Das logisch zu folgernde Entscheidungs-Regime favo-risiert Experten für die Erzeugung und Verwaltung des Wohlstands und Gruppen-Repräsentanten als Experten für dessen Verteilung, während die Bürger sich eher passiv auf der Empfänger-Seite befinden. Institutionalisie-rungsformen dieses output-orientierten Konzepts dürften Bürokratien, Kommissionen und Verbände ins Zentrum rücken und ihnen größeres Ge-wicht beimessen als etwa dem Parlament; beispielhaft wären korporatisti-sche Regime zu nennen. Der Grundgedanke der Teilhabe aller legt konsen-suale Entscheidungsregeln nahe.

d. Ist das Primärziel das der Verhinderung von Tyrannei, ist Beteiligung weni-ger ein Instrument der Selbstbestimmung oder der Sicherung des ‚gerechten Anteils’ als vielmehr eines der Kontrolle, und als Kontrollinstrument ist sie nur eines unter anderen. Auf die periodische (Ab-)Wahl von Entschei-dungsträgern reduziert dient sie dem Zweck des „getting rid of governments without bloodshed“ (Popper 1962: 124; Przeworski 1999: 23). Entschei-dungen fallen in und zwischen Institutionen, die sich gegenseitig kontrollie-ren, ihrerseits aber nicht alle unter Beteiligung der Bürger zustande kom-men. Auf die Entscheidungen und den Entscheidungsprozess haben die Bürger keinen (unmittelbaren) Einfluss. Sie können nur nachträglich – näm-lich per Abwahl – ihre Unzufriedenheit zu Protokoll geben, und das auch nicht unter Bezug auf einzelne Entscheidungen, sondern nur hinsichtlich ei-nes Gesamtpakets, für das bestimmte Personen (als Entscheidungsträger) stehen. Diese gängigste aller Demokratie-Varianten findet ihre Institu-tionalisierung in den verschiedenen Systemen des Parlamentarismus und des Präsidentialismus, die sich nicht in der aus der Zwecksetzung folgenden Logik unterscheiden, sondern in der Akzentsetzung bei der Art der Kon-

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trolle: Beschränkt das parlamentarische System sich auf die periodische Wahl und den damit gegebenen Druck auf die nach Machterhalt strebenden Regierenden, so setzen präsidentielle Systeme zusätzlich auf Interorgan-Kontrollen und ‚checks and balances’. Als Entscheidungsregel gilt im All-gemeinen die der Majorität.

e. Das dem Primärziel der ‚Herrschaft der Vernunft’ entsprechende Demokra-tiemodell ist ein theoretisches Konstrukt und auch als solches nur in Umris-sen erkennbar (s. z.B. Schmalz-Bruns 1995), auch wenn viele der gängigen parlamentarischen Usancen – ausführliche Debatten, drei Lesungen, Öf-fentlichkeit des Ganzen – ursprünglich genau auf die Erzielung vernünftiger Ergebnisse mittels gegenseitigen Überzeugens abzielen. Entscheidungen würden hier vikarisch fallen, nämlich in wie immer gearteten ‚deliberativen Gremien’ (zu denen grundsätzlich eben auch das Parlament zu zählen ist) – aber genau genommen würden sie nicht ‚getroffen’, sondern sich aus dem Austausch guter Gründe ergeben. Beteiligung erfolgt eher virtuell, nämlich dadurch, dass theoretisch jedermann sich in die breiteren öffentlichen De-batten, in die die deliberativen Gremien eingebettet sind, einklinken kann. Ebenso virtuell ist die Repräsentanz der ‚Deliberateure’, stehen sie doch nicht für gesellschaftliche Gruppen, sondern für Argumente. Ein Institu-tionensystem für dieses Modell ist noch nicht gefunden. Auch eine Ent-scheidungsregel ist ihm nicht zuzuordnen, denn wenn sich aus dem Aus-tausch und Wettbewerb überzeugender Argumente die ‚richtige’ Entschei-dung herauskristallisiert, sind Abstimmungen eigentlich überflüssig.

1.3 Funktionsbedingungen

Alle hier vorgestellten Demokratie-Konzeptionen werden in der Praxis auf ir-gendeine Weise mit dem Modell der elektoralen Demokratie (d) verkoppelt sein – aus Praktikabilitätsgründen (nämlich bei großem ‚n’) sogar das der direkten Demokratie. Des Weiteren kann kein demokratisches System vollständig der Kontrolle der Entscheidungsträger entraten, wie auch immer das ‚Wozu Demo-kratie?’ konzipiert worden ist; und keines kann auf die arbeitsteilige Organisa-tion des politischen Alltagsgeschäfts verzichten. Zugleich ist allen Demokratie-Varianten gemeinsam, dass für die Gesamtheit getroffene Entscheidungen nur dann als legitim erachtet werden, wenn sie auf irgendeine Weise (sprich: wie mittelbar auch immer) an die Zustimmung der ihnen Unterworfenen rückgebun-den sind. Aus dem Letzteren ergeben sich allerdings je nach Variante unter-schiedliche Funktionsbedingungen, die ich nicht zuletzt deshalb hier aufliste, weil sich an ihnen verdeutlichen lässt, wie schwierig es ist, ein dem sehr spe-

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ziellen Charakter des europäischen Entscheidungssystems angemessenes Demo-kratie-Design zu entwerfen.

a. Auf den ersten Blick scheint das Modell der (direkten) gemeinsamen Ent-scheidung aller nur in kleinen und homogenen Einheiten praktikabel. Wie oben schon angemerkt, ist diese Funktionsbedingung für die Negativ-Vari-ante der Kontestierung von Entscheidungen durch Vetorechte weit weniger zwingend; im Gegenteil dürfen Einspruchsrechte gerade in heterogenen Kontexten als der angemessene Entscheidungsmodus gelten. Da sie aller-dings Entscheidungen häufig verhindern, ist eine ausgeprägte Präferenz für den Status quo vorauszusetzen. Ebenso gefordert ist bei den Bürgern eine hohe Informationsbereitschaft.

b. Auch die gemeinsame Entscheidung durch kollektive Akteure impliziert Entscheidungsblockaden durch Vetorechte und setzt damit die Präferenz für den Status quo voraus. Sinn macht diese Variante von vornherein nur in komplexen, heterogenen Gesellschaften, deren Bürger zugleich in hohem Maße organisationsbereit und -fähig sind. Sollen die gemeinsam getroffe-nen Entscheidungen als legitim akzeptiert sein, dürfen zum einen relevante Interessen nicht dauerhaft unberücksichtigt bleiben (z.B. mangels Organi-sationsfähigkeit) und müssen zum anderen die kollektiven Akteure – sprich: die Gruppen-Repräsentanten – sich des Vertrauens ihrer Basis erfreuen, und das heißt im Allgemeinen, dass die Assoziationen ihrerseits demokratisch organisiert sein sollten.

c. Vertrauen ist die zentrale Funktionsbedingung aller Systeme vikarischer Entscheidung. Wo Experten und Verbändevertreter die relevanten Entschei-dungsträger sind, gründet sich solches Vertrauen auf die Neutralität der Ex-perten, auf die interne Legitimation der Interessenvertreter sowie auf die In-klusivität und ‚Gruppen-Parität’ des Gesamt-Ensembles; mit anderen Wor-ten, den Entscheidungen muss faire und gerechte Berücksichtigung aller ge-sellschaftlichen Interessen unterstellt werden können. Da gerade in solchen (tendenziell technokratischen) Systemen die Akteure die Tendenz haben, in ihren Interaktionen die jeweilige gesellschaftliche Basis aus dem Blick zu verlieren, zählt zu ihren Funktionsbedingungen schließlich die Existenz ir-gendwelcher Mechanismen, mittels derer die Entscheidungs-Unterworfenen legal und effektiv ihre Unzufriedenheit zur Geltung bringen können.

d. Das Modell der elektoralen Demokratie baut zuvörderst auf Kontrolle und setzt darum Öffentlichkeit und Transparenz der Entscheidungsvorgänge sowie die Zurechenbarkeit der Entscheidungen voraus, damit Entschei-dungsträger wirksam zur Rechenschaft gezogen werden können; zusam-menfassen lässt sich dies im Begriff der ‚public accountability’. Des Weite-

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ren muss die Beteiligung an Wahlen effektiv sein (‚meaningful elections’), was heißt, dass die gewählten Entscheidungsträger wirklich etwas zu sagen haben und dass die Wahlentscheidung nicht nur von Einfluss auf die perso-nelle Zusammensetzung der betreffenden Institutionen ist, sondern auch auf die Politikinhalte durchschlägt. Da Wahlen zwar periodisch, aber doch in größeren Zeitabständen stattfinden, hat das Vertrauen in die Gewählten ei-nen hohen Stellenwert. Es kann seinerseits umso eher vorausgesetzt werden, je stabiler die ‚kollektiven Identitäten’ sind. Je weniger eine solche eini-gende (und Solidarität erst ermöglichende) Identität in einem Gemeinwesen ausgeprägt ist, desto mehr verlangt dieses Demokratiemodell nach Kom-plementär-Mechanismen, die Unzufriedenheit, ‚Verdrossenheit’ und damit Akzeptanz-Verlust entgegensteuern.

e. In der Literatur über die ‚deliberative Demokratie’ finden sich so viele, höchst anspruchsvolle Funktionsvoraussetzungen versammelt, dass man sich nicht wundert, wenn sie nirgendwo praktiziert wird (s. kritisch Offe 1997: 101). Sie überfordern vor allem das Individuum, das sich deliberativ quasi über sich selbst erheben soll, und lassen sich bündeln im Postulat der ‚aufgeklärten Öffentlichkeit’, deren Teilnehmer sämtlich bereit und in der Lage sind, über ihren – interessen-verhafteten – Schatten zu springen. Dar-über hinaus wäre das denkbar höchste Ausmaß an Vertrauen zu fordern: Vertrauen in die Weisheit derer, die Entscheidungen herbeiführen, ihrerseits aber nur ‚virtuelle Repräsentanten’ sind.

1.4 Zwischenfazit

Es lässt sich resümieren, dass die vorgestellten – denkbaren – Demokratie-Vari-anten unterschiedlich voraussetzungsvoll sind, diejenigen der vikarischen Ent-scheidung aber mehr als die der direkten Entscheidung, da sie zwecks Sicherung von Legitimität und Akzeptanz in hohem Maß auf die Etablierung stabiler Ver-bindungen zwischen Entscheidungsträgern und Entscheidungs-Unterworfenen angewiesen sind. Dass dies nur selten zufriedenstellend gelingt, macht das Elend der meisten realen demokratischen Systeme aus. Der konzeptionellen Gemein-samkeiten gibt es überraschend wenige; vielmehr resultieren Gemeinsamkeiten primär aus Erfordernissen der Praktikabilität.

Wie lässt sich nun das europäische Entscheidungssystem hier einordnen? Es vereint Elemente der Varianten (b), (c) und (d) (und nur unerschütterliche Idea-listen sagen: auch von (e)), ohne dass in der EU die Funktionsbedingungen auch nur einer von ihnen erfüllt wären. In begrenztem Umfang setzt die EU auf Par-lamentarisierung (d), doch sind die Wahlen zum Europäischen Parlament nicht

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einmal ansatzweise ‚meaningful’: Der europäische Wähler kann nichts mit ihnen erreichen, am allerwenigsten die Abwahl von Verantwortlichen. Die Organe der EU mögen zwar einander kontrollieren, doch fehlt es gleichwohl an der ‚public accountability’, nämlich an Transparenz, Zurechenbarkeit und Rechenschafts-pflicht gegenüber den Norm-Adressaten – das ‚Raumschiff’ hängt in der Luft. Der beliebteste Entscheidungsmodus ist der des Aushandelns zwischen Kommis-sion und Interessenten (c); man könnte hier sogar von der Partizipation kollekti-ver Akteure sprechen (b). Die Repräsentanz und interne Legitimation der Ver-treter gesellschaftlicher Interessen sind indessen fraglich und es mangelt an In-klusivität und ‚Gleichberücksichtigung’. Das für alle drei Varianten unerlässliche Vertrauen kann sich so kaum entwickeln. Stattdessen wächst allenthalben Unzu-friedenheit, ohne dass es Ventile gäbe, sie zu kanalisieren. An den ‚permissive consensus’ gewöhnt, verließ man sich in Europa offenkundig auf die Apathie der Bürger und wundert sich nun, dass die Bürger mit ihrer Geduld allmählich am Ende sind und dort, wo sie überhaupt gefragt werden, deutlich Nein sagen.

2 Nationale Varianten demokratischen Denkens

Die oben vorgestellten Demokratie-Konzeptionen lassen sich, wie dem Leser wohl ersichtlich, jeweils demokratietheoretischen Schulen zuordnen: der ‚Madi-sonian democracy’ bzw. der mainstream-Variante der empirischen Demokratie-theorie (d), der deliberativen Demokratietheorie (e), Entwürfen eines demokrati-schen Wohlfahrtsstaats oder einer sozialen Demokratie (c) und der assoziativen Demokratietheorie (b). Theorien der direkten Demokratie (a) gibt es bemerkens-werterweise kaum; von den Autoren, die der partizipatorischen Demokratietheo-rie zugerechnet werden, beschäftigen sich nur wenige mit dem Modus der direk-ten Entscheidung (s. aber z.B. Barber 1994), viele dagegen mit normativen Pos-tulaten wie dem der individuellen Autonomie, die umstandslos in die deliberative Variante münden (vgl. Schmidt 2000: 252 ff.).1

2.1 Nationale Demokratietraditionen

Demokratie-Konzeptionen unterscheiden sich aber nicht nur nach ihrer theorie-geschichtlichen Herkunft, sondern auch national – und hier wird die Sache so interessant wie hypothetisch, denn das Feld ist bisher unerforscht. Nationale Gesellschaften demokratisierten sich eher selten unter Rückgriff auf eine be- 1 Eine grobe Zuordnung von Schulen und Klassikern ist aus dem vorstehenden Tableau zu

ersehen.

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stimmte Theorie. Wenn Theorien überhaupt eine Rolle spielten, gingen sie eine je spezifische Mélange mit älteren Traditionen, historischen Erfahrungen und aktuellen Gegebenheiten ein und wurden interpretiert und uminterpretiert in einer ebenso spezifischen Öffentlichkeit. Statt an Theorien orientierten manche nationalen Verfassunggeber sich an fertigen Modellen, die sie in anderen Län-dern praktiziert sahen, die jedoch wiederum interpretiert und zum Teil auch gröblich missverstanden wurden (wie z.B. das britische ‚Westminster model’), auf jeden Fall aber an den eigenen gesellschaftlichen Kontext anzupassen waren bzw. sich ihm ‚anverwandelten’. Das resultierende nationale Konzept konnte darum vom Vorbild weit entfernt sein.

Da erscheint die Vermutung nicht unplausibel, dass in den europäischen Ländern unter dem Begriff Demokratie Unterschiedliches verstanden wird und sich selbst mit gleichen Institutionen unterschiedliche Bedeutungen verbinden. Dieser Vermutung versuchten wir in den letzten drei Jahren in einer kleinen Gruppe europäischer Politik- und Rechtswissenschaftler nachzugehen2, der (in wechselnder Zusammensetzung) Kollegen aus Schweden, den Niederlanden, Polen, der Slowakei, der Schweiz, Frankreich, Italien und Griechenland ange-hörten und über die ich im Folgenden kurz berichten will. Man kann nicht sagen, dass unsere Zusammenarbeit erfolgreich war; die Workshops erbrachten kein Ergebnis, das über die bloße Information über die jeweiligen Verfassungsprinzi-pien bzw. die Prinzipien demokratischer Praxis hinausgegangen wäre. Zu einem systematischen Vergleich gelangten wir nicht, denn dazu hätte es eines jenseits der verschiedenen Institutionalisierungen liegenden Begriffs von Demokratie bedurft, und hierfür war kein gemeinsamer Nenner zu finden: „we have to admit that it’s not possible to set a priori standards of what is democratic and what is not“ (Xifaras 2005). Zweifellos ist allein diese Einsicht ein durchaus bemer-kenswertes Ergebnis; sie hatte indes die beklagenswerte Folge, dass wir uns in drei Jahren auch auf kein gemeinsames Analyse-Konzept einigen, geschweige denn den Grundstein für eine Typologie von Demokratie-Konzeptionen legen konnten.

Gleichwohl erfuhren wir Spannendes über einzelne Demokratietraditionen, was an den drei Beispielen Frankreich, Niederlande und Schweiz demonstriert werden kann. Von französischer Seite kamen die heftigsten Angriffe gegen alle Anläufe, zu einer gemeinsamen (minimalistischen) Demokratiedefinition zu kommen: Welche denkbare Variante auch immer diskutiert wurde, sie ‚galt nicht für Frankreich’ – nicht zuletzt deshalb, weil es im Land selbst keinen Konsens darüber gäbe, was Demokratie sei („we disagree on what it’s all about“). Diesen habe das ‚konstitutionelle Chaos’, d.h. die häufige Abfolge scharf kontrastieren- 2 CONNEX Research Group 2, Work Package 2: ‘One Democracy or Several? National tradi-

tions of democratic thought’.

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der Verfassungen, verhindert. So wenig wie eine Verfassungstradition existiere in Frankreich eine Tradition demokratischen Denkens. Die einzigen Konstanten seien stattdessen die „polyarchic rule of law“ und das Zivil- sowie das Verwal-tungsrecht (Xifaras 2005, 2006). Die Leerstelle, die das fehlende gemeinsame Demokratieverständnis lässt – so darf man folgern – füllt die (Meta-) Doktrin der Einheit der Republik, verkörpert in Staat und Recht (vgl. Abromeit / Stoiber 2006: 103).

In der niederländischen Demokratietradition (die sich ihrerseits in demo-kratietheoretischen Modellen niederschlug: s. Lijphart und Daalder) ist das zent-rale Konzept das des gesellschaftlichen Konsenses. Dieses wiederum ist, wie Michels (2005, 2006) darlegte, nicht demokratietheoretisch begründet, sondern hat seine Wurzeln in den Überlegungen von Theoretikern beider christlicher Konfessionen. Das selbstbestimmte Individuum spielte in ihnen keine Rolle, wohl aber die ‚Person’ in ihren verschiedenen Vergemeinschaftungen. Nicht Volkssouveränität ist demnach die Essenz von Demokratie, sondern „sovereignty in independent spheres of society“. Pluralität und Autonomie von Gruppen sowie Subsidiarität blieben Kernprinzipien des niederländischen Demokratieverständ-nisses, wobei die Autonomie als „freedom in restraint“ zu verstehen ist, ist den Gruppen doch die Pflicht zur Einigung im größeren Ganzen, sprich zum Kon-sens, auferlegt.

Stärker als in anderen Ländern basiert die Demokratietradition in der Schweiz – ebenso wie in Großbritannien – nicht auf theoretischen Begründun-gen, sondern auf lange geübter Praxis, die im britischen Fall allerdings nicht von vornherein demokratisch noch auch als solche intendiert war: Die jahrhunderte-alte Doktrin der Parlamentssouveränität ist zumindest in historischer Sicht durchaus nicht als Derivat der Volkssouveränität zu verstehen (vgl. Abromeit 1995). Dagegen sind in der naturwüchsigen schweizerischen Tradition der ‚Landsgemeinde’ (die Rousseau sich seinerzeit zum Vorbild nahm) die Indivi-duen als souverän gedacht. Unabhängig von dieser stets lebendig erhaltenen Tradition erfolgte der Einbau direktdemokratischer Elemente in die Bundesver-fassung (1874) nicht zuletzt auf Grund ‚systemischer Notwendigkeit’ (Cheneval 2006): als „systemic necessary corrective“ für föderale Asymmetrien und als der entscheidende Mechanismus, Vertrauen und Akzeptanz unter den multiplen souveränen (kantonalen) Demoi aufzubauen. In dieser Sichtweise haben wir es in der Schweiz demnach weniger mit einer Demokratie als vielmehr mit einer De-moikratie zu tun.

Versuchen wir, die betrachteten Länder den oben erläuterten Demokratie-Varianten zuzuordnen, so entspricht das schweizerische Demokratiekonzept am ehesten der Variante (a), das niederländische der Variante (b) – und ein französi-sches gibt es nicht.

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2.2 Ansätze zu einem Analyse-Modell

Diese Bemerkungen mögen genügen, um zu zeigen, dass es lohnend sein könnte, dem Vergleich von nationalen demokratischen Denktraditionen intensiver nach-zugehen. Dabei empfiehlt sich die nachfolgend skizzierte Vorgehensweise:

1. Am Anfang hätte die Erarbeitung eines Rasters in der Art des im ersten Abschnitt vorgestellten Tableaus zu stehen, das seinerseits die möglichen Zwecksetzungen und damit Begründungen von Demokratie zum Ausgangs-punkt nimmt und die daraus ableitbaren unterschiedlichen Institutionalisie-rungen zusammenstellt.

2. Ebenso unerlässlich ist es, sich vorweg Gedanken über die Faktoren zu machen, die das Demokratieverständnis beeinflussen können – als da sind:

der Zeitpunkt der Demokratisierung. Er kann mit dem der Nation-bildung zusammenfallen, im Zusammenhang mit übergreifenden ‚De-mokratisierungswellen’ stehen, Umbrüche markieren – oder auch im Verlauf gradueller Entwicklung kaum auszumachen sein, die Erfahrungen mit Tyrannei bzw. mit dem vorgängigen Herrschafts-system,die gesellschaftlichen Konfliktlagen zum Zeitpunkt der Demokratisie-rung: Welche Gruppen waren dominant und welche die Träger der Demokratisierung?der Einfluss der Kirche(n) in der Gesellschaft, externe Einflüsse, wozu sowohl externe Vorbilder als auch Druck von außen zu zählen sind.

3. Die Begründung von Demokratie und damit der Kern des Demokratie-verständnisses lassen sich nur begrenzt aus dem gegenwärtigen Institutio-nensystem rückschließen, prägen aber dessen Interpretation und die Be-deutung, die einzelnen Institutionen und Verfahren beigemessen wird. Des-wegen scheint es wichtig, mit der vergleichenden Analyse am Zeitpunkt der Demokratisierung bzw. Verfassunggebung anzusetzen (wobei es, was das Letztere betrifft, durchaus mehrere geben kann!). Die ausschlaggebende Frage wäre: Welche Begründungen dominierten in jenen Zeiten?

4. Im Anschluss daran wäre die jeweilig gegenwärtige Demokratiedebatte in der Art einer mainstream-Analyse daraufhin zu untersuchen, welche Ziel-vorstellungen dominieren, warum das eigene politische System für demo-kratisch gehalten wird und was generell als undemokratisch gilt.

5. Die daraus präparierten Demokratieverständnisse könnten im Idealfall schließlich Typen zugeordnet bzw. in das – mutmaßlich angesichts der Un-tersuchungsergebnisse zu modifizierende – Raster (siehe oben) eingeordnet

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werden. Eben darum ist es so wichtig, dass das ursprüngliche Raster sich nicht auf eine Typisierung von Theorien beschränkt (vgl. Auberger 2005), sondern von vornherein die Typisierung von Institutionalisierungsformen einschließt. Zu bedenken ist bei diesem letzten Schritt, dass die realen In-stitutionalisierungen von Demokratie sich nicht notwendigerweise logisch schlüssig aus den Zwecksetzungen ergeben. Vielmehr wird man Mixturen vorfinden, deren Elemente scheinbar inkompatibel miteinander sind. Wie solche Inkompatibilitäten in der jeweiligen Tradition verschmelzen und wie praktisch mit ihnen umgegangen wird, macht einen wesentlichen Teil der je spezifischen Demokratie-Konzeption aus.

3 Ein europäisches Demokratiemodell?

Der im zweiten Abschnitt skizzierte ‚erste Augenschein’ lässt Grundzüge eines gemeineuropäischen Demokratiemodells kaum erkennen. Natürlich verfügen alle EU-Mitgliedsländer über gewählte Volksvertretungen, aber sowohl deren kon-zeptionelle Bedeutung wie ihr praktischer Stellenwert unterscheiden sich erheb-lich. Auch spielen die organisierten gesellschaftlichen Gruppen in der Politik fast überall eine große Rolle, doch nur in einigen Ländern ist die demokratische Le-gitimität ihres Einflusses unbestritten. Überhaupt lassen sich in der gesamtgesell-schaftlichen Entscheidungspraxis wohl größere Gemeinsamkeiten finden als in den Demokratie-Konzeptionen, die dieser Praxis zugrunde liegen. Da die Praxis allerdings häufig auf nationalstaatliche Demokratiedefizite verweist, taugen die betreffenden Gemeinsamkeiten nicht zum Leitbild für die Behebung des europäi-schen Demokratiedefizits.

Kehren wir nun noch einmal zur Europäischen Union zurück. Welche Zwecksetzung steht am Beginn ihrer bisher ja erst rudimentären Demokratisie-rung? Für eine nur funktionale Vergemeinschaftung demokratischer Staaten schien die eigene demokratische Legitimierung nicht vonnöten; die Legitimation ihrer Entscheidungen konnte als indirekt gegeben unterstellt werden. Erst als die EG ins Stadium einer auch politischen Union trat, begann die Diskussion ums europäische Demokratiedefizit, auf die die EU mit vorsichtigen Demokratisie-rungsschritten reagierte. Deren Zweck liegt auf der Hand: Es galt wachsender Kritik in den nationalen Öffentlichkeiten und abnehmender Akzeptanz bei den europäischen Bürgern zu begegnen. Im Kern ging es um symbolische Politik, wie sich an Öffentlichkeits-Kampagnen („Europa der Bürger“) und an der Ein-führung der Direktwahl zu einem Parlament, das anfangs nichts zu sagen hatte, demonstrieren ließe. So kann man schlussfolgern, dass das Demokratieverständ-nis der ‚politischen Klasse’ in Brüssel insofern instrumentell ist, als es Demo-

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kratie – besser: das Versprechen von Demokratie – zum Zweck der Public Rela-tions instrumentalisiert. Damit befindet es sich zwar nicht unbedingt im Gegen-satz zum Demokratieverständnis der nationalen politischen Klassen, wohl aber zu dem der nationalen Öffentlichkeiten.

Die Etablierung des Anscheins einer Parlamentarisierung hatte allerdings nicht-intendierte Konsequenzen: Dem direkt gewählten Europäischen Parlament gelang es im Laufe von knapp 20 Jahren, sich mehr und mehr Rechte zu erkämp-fen und eine zunehmend wichtige Rolle im Konzert der europäischen Institutio-nen zu spielen – als Element von ‚checks and balances’, weniger als Vertretung der europäischen Demoi. Einigen der nationalen Demokratiekonzepte gemäß müsste darum dem EP selbst die demokratische Legitimität abgesprochen wer-den; anderen zufolge ginge die Macht des Parlaments wohl schon zu weit. Die Demoi wiederum finden ihre – ansatzweise – Vertretung eher (und wie oben schon angemerkt) im „regelmäßigen Dialog“ der europäischen Organe, insbe-sondere der Kommission, mit Verbänden und der „Zivilgesellschaft“. In der Praxis wie dem Anspruch nach und dem (bislang nicht ratifizierten) europäi-schen Verfassungsvertrag zufolge (Art. I-47) markiert die Partizipation kollekti-ver Akteure das noch unvollständige Demokratiemodell der EU – unvollständig vor allem deshalb, weil ihm der legitimierende Unterbau fehlt. Dieses Modell ist keineswegs inkompatibel mit dem, was in vielen Mitgliedstaaten praktiziertwird, sind sie doch selbst zunehmend zu ‚Verhandlungsdemokratien’ geworden. Wohl aber befindet es sich im Konflikt mit einer Reihe von nationalen Demo-kratiekonzepten (und Verfassungsdoktrinen), wobei vermutlich das der Nieder-lande als eine der wenigen Ausnahmen gelten darf.

Ob es ein gemeineuropäisches Verständnis dessen gibt, was die Essenz von Demokratie ausmacht, darf bezweifelt werden. Einer echten Demokratisierung der EU steht vielleicht weniger das viel beklagte Fehlen eines europäischen De-mos im Wege; wie man damit umgehen könnte, zeigt das Beispiel der Schweiz. Noch ist die bei europäischen Regierungen identifizierte ‚neue Staatsräson’ (Wolf 2000), die auf Autonomie gegenüber dem Volk bzw. den gesellschaftli-chen Kräften abzielt, das alleinige Hindernis. Vielmehr meinen die Vertreter der Mitgliedstaaten mutmaßlich nicht dasselbe, wenn sie ‚Demokratie’ sagen, und können sich darum nicht darauf einigen, welche Schritte zu unternehmen sind – und warum –, um eine europäische Demokratie zu verwirklichen. Der wichtigste Schritt zu deren Aufbau wäre demnach die Verständigung darüber, wozu es überhaupt einer Demokratie bedarf – und eben dieser Konsens scheint besonders schwer zu erzielen zu sein.

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Literatur

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Abromeit, Heidrun, 2002: Wozu braucht man Demokratie? Opladen. Abromeit, Heidrun/Stoiber, Michael, 2006: Demokratien im Vergleich. Wiesbaden. Auberger, Tobias, 2005: A Framework for the Comparison of Democratic Theories, Wor-

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temic necessity of composed polities? Beitrag präsentiert auf dem Connex-Work-shop (Connecting Excellence on European Governance) “One Democracy or Sev-eral?”, 20.-22. Januar 2006. Darmstadt.

Lehner, Franz/Widmaier, Ulrich, 2002: Vergleichende Regierungslehre, 4. Auflage, Opladen.

Michels, Ank, 2005: Dutch democracy: System, thought, and debate. Beitrag präsentiert auf dem Connex-Workshop (Connecting Excellence on European Governance) “Comparing Democratic Traditions” 11.-12. März 2005. Athen.

Michels, Ank, 2006: Theories, dimensions, and key concepts of Dutch democracy. Bei-trag präsentiert auf dem Connex-Workshop (Connecting Excellence on European Governance) “One Democracy or Several?”, 20.-22. Januar 2006. Darmstadt.

Offe, Claus, 1997: Micro-aspects of democratic theory: What makes for the deliberative competence of citizens? In: Hadenius, Axel (Hrsg.) : Democracy’s Victory and Cri-sis, Cambridge, 81-104.

Popper, Karl, 1962: The Open Society and its Enemies. London. Przeworski, Adam, 1999: Minimalist conception of democracy: a defense, in: Shapiro

Ian/Hacker-Cordòn, Casiano (Hrsg.): Democracy’s Value. Cambridge, 23-55. Schmalz-Bruns, Rainer, 1995: Reflexive Demokratie. Baden-Baden. Schmidt, Manfred G., 2000: Demokratietheorien, 3. Auflage. Opladen. Wolf, Klaus-Dieter, 2000: Die neue Staatsräson. Baden-Baden. Xifaras, Michel, 2005: France. Beitrag präsentiert auf dem Connex-Workshop (Con-

necting Excellence on European Governance) “Comparing Democratic Traditions” 11.-12. März 2005. Athen.

Xifaras, Michel, 2006: Is democracy a meaningful concept to understand the evolution of French modern constitutional history? Beitrag präsentiert auf dem Connex-Work-shop (Connecting Excellence on European Governance) “One Democracy or Sev-eral?”, 20.-22. Januar 2006. Darmstadt.

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Vom nationalen Wohlfahrtsstaat zum europäischen Sozialmodell?

Hendrik Meyer und Klaus Schubert

1 Einleitung

Die europäischen Wohlfahrtsstaaten sind zurzeit einem starken Reformierungs-druck ausgesetzt. Sozialpolitik wird angesichts externer und interner Herausfor-derungen als eines der wichtigsten politischen Handlungsfelder betrachtet. Die Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten wird dabei von einer politikwissenschaftli-chen Debatte begleitet, die es sich grundsätzlich zur Aufgabe gemacht hat, Ver-änderungen in modernen Wohlfahrtsstaaten zu beschreiben, zu vergleichen und zu erklären. Die Vielzahl der Beiträge zum Thema „Wohlfahrtsstaat“ steht dabei gleichermaßen für eine Vielzahl an unterschiedlichen Fragen mit verschiedenen methodischen Ansätzen und unterschiedlichen theoretischen und praktischen Zielen. Angesichts dieser Fülle an Beiträgen zur Sozialstaatsforschung erscheint es notwendig, immer wieder aufs Neue den Versuch zu unternehmen, Struktur in die scheinbare Unübersichtlichkeit zu bringen. Denn nur so ist es möglich, ver-gangene und gegenwärtige Auseinandersetzungen zu überschauen und effektiv zur Klärung strittiger Fragen beizutragen. Daher besteht ein erstes Ziel dieses Beitrags darin, die sozialpolitischen Debatten der letzten 15 Jahre zu bündeln und die Themenschwerpunkte der Wohlfahrtsstaatsforschung in modernen De-mokratien zu identifizieren. Dabei sind vor allem die Begriffe „Globalisierung“ und „Europäisierung“ zentrale Schlagwörter der einschlägigen politischen und politikwissenschaftlichen Debatte. Mit diesen Prozessen sehen sich alle europäi-schen Staaten konfrontiert.

So vergleichbar aber einerseits die Bedingungen sein mögen, auf die die eu-ropäischen Wohlfahrtsstaaten zu reagieren haben – so unterschiedlich sind ande-rerseits die einzelnen sozialpolitischen Reaktionen und Reformmaßnahmen, die sich hinsichtlich ihrer Ausgangspunkte, ihrer Inhalte und ihrer Resultate oft deut-lich voneinander abheben. In diesem Kontext wird seit einiger Zeit das „Euro-päische Sozialmodell“ (ESM) intensiv diskutiert, welches unter anderem als Weg beschrieben wird, sozialpolitische Einzelinteressen der EU-Mitgliedstaaten zu überwinden, um auch im Bereich der Sozialpolitik kollektives Handeln auf EU-Ebene dauerhaft zu etablieren. Kollektives Handeln ist in diesem Kontext als der gesamteuropäische Versuch zur Überwindung unterschiedlicher Sozialpoliti-ken zu verstehen, dessen Ziel die Vereinheitlichung sozialer Standards ist, wo-

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durch nationale Einzelinteressen durch ein europäisches Mandat zur Sicherung von Wohlfahrtsstaatlichkeit ersetzt werden.

Im Gegensatz dazu soll hier argumentiert werden, dass die gemeinsamen Bedingungen „Globalisierung“ und „Europäisierung“ nicht notwendig auch zu einem einheitlichen Handeln europäischer Sozialstaaten führen oder gar zu ei-nem gemeinsamen „europäischen Sozialstaat“, in dem nationale Einzelinteressen durch kollektive Handlungsstrategien abgelöst werden. Angesichts der laufenden Debatte scheint eher umgekehrt die Notwendigkeit zu bestehen, zunächst die Vielfalt und Unterschiedlichkeit europäischer Wohlfahrtsstaaten anzuerkennen. Die Anerkennung und Untersuchung unterschiedlicher Entwicklungspfade in den europäischen Sozialstaaten kann eine Basis dafür sein, aktuelle sozialpolitische Entwicklungen effektiver zu erklären. Eine zweite Absicht dieses Beitrages ist somit die Öffnung der Debatte zur (vergleichenden) Sozialstaatsforschung. In diesem Segment der vergleichenden politikwissenschaftlichen Forschung hat sich Ulrich Widmaier in Forschung und Lehre einen ausgezeichneten Ruf erwor-ben, der auch durch diesen Beitrag unterstrichen werden soll (vgl. Leh-ner/Widmaier 2002; Widmaier 2005).

Ziel dieses Beitrages ist eine Sekundäranalyse der Literatur zur internatio-nalen „Sozialstaatsforschung“. Grundlage ist dabei eine, wenn auch sicher nicht vollständige, dennoch breite Dokumentation der wissenschaftlichen Literatur zur Sozialstaatsforschung, die unter Zuhilfenahme einer adäquaten Verschlagwor-tung einen Erkenntnis gewinnenden Blick auf die wichtigsten sozialstaatlichen Diskussionsstränge der letzten fünfzehn Jahre eröffnet. Zu diesem Zweck sollen zunächst kurz die Grundlagen sowie die wesentlichen theoretischen und metho-dischen Kritikpunkte zur vergleichenden Sozialstaatsforschung skizziert werden (2), um auf dieser Basis dann auf die Bedeutung der Globalisierung (3) und der Europäisierung (4) als maßgebliche Herausforderung für europäische Wohl-fahrtsstaaten einzugehen. In einem weiteren Schritt wird dann das ESM nicht nur als Versuch dargestellt, diesen Herausforderungen zu begegnen, sondern es wird auch danach gefragt, in welchem Umfang es gelingt, kollektives sozialpolitisches Handeln auf europäischer Ebene einzurichten (5). Im letzten Abschnitt (6) soll die Frage nach dem „Erfolg“ des ESM beantwortet und ein Vorschlag zur Öff-nung und Effektivierung der vergleichenden Sozialstaatforschung gemacht wer-den.

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2 Zur Vergleichenden Sozialstaatsforschung

Wohlfahrtsstaatsforschung ist – cum grano salis – vergleichende Forschung. Dies ist für den betrachteten Zeitraum vor allem auf den maßgeblichen Einfluss des 1990 von Esping-Andersen vorgelegten Werkes Three Worlds of Welfare Capitalism (Esping-Andersen 1990) zurückzuführen, welches von zentraler Be-deutung für die Diskurse zur Wohlfahrtsstaatsforschung ist und schnell zum Referenzwerk der vergleichenden Forschung zum Wohlfahrtsstaat wurde. Esping-Andersen hat drei Typen des Wohlfahrtsstaates unterschieden: den in den skandinavischen Ländern vorherrschenden sozialdemokratischen Wohlfahrts-staat, den liberalen Wohlfahrtsstaat nach angelsächsischer Prägung (der unter anderem für die Systeme in Großbritannien und USA bedeutsam ist), und den etwa in Deutschland oder Frankreich vorherrschenden konservativen Wohl-fahrtsstaat.

Neben der großen Anerkennung der von Esping-Andersen vorgelegten Ty-pologisierung erschienen auch zahlreiche Texte, in denen eine Unzufriedenheit mit der vergleichenden Sozialstaatsforschung zum Ausdruck kam. Dabei lässt sich die Kritik an der eben genannten Typologisierung vor allem in zwei Dimen-sionen zusammenfassen: Raum und Zeit. Zum einen bezieht sich die Kritik auf den Anspruch der Umfassendheit der Typologie, welche häufig in Frage gestellt wurde. So wird immer wieder danach gefragt, ob neben den drei Typen nicht noch mehr „worlds of welfare“ existieren, um nicht ganz passende Fälle abzu-decken (u.a. Arts/Gelissen 2002). Stephan Lessenich beispielsweise beschreibt Spanien als einen vierten, postautoritären Typ des Wohlfahrtskapitalismus (Les-senich 1995) und Castles/Mitchell sehen etwa den australischen und neuseelän-dischen Wohlfahrtsstaat nicht in der Typologie vertreten (Castles/Mitchell 1990). Neue Nahrung bekam dieser Kritikpunkt dann noch einmal durch die Aufnahme osteuropäischer Länder in die EU.

Zum anderen bezieht sich die Kritik auf die Zeit-Dimension. Grundsätzlich gehen Typologien „von einigen zentralen Merkmalen aus und ordnen Objekte einem Typus zu, wenn seine realen Eigenschaften eine erhebliche Übereinstim-mung mit den Definitionsmerkmalen dieses Typus aufweisen“ (Leh-ner/Widmaier 2002: 21). Da aber diese „realen Eigenschaften“ etwa durch Sozi-alstaatsreformen teilweise weitgehenden Veränderungen ausgesetzt sind, müssen sie immer wieder auf Übereinstimmung mit den Definitionsmerkmalen überprüft werden. Einige Wohlfahrtsstaaten hatten sich nämlich – wie etwa die Nieder-lande – seit den 1980er Jahren so verändert, dass gefragt wurde, ob diese Länder überhaupt noch durch die Kategorisierung abgedeckt seien (de Beer et al. 2001; Bambra 2006). Anton Hemerijck spricht in diesem Zusammenhang von „Hyb-ridmodellen“ – von Staaten also, die am besten mit den sich verändernden Be-

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dingungen zurechtkommen und dabei zum Teil Lösungen anderer Länder über-nommen haben (Giddens 2006: 22). Dieses Problem trifft aber nicht nur auf deutlich veränderte Wohlfahrtsstaaten zu. In den letzten Jahren waren vielmehr alle europäischen Wohlfahrtsstaaten einem Wandlungsprozess unterworfen, so dass sich angesichts dieser veränderten empirischen Realitäten die Frage stellt, ob die Kategorisierung in drei oder vier Wohlfahrtsstaatsregime überhaupt noch greifen kann.

Weiterführende Kritiken an der Einteilung in Regime-Typen konstatieren, dass die meisten Länder – etwa aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen in verschiedenen Feldern der Sozialpolitik oder der Beteiligung unterschiedlicher sozialpolitischer Akteure – ein unzusammenhängendes Set an wohlfahrtsstaatli-chen Politiken betreiben, so dass nicht von einheitlichen Regime-Typen gespro-chen werden könne (Kasza 2002). Ein Teil der Kritik verweist zudem darauf, dass Esping-Andersen ideale Typen und reale Länder nicht systematisch unter-scheide, sondern die Länder den verschiedenen Typen zuordne (Kohl 1993). Die Konfusion um Ideal- und Realtypen, d.h. dass häufig Länder und Typen ver-wechselt werden, bezieht sich allerdings nicht allein auf das Werk „Three Worlds of Welfare Capitalism“, sondern ist ein Manko zahlreicher Texte zur vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung (Becker 1998: 611-612).

Darüber hinaus besteht eine große Unzufriedenheit mit der Vergleichenden Sozialstaatsforschung darin, dass vielen dieser Untersuchungen ungleiche Maß-stäbe zugrunde liegen, mit denen vergleichen wird, und weitere methodische Fehler aufweisen (Scruggs/Allan 2006). Dadurch wird der Gewinn und Nutzen eines Vergleichs erheblich eingeschränkt. So hat etwa die Hinzufügung eines vierten Regime-Typs zur Bedingung, dass auch dessen Kriterien verwendet wer-den (Becker 1998: 613). Hier bedarf es in der Sozialstaatsforschung nach wie vor einiger Korrekturen. Zusätzlich wird argumentiert, dass die meisten der gegen-wärtig existierenden Klassifikationen der Wohlfahrtsstaaten unzulänglich sind, wenn es darum geht, eine erklärende Richtschnur für vergangene und zukünftige Entwicklungen in der Sozialpolitik zu entwickeln (Bonoli 1997: 352).

Aber trotz zahlreicher Kritiken an Esping-Andersens Konzept erscheint es bemerkenswert, dass eine grundsätzliche Kritik an der Regime-Typologisierung nur selten geäußert wird und dass auch über fünfzehn Jahre nach der Veröffentli-chung von „Three Worlds of Welfare“ dieses Buch immer noch die maßgebliche Bezugsgröße der vergleichenden Sozialstaatsforschung ist, die Diskussion nach wie vor bereichert und prägt (Bambra 2005; Leibfried/Zürn 2006: 31-32). Dies gilt vor allem für die aktuelle Debatte um die „Zukunft des Sozialstaates“ in Europa: „Esping-Andersens Analyse der wohlfahrtsstaatlichen Pathologien und seine darauf aufbauenden Politikempfehlungen sind buchstäblich in aller Mun-de“ (Lessenich 2004: 470).

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3 Globalisierung als Ende des Sozialstaates?

Die gegenwärtigen Debatten um die „Zukunft des Sozialstaates“ erleben nicht zuletzt deswegen eine Konjunktur, weil die tatsächliche oder vermutete Krise europäischer Wohlfahrtsstaaten von nahezu allen Teilnehmern der Diskussion – trotz zum Teil deutlich divergierender Ansätze – als Ausgangs- und Bezugspunkt ihrer Untersuchungen gilt. Die im Anschluss an die Ölkrise Mitte der 1970er Jahre begonnene sozial- und politikwissenschaftliche Diskussion um die „Krise des Wohlfahrtsstaates“ hält bis heute an, wobei spätestens mit der Ölkrise deut-lich wurde, dass wohlfahrtsstaatliche Entwicklungen nicht getrennt von ihrem ökonomischen Kontext betrachtet werden können. Dies trifft insbesondere auf die „Globalisierung“ zu, die den wohlfahrtsstaatlichen Krisendiskurs seit den 1990er Jahren ergänzt und neu belebt hat (Kaufmann 2005: 314). Seit Beginn der Diskussion steht die Frage im Mittelpunkt, ob die Globalisierung unabhängig vom jeweiligen politischen System in der Gestalt einer Abwärtsspirale zu einer Konvergenz der nationalstaatlich fundierten Wohlfahrtsstaaten führt (Seeleib-Kaiser 1999: 5) und die Erhaltung nationaler Wettbewerbsfähigkeit sowie der Abbau der Arbeitslosigkeit bzw. die Sicherung der Beschäftigung zu weiterer ‚Rekommodifikation’ und Leistungsabbau im Sozialbereich zwingen. Die Deu-tungsspanne über die Auswirkungen einer zunehmenden weltweiten Verflech-tung der Ökonomien auf die Wohlfahrtsstaaten reicht dabei vom residualen Staat (Cerny 1996) über den Rückzug des Staates (Strange 1996) bzw. „den Abschied vom territorialen Verständnis nationaler Souveränität“ (Gerstenberger/Welke 2005: 225) bis hin zu einem nationalen bzw. neoliberalen Wettbewerbsstaat (vgl. u.a. Hirsch 1995). Begründet werden die erheblichen Auswirkungen der Globali-sierung auf die Gestaltung nationaler Sozialpolitik mit einer Veränderung staatli-cher Steuerungsfähigkeit: Als Folge der Globalisierung stoße der Sozialstaat auf eingeschränkte Handlungsspielräume (Lütz 1995: 169), wobei auf Grund der durch die Internationalisierung hervorgerufenen externen Risiken zusätzliche staatliche Auf- und Ausgaben zu bewältigen seien (Rodrik 1998). Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Lagers sei an die Stelle des Systemwett-bewerbs der Standortwettbewerb getreten, der „die bloße Idee des sozialen Fort-schritts, die für die westlichen Industrieländer in der Epoche von 1945 bis 1989 in der Gestalt des keynesianischen Wohlfahrtsstaats Wirklichkeit geworden war, hoffnungslos veraltet erscheinen [lässt]“ (Altvater/Mahnkopf 2002: 497) In vie-len Diagnosen erscheinen Wohlfahrtsstaaten in Zeiten der Globalisierung also als revisionsbedürftig (Brady et al 2004), wenn nicht als gänzlich überholt (vgl. Zürn 2003: 1065).

Der aus der beschriebenen Krise des Sozialstaates abgeleitete Reformbedarf der Sozialsysteme folgt dabei in den modernen Demokratien stets nach dem

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gleichen Muster: Die Reformdebatte wird weniger durch die funktionalen Defi-zite der jeweiligen Wohlfahrtsregime bestimmt als vielmehr durch den behaup-teten Zwang zur Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Standortes. Die anhaltende Entwicklung der Transnationalisierung hat also in vielfacher Hinsicht tief grei-fende Folgen für die Sozialstaatlichkeit (vgl. Kaufmann 2005: 316). Als Maß-nahmen gegen Fehlentwicklungen und zur Stärkung der nationalen Konkurrenz-fähigkeit werden die Reduzierung des sozialen Netzes und die „Befreiung“ des Marktes von sozialstaatlichen Restriktionen nicht nur in der Fachliteratur disku-tiert, sondern sind vielfach auch zentrale Punkte der politischen Agenda: Es gibt in Europa kaum eine Partei, die sich – trotz nationaler Unterschiede und unge-achtet ihrer parteipolitischen Ideologie – nicht zumindest teilweise einem sol-chen Programm verschrieben hätte. Wohlfahrtsstaatliche Debatten sind also nicht selten von neoliberalen Paradigmen der wohlfahrtsstaatlichen Versorgung gelei-tet – mit dem Resultat, dass sogar linke Regierungen eine reduktionistische Sozi-alpolitik betreiben (George 1998: 35; Becker 1998: 610).

Das Stichwort „Globalisierung“ bestimmt also nicht nur die sozialpolitische Agenda der entwickelten Wohlfahrtsstaaten, sondern es scheint so, als würden damit dem Wohlfahrtsstaat – im Interesse gesteigerter nationaler Wettbewerbs-fähigkeit – Ausgabenkürzungen und marktkonforme Reformen zwingend vorge-schrieben (Rieger/Leibfried 1997: 771). Kosten für die Unternehmen, so das Globalisierungsargument, müssten durch niedrige Löhne, Steuern und Sozial-ausgaben aufgrund des internationalen Standortwettbewerbs gesenkt werden. Da „niedriger“ aber lediglich eine Tendenz beschreibt und also keine Aussage über die konkreten Inhalte von Veränderungen macht, bleibt die Frage nach dem „wie niedrig?“ (Borchert/Lessenich/Lösche 1997: 12).

4 Vom wachsenden sozialpolitischen Einfluss der EU…

Die Sozialpolitik steht damit im europäischen Mehrebenensystem vor großen Herausforderungen (vgl. u.a. Falkner/Treib 2005; Rieger/Leibfried 2001; Ko-walsky 1999). Vor allem im Kontext der Globalisierungsdebatte wird die Ausei-nandersetzung um die Gegenwart und Zukunft einer europäischen Sozialpolitik lebhaft geführt. Unter den Bedingungen des sich verschärfenden Standortwett-bewerbs befinden sich die Mitgliedstaaten der EU auch mit Blick auf ihre Sozi-alsysteme in Konkurrenz zueinander (Terwey 2004). Mit der Gründung der Eu-ropäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1957 wurde der Versuch unternommen, in einem begrenzten, den Nationalstaat überschreitenden Gebiet nicht nur wirtschaftliche Prozesse, sondern auch soziale Veränderungen gemein-sam zu forcieren. Teil dieses Versuches waren von Beginn an Debatten über

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Ausmaß und Qualität einer zukünftigen europäischen Sozialpolitik. Dennoch wurde die EWG lange Zeit lediglich als ein ökonomisches Projekt wahrgenom-men, bei dem sozialpolitische Diskussionen allenfalls eine untergeordnete Rolle spielten: „Vielmehr folgten die Mitglieder der EG lange dem Grundsatz, dass Sozialpolitik nicht Sache der EG, sondern im Zuständigkeitsbereich jedes ein-zelnen Mitgliedsstaates verblieben sei.“ (Metzler 2003: 247) Und so ist es mitt-lerweile fast ein Gemeinplatz, dass der soziale Integrationsprozess in Europa dem politischen, vor allem aber dem ökonomischen hinterherhinkt (vgl. u.a. Scharpf 2002; Urban 2003: 433).

Bis Mitte der 1990er Jahre spielte die europäische Sozialpolitik eine eher untergeordnete Rolle innerhalb der politischen Agenda der EU. Vor diesem Hin-tergrund wird seit den 1990er Jahren ein Paradigmenwechsel in der europäischen Sozialpolitik gefordert (Ostner/Leitner/Lessenich 2001: 17). Auch die wissen-schaftliche Debatte um die Europäische Union und ihre Sozialsysteme ist durch eine beachtliche Dynamik, Differenzierung und Expansion gekennzeichnet. Dabei geht es zunächst um die übergeordnete Frage, welches sozialpolitische Profil die EU aufweist bzw. aufweisen soll und „ob und wie weit sozialpolitische (Regelungs-) Kompetenz durch die Nationalstaaten aufzugeben und damit ge-meinsamen europäischen Vorgaben unterzuordnen ist“ (Boeckh 2000: 550). Auch wenn die Bewertung über das Ausmaß eines nationalstaatlichen Souverä-nitätsverlustes im Bereich der Sozialpolitik unterschiedlich ausfällt, herrscht zumindest darüber Einigkeit, dass nationalstaatliche Souveränität zunehmend durch supranationale Systeme (deren prominentestes empirisches Beispiel die europäische Integration ist) eingeschränkt bzw. verändert wird (Leh-ner/Widmaier 2002: 175) und sich die rechtlichen und politischen Handlungs-spielräume der nationalen Sozialpolitiken immer mehr zugunsten der Europäi-schen Union verlagern: „[N]ie zuvor haben internationale Regime und Organisa-tionen eine so bedeutende Rolle für die innerstaatliche Sozialpolitik gespielt“ (Leibfried/Zürn 2006: 51). Die EU verfügt also mittlerweile über eine durchaus ernst zu nehmende soziale Dimension, und dies nicht allein im Hinblick auf die vertraglich festgelegten Kompetenzen und Entscheidungsverfahren, sondern auch auf der Ebene konkreter gesetzlicher Maßnahmen, die von den Mitgliedstaaten beachtet werden müssen (Falkner/Treib 2005). Ob angesichts dieser Entwicklung aber bereits von einem kollektiven Handeln im Bereich europäischer Sozialpolitik gesprochen werden kann, welches nationalstaatliche Einzelinteressen überwindet, bleibt ziemlich fraglich, wie am Beispiel des Euro-päischen Sozialmodells nachgewiesen werden kann.

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5 …zu einem Europäischen Sozialmodell?

Innerhalb des Diskurses über einen tatsächlichen bzw. drohenden Autonomie-verlust der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik wurde dabei immer wieder auf das „Europäische Sozialmodell“ (ESM) verwie-sen, welches den Autonomie- und Steuerungsverlust kompensieren könne (Fi-scher 2003: 152). Die Begriffskarriere des ESM begann Mitte der 1990er Jahre, als Jacques Delors den Prozess der europäischen Integration über die reine Marktintegration des Binnenmarktprojektes 1992 hinaustreiben und dem euro-päischen Projekt eine soziale Dimension verleihen wollte (Kuper 1997). Inhalt-lich wurde das ESM von der EU aus einer Reihe gemeinsamer Wertvorstellun-gen wie Demokratie, persönliche Freiheitsrechte, Chancengleichheit, Solidarität und eben auch soziale Sicherheit begründet: „Die Klammer, die all diese […] Grundwerte miteinander verbindet, ist die Überzeugung, dass wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt Hand in Hand gehen müssen“ (Kommission 1994: 5; Aust/Leitner/Lessenich 2000: 9). Damit ist das ESM zu einem fundamentalen Bestandteil dessen geworden, wofür Europa steht: „Das europäische Sozialsys-tem wird oft als das Juwel in der Krone betrachtet – vielleicht als das wichtigste Merkmal, das die besondere Qualität der Gesellschaften Europas ausmacht“ (Giddens 2006: 20).

Diese Beschreibung des ESM ist umso verwunderlicher, als der Begriff nach wie vor im Kern umstritten ist und demzufolge viele verschiedene Defini-tionen die Runde machen, denen zwar allen der Bezug auf den Sozialstaat ge-meinsam ist, dessen Konzept jedoch bis heute äußerst diffus bleibt: „Die Rede vom Europäischen Sozialmodell […] zielte auf einen beweglichen Punkt, der im Dunkeln lag und nur durch den Vergleich mit den USA oder der übrigen Welt an Konturen gewann“ (Ostner 2000: 23). So fungiert der Begriff in der sozial- und politikwissenschaftlichen Rezeption mehrheitlich als Schlagwort mit normativen Implikationen. Zwar werden teilweise die Existenz und der Nutzen eines spezi-fisch europäischen Sozialmodells betont. Doch zahlreiche andere Autoren ver-weisen mit Blick auf die Studien von Esping-Andersen darauf, dass die Wohl-fahrtsregime fortgeschrittener Industriegesellschaften sich in verschiedene „Wel-ten“ mit unterschiedlichen Leitlinien und Organisationsmustern aufspalten und daher auch die europäischen Wohlfahrtsstaaten entsprechend differenziert be-handelt werden müssten (Baldwin 1996; Scharpf 1999; Ferrera 1998): Zum ei-nen setzten nämlich nicht alle Mitgliedsländer der EU gleichermaßen auf Soli-darität sowie Subsidiarität und zum anderen ließen sich empirisch innerhalb Europas wenigstens vier Sozialmodelle unterscheiden, die spätestens seit Beginn der 1990er Jahre einem wachsenden Veränderungsdruck ausgesetzt waren (Ostner 2000: 23), so dass die Gemeinsamkeiten der europäischen Nationen im

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Wesentlichen ein statistisches Kunstprodukt seien (Crouch 1999: 393-409). Auch neuere Versuche, eine Annäherung europäischer Wohlfahrtsstaaten zu erzeugen, die vor allem in Form der „Open Method of Coordination“ (OMC) sichtbar werden, können als wenig effektiv bezeichnet werden (Schäfer 2004). Zwar gilt die in der Sozialpolitik angewandte OMC explizit als Antwort auf die Verschiedenartigkeit nationaler Sozialsysteme (Scharpf 2002), weshalb sie auch in der aktuelleren politikwissenschaftlichen Literatur große Aufmerksamkeit erfährt. Kollektives Handeln im Bereich der Sozialpolitik konnte aber auch durch die OMC nicht etabliert werden. Dies mag auch an der sehr begrenzten Hand-lungsfähigkeit der sozialpolitischen Akteure liegen: Im Unterschied etwa zu den finanzpolitischen Institutionen der EU, die mit großer Durchsetzungskraft aus-gestattet sind, „steht den EU-Sozialministern mit der „offenen Koordinierungs-methode“ bestenfalls ein zahnloser Tiger zur Verfügung“ (Hering 2004: 352).

Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass hinter dem ESM ers-tens kein einheitliches Konzept als vielmehr ein Gemisch von Werten und Er-wartungshaltungen steht, die hinsichtlich ihrer Form und des Grades ihrer Ver-wirklichung in den einzelnen europäischen Staaten ziemlich unterschiedlich ausfallen. Und zweitens kann das Europäische Sozialmodell auch nicht als ein-heitliches Modell gelten, da „zwischen den europäischen Ländern große Unter-schiede hinsichtlich ihrer Sozialsysteme, ihrer Ungleichheitsverhältnisse und so weiter bestehen“ (Giddens 2006: 20). Diese Ungleichheitsverhältnisse werden besonders am Beispiel der osteuropäischen Transformationsländer deutlich: „Für die neuen Mitgliedstaaten der EU hat das ESM gegenwärtig nur geringe Bedeu-tung. Die Erweiterung der EU auf 25 Mitglieder hat innerhalb Europas sowohl die nationalen wie die regionalen Ungleichheiten verschärft. Das Pro-Kopf-Ein-kommen in den weniger entwickelten Ländern liegt bei weniger als der Hälfte des EU-Durchschnitts; in einigen der reicheren Länder hingegen beträgt es bis zu 140 Prozent des durchschnittlichen Wertes“ (Giddens 2006: 22). Angesichts dieser Unterschiede und Ungleichheiten bleibt die Frage, ob das ESM einen sinnvollen und produktiven Bogen über die Vielzahl europäischer Wohlfahrts-staaten schlagen kann, oder ob es als politische Kategorie unter Anerkennung der vorherrschenden unterschiedlichen Realitäten zumindest modifiziert werden sollte.

6 Zur Vielfalt europäischer Wohlfahrtsstaaten

Die Ergebnisse der von Esping-Andersen vorgenommenen Typisierung moder-ner Wohlfahrtsstaaten sind sowohl im Laufe der Zeit und als auch durch die Transformationsprozesse osteuropäischer Länder teilweise erheblich relativiert

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worden. Die Einordnung der Wohlfahrtsstaaten in bestimmte Regime-Typen scheint in Anbetracht der Entwicklung der letzten Jahre und der aktuellen Her-ausforderungen nur noch begrenzt sinnvoll zu sein. Zwar sind die europäischen Wohlfahrtsstaaten einerseits vergleichbaren polit-ökonomischen Bedingungen und Veränderungen ausgesetzt, wie sie etwa in den Debatten um die Globalisie-rung zum Tragen kommen: Sozialpolitische Reformdiskussionen scheinen in den modernen Demokratien stets nach ähnlichem Muster abzulaufen, welches sich primär an der Stärkung nationaler Konkurrenzfähigkeit orientiert. Auch stellen die durch die Europäisierung in Gang gesetzten Prozesse an die europäischen Wohlfahrtsstaaten ähnliche Herausforderungen. Das EMS ist dabei der Versuch, wirtschaftliche Einzelinteressen auf EU-Ebene sozialpolitisch zu begleiten.

Aber trotz dieser ähnlichen Herausforderungen an die europäischen Wohl-fahrtsstaaten muss andererseits festgestellt werden, dass die Reaktionen höchst unterschiedlich sind. Denn erstens fallen die Bilanzen (Wachstumsraten, Er-werbslosenquoten) der einzelnen Länder hinsichtlich der oben beschriebenen „Herausforderungen“ höchst unterschiedlich aus (während etwa die nordischen Länder vergleichsweise gute Bilanzen aufweisen, sieht das Bild in Deutschland oder Italien mit relativ hohen Erwerbslosenquoten ungünstiger aus) (Giddens 2006: 21), und zweitens haben die nationalen Sozialstaaten – trotz einiger, sicher nicht unbedeutender Versuche und auch Erfolge, kollektives sozialpolitisches Handeln auf EU-Ebene zu installieren – ihre sozialpolitische Steuerungsfähigkeit behalten, wie in zahlreichen Reformen sichtbar wird (vgl. u.a. Meyer 2006: 20-21). Weitführende Reformmaßnahmen, die in einigen Staaten bereits den Cha-rakter eines sozialpolitischen „Systemwechsels“ haben (vgl. u.a. Hegelich 2006), können nur im spezifisch nationalen Kontext erfolgen. Durch diese Entwicklung bleiben nationale Identitäten nicht nur erhalten. Sie sind auch ein bedeutsamer Grund dafür, dass die Vielfalt europäischer Sozialstaaten auch in absehbarer Zeit erhalten bleiben wird.

Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Entwicklungen der einzelnen So-zialstaaten muss die Debatte um ein europäisches Sozialmodell notwendig um die Betonung unterschiedlicher Entwicklungspfade ergänzt werden: „Den So-zialstaat haben die einzelnen Nationen jeweils für sich geschaffen, er ist nicht durch internationale Kooperation zustande gekommen“ (Giddens 2006: 22). Durch die höchst unterschiedlichen Traditionen und Formen von Sozialstaatlich-keit innerhalb der EU wird eine mögliche Vereinheitlichung durch das ESM nicht nur nicht gefördert (Metzler 2003: 251) – diese Unterschiede sind auch der eigentliche Grund für die nach wie vor existierende Vielfalt europäischer Sozial-staaten: „Europa ist stark, aber in seinen politischen Legitimationsressourcen bei weitem nicht stark genug, um Sozialstaat, um Staat mit allgemeiner und umfas-sender Regelungskompetenz zu werden. Kaum etwas ist noch so stark an den

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nationalstaatlichen Kulturraum und seine jeweiligen Bewertungen sozialer Ge-rechtigkeit gebunden wie die Auffassungen über die Bedingungen des Arbeits-marktes, die Höhe und Art von Steuern sowie den Umfang und die Qualität der sozialen Sicherung“ (Di Fabio 2006: 8). Dies hat auch Auswirkungen auf zu-künftige Reformprozesse: „Angesichts des großen Einflusses der Mitgliedstaaten auf ihre jeweilige eigene Sozialpolitik werden auch die meisten echten Verände-rungen von den einzelnen Nationen selbst ausgehen müssen“ (Giddens 2006: 22-23).

Nationale Einzelinteressen im Bereich sozialer Sicherungspolitik stellen al-so ein substantielles Hindernis auf dem Weg zu einem kollektiven sozialpoliti-schen Handeln Europas dar (Scharpf 1999; Falkner 2000). Klammert die sozial-politische Auseinandersetzung um Gegenwart und Zukunft europäischer Wohl-fahrtsstaaten diese nationalen Einzelinteressen und unterschiedlichen Traditionen aus, läuft sie Gefahr, sich den empirischen Realitäten zu entziehen. Solange also nicht geklärt ist, worin die geteilte Gemeinsamkeit europäischer Wohlfahrts-staaten jenseits normativer Ansprüche besteht, bleibt das Europäische Sozialmo-dell bloß Idee und Kunstprodukt. Die Vielfalt europäischer Wohlfahrtsstaaten ist ein Faktum, welches nicht unberücksichtigt bleiben darf. Eine an gleichen Maß-stäben und Kriterien orientierte aktuelle Untersuchung der einzelnen europäi-schen Wohlfahrtsstaaten könnte schnell deutlich machen, dass sich trotz des Bekenntnisses auf gemeinsame Werte enorme Unterschiede hinsichtlich der Ausgestaltung der einzelnen Sozialstaaten feststellen lassen (vgl. Schu-bert/Hegelich/Bazant 2007). Erst auf der Basis gleicher Maßstäbe und Untersu-chungskriterien kann ein Vergleich und gegebenenfalls auch eine Typologisie-rung Sinn machen und zur wissenschaftlichen Erklärung quantitativer und qua-litativer Unterschiede und Gemeinsamkeiten europäischer Wohlfahrtsstaaten beitragen.

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Interessenvermittlung und Policy-Making im europäischen Mehrebenensystem. Vom Korporatismus zum Pluralismus zur organisierten Anarchie? Interessenvermittlung und Policy-Making Josef Schmid

1 Einleitung

Interessenverbände fokussieren sich auf die Institutionen des politischen Sys-tems, ähnlich wie Blumen sich der Sonne zuneigen – um ein klassisches Bild aufzugreifen. Daher wird mit zunehmender Bedeutung der Europäischen Union diese zum Gegenstand verbandlicher Strukturbildungen und Aktivitäten. Dazu liegt inzwischen eine Fülle an Forschungsergebnissen vor, bei denen zunehmend speziellere Thesen und elaboriertere Methoden zum Einsatz gebracht worden sind. Dabei – so die kritische Intention dieses Beitrags – lässt sich ein gewisser Bias zugunsten von Rationaliät und Ressourcen erkennen, der die Komplexität des Interessenvermittlungssystems und die daraus resultierenden Kontingenzen und mikropolitischen Spielpotenziale unterschätzt. Im folgenden Beitrag soll in einem groben Dreischritt vom Korporatismus zum Pluralismus zur organisierten Anarchie eine konzeptionelle Alternative vorgestellt und das System der Interes-senvermittlung auf europäischer Ebene knapp skizziert werden.

2 Verbände und Interessenvermittlung – zum Forschungsstand

Verbände und Interessenvermittlung gehören zu den elementaren Bestandteilen moderner Politik. Dabei ist es üblich, zwischen drei Dimensionen des Politik-begriffs zu unterscheiden, so dass der Gegenstand analytisch wie folgt verortet werden kann:

Verbandliche Interessenvermittlung ist „Politics“, insofern es um politische Auseinandersetzungen und Entscheidungen, um den Kampf um politische Machtanteile und Einfluss geht.Politik hängt aber auch eng mit dem Aspekt der „Polity“ zusammen, denn Verbände sind Teil der politischen Ordnung und der historisch gewachse-nen Organisationsformen des demokratischen Gemeinwesens.

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Schließlich sind Verbände und Interessenvermittlung auf „Policy“ bezogen, bei der es um die inhaltliche Dimension von Politik, um politische Steue-rung und Problemlösungen sowie um die materiellen Folgen von Staatstä-tigkeiten geht.

Die Aktivitäten der Verbände werden heute – trotz Kritik an einzelnen Aspekten wie dem Lobbyismus (vgl. etwa die Beiträge in APUZ 15-16/2006 und in Woy-ke 2005 sowie Seebaldt/Straßner 2004) – grundsätzlich als legitim erachtet; es ist geradezu ein Zeichen der Moderne, dass „intermediäre Instanzen“ zwischen dem politischen System und dem einzelnen Bürger vermitteln. Unter den Bedingun-gen der Knappheit von Geld, Aufmerksamkeit, Wissen usw. sind dabei erhebli-che Leistungen nötig, die zwischen der Unmenge an existierenden Interessen und Bedürfnissen eine Auswahl ermöglichen. In diesem Zusammenhang kommt den Aushandlungs-, Kooperations- und Vermittlungsprozessen in und durch Verbän-de und den damit verbundenen Selektions- und Transformationsleistungen eine wichtige Rolle zu. Der Konstanzer Politikwissenschaftler Leonhard Neidhart ist der Problematik der Interessenvermittlung genauer nachgegangen und betont: „Wenn unter Interessenvermittlung die Einbringung (die Definition, die Polari-sierung, die Artikulation und Repräsentation), die Vertretung, die Vermittlung (Aggregation) und die Abwägung von Interessen im Zusammenhang mit der Herstellung staatlicher Entscheidungen gemeint sind, dann gehören zu einer derartigen Analyse selbstverständlich auch jene Prozesse der Nichteinbringung, der Nichtvertretung und Nichtberücksichtigung von Interessen hinzu. Im Kern hat jedes politische System damit fertig zu werden, dass es nicht alle Interessen berücksichtigen kann“ (zitiert nach Schmid 1998: 13-14). Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass diese Verfahren der Vermittlung von Interessen auch von denjenigen als legitim erachtet werden, die nicht oder erst später zum Zuge kommen.

Die mit dem Phänomen Interessenvermittlung verbundenen Strukturen, Prozesse und Leistungen müssen darüber hinaus in ihrem gesamtgesellschaftli-chen Kontext gesehen und analysiert werden. Zwei Aspekte sind hier hervorzu-heben:

Zum einen spielen sozioökonomische und kulturelle Strukturen eine wich-tige Rolle, da sie das politische System von Selektionsdruck befreien kön-nen, etwa weil über bestimmte Fragen ein historisch gewachsener Konsens herrscht und / oder weil – etwa aufgrund der Kleinheit des Landes – ein „Sachzwang“ vorherrschend ist (vgl. am Beispiel Österreichs und der Schweiz Lehmbruch 1967).

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Zum anderen bildet die Architektur des Regierungssystems ein zweites Faktorenbündel, das die Interessenvermittlung vorstrukturiert. Dabei kommt es zu strukturellen Koppelungen und Ko-Evolutionsprozessen zwischen den politisch-administrativen Strukturen einerseits und den Organisationsfor-men der Verbände andererseits (Brodocz 1996).1 Die Aktivitäten der Ver-bände konzentrieren sich auf die zentralen politischen Entscheidungsarenen und staatlichen Akteure; diese bilden die „target structure“ (Almond 1963) der Interessenvermittlung, beziehungsweise ihre „institutionelle“ Umwelt (Lehmbruch 1996 im Anschluss an Scott/Meyer 1983).

Mit der Europäischen Union ist eine weitere politische Umwelt relevant gewor-den und die Verbände sind dabei, sich an diese Strukturen anzupassen. Ein erstes Problem für die europäische Interessenvermittlung beziehungsweise Abwei-chung von den nationalen Strukturen und Erfahrungen bildet die sozioökonomi-sche, kulturelle und politische Heterogenität der Mitgliedsländer, welche die Verfolgung einheitlicher europäischer Interessen erschwert. Die zweite Struktur-differenz bildet das politische System: Die Europäische Union stellt gewisser-maßen ein „UPO“ – ein „unidentifiziertes politisches Objekt“, so Jacques Delors – dar und ist ein Policy-Making-System der besonderen Art, in dem der typische Problemverarbeitungsmodus durch den Zwang zum Konsens gekennzeichnet ist und in dem die Entscheidungsprozesse in einem politischen Rahmen stattfinden, der sich als Verbund- oder Verflechtungssystem beschreiben lässt. Einerseits werden hier – wie in einem nationalen politischen System – verbindliche, auto-ritative Wertzuweisungen getroffen, deren Einhaltung durch den EuGH über-wacht wird. Andererseits verweist die einmalige Organisationsstruktur der Euro-päischen Union auch auf deutliche Unterschiede zu nationalen politischen Sys-temen. Organe wie die Kommission, der Ministerrat, der Europäische Rat sowie transnationale Zusammenschlüsse von Parteien und Verbänden finden in liberal-demokratischen Systemen ebenso wenig eine Entsprechung wie die Art der Zu-sammenarbeit und Arbeitsteilung zwischen ihnen und die daraus resultierenden Entscheidungsabläufe. Ferner unterliegen sie im Mehrebenensystem erheblichen strukturellen Spannungen und Dynamiken (vgl. etwa Tömmel 2005). Hier ist vor allem auf das Demokratiedefizit durch die Schwäche der Parteien und des Par-lamentes sowie das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit der Mitgliedsstaa-ten hinzuweisen. Auf diese Weise weicht das Brüsseler politische Terrain erheb-lich vom Berliner ab, was für die Verbände und die politische Interessenver-mittlung einige Schwierigkeiten bereitet. Zugleich sind – verglichen mit den na-

1 Der föderative Aufbau der Verbände in der Bundesrepublik Deutschland ist hierfür ein gutes

Beispiel; vgl. Schmid 2003, der das Beispiel Gewerkschaften untersucht.

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tionalen Verbänden – die europäischen Dependancen sehr jung und schwach ausgerüstet.

Im Hinblick auf die generellen Beziehungen zwischen Staat und Verbänden hat die Forschung in den vergangenen Jahrzehnten die Vorstellung korrigiert, dass es sich hierbei um eine einseitige Einflussnahme handelt. Pluralismus und Lobbyismus existieren sicherlich weiterhin in einigen Bereichen, jedoch zeigt sich ebenfalls eine staatliche Indienstnahme der Verbände für Steuerungsaufga-ben. Verbände sind daher nicht nur Assoziationen gesellschaftlicher Interessen, sondern zugleich „Brückenköpfe“ (Czada 1991) der Politik und der Verwaltung im vorstaatlichen Bereich und (Mit-) Produzenten öffentlicher Dienstleistungen. Eine weitere wichtige Erkenntnis bildet der Umstand, dass nicht in allen Berei-chen eine Konkurrenz zwischen einer Vielzahl von Interessenverbänden statt-findet, wie es dem verbreiteten Idealmodell des Pluralismus entspräche. So exis-tiert eine Reihe von Politikfeldern, die davon abweichen, weil

a. sie von einem einzelnen Großverband monopolisiert werden, wie die Agrar-politik durch den Bauernverband,

b. wenige große Verbände eine kooperative Zusammenarbeit mit dem Staat praktizieren, z.B. die Wohlfahrtsverbände oder die Ärzteverbände,

c. sie von Verbänden selbständig – quasi am Staat vorbei – reguliert werden, etwa im Rahmen der Tarifautonomie oder der Selbstverwaltung im Sozial- und Gesundheitswesen (vgl. Schmid 1998, Seebaldt/Straßner 2004, Woyke 2005).

Verbände übernehmen dabei teilweise Aufgaben, die in der klassischen Demo-kratietheorie den Parlamenten und der Verwaltung zugeschrieben worden sind. Diese Beobachtungen sind vor allem von Vertretern des Neo-Korporatismus-Ansatzes analysiert worden. Verbandliche Interessenvermittlung unterliegt dem-nach nicht nur der „Logik der Mitgliedschaft“, sondern auch der „Logik der politisch-administrativen Zielstruktur“. Korporatistische Verbände fungieren sowohl als gesellschaftliche Interessenvertretung wie als staatliche Steuerungs- und Implementationsagentur. Hieraus ergeben sich wichtige Rückwirkungen auf die organisationsstrukturellen Voraussetzungen – zur Erzeugung von interes-sensmäßiger Homogenität und politischer Kompatibilität – solcher korporatisti-schen Arrangements; von besonderer Relevanz sind folgende Aspekte:

relative Autonomie der Verbandsführung,Zentralisierung, Professionalisierung und Bürokratisierung der Organisa-tion,Tendenz zur Monopolbildung in einem Politikfeld.

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Im Bezug auf die europäische Ebene ist die These von Streeck/Schmitter, wo-nach sich die Interessenvermittlung tendenziell vom nationalen Korporatismus zum transnationalen Pluralismus verschoben habe, vorherrschend geworden (vgl. die Beiträge in Eichener/Voelzkow 1994 und Greenwood u.a. 1992). In den kritisch daran anschließenden Studien sowohl über die Politik der EU im Allge-meinen als auch über Verbände und Interessenvermittlung im Besonderen neh-men die Politikfeldanalyse und Netzwerkkonzepte einen wichtigen Platz ein. Diese Ansätze sind zum einen besser geeignet, „der Heterogenität der europäi-schen Integration gerecht zu werden“ (Eichener/Voelzkow 1994: 17, s.a. Ban-delow/Widmaier 2000). Zum anderen dienen sie der Beendigung des Paradig-menstreits zwischen Pluralismus und Korporatismus als theoretische Alternati-ven der Verbändeforschung. Es wird von einer engen Kommunikation, Koordi-nation und Kooperation zwischen verschiedenen Akteuren ausgegangen und Verbänden kommt dabei eine wichtige Bedeutung zu. Darüber hinaus sind Netzwerke flexibler und offener als korporatistische Systeme der Interessenver-tretung; es treten andere Akteure, wie etwa Wissenschaftseinrichtungen oder Un-ternehmen hinzu und die Vorstellung eines einheitlich handelnden, hoheitlichen Staates wird aufgegeben. Schließlich kommt es hier zur Verwischung der Grenze zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum, wodurch zunehmend Netz-werke entstehen, die Steuerungs- und Dienstleistungen in einem „Public-Private-Mix“ erbringen (Schmid 1998, Schubert/Jansen, Schumann u.a. 2004).

Aus einer stärker systemtheoretisch orientierten Sichtweise lässt sich das Phänomen der Netzwerke noch etwas präziser bestimmen: Zum einen erfasst es typologisch – als eine Art neutraler Metakategorie – die Struktur von Interessen-vermittlungssystemen, zum anderen werden damit auch Interaktionsmuster von Organisationen berücksichtigt, wobei dazu inzwischen ein sehr hoch entwickel-tes methodisches Instrumentarium zur Verfügung steht. Schließlich geht es bei Netzwerken aber immer auch um Personen; hier entscheiden nicht Strukturen und Ressourcen, sondern Köpfe und das entsprechende – meist implizite – Wis-sen darüber, wie ein konkretes Netzwerk funktioniert. Gerade in einem Mehr-ebenensystem wie der Europäischen Union schafft dies Freiräume und Gelegen-heiten für mikropolitische Aktivitäten und unerwartete Effekte, die als „Garbage Cans“ und „Organized Anarchies“ bezeichnet worden sind (vgl. als Überblick Bogumil/Schmid 2001, Peters/Pierre 2002). Luhmann beschreibt diese Kons-tellation so: Es ist

„schwierig, von den Zentren aus Organisationen durch Organisation zu kontrol-lieren, denn die Netzwerke stehen den ‚offiziellen’ Zentren nicht zur Verfügung; sie sind nicht hierarchisch, sondern heterarchisch konzipiert. So kommt es zu einer ei-gentümlichen Symbiose von Organisationen und Netzwerken, die alle planmäßige Durchgriffskausalität zum Scheitern bringt, aber statt dessen in einem anderen Sinne

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Formen der Kausalität und lokalisierbare Optionen im System verteilt“ (Luhmann 1995: 28, s.a. Fuhse 2005).

3 Konstellationen der Interessenvermittlung im politischen System der Europäischen Union – einige Besonderheiten

Die Interessenvermittlung auf europäischer Ebene zeichnet sich durch eine be-merkenswerte Wachstumsdynamik aus. Im Jahr 2002 hatten sich bereits 941 EU-Verbände bei der Kommission registriert; darüber hinaus sind rund 350 nationale Verbände und Körperschaften, etwa 250 Interessenvertretungen von Unterneh-men sowie mehr als 10.000 Lobbyisten, also professionelle Beratungsfirmen und Anwaltskanzleien, in Brüssel aktiv (vgl. Woll 2006: 34f, s.a. Van Schendelen 1993 und Seebaldt/Straßner 2004: 254ff.).

Abbildung 1: Gründung europäischer Verbände

In einer sicherlich stark vereinfachten Betrachtung, in der die These der „Two Logics of Collective Action“ (Offe/Wiesendahl 1980, s.a. Schmid 1998) modifi-ziert wird, lassen sich einige grundlegende Konstellationen in der europäischen Verbändelandschaft identifizieren:

Auf der einen Seite agieren Verbände entweder in der Ökonomie oder im soziokulturellen System, beziehungsweise dem Reproduktionsbereich.

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Auf der anderen Seite können ihre Interessen relativ homogen oder eher heterogen ausfallen beziehungsweise lassen sich mehr oder weniger schwer aggregieren (etwa mittels der Eigenschaften der oben angeführten korpora-tistischen Arrangements).Meist korreliert diese letzte Unterscheidung mit dem Maß an struktureller Konvergenz beziehungsweise Divergenz (im Sinne von Ähnlichkeiten be-ziehungsweise Unähnlichkeiten) zwischen den Mitgliedsstaaten.

Als Tabelle 1 dargestellt, ergeben sich folgende Konstellationen mit möglichen Beispielen.

Tabelle 1: Konstellation der europäischen Interessenvermittlung

Ökonomie/ Produktion

Soziokultur/Reproduktion

Homogene Interessen Konvergenz der Mitgliedsstaaten

1(Branchenverband)

2(Professionsverband)

Heterogene Interessen Divergenz der Mitgliedsstaaten

3(Gewerkschaft)

4(Kulturverband)

Quelle: Eigene Darstellung.

Zusätzlich könnte noch eine weitere Unterscheidung zwischen schwachen und starken Interessen (etwa indiziert durch Mitgliederzahlen und Finanzen) getrof-fen werden. Unabhängig von empirischen Aspekten der Zuordnung von Organi-sationen wird hier die schon erwähnte politische Grundproblematik der Interes-senvermittlung im Sinne der Selektion und Exklusion von Interessen relevant: Permanenter Ausschluss beschädigt die Legitimität des Systems und erfordert daher im aufgeklärten Eigeninteresse gerade von starken Verbänden eine Min-destberücksichtigung anderer Interessen. Dies gilt besonders für das Feld der gemeinnützigen Organisationen. Diese fügen sich in eine weitere Differenzie-rung ein, nämlich die nach der Herkunft aus dem öffentlichen oder dem gemein-nützigen (dritten) oder dem Marktsektor.

Neben diesen komplexen strukturellen Rahmenbedingungen wirken sich ei-nige weitere Faktoren aus, die sich von der Situation und der Taktik her bestim-men und die die berühmten Ausnahmen von der Regel erzeugen, beziehungs-weise bei denen Klugheit und Glück (so schon Machiavelli, zur weiteren mikro-politischen Perspektive Bogumil/Schmid 2001) entgegen den objektiven Struktu-ren dennoch relativ günstige Ergebnisse hervorbringen. Hierzu zählen v.a. die verschiedenen politischen Instrumente, die zur Verfolgung von Verbandsinter-essen eingesetzt werden. Dazu gehören

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öffentlicher Druck und Informationspolitik, d.h. Stellungnahmen, Anhörun-gen, Information,Demonstration und öffentliche Kritik,personelle Verflechtungen und Spenden, schließlichsozialer Tausch bis hin zur Korruption (vgl. etwa Seebaldt/Straßner 2004).2

Zugleich erhöhen die Ressourcen, die ein Verband zur Lösung bestimmter Prob-leme zur Verfügung stellen kann (etwa Expertise und Einrichtungen), die Chan-cen des Zugangs zu den Organen der Europäischen Union (vgl. differenziert dazu Eising 2004, Broscheid/Cohen 2005 und Mohr u.a. 2005). Ersatzweise lassen sich auch professionelle Anwalts- und Lobbybüros heranziehen. Auf diese Weise entsteht ein kompliziertes Gefüge von ineinander geschachtelten Netz-werken und Organisationen der Interessenvermittlung, die mehrere Ebenen und Politikfelder umfassen. Steuerungsleistungen sind nur schwer zu beurteilen und vielfach nicht einer Organisation zuschreibbar, sondern eher ein Netzwerkeffekt – oder manchmal schlicht Zufall. ”We argue that lobbyists always ’babble‚ un-less they receive specific incentives ... to provide better information„ (Bro-scheid/Cohen 2005: 4).

2 Hierzu Luhmann (1995:28): “Vielmehr ist anzunehmen, dass das Netzwerk die Grenze zwi-

schen Korruption und Nichtkorruption durch eine eigene Supercodierung verwischt... Das Netzwerk benötigt zur Lokalisierung von Kausalität und Freiheit keine Orientierung an öffent-lichen Problemen. Solche Probleme sind zwar Thema der Kommunikation – aber vorwiegend deshalb, weil sich die Organisationen, die Anlässe geben zur Kommunikation, mit ihnen be-schäftigen. Die Kommunikation selbst verlagert dann aber den stets mit gemeinten Sinn auf die Ebene individueller Interessen. Hier und nur hier festigt sich im Alltag ein Problembewusst-sein, das die Kommunikation in Gang hält. Individuell ist dabei wiederum netzwerkbezogen zu verstehen, also nicht etwa beschränkt auf persönliche Bedürfnisse und Wünsche von Einzel-personen. Vielmehr überleben in diesem Zusammenhang die Familie ebenso wie Patron/Klient-Verhältnisse.“

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Abbildung 2: Ziele und Taktiken der Interessenvermittlung auf europäischer Ebene

Quelle: Eigene Darstellung.

4 Europäisierung der nationalen Interessenvermittlung – Garbage Cans und Organized Anarchies als Rückkoppelungseffekte

Ein komplexes Interessenvermittlungssystem wie das europäische wirkt nicht nur in Brüssel, sondern tangiert auch die nationalen Organisationen und Struktu-ren. So entstehen etwa in der Arbeitsmarktpolitik schon fast labyrinthische Koordinations- und Implementationsstrukturen, aus ESF-Gremien, Bundes-agentur für Arbeit, Bundes- und Landesministerien, kommunalen Stellen, freien Qualifizierungsträgern, Kammern und Tarifparteien. Auf solchem Terrain über-komplexer Strukturen und mehrdeutiger Situationen kommt es leicht zu garbage cans und anarchischen Effekten. Zu den Eigenschaften solcher Phänomene ge-

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hört, dass die Ziele unklar und/oder vielfältig sowie konflikthaft sind, die Art des Problems fraglich ist und ungenaue, konkurrierende Problemdefinitionen existie-ren. Zeit, Geld oder Beachtung fehlen, ebenso klare Erfolgsmaßstäbe und ausrei-chende Kenntnisse der Kausalbeziehungen.3 Schließlich werden Symbole und Metaphern verwendet und die Teilnahme am Entscheidungs- und Implementa-tionsprozess variiert (Weick 1976, als Überblick Bogumil/Schmid 2001).

Jann/Wegrich (2003, s.a. Peters/Pierre 2002 und Kingdon 1995) haben diese Modelle in die deutsche Politikfeldanalyse eingeführt und postulieren, dass komplexe politische Prozesse aus vier weitgehend voneinander unabhängigen „Strömen“ bestehen, und zwar

Lösungen, die nach Problemen suchen, auf die sie angewendet werden könnten (man denke nur an neue Kommunikationstechnologien, Reorgani-sationsvorschläge, Führungsinformationssysteme u. ä.),Teilnehmern, die nach Gelegenheiten suchen, in relevanten Entscheidungs-prozessen eine gewichtige Rolle zu spielen,Situationen, die es erlauben oder erfordern, Entscheidungen zu treffen oder einen Entscheidungsprozess abzuschließen (z. B. regelmäßige Gelegenhei-ten wie das jährliche Budget, aber auch unverhoffte Krisen), und schließlich auchProblemen, die ganz unabhängig von vorhandenen Lösungen, Aktivisten und Gelegenheiten darauf warten, bearbeitet zu werden.

Hierfür liefert die europäische Mehrebenenpolitik gute Beispiele, die im Übrigen auch als methodische Vorbehalte gegenüber zu einfach konzipierten empirischen Analysen von Verbänden und ihren Aktivitäten gelten können.4 Zuerst taucht – locker formuliert – das „Wo ist das Spielfeld“-Problem auf, denn es ist häufig unklar, welche Akteure sich wo bewegen, welche Themen und Probleme prozes-siert werden und ob die formale Organisationsdomäne überhaupt den richtigen Zugriff für die empirische Analyse darstellt, wenn es sich doch um Personen-netzwerke im skizzierten Sinne handelt. Manche Personen sind schon da, bevor das spezifische Thema und eine adäquate Organisation auftauchen. Sodann exis-tiert das „Spiel mit den Banden“-Paradoxon und das „Spiel endet in Brüssel“-Phänomen. Bei der Betrachtung von Organisationen, Personen und Verhaltens-

3 Luhmann (1995: 7) spricht sogar von der „Unendlichkeit möglicher Kombination von Ursachen

und Wirkungen“. 4 Das Phänomen ähnelt dem Galton-Problem der mangelnden Unabhängigkeit der Fälle, das bei

statistischen Analysen zu erheblichen Verzerrungen führt. Die Beispiele basieren auf eigenen empirischen Arbeiten über die Arbeitsmarktpolitik der Bundesländer und die Europäisierung der Wohlfahrtsverbände.

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mustern im Mehrebenensystem der europäischen Interessenvermittlung kommt es also darauf an, die kompletten Sequenzen und gesamten Netzwerke in einem Politikfeld zu untersuchen. Teilanalysen können zu beachtlichen Irrtümern und Fehleinschätzungen führen. Manchmal bezieht sich eine Ablehnung einer Politik – wie etwa in der Ära Kohl die deutsche Kritik der Armutspolitik der Europäi-schen Union (vgl. Schmid 2004) – nicht auf die Sache, sondern auf die Rückwir-kungen auf Organisationen und manchmal sogar auf Personen. Wer das deutsche Kartell der Wohlfahrtsverbände erhalten will und ggf. aus wahlpolitischen Grün-den muss, darf nicht für eine europäische Politik sein, die vielleicht problemadä-quat, aber für die großen Interessenverbände in diesem Feld organisatorisch inkompatibel ist. Schließlich ergeben sich steuerungstheoretisch interessante Netzwerke der Interessenvermittlung, die Ebenen, Politikfelder und Sektoren übergreifend vielfach aus den – steuerungstheoretisch gesehen eher zufälligen – Karrieren der beteiligten Personen entstehen lassen, d.h. Beziehungen wandern mit diesen und führen zu neuen Kooperations- und Koordinationspotentialen.

Darüber hinaus ist “Europa„ vielfach eine “Ressource„ bei den Konzepten und Konflikten, wie Studien über die Implementation arbeitsmarktpolitischer Programme exemplarisch belegen:

”Within the ministries (und in Verbänden ebenso, JS), like in politics, different groups are struggling to push through their policy approaches against the resistance of others. In our interviews in the labour market department some of these disputes were named, for example how to deal with specific problem groups of the labour market (rule them out or gave them special attention to bring them in labour markets), how to balance social and economy related policies or the priority given to gender questions. Often more than two competing approaches are on the agenda and conflicts are not only about ’global‘ ideological differences but also about details of how to construct and steer a single instrument. These conflicts are carried out in ministerial decision networks on every cross road in national politics“ (Wolfswinkler 2005: 12).

Interessenvermittlung basiert in solchen Fällen häufig auf personenbezogenen Netzwerken, die Organisationen und deren Lösungspotentiale um öffentliche Fördermittel gruppieren. Auf diese Weise bilden sich immer wieder neue Orga-nisationen – ineinander geschachtelte Verbände mit hoher Überlappung – , hinter denen jedoch immer dieselben Personen mit teilweise äußerst heterogenen Inte-ressen stehen. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Personen „mit-einander können“ und dass das Engagement als solches sich lohnt.5

5 Zum dahinter stehenden Zyklus aus Engagement und Enttäuschung vgl. Hirschman (1988); aus

der Forschung über transnationales Regieren sind „ad-hoc-Allianzen“ ebenfalls bekannt

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Teilweise verschieben einzelne Verbände im Rahmen der europäischen Mehr-ebenenpolitik und Interessenvermittlung ihre Ziele und übernehmen, der „institu-tionellen Umwelt“ folgend, neue Aufgaben; so entstehen sogar transnationale Kooperationsnetzwerke. Dabei geht es weniger um Einflussnahme oder Um-setzung, sondern um Ressourcenverbrauch, Domänensicherung und „Camou-flage“ (Waarden 1992) – oder (mit Luhmann) das System gewinnt autopoie-tische Züge, in dem Kausalität personalisiert wird.

„Das versteht sich freilich nicht von selbst, sondern muss im Netzwerk selbst durch ständige Bereitschaft erarbeitet, ‚verdient’ und reproduziert werden. Dazu sind zahlreiche soziale Kontakte erforderlich, viel mündliche Kommunikation, deren Sinn sich weder aus den Organisationsaufgaben ableiten lässt, noch von unmittelba-ren praktischen Zwecken her als notwendig verständlich ist, sondern eine Art Über-schussproduktion hervorbringt, die der Reproduktion von sozialer Kompetenz und Bereitschaft dient“ (Luhmann 1995: 24).

Interessant ist dabei vor allem der Aspekt der Verbands- und Vereinsgründung als Folge staatlicher Intervention und institutioneller Anreize – also die Umkeh-rung der klassischen Kausalitätskette Interesse, Organisation, Einfluss. Für Walker (1983: 390, s.a. Eichener/Schmid 1992) ist dies ein wichtiges Desiderat der Forschung: “Most ... investigations of interest groups have been designed to measure their influence, but have taken their existence for granted.” Historische Studien über die Gründung von Verbänden weisen dabei auf beachtliche Staat-seinflüsse hin: „Bis zur Mitte des (19.) Jahrhunderts spiegelt ... das Auf und Ab der Verbandsgründungen zwar nicht allein, wohl aber in starkem Maße die Schwankungen staatlicher Vereinspolitik wider“. Und ein „Großteil dieser Ver-eine (wäre) kaum je entstanden, wenn der Staat nicht die Führung übernommen sowie personelle, organisatorische und finanzielle Hilfen geleistet hätte“ (Ull-mann 1988: 58, 61). Neben staatstragenden Zielen, die sich gegen politisch miss-liebige Aktivitäten richten, wird mit der Regulierung des Verbandswesens auch ein Beitrag zur ökonomischen und sozialen Modernisierung sowie der Funkti-onsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung verfolgt.

Czada (1991) hat für die jüngere Vergangenheit ebenfalls festgestellt, dass Regierungen und insbesondere Ministerialverwaltungen in der Bundesrepublik als „Organisatoren gesellschaftlicher Interessen“ fungieren. Ursache hierfür bilden nicht nur konvergente Interessenkonstellationen zwischen staatlichen und verbandlichen Akteuren, sondern auch die hohe Unsicherheit bei Situationen, die als Garbage Cans und Organized Anarchies charakterisiert werden, und wie sie

(Walk/Brunnengräber 1996). Hier wird jedoch stärker auf den Fassadenchrakter der formalen Verbandsorganisation abgehoben.

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in der europäischen Mehrebenenpolitik häufig anzutreffen sind (Peters/Pierre 2002). Insofern ist dies nicht neu oder gar problematisch, sondern taucht immer dann auf, wenn Situationen mehrdeutig beziehungsweise die Strukturen über-komplex sind und auf diese Weise die Voraussetzungen für rationales Handeln fehlen.

5 Schlussbemerkungen

Damit findet im europäischen Mehrebenensystem – zumindest in ausgewählten Feldern und unter den genannten Bedingungen – ein Wandel der Interessenver-mittlung nicht nur vom Korporatismus zum Pluralismus und zum Lobbyismus, wie er vielfach beobachtet worden ist, sondern ebenfalls zur organisierten Anar-chie statt. Damit wird zugleich der bekannte Policy-Zyklus auf den Kopf stellt, beziehungsweise werden die Dimensionen von Polity, Politics und Policy mit-einander unentwirrbar verknüpft. Dieser Wandel bildet aber keinen Anlass zur Klage, vielmehr zeichnen sich solche Systeme durch eine beachtliche Anpas-sungsfähigkeit aus. Konzepte wie organisierte Anarchie und Garbage Can liefern Interpretationsfolien für die Probleme von Komplexität und Mehrdeutigkeit, wie sie für die Politik und Interessenvermittlung im europäischen Mehrebenensystem charakteristisch sind und ermöglichen interessante Einsichten in die Dynamiken des Systems und seine (zentralen) Steuerungsgrenzen. Daher kann man mit Pe-ters/Pierre (2002: 20) schließen: "Why Worry about the Garbage Can?" Diese Behälter liefern den analytischen Rahmen, in dem Netzwerke aus Personen die-jenigen Lücken überbrücken, die Modelle der klassischen Organisations- und Entscheidungstheorie beziehungsweise deren Realisierungsformen offen lassen beziehungsweise wenn gesellschaftliche Interessen und Ressourcen nicht als Handlungsgrundlage für politische Aktion ausreichen.

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Das Europäische Puzzle oder: Warum das Europäische Parlament an Macht gewonnen hat Das Europäische Puzzle Thomas König

1 Einleitung

Eine der Hauptaufgaben der Politikwissenschaft ist die Beschreibung und Erklä-rung von politischen Entscheidungen, durch die in Gesellschaften die Verteilung von öffentlichen und privaten Gütern geregelt wird. Die Fokussierung auf politi-sche Entscheidungen ist eine disziplinäre Gemeinsamkeit von Politikwissen-schaftlern, ohne daraus einen disziplinären Alleinanspruch auf deren Erfor-schung abzuleiten. Ganz im Gegenteil, mit dem Politischen bzw. mit politischen Entscheidungen beschäftigen sich zahlreiche andere Disziplinen, die entweder die Erklärungskraft ihrer Theorien am Beispiel politischer Entscheidungen über-prüfen oder einen politischen Einfluss auf ihr „Gut“ bzw. ihre „Güterqualität“ in Rechnung stellen. Große disziplinäre Nähen finden sich zur Ökonomie, Soziolo-gie und bisweilen Psychologie, aber auch zu den Geisteswissenschaften und der Rechtswissenschaft gibt es zahlreiche Berührungspunkte. Im Grunde genommen lebt die Politikwissenschaft von diesen Berührungspunkten zu anderen Diszipli-nen, denn bislang gelang es weder, eine eigenständige politikwissenschaftliche Theorie wie die eines homo oeconomicus, sociologicus oder psychologicus zu begründen, noch entwickelte die Politikwissenschaft eine zur Geschichts- oder Rechtswissenschaft vergleichbare Methodik, die als gemeinsames Fundament der politikwissenschaftlichen Ausbildung und Denkens erachtet werden kann. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass sich die Politikwissenschaft trotz ihres dis-ziplinären Fokus auf politische Entscheidungen zu einem interdisziplinären Sammelsurium an Ansätzen, Vorgehens- und Denkweisen entwickelt hat, oder anders ausgedrückt, über ein Arsenal an Instrumenten und Erklärungsweisen für die Erforschung politischer Entscheidungen verfügt (vgl. Lehner/Widmaier 2002, insbes. Teil I: Grundlagen der Vergleichenden Regierungslehre).

Was aber ist unter politischen Entscheidungen zu verstehen? Und welche Faktoren dürften für ihren Ausgang ausschlaggebend sein? Ganz allgemein um-fassen politische Entscheidungen, die entweder von einem einzelnen Akteur oder einer Gruppe getroffen werden, mit der Verteilung von öffentlichen und privaten Gütern fast alle Belange des gesellschaftlichen Lebens, jedoch empfiehlt es sich, eine Eingrenzung vorzunehmen. Möchte man die Qualität und das Ausmaß der Güter nicht näher spezifizieren, dann könnte die Unterscheidung zwischen indi-

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viduellen und kollektiven Entscheidungen hilfreich sein, denn letztere werfen oftmals das untersuchungswürdige Problem auf, trotz unterschiedlicher Meinun-gen, Interessen und Wertvorstellungen der Akteure eine Entscheidung herbeifüh-ren zu müssen. Eine andere Einteilung unterscheidet zwischen Entscheidungen über materielle Politiken und Institutionen, wobei auch eine Unterteilung in Sach- oder Personenfragen angebracht sein kann. Vor allem in Untersuchungen über Koalitionsbildungen spielt die Einteilung nach Personen- und Sachfragen eine besondere Rolle, wenn beispielsweise gefragt wird, ob Koalitionen mit dem Ziel der materiellen Politikdurchsetzung oder der personellen Ämterbesetzung gebildet werden (Müller/Strøm 2003). Allerdings hat sich in der Folge gezeigt, dass diese Einteilung nicht weiterführend sein muss, da bei der Koalitionsbil-dung Personenentscheidungen mit der Durchsetzung von Politiken bzw. mit dieser auch Personenentscheidungen verbunden sind (Laver/Shepsle 1996). Ähn-liche Fallstricke birgt auch die Unterscheidung zwischen Entscheidungen über materielle Politiken und Institutionen, denn letztere setzen oftmals die „Spielre-geln“ fest, nach denen in materiellen Politiken über die Verteilung der Güter entschieden wird (Buchanan/Tullock 1962). Entscheidungen über Institutionen können daher als allgemeine, über materielle Politiken als spezielle Gleichge-wichtslösungen bezeichnet werden, wobei letztere als Teil der Entscheidungen über Institutionen interpretiert werden (Bräuninger et al. 2001). Allgemeine Gleichgewichtsuntersuchungen erfordern jedoch ein hohes Maß an analytischer Schärfe und empirischer Präzision, denn es gilt zu untersuchen und zu belegen, dass die über Institutionen entscheidenden Akteure Erwartungen an die durch den Ausgang von materiellen Politiken vorgenommene Verteilung von Gütern haben, an denen sich ihre Institutionenwahl festmachen lässt (Steunenberg/Dimi-trova 1999: 17).

Im folgenden Beitrag möchte ich eine vielbeachtete politische Entscheidung über eine Institutionenwahl erörtern, die weitreichende Konsequenzen für die Macht- und Einflussnahme auf materielle Politiken der Europäischen Union (EU) hatte und in der Literatur als Puzzle gilt. Es handelt sich hierbei um die von den EU-Mitgliedstaaten auf Regierungskonferenzen getroffene Entscheidung, das Europäische Parlament (EP) trotz seiner sehr integrationistischen Haltung in der materiellen EU-Gesetzgebung mit Macht auszustatten. Genauer gesagt haben die Mitgliedstaaten die institutionellen Mitwirkungsrechte des EP seit der Ein-heitlichen Europäischen Akte (1987) kontinuierlich ausgebaut und spätestens seit dem Amsterdamer Vertrag (1999) gilt das EP in vielen Politikbereichen als mächtiges Organ, das über den Ausgang von Kommissionsinitiativen zusammen mit den im Rat vertretenen Mitgliedstaaten entscheidet (Hix 2005). Aber warum haben sich die Mitgliedstaaten für die parlamentarische Mitwirkung in ausge-wählten Politikbereichen entschieden, warum gibt der Rat einen Teil seiner

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Macht an ein EP ab, das ganz andere Interessen als die Mitgliedstaaten verfolgt? Und ist diese Entscheidung über den EP-Machtzuwachs einzigartig oder lassen sich daraus allgemeine Erkenntnisse über politische Entscheidungen gewinnen?

In der Literatur wird diese Institutionenwahl nicht auf die Interessen und Erwartungen der Mitgliedstaaten, sondern auf die normative Bedeutung des EP für die demokratische Legitimation von materiellen EU-Entscheidungen, bis-weilen auch auf die allgemeine Wahrnehmung und erhoffte größere Unterstüt-zung der europäischen Integration durch die Bevölkerungen zurückgeführt (Schmitter 2002, Wagner 2002, Follesdal/Hix 2005, Rittberger 2005). Anlass für diese Einschätzung ist ein Puzzle, das aus der empirischen Beobachtung von EU-Gesetzgebungsprozessen folgt, in denen das EP bei materiellen Entscheidungen über Kommissionsinitiativen eine integrationistische Extremposition einnimmt (König/Pöter 2001, Tsebelis 2002, Thomson et al. 2006). Nimmt das EP eine solche Position gegenüber den Mitgliedstaaten ein und werden ihm Mitwir-kungsrechte eingeräumt, dann dürften die folgenden politischen Entscheidungen für die Mitgliedstaaten ungünstiger, also weiter entfernt von ihren Interessen an der Verteilung von Gütern als bei jenen Entscheidungsverfahren liegen, an denen das EP nicht beteiligt ist. Aufgrund der bei der Institutionenwahl erforderlichen Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten wird daher bezweifelt, dass interessegeleitete Ansätze die Aufwertung des EP erklären können (Rittberger 2005). Haben also die Mitgliedstaaten, die auf Regierungskonferenzen dem EP weitläufige Mitwir-kungsrechte einräumten, gegen ihre eigenen Erwartungen und Interessen über die Verteilung von Gütern entschieden? Und haben womöglich diese Mitgliedstaa-ten Normen geteilt, die eine Vernachlässigung ihrer Interessen und einen Macht-zuwachs des EP begründen?

Angesichts der kulturellen, historischen und gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten dürfte es kein einfaches Unterfangen sein, eine Norm zu finden, die diese Entscheidung zur EP-Aufwertung hinreichend erklärt (vgl. den Beitrag von Abromeit in diesem Band). Zwar haben sich alle Mitglied-staaten den Wertvorstellungen des liberalen Demokratiemodells verschrieben, dennoch fallen nicht nur die jeweiligen Erfahrungen mit dem Parlamentarismus unterschiedlich aus. Auch die Frage, ob und in welchem Ausmaß eine demokra-tische Legitimation auf der Ebene der Europäischen Union oder der National-staaten anzusiedeln ist, hat in der Vergangenheit unter dem Schlagwort „Subsidi-arität“ zu Konflikten geführt. Bei genauerer Betrachtung stellt man außerdem fest, dass die EP-Aufwertung nur selektiv in einzelnen Politikbereichen und schrittweise über die Zeit hinweg stattfindet, so dass womöglich nach einer sek-torspezifischen Norm zu suchen wäre, die an Wertigkeit über die Zeit hinweg gewinnt. Auf der anderen Seite gibt es bislang nur sehr wenige Einsichten über eine interessegeleitete Begründung, die diese freiwillige Institutionenwahl der

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Mitgliedstaaten zu verstehen hilft. Diese Begründung muss im Übrigen nicht im Widerspruch zu normativen Überlegungen stehen. Normative Einstellungen können durchaus mit den Interessen eines Akteurs einhergehen und ist dies nicht der Fall, dann dürfte eher die vergleichende Frage zu stellen sein, in welchem Umfang und mit welcher Signifikanz normative und interessegeleitete Über-legungen das Akteursverhalten schließlich erklären?

Um einen solchen Vergleich zu ermöglichen, möchte ich in diesem Beitrag zwei interessegeleitete Erklärungsansätze für die politische Entscheidung der Mitgliedstaaten vorstellen, die Macht des EP aufzuwerten. Der eine wird allge-mein als Principal-Agent-Ansatz bezeichnet und geht der Frage nach, unter wel-chen Bedingungen ein Agent oder Delegierter von dem (Verhandlungs-)Auftrag seines Principalen abweichen kann (Epstein/O’Halloran 1999; knapp bei Leh-ner/Widmaier 2002: 52-53). Da jeder Mitgliedstaat Agenten als Vertreter zu den Regierungskonferenzverhandlungen entsendet, stellt sich die Frage, unter wel-chen Bedingungen ein Agent in der Lage ist, auf diesen Konferenzen von seinem Mandat abzuweichen und womöglich mit der Zustimmung zur EP-Machtauf-wertung gegen die Interessen seines Prinzipalen verstoßen kann (König/Finke 2005). Haben also die Delegierten andere Vorstellungen über die Verteilung von Gütern, die sie durch eine Aufwertung des EP durchsetzen können? Der zweite Ansatz stellt eine strategische Perspektive für die Aufwertung des EP vor, nach der alle Mitgliedstaaten von der Einführung des Mitentscheidungsverfahrens bei der Verteilung der Güter im Vergleich zum Konsultationsverfahren profitieren. Unterstellten bisherige interessegeleitete Ansätze ehrliches Verhalten der Akteu-re, verzichtet dieser strategische Ansatz auf diese strenge Annahme und zeigt, dass die Kenntnis der parlamentarischen Extremposition für die Mitgliedstaaten von Vorteil bei ihrer Entscheidung über die Verteilung der Güter sein kann.

2 Das Puzzle: Warum beschneiden die Mitgliedstaaten ihre Macht?

In zahlreichen Arbeiten zu materiellen Entscheidungen in der EU-Gesetzgebung – ob Einzelfallstudien, Vergleichende Fallstudien oder quantitative Untersu-chungen – wurde festgestellt, dass das EP eine integrationistische Extremposi-tion gegenüber den Mitgliedstaaten einnimmt (König/Pöter 2001, Selck 2005, Thomson et al. 2006). Vereinfachend lassen sich die aus dieser Situation gewon-nenen Erkenntnisse auf einer Skala veranschaulichen, auf der das Ausmaß an Gütern abgebildet wird, die von der EU zu verteilen sind. Diese Skala reicht von 0 bis 100 und das EP liegt den empirischen Befunden zufolge fast ausschließlich in dem zu 100 tendierenden Extrembereich, in dem lediglich noch die Kommis-sion, aber kein Mitgliedstaat verortet ist. In Schaubild 1 ist diese oftmals beo-

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bachtete Situation dargestellt, wobei in der Illustration vereinfachend davon ausgegangen wird, dass alle Mitgliedstaaten, wenn auch in unterschiedlichem Maße, Güter auf der Ebene der EU verteilen möchten, auf der momentan keine Verteilung von Gütern erfolgt (Status quo liegt ergo bei 0). Mitgliedstaat 1 tritt beispielsweise für ein geringes Ausmaß von 15% ein, Mitgliedstaat 7 präferiert mit 45% einen weitaus höheren Anteil, während das EP mit 70% und die Kom-mission mit 90% integrationistische Extrempositionen verfolgen.

Mit Blick auf die jeweiligen Verfahrensvorgaben und die Positionen der Akteure wird nun die mit einem exklusiven Initiativrecht ausgestattete Kommis-sion (abgekürzt: Cion) überlegen, welchen Vorschlag sie einbringen kann. Dem Schaubild zufolge dürfte die Kommission am unzufriedensten mit dem Erhalt des Status quo sein. Aber welche Bedingungen müssen zu seiner Änderung er-füllt sein? Und mit welchem Ergebnis ist zu rechnen? Obwohl die EU-Gesetz-gebung eine Vielzahl an Verfahrensregeln aufführt, lassen sich zwei wesentliche Merkmale unterscheiden, nämlich zum einen die Frage, nach welchen Kriterien unter den Mitgliedstaaten abgestimmt wird, zum anderen, ob das EP beteiligt ist. Wird beispielsweise Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten verlangt, dann sollte die Kommission beachten, dass Mitgliedstaat 1 kein Veto einlegen wird und deshalb gegenüber dem Status quo zumindest indifferent ist. Geht man ver-einfachend davon aus, dass die Mitgliedstaaten keine ideologische Gewichtung der Distanzen in eine Richtung vornehmen, dann dürfte nach deterministischen Ansätzen der Kommissionsvorschlag unter Einstimmigkeit bei 30% liegen – ein Wert, der Mitgliedstaat 1 mit einem Abstand von 15% gegenüber dem Status quo indifferent machen müsste (Tsebelis/Garrett 2000).

Müssen jedoch nur fünf der sieben Mitgliedstaaten bei qualifizierter Mehr-heit (QMV) zustimmen, dann sollte die Kommission den für die Mehrheitsbil-dung entscheidenden Mitgliedstaat 3 beachten und einen Vorschlag unterbreiten, der diesen indifferent stimmt. An dieser Stelle wurde in der Literatur ausführlich debattiert, wie sich das einstimmige Änderungsrecht der Mitgliedstaaten auf die Indifferenz von Mitgliedstaat 3 auswirkt. Steunenberg (1994) und Crombez (1996) unterstellen, dass Mitgliedstaat 3 nur den Abstand zum Status quo in Rechnung stellt und der Vorschlag folglich bei 70% liegen wird. Jedoch ver-nachlässigt diese Interpretation das im EU-Gesetzgebungsverfahren vorgesehene einstimmige Änderungsrecht der Mitgliedstaaten, demzufolge Mitgliedstaat 3 indifferent gegenüber dem einstimmigen Gegenvorschlag von 30% sein sollte und der Vorschlag deshalb bei 40% verortet sein wird (Tsebelis 1994, 2002).

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Abbildung 1: Ergebnis ohne und mit EP-Beteiligung

M2 M1 SQ M3 M5

M4

M7

M6

EP Cion

M1-M7: Mitgliedstaaten 1-7; EP: Europäisches Parlament; Cion: Kommission; SQ: Status Quo; •: Ergebnis

Ergebnis bei Mitentscheidung*

Ergebnis bei QMV*

Ergebnis bei Einstimmigkeit*

Bei der EP-Beteiligung im Mitentscheidungsverfahren gehen diese deterministi-schen Ansätze davon aus, dass Änderungen zwischen EP und Mitgliedstaat 3 auszuhandeln sind und die Kommission keine Bedeutung für den Ausgang der Verhandlungen hat (Tsebelis 2002, Napel/Widgren 2003). Als Begründung hier-für dient das nur im Mitentscheidungsverfahren einzuschlagende Vermittlungs-verfahren, an dessen Ausschuss EP und Rat in gleicher Weise beteiligt sind und in dessen Verlauf ein gemeinsamer Text ausgehandelt wird. Auch zu diesen Verhandlungen finden sich verschiedene Überlegungen, die manchmal dem EP, manchmal den Mitgliedstaaten einen Verhandlungsvorteil zusprechen (König et al. 2006). Geht man vereinfachend von gleich starken Verhandlungspartnern aus, dann dürfte das durch das Vermittlungsverfahren unter Mitentscheidung zu er-zielende Ergebnis auf halber Strecke zwischen den Möglichkeiten von Mit-gliedstaat 3 und dem EP, also bei 52,5% liegen. Gegenüber dem Konsultations-verfahrensergebnis von 40% würden alle Staaten ihren Abstand zum Ergebnis vergrößern und sich folglich schlechter stellen. Aber warum stimmen dann diese Staaten auf Regierungskonferenzen der Einführung des Mitentscheidungsverfah-rens zu?

Obwohl die Erfassung dieser Positionen und vor allem die Bemessung von Abständen zum Status quo große methodische Schwierigkeiten mit sich bringen, wird dieses Puzzle zum Anlass genommen, interessegeleitete Theorien zu ver-werfen und alternative Ansätze als Erklärung für die Institutionenwahl der Mit-

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gliedstaaten aufzuführen. Besonders normative Überlegungen genießen zurzeit eine große Popularität in der Literatur und es wird vermutet, dass die sich ver-mutlich schlechter stellenden Mitgliedstaaten nicht ihren Interessen, sondern ihren Wertvorstellungen bei der Entscheidung über die EP-Aufwertung folgen (Schimmelfennig 2003, Rittberger 2005). Andere Ansätze vermuten einen Tausch oder Seitenzahlungen, wenn beispielsweise die Entscheidung über die Anzahl an Kommissaren oder die Stimmengewichte im Rat mit der Einführung des Mitentscheidungsverfahrens verbunden würde oder die sich schlechter stel-lenden Mitgliedstaaten beispielsweise über die Einrichtung von Fonds einen Ausgleich für ihre Zustimmung zugesichert bekämen. Allen diesen Ansätze dürfte gemein sein, dass sie höhere Annahmen an die Auflösung des Puzzles stellen als die interessegeleiteten Theorien. Eine Tauschlösung setzt beispiels-weise zusätzlich voraus, dass eine Ausgleichsoption besteht und zumindest die Staaten mehr Stimmengewichte im Rat bekommen, die durch die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens besonders benachteiligt werden.

Noch schwieriger als die Überprüfung von Tausch- und Seitenzahlungs-optionen dürfte eine hinreichende Erklärung für den schrittweisen und politik-feldspezifischen EP-Machtzuwachs mit normativen Ansätzen sein. Falls allge-meine Normen der Mitgliedstaaten wie beispielsweise ihre parlamentarische Tradition diesen Machtzuwachs begründen, dann stellt sich die Frage, warum dieser selektiv in ausgewählten Politikbereichen und schrittweise über die Zeit hinweg stattfindet? Und warum sollen ausgerechnet Normen Umverteilungen ermöglichen, von denen womöglich einzelne Mitgliedstaaten mehr als andere profitieren? Voraussetzung hierfür und damit zu überprüfen würde wohl sein, dass entweder eine allseits anerkannte Ungerechtigkeit in der Verteilung der Güter besteht und ausgerechnet die Profiteure durch die Einführung des Mitent-scheidungsverfahrens etwas abgeben müssten. Oder die Beteiligung des EP müsste einen allgemeinen Zugewinn beispielsweise in der Unterstützung durch die Bevölkerungen in Aussicht stellen, die sich jedoch in unterschiedlichem Ausmaß in den Mitgliedstaaten niederschlagen dürfte. Auch hier schließen sich wiederum Fragen nach Tausch- und Seitenzahlungsoptionen an, die es in einem ersten Schritt festzustellen und in einem zweiten Schritt noch zu überprüfen gilt. Einen etwas anderen Einblick in die Auflösung des Puzzles bieten m.E. Princi-pal-Agent- und strategische Ansätze, die auch den wissenschaftstheoretischen Vorteil besitzen, weniger strenge Annahmen über das Akteursverhalten für die Auflösung des Puzzles aufstellen zu müssen.

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3 Principal-Agent im Europäischen Mehrebenensystem

Mehrebenensysteme wie das der Europäischen Union werfen die grundsätzlichen Fragen auf, wer der Prinzipal und wer der Agent ist, und inwieweit die Interessen des Prinzipalen vom Agenten vertreten werden (vgl. Widmaier 2005, insbes. 377-378). Geht man von der Bevölkerung als dem eigentlichen Prinzipalen aus, dann wählen die Bürger auf der ersten Stufe parlamentarische Repräsentanten zu ihren Agenten, die anschließend aus ihrer Mitte eine Regierung mit ihrer Interes-senvertretung betrauen. Bei Regierungskonferenzen entsenden diese Regierun-gen wiederum Agenten zum Verhandeln der Regierungsinteressen, und trotz der theoretischen Option würden wohl nur Optimisten unterstellen, dass eine Verzer-rung in der Interessenvertretung auf der ersten Stufe auf den weiteren Stufen ausgeglichen wird. Inwieweit die Interessen des eigentlichen Prinzipalen zum Ausdruck kommen, dürfte vielmehr von seinen Kontrollmöglichkeiten abhängen. Wenn jedoch der Prinzipal ein Informationsdefizit über das Agentenhandeln hat, dann stellen sich zwei grundsätzliche Kontrollprobleme ein: Zum einen ist der Prinzipal nicht in der Lage, ein aufrichtiges Verhalten des Agenten zu gewähr-leisten, und zweitens kann der falsche Agent ausgewählt werden (Rasmussen 1989: 133). Im schlimmsten Fall könnten im EU-Mehrebenensystem die Interes-sen des Bürgers als dem eigentlichen Prinzipalen auf jeder Ebene in eine Rich-tung verzerrt werden, da weder die Kontrolle des Agenten gelingt noch der rich-tige Agent bestimmt wurde.

Als wichtige Kontrollinstrumente für Agentenverhalten bei Regierungskon-ferenzen haben sich neuerdings Referenden bewährt, die seit dem Vertrag von Maastricht (1993) immer wieder für Aufsehen gesorgt und die Verhandler ver-pflichtet haben, die Interessen der Bürger stärker zu berücksichtigen (Kö-nig/Finke 2005). Allerdings können Referenden auch zum Scheitern eines Ver-handlungsergebnisses beitragen: Je schlechter die Agenten, die zu den Ver-handlungen auf die Regierungskonferenzen entsendet wurden, über die Präferen-zen der Bürger informiert sind, desto wahrscheinlicher tritt mit der Ablehnung per Volksentscheid eine „ungewollte Defektion“ ein (Iida 1996). Andere Kon-trollinstrumente beruhen auf der Informationsbeschaffung per Expertise wie auch der Dezentralisierung von Entscheidungen – Instrumente, die in der EU mit den zahlreichen Expertengremien und auch der Verankerung des Subsidiaritätsprin-zips vertraglich zum Ausdruck kommen.

Dennoch dürften im Mehrebenensystem der EU Delegationsverluste kaum zu vermeiden sein. Die meisten mitgliedstaatlichen Regierungen beruhen näm-lich auf Koalitionen und es stellt sich oftmals die Frage, welcher Koalitionsagent bei den Regierungskonferenzverhandlungen auftreten soll (König/Hug 2006). Ähnliche Fragen stellen sich mit Blick auf das Ressortprinzip, denn es könnte für

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die Artikulation von Interessen einer Regierung ausschlaggebend sein, ob bei-spielsweise ein Vertreter des Auswärtigen Amtes oder des Wirtschaftsministeri-ums über Themen verhandelt, die über die Verteilung von Gütern entscheiden. Als weitere Störfaktoren werden bisweilen persönliche Interessen und Einstel-lungen eines Agenten verantwortlich gemacht, die vor allem dann zum Zuge kommen können, wenn das Verhandlungsmandat nicht klar vorgegeben ist bzw. der Agent exklusive Informationen über die Verhandlungssituation besitzt. Ge-rade Letzteres dürfte in Regierungskonferenzverhandlungen ein nicht zu unter-schätzendes Problem darstellen, denn die Delegationen übermitteln in geheimen Verhandlungen nicht nur die Interessen ihrer Auftraggeber, sondern melden auch exklusiv die Verhandlungspositionen der anderen Teilnehmer. In solchen Situa-tionen dürfte es dem auftraggebenden Prinzipalen nur schwer gelingen, den A-genten zu kontrollieren bzw. ihm den Ausgang einer Entscheidung zuzurechnen.

Abbildung 2: Ergebnisbereich unter Berücksichtigung von Principal-Agent

M1-M7: Mitgliedstaaten 1-7; EP: Europäisches Parlament; Cion: Kommision; SQ: Status Quo

SQ M1 M3M4 M5

M7

M6EP Cion M2

In Abbildung 2 ist eine solche Principal-Agent-Situation wiederum vereinfacht dargestellt. Anstelle einheitliche Akteure mit eindeutigen Präferenzen anzuneh-men, wird unterstellt, dass Mitgliedstaat 3 eine kleine Unsicherheit verursacht und sein Agent vermutlich Interessen in einem Spektrum von 30 bis 40% ver-folgt. Ein ähnliches, jedoch etwas geringeres Kontrollproblem haben die Mit-gliedstaaten 4, 5 und 6, deren Delegierte sich auf einen integrationsfreundliche-ren Wert von 41% geeinigt haben. Aufgrund dieser geringfügigen Abweichun-gen könnten sich schon die Erwartungen an die Resultate ändern, denn die Unsi-

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cherheit, die durch den entscheidenden Mitgliedstaat 3 verursacht wird, macht ein Verhandlungsergebnis mit dem EP im Mitentscheidungsverfahren in einem Wertebereich zwischen 30 und 50% wahrscheinlich. Ohne eine weitere An-nahme treffen zu müssen, ja sogar unter Aufgabe der Annahme einheitlicher Akteure, ließe sich die Zustimmung der Mitgliedstaaten zum Mitentscheidungs-verfahren probabilistisch erklären: Ohne die im Puzzle dargestellte Ausgangssi-tuation wesentlich verändert zu haben, kann sich je nach Einschätzung der wahr-scheinlichen Haltung von Mitgliedstaat 3 jeder Mitgliedstaat Hoffnungen ma-chen, durch die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens gegenüber dem Konsultationsverfahren keine Einbußen hinnehmen zu müssen bzw. sich sogar besser zu stellen.

4 Strategische Interaktion: Informationsvorsprung im Vermittlungsverfahren

Im Vergleich zum Principal-Agent-Ansatz, der für die Erklärung des Ausbaus von EP-Rechten die Berücksichtigung von Interessen weiterer Akteure empfiehlt und einem probabilistischen Konzept folgt, geben strategische Ansätze die stren-ge Annahme über „ehrliches“ Akteursverhalten auf und erhöhen auch normativ die Wahrscheinlichkeit für eine effizientere Abbildung der Akteursinteressen. Ganz allgemein wird unter ehrlichen Interessen das Festhalten an einer Idealposi-tion verstanden, auch wenn diese Position überstimmt wird und das Einnehmen der Zweit- oder Drittpräferenz eine Verbesserung gegenüber einem Ergebnis verspricht, das unter Abgabe von ehrlichen Präferenzen erzielt wird. Die meisten bisherigen interessegeleiteten Ansätze zur Erklärung von politischen EU-Entscheidungen unterstellen ehrliches Verhalten von Akteuren, die über die Präferenzen der anderen und die Struktur des Verfahrens vollständig informiert sind. Zweifel an diesen Annahmen sind schon angesichts der Länge der Ver-handlungsdauer angebracht und es stellt sich die Frage, warum die Mitgliedstaa-ten keine Anreize zu strategischem Verhalten haben sollen, wenn beispielsweise abzusehen ist, dass ihre ehrliche Position überstimmt wird? Und könnte viel-leicht strategisches Verhalten einen Beitrag zur Erklärung des EP-Machtzuwachs leisten?

Strategisches Verhalten ist besonders in Situationen wahrscheinlich, in de-nen eine begrenzte Sequenz an Entscheidungen bekannt ist. Wird beispielsweise in einer Sequenz von zwei Schritten zuerst über den Erhalt des Status quo oder die Annahme eines Vorschlags entschieden und anschließend über den Gewinner dieser Wahl gegen einen weiteren Gegenvorschlag, dann hängt die Erstwahl eines strategisch vorausschauenden Akteurs von der Antizipation des Ausgangs

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der Wahl über den Gegenvorschlag ab. Aus diesem Grund besitzt strategisches Verhalten auch den normativen Vorteil, die willkürliche Macht eines Agenda-Setzers zu begrenzen, der beispielsweise über die Anordnung der Sequenz ent-scheiden und dadurch das Ergebnis manipulieren kann (Shepsle/Weingast 1984: 58). Diese Erkenntnis steht wohl im Widerspruch zur negativen sprachlichen Konnotation des Strategiebegriffs, weshalb im Englischen bisweilen zwischen „sincere“ und „sophisticated voting“ unterschieden wird, was sich ins Deutsche mit „einfaches“ und „intelligentes Wählen“ übersetzen ließe.

Abbildung 3: Ergebnisbereich unter Berücksichtigung strategischer Interaktion

M1-M7: Mitgliedstaaten 1-7; EP: Europäisches Parlament; Cion: Kommission; SQ: Status Quo; •: Ergebnis

SQ M1 M2 M3M4

M5M6

M7 EP Cion

Wichtige Voraussetzungen für eine erfolgversprechende Strategie sind der Besitz und die Verteilung von Informationen über die Positionen und Strategien der anderen Verhandlungsteilnehmer. Im Grunde genommen lassen sich das Durch-führen und die Dauer von Verhandlungen mit dem Versuch erklären, Informa-tionen über die Positionen und Strategien der anderen zu erhalten, die eine Opti-mierung der eigenen Verhandlungsstrategien versprechen. Ist beispielsweise nur einem Akteur bekannt, wo der Status quo bzw. der Referenzpunkt im Fall einer Nichtentscheidung liegt, dann könnte dieser Akteur einen Vorteil aus der glaub-würdigen Vermittlung eines Drohpunktes für den Fall der Nichteinigung ziehen. Genauso zeigen die Arbeiten zum Paradox der Schwäche, dass Regierungen, deren Hände in Verhandlungen aufgrund von hohen Ratifikationserfordernissen gebunden sind, sich oftmals besser durchsetzen können als Regierungen, die keine weiteren Hürden zu überwinden haben. Im günstigen Fall können diese so

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genannten schwachen Staaten Zugeständnisse für die Überwindung ihrer hohen nationalen Restriktionen erhalten (Schelling 1960, Putnam 1988, Hug/König 2002).

Im Fall des Mitentscheidungsverfahrens dürfte ein entscheidender Informa-tionsvorsprung bei den Mitgliedstaaten liegen, die einerseits die integrationisti-sche Extremposition des EP kennen, andererseits selbst auf eine große und ihnen bekannte Varianz von mitgliedstaatlichen Positionen verweisen können (König et al. 2006). Ohne eine Änderung der Positionsanordnung vorzunehmen, zeigt Schaubild 3 die strategischen Möglichkeiten der Mitgliedstaaten auf. Während den Mitgliedstaaten die EP-Position von 70% bekannt ist, können die Parlamen-tarier nicht genau feststellen, ob Mitgliedstaat 2 oder 3 der entscheidende Akteur ist, der im Mitentscheidungsverfahren indifferent zu stellen ist. Entscheidet sich der Rat beispielsweise für die Einbringung einer Verhandlungsposition von 30%, dann könnte ein Verhandlungsergebnis im Bereich von 30 bis 50% erzielt wer-den, das allen Mitgliedstaaten eine Verbesserung verspricht. Analog zum Princi-pal-Agent-Ansatz ließe sich mit diesem strategischen Ansatz die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens gegenüber dem Konsultationsverfahren erklären. Von zusätzlichem legitimatorischen Vorteil dürfte nicht nur sein, dass die Macht des Agenda-Setzers eingeschränkt wird. Hinzu käme vielmehr, dass die Mehrheit der Mitgliedstaaten im Rat sogar reklamieren kann, der Minderheit mit der Ein-bringung der weniger integrationistischen strategischen Position entgegenge-kommen zu sein.

5 Principal-Agent, strategisches Verhalten und der homo politicus

Die Ausführungen zum Machtzuwachs des EP haben gezeigt, dass sowohl der Principal-Agent-Ansatz wie auch Ansätze über strategisches Verhalten plausibel die Wahl einer Institution erklären können, die auf den ersten Blick wie ein Puzzle erscheint. Dabei schließen sich beide Ansätze nicht aus. Ganz im Gegen-teil, die Kontrollprobleme des Prinzipalen können bisweilen die asymmetrische Informationslage zugunsten der Mitgliedstaaten erklären und analog zum Para-dox der Schwäche darauf hinweisen, dass eine unvollständige Kontrolle der Agenten in anschließenden Verhandlungen sogar von Vorteil für die Interessen-realisierung bei der Verteilung von Gütern sein kann. Beide Ansätze berücksich-tigen Unsicherheit, die als ein realistischer Bestandteil von Verhandlungen ein-zustufen ist. Oder anders ausgedrückt, hätten die Akteure vollständige Informa-tionen, dann wären Verhandlungen wohl überflüssig und man könnte unmittelbar eine politische Entscheidung treffen.

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Für die Wahrscheinlichkeit von strategischem Verhalten dürfte die Bedeutung von Informationen und ihrer Beschaffung in der EU-Gesetzgebung ausschlag-gebend sein. Anhand der langen Vorbereitung von Kommissionsinitiativen, die nicht selten in Weiß- und Grünbüchern einer intensiven Vorbereitungsphase mit zahlreichen Koordinationsrunden im Ausschusswesen der Kommission unterzo-gen werden, wird bereits der große Informationsbedarf bei politischen Entschei-dungen der EU deutlich. Gleichzeitig gestalten sich die Verhandlungen im Rat, die auf mehreren internen Ebenen die Vorbereitung durch Arbeitsgruppen, die Koordination durch den Ausschuss der Ständigen Vertreter und die endgültige Entscheidung durch die Minister vorsehen, detailliert und langwierig. Erste em-pirische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Länge der EU-Verhandlungen von der Verteilung der mitgliedstaatlichen Präferenzen und den Verfahrensvor-gaben bestimmt wird: Je weiter die Präferenzen der Mitgliedstaaten auseinander liegen und je höher die institutionellen Hürden, desto langwieriger gestaltet sich der Prozess (Schulz/König 2000, König 2006).

Aus den Erläuterungen zur EP-Machtaufwertung lassen sich m.E. einige spezielle und allgemeine Schlussfolgerungen ziehen. Zum einen ist es möglich, den Machtzuwachs des EP mit interessegeleiteten Theorien zu erklären, die von deterministischen Modellen abweichen und sparsamere Erklärungen bereitstel-len. Empirisch dürfte jedoch der Beweis für strategisches Verhalten nicht einfach zu erbringen sein, denn eine vorausschauende Kommission wird ihre Initiative den Restriktionen des Verfahrens anpassen und die Strategien in ihrem Entwurf zu berücksichtigen versuchen. Normalerweise reicht deshalb schon eine glaub-würdige Drohung aus, ein Verhandlungsergebnis zu beeinflussen, ohne die not-wendigen Sanktionen ergreifen zu müssen. Zum anderen macht die Auflösung des vieldiskutierten Puzzles deutlich, dass mehrere Erklärungen für das Zustan-dekommen einer politischen Entscheidung möglich sind und nicht „entweder“ Interessen „oder“ Normen ausschlaggebend sein müssen. Jedenfalls schließen weder Principal-Agent- noch strategische Ansätze aus, dass die Interessen der Akteure auch normativ begründet sind bzw. normative Skalenerträge an demo-kratischer Legitimität, die durch die EP-Mitwirkung an den politischen Ent-scheidungen der EU bei den Bevölkerungen erzielt werden können, die Zustim-mung der Mitgliedstaaten zum EP-Machtzuwachs beeinflusst haben.

Vielleicht führen diese Überlegungen auch zu mehr wissenschaftlicher Zu-rückhaltung, denn es wurde deutlich, dass angesichts der disziplinären Vielfalt größte Vorsicht geboten ist, wenn eine Theorie in vereinfachter Form aufgeführt und so zu einer Art Strohmann aufgebaut wird, mit deren vermeintlichem Schei-tern die Erklärungskraft der eigenen politikwissenschaftlichen Überlegungen behauptet wird. Ein Puzzle liefert noch keinen Beweis für das Scheitern einer Theorie; die Sparsamkeit von Theorien, die sich über die Strenge ihrer Annah-

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men definiert, ist ein guter Ratgeber zur vergleichenden Beurteilung ihrer Erklä-rungskraft. Wünschenswert wäre, wenn die Politikwissenschaft als kleine und mit wenigen Ressourcen ausgestattete Disziplin zukünftig auf paradigmatische Kontroversen verzichten könnte, die sich letztlich als wenig fruchtbar, bisweilen sogar als ideologische Auseinandersetzungen entlarven. Solche Auseinander-setzungen haben weder für das Verständnis von politischen Entscheidungen noch die Begründung einer Theorie zum homo politicus einen relevanten Beitrag leis-ten können.

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Kollektive und individuelle Interessenvermittlung 75

Kollektive und individuelle Interessenvermittlung großer Unternehmen im europäischen Mehrebenensystem Kollektive und individuelle Interessenvermittlung Diana Schumann

1 Einleitung

Die Interessenvermittlung großer Unternehmen veranschaulicht in besonderer Weise das Spannungsverhältnis zwischen Einzelinteressen und kollektivem Han-deln in modernen Demokratien. Differenzierte Verbandsysteme in den unter-schiedlichen Politikfeldern führen deutlich vor Augen, dass die kollektive Ver-tretung gemeinsamer Interessen für die Unternehmen längst zum politischen Alltag gehört. Auch die direkte Vertretung ihrer Einzelinteressen gegenüber politischen und administrativen Akteuren stellt bereits eine traditionsreiche Form der Interessenvermittlung von Unternehmen dar. Im Unterschied zu kollektiven Strategien steht die Möglichkeit der individuellen Interessenvermittlung aber nicht allen Unternehmen gleichermaßen offen. Ergebnisse politikwissenschaftli-cher Forschung haben vielmehr verdeutlicht, dass die Betriebsgröße und die damit einhergehenden Ressourcen ausschlaggebend für die Fähigkeit von Unter-nehmen sind, ihre Interessen nicht nur kollektiv über Verbände, sondern auch „individuell“ gegenüber staatlichen Akteuren vertreten zu können. Zudem stellt die Betriebsgröße einen entscheidenden Faktor dafür dar, dass Unternehmen ihre Einzelinteressen nicht nur auf der nationalen und/oder subnationalen Ebene, sondern auch auf der europäischen Ebene direkt verfolgen sowie mehrere Strate-gien auf unterschiedlichen Ebenen simultan nutzen können. Große Unternehmen können daher ihre Interessen im europäischen Mehrebenensystem auch außer-halb von Verbänden erfolgversprechend vertreten, während kleine und mittlere Unternehmen aufgrund ihrer begrenzten Ressourcen vorwiegend auf kollektive Formen der Interessenvermittlung angewiesen sind (vgl. z.B. Coen 1997; Ben-nett 1999).

Dieser Befund stellt den Ausgangspunkt dar, um im vorliegenden Beitrag der Frage nachzugehen, auf welche Weise kollektive und individuelle Formen der Interessenvermittlung großer Unternehmen in der europäischen Politik durch ihre kollektiven und individuellen Repräsentationsmuster in der nationalen Poli-tik geprägt werden. Anlass für die Untersuchung dieser Fragestellung war die

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76 Diana Schumann

empirische Beobachtung unterschiedlicher Strategien der Interessenvertretung1

großer Unternehmen im europäischen Elektrizitätssektor im Rahmen des For-schungsprojekts „Politikfeldübergreifende Koppelgeschäfte zwischen EU-Kommission und großen Unternehmen: Interessenstrukturen, Entwicklung, Le-gitimität“.2 Dieses Projekt wurde vom 01.01.2000 bis zum 31.12.2003 am Lehr-stuhl Politikwissenschaft/Vergleichende Regierungslehre und Politikfeldanalyse der Fakultät für Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum durchge-führt und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) als Teilprojekt des Schwerpunktprogramms „Regieren in Europa“ gefördert.3

Anknüpfend an die Forschungsergebnisse dieses Projekts wurde in der Stu-die „Interessenvermittlung im europäischen Mehrebenensystem. Strategien gro-ßer Elektrizitätsunternehmen im Vergleich“ (Schumann 2005) untersucht, auf welche Weise die institutionellen Einflüsse des europäischen Mehrebenensys-tems auf die Interessenvermittlung von Unternehmen einwirken. Am Beispiel der Strategien großer Elektrizitätsunternehmen aus Frankreich und Deutschland wurde aufgezeigt, dass die Akteure die Optionen, die ihnen das europäische Mehrebenensystem bietet, aufgrund ihrer Einbindung in den nationalen instituti-onellen Kontext unterschiedlich nutzen. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wird zu Beginn des vorliegenden Beitrags veranschaulicht, wie die kollektive und die individuelle Interessenvermittlung großer Elektrizitätsunternehmen in Frankreich und Deutschland ausgestaltet sind. Daran anschließend wird verdeut-licht, auf welche Weise diese nationalen Repräsentationsmuster die kollektive und die individuelle Interessenvermittlung der Unternehmen in der europäischen Elektrizitätspolitik prägen.4 Abschließend wird im Fazit erörtert, welche Aus-wirkungen auf die nationalen Repräsentationsmuster mit der Interessenvermitt-lung großer Unternehmen auf der europäischen Ebene verbunden sein können.

2 Kollektive und individuelle Interessenvermittlung großer Elektrizitäts-unternehmen in Frankreich und Deutschland

Die Ausgestaltung der Interessenvermittlung von Unternehmen wird auf der nationalen Ebene durch zwei zentrale Institutionen geprägt: das politisch-admi-

1 Die Begriffe „Interessenvermittlung“ und „Interessenvertretung“ werden im Folgenden syn-

onym verwendet. 2 Zu Einzelheiten des Projekts siehe http://www.ruhr-uni-bochum.de/pw2/ 3 Details zur Fragestellung des Programms sowie zu den geförderten Einzelprojekten enthält:

http://www.mzes.uni-mannheim.de/projekte/reg_europ/dfg.htm. 4 Die Bedeutung der institutionellen Einflüsse der Europäischen Union für die Herausbildung

spezifisch europäischer Interessenvermittlungsstrategien großer Unternehmen ist ausführlich in Schumann/Bandelow/Widmaier 2005 und Schumann 2005 dargelegt.

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Kollektive und individuelle Interessenvermittlung 77

nistrative System und das sektorielle Regime. Die grundlegenden Elemente des politisch-administrativen Systems (staatliches Organisationsprinzip, Regierungs-system, Parteiensystem) strukturieren die Zugangschancen und Zugangskanäle der Unternehmen zur nationalen Politik, indem sie sich auf die Kompetenzver-teilung zwischen den unterschiedlichen politisch-administrativen Ebenen aus-wirken, das Selbstverständnis der Ministerialverwaltung prägen und mit einer spezifischen Ausgestaltung des politischen Entscheidungsprozesses einhergehen. Der zentralisierte Staatsaufbau und das semi-präsidentielle Regierungssystem in Frankreich im Vergleich zum föderalen Staatsaufbau und parlamentarischen Regierungssystem in Deutschland verdeutlichen bereits grundlegende Unter-schiede der beiden politisch-administrativen Systeme (vgl. Schumann 2005: 80 ff.).

Zusammen mit den sektoriellen Faktoren führen unterschiedliche politisch-administrative Systeme zu spezifischen Ausprägungen eines sektoriellen Re-gimes (vgl. Streeck/Schmitter 1985; Hollingsworth/Lindberg 1985; Lind-berg/Campbell 1991). Die verschiedenartige Ausgestaltung der sektoriellen Re-gime der Elektrizitätsversorgung in Frankreich und Deutschland wird bereits an den Eigentumsstrukturen der großen Elektrizitätsunternehmen sowie an ihrer Anzahl offensichtlich.

In Frankreich existiert mit der Electricité de France (EDF) nur ein einziges großes Elektrizitätsunternehmen. Es wurde am 8. April 1946 durch das Gesetz zur Verstaatlichung der Elektrizitäts- und Gasversorgung als Unternehmen der öffentlichen Hand mit industriellem und kommerziellem Charakter gegründet und war fast 60 Jahre lang zu 100 Prozent in Staatsbesitz. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Grundversorgung am 24. Oktober 2005 erfolgte eine Änderung der Rechtsform der EDF vom öffentlichen Unternehmen zur Aktiengesellschaft (AG), die mit einer Kapitalöffnung bis maximal 30 Prozent einher ging. Die verbleibenden 70 Prozent sind weiterhin im Besitz des Staates, der seine regula-tive Kontrolle über das Unternehmen, wie zuvor, vor allem über den Aufsichtsrat und über Verträge, in denen die öffentlichen Aufgaben und Grundversorgungs-pflichten der EDF festgelegt sind, ausübt (vgl. Schumann 2005: 113 ff.).

In Deutschland sind mit der E.ON AG, der RWE AG, der Vattenfall Europe AG und der EnBW AG vier große privatwirtschaftliche Verbundunternehmen tätig, die seit der (vorzeitigen) Umsetzung der ersten europäischen Elektrizitäts-binnenmarktrichtlinie5 in deutsches Recht sowohl untereinander als auch mit anderen Unternehmen konkurrieren. Die politische Steuerung des Sektors erfolgt traditionell durch die Kombination von staatlichen Regulierungselementen und der Selbstregulierung der wirtschaftlichen Akteure (vgl. Schumann 2005: 117 5 Richtlinie 96/92/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 19. Dezember 1996

betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt.

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78 Diana Schumann

ff.). Auf welche Weise sich die unterschiedlichen sektoriellen Regime und die verschiedenen politisch-administrativen Systeme in Frankreich und Deutschland auf die kollektive und die individuelle Interessenvermittlung der großen Elektri-zitätsunternehmen auswirken, wird im Folgenden verdeutlicht.

2.1 Kollektive Interessenvermittlung großer Elektrizitätsunternehmen in Frankreich und Deutschland

Die Ausgestaltung der kollektiven Interessenvermittlung der EDF in Frankreich unterscheidet sich grundlegend von der kollektiven Interessenvermittlung der vier großen Elektrizitätsunternehmen in Deutschland. Der zentrale Unterschied liegt darin, dass die EDF als einziges großes französisches Elektrizitätsunter-nehmen, das auch nach der Liberalisierung der europäischen Elektrizitätsmärkte eine Monopolstellung in der heimischen Stromerzeugung, -übertragung und –verteilung inne hat, kaum darauf angewiesen ist, sich mit den anderen französi-schen Elektrizitätsunternehmen hinsichtlich der Definition und Vertretung ge-meinsamer Interessen abzustimmen. Das wird daran offensichtlich, dass es in Frankreich jahrzehntelang keinen nationalen Branchenverband der Elektrizitäts-wirtschaft gab. Erst mit dem Gesetz vom 10. Februar 2000 zur Modernisierung und zur Entwicklung des öffentlichen Dienstes in der Elektrizitätswirtschaft wurde die Gründung der Union Française de l’Electricité (UFE) initiiert (Schu-mann 2005: 130). Seither ist die EDF nicht nur (obligatorisches) Mitglied der UFE, sondern nimmt auch einen hohen Stellenwert bei der personellen und fi-nanziellen Ausstattung des Verbandes ein (Schumann 2005: 131 ff.).6

Für die Interessenvermittlung der EDF spielt die UFE jedoch kaum eine Rolle, da das Unternehmen im Vergleich zum Verband über deutlich bessere Zugänge zu den staatlichen Akteuren verfügt. Als ehemaliges öffentliches Un-ternehmen weist sie nicht nur langjährige, privilegierte Beziehungen zu den zentralen Entscheidungsträgern der französischen Elektrizitätspolitik auf, son-dern ist auch personell eng mit ihnen verflochten (vgl. Kapitel 2.2). Im Unterschied zu der von der EDF dominierten Elektrizitätswirtschaft in Frank-reich existiert in Deutschland eine dezentrale und pluralistisch strukturierte E-lektrizitätswirtschaft mit etwa 900 Unternehmen, deren Interessenvermittlung sich in einem differenzierten Verbandsystem abbildet (vgl. Abbildung 1).7 Die kommunale Versorgungswirtschaft organisiert sich im Verband kommunaler

6 Der dominante Rolle der EDF in der UFE hat u.a. zur Folge, dass sie von anderen Akteuren der

nationalen und europäischen Elektrizitätspolitik kaum als eigenständiger Verband wahrge-nommen wird.

7 Zur Entstehung dieser Verbände vgl. Schumann 2005: 140 ff.

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Unternehmen (VKU). Die Regionalversorger und die vier großen Verbundunter-nehmen sind im Verband der Verbundunternehmen und Regionalen Energiever-sorger in Deutschland (VRE) zusammengeschlossen und die Übertragungsnetz-betreiber8 sind Mitglied im Verband der Netzbetreiber e.V. beim VDEW (VDN). Zudem sind die Elektrizitätsunternehmen, die in einem dieser subsektoriellen Verbände organisiert sind, üblicherweise auch Mitglied im Verband der Elektri-zitätswirtschaft (VDEW). Hingegen sind die Strom- und Gasunternehmen, die als „Newcomer“ auf dem deutschen Energiemarkt tätig und zur Versorgung ihrer Kunden überwiegend auf die Netze Dritter angewiesen sind, Mitglied im Bun-desverband Neuer Energieanbieter (bne).

Abbildung 1: Das Verbandssystem der deutschen Elektrizitätswirtschaft

Quelle: Schumann 2005: 143

Im Unterschied zu Frankreich handelt es sich daher bei der Elektrizitätswirt-schaft in Deutschland mit ihren drei subsektoriellen Verbänden, dem Spitzenver-band VDEW und dem Verband der neuen Energieanbieter um einen hoch orga-nisierten Sektor. Bei der Vermittlung ihrer Interessen sind die einzelnen Unter-nehmensgruppen, mit Ausnahme der neuen Energieanbieter, prinzipiell um eine möglichst sektorumfassende Repräsentation durch den VDEW bemüht. Aller-

8 Bei den Übertragungsnetzbetreibern handelt es sich um Unternehmen, die im Zuge der Libera-

lisierung aus den Verbundunternehmen ausgegründet wurden (vgl. Schumann 2005: 137).

VKUVDNVRE

BNEVDEW

Übertragungs-netzbetreiber

Verbund-unternehmen;

Regional-versorger

KommunaleVersorger

Neue Energie-anbieter

Mitgliedschaft

Fachverband

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80 Diana Schumann

dings gehen die subsektoriellen Verbände zur eigenständigen Vertretung ihrer Anliegen über, wenn die Unternehmensgruppen divergierende Interessen aufwei-sen. Die großen deutschen Elektrizitätsunternehmen nutzen daher in der natio-nalen Politik differenzierte Möglichkeiten der kollektiven Interessenvermittlung, während die EDF bei der Vertretung ihrer Interessen auf der nationalen Ebene kaum auf kollektive Formen zurückgreift.

2.2 Individuelle Interessenvermittlung großer Elektrizitätsunternehmen in Frankreich und Deutschland

Auch die individuelle Interessenvermittlung der EDF und der großen deutschen Elektrizitätsunternehmen in der nationalen Politik fällt grundlegend unterschied-lich aus. Das wird vor allem an den Beziehungen der Unternehmen zur Ministe-rialverwaltung offensichtlich, bei der es sich, neben der Regierung und dem Parlament, um einen der wichtigsten Adressaten für die Interessenvermittlung privater Akteure handelt. Die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den Unternehmen und den administrativen Akteuren wird vor allem durch die Kom-petenzverteilung zwischen den politisch-administrativen Ebenen geprägt.9 Sie bestimmt die Aufteilung der Zuständigkeiten in der Energiepolitik und legt fest, an welchen Stellen des politisch-administrativen Systems die Rahmenbedingun-gen für die Elektrizitätswirtschaft entwickelt, entschieden und umgesetzt wer-den.10

In Frankreich ist die energiepolitische Zuständigkeit auf der Zentralebene konzentriert. Sie liegt traditionell beim Ministerium für Wirtschaft, Finanzen und Industrie (MINEFI). Weitere energiepolitische Regulierungskompetenzen außer-halb des MINEFI liegen beim Ministerium für Umwelt und nachhaltige Ent-wicklung (Ministère de l'Ecologie et du Développement durable) und bei der Re-gulierungsbehörde für Energie (CRE). Das Umweltministerium ist mit der Ent-wicklung und Umsetzung von Programmen und Maßnahmen in den Bereichen des Umweltschutzes betraut, die durch die Energieerzeugung berührt werden. Die federführende Zuständigkeit in diesen Bereichen liegen jedoch beim MINE-FI, auf dessen Ressourcen die Umweltministerin in der Ausübung ihrer Kompe-tenzen zurückgreifen kann.

9 Darüber hinaus ist auch das Selbstverständnis der Ministerialverwaltung für die Interessenver-

mittlung der Unternehmen bedeutsam. Da jedoch im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes dar-auf nicht näher eingegangen werden kann, wird an dieser Stelle auf die ausführlichen Erläute-rungen in Schumann 2005: 102 ff. verwiesen.

10 Eine ausführliche Erläuterung der energiepolitischen Zuständigkeiten in Frankreich und Deutschland enthält Schumann 2005: 94 ff.

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Die CRE nimmt als Regulierungsbehörde für Energie eine Reihe regulativer Aufgaben wahr, die darauf ausgerichtet sind, für eine ordnungsgemäße Funk-tionsweise des Strom- und Gasmarktes zu sorgen (vgl. Schumann 2005: 116 ff.). Sie arbeitet nicht nur mit dem MINEFI und der EDF eng zusammen, sondern ist vor allem auch durch personelle Verflechtungen mit ihnen verbunden (Schu-mann 2005: 105). Aufgrund dieser Verflechtungen und aufgrund ihres gemein-samen Ausbildungs- und Rekrutierungshintergrunds verfügen die Akteure des MINEFI, der CRE und der EDF über ein gemeinsames Steuerungsverständnis (vgl. Schumann 2005: 105).

Die Gebietskörperschaften besitzen bei der Implementation und Kontrolle energiepolitischer Regeln und Vorschriften keine nennenswerten Kompetenzen (vgl. bspw. Finon 1996: 31). Seit den Dezentralisierungsgesetzen von 1982 kön-nen die lokalen Behörden ihren Einfluss lediglich bei der Aushandlung von Kon-zessionsverträgen, die die Stromverteilung betreffen, sowie beim Ausbau der Stromleitungen geltend machen (Poppe/Cauret 1997: 219 ff.). Die politische Steuerung des französischen Elektrizitätssektors wird somit vorrangig auf der Zentralebene von Akteuren des MINEFI und der CRE ausgeübt, die in ihrer Steuerungsfähigkeit horizontal kaum durch assoziierte Ministerien und vertikal kaum durch nachgeordnete territoriale Einheiten eingeschränkt werden.

In Deutschland sind die energiepolitischen Kompetenzen nicht nur hori-zontal stärker segmentiert, sondern auch vertikal stärker aufgeteilt als in Frank-reich. Ebenso wie in Frankreich liegt die federführende Zuständigkeit für die Energiepolitik traditionell beim Wirtschaftsministerium, d.h. im Zuschnitt der Ministerien der gegenwärtigen Legislaturperiode beim Bundesministerium für Wirtschaft und Industrie (BMWI). Weitere energiepolitische Steuerungskompe-tenzen auf der Bundesebene liegen im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS), im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) und im Bundeskartellamt.

Zentrale Aufgaben des Bundeskartellamts, die es zusammen mit den Lan-deskartellbehörden wahrnimmt, sind der Schutz des Wettbewerbs und der Schutz von Bietern bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Das BMVBS ist u.a. für Grundsatzfragen der Energieversorgung für konkrete Hochbaumaßnahmen zu-ständig, während das BMU, ebenso wie in Frankreich, generell zuständig ist für die Programme und Maßnahmen in den Bereichen des Umweltschutzes, die durch die Energieerzeugung berührt werden. Im Vergleich zu seinem französi-schen Pendant verfügt das BMU jedoch über weitaus umfassendere Steuerungs-kompetenzen. Es ist traditionell für die Atomaufsicht zuständig, hatte die Feder-führung für die Umsetzung der europäischen Emissionshandelsrichtlinie in nati-onales Recht inne und ist seit der Legislaturperiode 2002 federführend für den Ausbau erneuerbarer Energien zuständig. Diese Aufteilung der energiepoliti-

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82 Diana Schumann

schen Kompetenzen zwischen dem BMWI und dem BMU führt immer wieder zu heftigen Kontroversen zwischen den Beteiligten, die ein unterschiedliches Ver-ständnis der bundespolitischen Akteure im Hinblick auf die vorrangigen Ziele der Energiepolitik und den Modus der politischen Steuerung des Elektrizitäts-sektors widerspiegeln (Schumann 2005: 98 ff.).

Neben den Bundesministerien und den Kartellämtern nehmen zudem die deutschen Bundesländer wichtige Aufgaben in der politischen Steuerung des Elektrizitätssektors wahr. Zum einen sind sie über den Bundesrat an der Bundes-gesetzgebung beteiligt, zum anderen ist die Implementation der energiepoliti-schen Gesetzgebung grundsätzlich Länderaufgabe. In der Energiepolitik wird diese Aufgabe traditionell von den Länderwirtschaftsministerien übernommen, die sowohl als atomrechtliche Genehmigungs- und Aufsichtsbehörde tätig sind als auch die Energieaufsicht ausüben. Ferner sind auch auf der Länderebene die Umweltministerien in die Implementation energiepolitischer Programme einbe-zogen, wobei jedoch die federführende Verantwortlichkeit im Regelfall in den Energieabteilungen der Länderwirtschaftsministerien liegt.

Die zentralisierte Kompetenzverteilung zwischen den politisch-administra-tiven Ebenen in der französischen Energiepolitik hat zur Folge, dass sich die individuelle Interessenvermittlung der EDF auf die Zentralebene konzentriert. Zwar weist das Unternehmen auch Beziehungen zu den Gebietskörperschaften auf, da es mit ihnen Konzessionsverträge aushandeln sowie den Ausbau seines Netzes genehmigen lassen muss (Schumann 2005: 101). Die entscheidenden strategischen Fragen der Energiepolitik sowie der Steuerung des französischen Sektors werden jedoch von der EDF mit dem MINEFI und der CRE ausgehan-delt. Für die EDF bieten sich daher nur wenige Zugangsmöglichkeiten zum poli-tischen Entscheidungsprozess. Allerdings verfügen die entsprechenden administ-rativen Akteure, zu denen sie Zugang hat, über umfangreiche Kompetenzen und teilen mit der EDF ein gemeinsames Steuerungsverständnis.

In Deutschland hingegen lässt die horizontal segmentierte und vertikal de-zentralisierte Kompetenzverteilung in der Energiepolitik für die großen Elektri-zitätsunternehmen sowohl auf der Bundes- als auch auf der Länderebene eine Reihe unterschiedlicher Zugangsmöglichkeiten entstehen. Die jeweils zuständi-gen Akteure verfügen jedoch im Regelfall nur über einen begrenzten Grad an Entscheidungsautonomie und weisen ein Steuerungsverständnis auf, das sich sowohl horizontal zwischen den Bundesministerien, vertikal zwischen der Bun-desregierung und den Landesregierungen als auch von dem jeweiligen Steue-rungsverständnis der großen Elektrizitätsunternehmen unterscheiden kann (Schumann 2005: 109 ff.). Die großen Unternehmen müssen daher ihre unter-schiedlichen Zugänge zum politisch-administrativen System weitgehend simul-

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tan nutzen, um ihre individuellen Interessen in die energiepolitischen Vorhaben einzubringen.

Die individuelle Interessenvermittlungen der großen Elektrizitätsunterneh-men in Frankreich und Deutschland sind daher, ebenso wie die kollektiven Stra-tegien, grundsätzlich unterschiedlich ausgestaltet. Auf welche Weise diese natio-nalen Repräsentationsmuster die kollektive und individuelle Interessenvermitt-lung der Unternehmen in der europäischen Elektrizitätspolitik prägen, wird im Folgenden erläutert.

3 Kollektive und individuelle Interessenvermittlung großer Elektrizitäts-unternehmen in der europäischen Elektrizitätspolitik

Im vorherigen Kapitel wurde verdeutlicht, dass große Elektrizitätsunternehmen versuchen, ihre wirtschaftlichen Belange individuell und kollektiv gegenüber nationalen politischen und administrativen Entscheidungsträgern zur Geltung zu bringen. Die politischen Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln werden jedoch nicht mehr nur durch die nationale Gesetzgebung, sondern auch in hohem Maß durch die europäische Politik bestimmt. Die großen Elektrizitäts-unternehmen, die frühzeitig auf die Gestaltung politischer Rahmenbedingungen Einfluss nehmen möchten, können sich daher nicht mehr nur auf die nationale oder subnationale Ebene beschränken, sondern müssen vor allem auch versu-chen, ihre Interessen gegenüber den europäischen Institutionen zur Geltung zu bringen. Hierzu stehen ihnen im Allgemeinen zwei grundlegende Formen der Interessenvermittlung zur Verfügung (vgl. Schumann/Widmaier 2003: 265): 1. die Repräsentation ihrer kollektiver Interessen über die nationalen und/oder eu-ropäischen Branchenverbände und 2. die direkte Vermittlung ihrer individuellen Interessen gegenüber den europäischen Institutionen. Von der EDF und den großen deutschen Elektrizitätsunternehmen werden beide Optionen auf unter-schiedliche Weise genutzt.11 Dies wird nachstehend verdeutlicht.

11 Darüber hinaus nutzen sowohl die Unternehmen als auch die Verbände bereits traditionell die

Möglichkeit, ihre Anliegen über die nationalen öffentlichen Akteure in die europäische Politik einzubringen. Auch bei dieser Strategie lassen sich länderspezifische Unterschiede feststellen (Schumann 2005: 214 ff.).

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3.1 Kollektive Interessenvermittlung großer Elektrizitätsunternehmen in der europäischen Elektrizitätspolitik

Der Einfluss der unterschiedlichen nationalen Repräsentationsmuster auf die Interessenvermittlung der EDF und der großen deutschen Elektrizitätsunterneh-men in der europäischen Elektrizitätspolitik wird bei der Repräsentation ihrer Interessen über die nationalen Branchenverbände offenkundig. Wie oben veran-schaulicht wurde, erfolgt die kollektive Interessenvermittlung der deutschen Elektrizitätsunternehmen auf der nationalen Ebene durch ein differenziertes Verbandssystem, während die Gründung der UFE als nationaler Branchenver-band in der französischen Elektrizitätswirtschaft erst im Jahr 2000 initiiert wur-de. Dementsprechend konnte die EDF jahrzehntelang bei der Repräsentation ihrer Interessen nicht auf einen nationalen Verband zurückgreifen. Sie war je-doch auch nicht darauf angewiesen, da sie durch die schwache nationale Konkur-renz auf der europäischen Ebene als Repräsentantin des gesamten französischen Sektors auftreten konnte. Auch die Gründung der UFE hat nicht dazu geführt, dass die EDF seither ihre Interessen gegenüber den europäischen Institutionen über den nationalen Branchenverband vertritt. Abgesehen davon, dass die Positi-onen der UFE in der europäischen Elektrizitätspolitik aufgrund der personellen und finanziellen Dominanz der EDF in dem Verband weitgehend deckungsgleich mit denen des ehemaligen öffentlichen Unternehmens sind, ist er bislang kaum auf die europäische Politik ausgerichtet. Er verfügt daher weder über eine Reprä-sentanz in Brüssel noch über direkte Kontakte zur Europäischen Kommission oder zu anderen europäischen Institutionen (Schumann 2005: 217). Informatio-nen über europäische Vorhaben erhält der UFE von der EDF oder von dem euro-päischen Branchenverband der Elektrizitätswirtschaft EURELECTRIC, in dem er aber erst seit dem Jahr 2005 als Repräsentant der französischen Elektrizitäts-wirtschaft an die Stelle der EDF getreten ist.

Die Vermittlung ihrer Interessen in der europäischen Elektrizitätspolitik ü-ber einen nationalen Branchenverband stellt daher für die EDF bis heute keine Option dar. Die großen Elektrizitätsunternehmen aus Deutschland vertreten hin-gegen ihre Interessen auch auf der europäischen Ebene sowohl über den natio-nalen Spitzenverband VDEW als auch über die jeweiligen subsektoriellen Ver-bände. Zur Vermittlung von Unternehmensinteressen können die Verbände, ähnlich wie die großen Elektrizitätsunternehmen, zwei grundlegende Zugangs-möglichkeiten zur europäischen Politik nutzen: 1. die Repräsentation der kollek-tiven Brancheninteressen über die europäischen Verbände und 2. die direkte Vermittlung der „individuellen“ subsektoriellen oder nationalen Brancheninter-essen gegenüber den europäischen Institutionen.

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Kollektive und individuelle Interessenvermittlung 85

Bei der Vermittlung der kollektiven Brancheninteressen über europäische Ver-bände nutzt der VDEW vor allem die EURELECTRIC. Dort ist er als einziges Mitglied der deutschen Elektrizitätswirtschaft vertreten und hat damit das Reprä-sentationsmonopol inne. Der VKU ist hingegen Mitglied des Europäischen Zent-ralverbands der öffentlichen Wirtschaft (CEEP) und nutzt ihn aktiv zur Vermitt-lung der Anliegen der kommunalen Energieversorger gegenüber den europäi-schen Institutionen. Dies steht u.a. auch damit in Zusammenhang, dass der VDEW aus Sicht der kommunalen Elektrizitätsunternehmen vorrangig die Inte-ressen der großen Mitglieder vertritt, so dass sich die kommunalen Versorger im VDEW und somit auch im EURELECTRIC nicht gut vertreten fühlen (Schu-mann 2005: 220). Dementsprechend nutzt VDEW den CEEP, obwohl er dort auch Mitglied ist, eher nicht für eine aktive Interessenvertretung auf der europäi-schen Ebene, da die Positionen des VDEW und des CEEP weitgehend im Wider-spruch zueinander stehen (Schumann 2005: 220).

Zur Vermittlung der „individuellen“ subsektoriellen oder nationalen Bran-cheninteressen haben sowohl der VDEW als auch der VKU, ebenso wie die großen Elektrizitätsunternehmen (s.u.), eigene Repräsentanzen in Brüssel einge-richtet. Sie dienen vor allem dem Aufbau und der Pflege von Kontakten zu den europäischen Institutionen, zur Aufbereitung und Bewertung politischer Ent-wicklungen auf der europäischen Ebene sowie zur frühzeitigen Information der Mitgliedsunternehmen über relevante Vorhaben der europäischen Institutionen. Zudem arbeiten die Verbandsvertreter vor Ort häufig in den Arbeitsgruppen der Euroverbände mit und nehmen an Konsultationsverfahren der Europäischen Kommission teil.

Die unterschiedliche Repräsentation der großen deutschen Elektrizitäts-unternehmen und der EDF über nationale Verbände bedingte bisher auch eine unterschiedliche Repräsentation der Unternehmen über die europäischen Ver-bände. Während die großen deutschen Elektrizitätsunternehmen seit der Grün-dung der EURELECTRIC über den VDEW repräsentiert werden, wurde die französische Elektrizitätswirtschaft jahrzehntelang durch die EDF vertreten. Die EDF konnte daher ihre Anliegen in der EURELECTRIC direkt vertreten und nutzte die Interessenvermittlung über den europäischen Verband immer dann als Option, wenn sie sich davon versprach, dass ihre Anliegen über den Verband transportiert werden können (Schumann 2005: 223). Inwieweit sich die Bedeu-tung der EURELECTRIC für die Interessenvermittlung der EDF in der europäi-schen Politik jedoch dadurch verändert hat, dass ihre Direktmitgliedschaft im Jahr 2005 durch die Mitgliedschaft der UFE ersetzt wurde, ist bisher noch nicht untersucht worden.12

12 Neben der EURELECTRIC sind mit der ETSO und der UCTE noch zwei weitere europäische

Branchenverbände für die kollektive Interessenvermittlung der großen Elektrizitätsunterneh-

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Trotz der Bedeutung der Verbände für ihre Interessenvermittlung vertreten aber sowohl die großen deutschen Elektrizitätsunternehmen als auch die EDF ihre Interessen direkt gegenüber den europäischen Institutionen, wenn ihre Positionen entweder von denen anderer Akteure der Elektrizitätswirtschaft abweichen oder wenn sie unternehmensspezifische Interessen aufweisen, die nicht durch die sektoriellen Verbände vertreten werden können. Auf welche Weise sie ihre Inte-ressen direkt gegenüber den europäischen Institutionen zur Geltung bringen, wird nachstehend erläutert.

3.2 Individuelle Interessenvermittlung großer Elektrizitätsunternehmen in der europäischen Elektrizitätspolitik

Um ihre individuellen Interessen direkt gegenüber den europäischen Institutio-nen vorbringen zu können, haben die EDF, die RWE AG und die E.ON AG Repräsentanzen in Brüssel eingerichtet, die als Vermittler zwischen den europäi-schen Institutionen und den Unternehmen tätig sind. Ähnlich wie die Verbin-dungsbüros der Verbände informieren sie die relevanten Akteure in den Nieder-lassungen der Unternehmen und bereiten Stellungnahmen und Strategien vor, die eine möglichst effiziente Wahrnehmung der Unternehmensinteressen sichern sollen (Schumann 2005: 222). Trotz des Vorteils der Nähe zu den europäischen Institutionen hat die EnBW AG jedoch bisher bewusst auf ein eigenes Büro in Brüssel verzichtet, da sie bislang keinen Nutzen darin sieht, „jemanden dauerhaft hinzuschicken, der dort Kontakte pflegt“ (Schumann 2005: 224) Auch die Vat-tenfall Europe AG ist bislang noch nicht mit einer Repräsentanz in Brüssel ver-treten.

Die individuellen Interessenvermittlungsstrategien der EDF und der großen deutschen Elektrizitätsunternehmen richten sich ebenso wie bei den deutschen und europäischen Verbänden vorrangig auf die Europäische Kommission. Die zentralen Kommissionsakteure in der europäischen Elektrizitätspolitik sind die Generaldirektionen (GD) Energie und Verkehr (TREN) und Wettbewerb (Schu-mann/Bandelow/Widmaier 2005: 243). Mit der GD TREN stehen die Unterneh-men im Hinblick auf die von ihr betreuten Handlungsbereiche der europäischen Elektrizitätspolitik in ständigem Kontakt. Mit der GD Wettbewerb nehmen sie hingegen eher fallweise in Hinblick auf unternehmensspezifische Anliegen, die in die Bereiche der Kartellkontrolle, Fusionskontrolle, Missbrauchsaufsicht oder Kontrolle staatlicher Beihilfen fallen, Kontakt auf. In diesem Kontext treten die Unternehmen entweder als Antragsteller oder als Beschwerdeführer auf oder

men in der europäischen Elektrizitätspolitik relevant. Ihre Funktionen und Organisationsstruk-turen sind ausführlich in Schumann 2005: 220 ff. erläutert.

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sind Objekt eines Kontrollverfahrens durch die europäische Wettbewerbs-behörde.

Trotz dieser Gemeinsamkeiten weist die individuelle Interessenvermittlung der EDF und der großen deutschen Elektrizitätsunternehmen gegenüber den europäischen Institutionen im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Un-ternehmensakteuren und denjeweiligen nationalen Kommissionsbeamten länder-spezifische Unterschiede auf (vgl. Schumann/Widmaier 2003: 265). Entspre-chend der Beziehungen zwischen den öffentlichen Akteuren und den Unterneh-men auf der nationalen Ebene weist die EDF zum einen enge Beziehungen zu den französischen Kommissionsbeamten, insbesondere in den Kabinetten, auf und ist zum anderen mit ihnen über personelle Austauschprozesse verbunden. Hingegen verfügen die deutschen Elektrizitätsunternehmen weder über privile-gierte Beziehungen zu den deutschen Kommissionsbeamten noch sind sie über personelle Austauschprozesse mit der Europäischen Kommission verbunden.

Darüber hinaus zeigen sich länderspezifische Variationen der individuellen Interessenvermittlung der Unternehmen vor allem bei der Bildung von Interes-senkoalitionen in der europäischen Politik. So greift die EDF vorrangig auf ihre Interessenkoalition mit der französischen Regierung zurück, um nationale ener-giepolitische Regelungen, die ihre dominante Position in der französischen E-lektrizitätswirtschaft sichern, auf der europäischen Ebene zu verteidigen. Auch die großen deutschen Elektrizitätsunternehmen bilden bei gleichgerichteten In-teressen Koalitionen mit der Bundesregierung, um nationale energiepolitische Regelungen, die ihre Marktposition sichern, auf der europäischen Ebene zu ver-teidigen. Sie versuchen jedoch ebenso, Koalitionspartner zu finden, um sich auf der europäischen Ebene für energiepolitische Regelungen einzusetzen, die ihren ökonomischen Interessen eher entgegenkommen als bereits bestehende nationale Vorschriften.13

Große Elektrizitätsunternehmen aus Deutschland können somit in der euro-päischen Elektrizitätspolitik aufgrund der nationalen institutionellen Arrange-ments sowohl intergouvernementale Strategien (vgl. Héritier et al. 1994) der Interessenvermittlung verfolgen als auch das europäischen Mehrebenensystem im Sinne eines „two-level game“ (vgl. Putnam 1988) nutzen. Die EDF ist hinge-gen aufgrund der nationalen institutionellen Arrangements bei der Bildung von Interessenkoalitionen auf der europäischen Ebene stark eingeschränkt. Sowohl ihre zentrale Bedeutung für die politische Steuerung des französischen Elektri-zitätssektors als auch ihre enge personelle Verflechtung mit den staatlichen Ak-teuren, mit denen sie ein gemeinsames Steuerungsverständnis teilt, bedingt, dass

13 Dieses unterschiedliche Vorgehen der Unternehmen bei der Bildung von Interessenkoalitionen

wurde in Schumann 2005 mit empirischen Beispielen aus dem Handlungsbereich der Realisie-rung und Vollendung des Energiebinnenmarktes belegt.

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die EDF in der europäischen Elektrizitätspolitik hauptsächlich intergouverne-mentale Interessenvermittlungsstrategien verfolgt. Dabei verfügt die EDF als Einzelakteur im Vergleich zu den großen deutschen Elektrizitätsunternehmen über einen strategischen Vorteil: Aufgrund ihrer Nähe zu den staatlichen Akteu-ren und ihrer dominanten Position auf dem französischen Strommarkt ist sie nicht nur in der Lage, die französischen Interessen in der europäischen Elektri-zitätspolitik in hohem Ausmaß zu definieren. Vielmehr kann sie auch einen Wandel der nationalen Positionen, die von der französischen Regierung in den europäischen Verhandlungsprozessen vertreten werden, hervorrufen, wenn dies ihren ökonomischen Interessen eher entgegenkommt (vgl. Schumann 2005: 235 ff). Indes ist eine intergouvernementale Strategie für die großen deutschen Elek-trizitätsunternehmen nur bei ähnlich gelagerten Interessen der politischen Ak-teure praktizierbar. In diesen Fällen geben sie ihr den Vorzug gegenüber anderen Formen der Interessenvermittlung, da sie ihrem Anliegen im europäischen Ver-handlungsprozess mehr Gewicht verleiht. Bei divergierenden Interessen versu-chen große deutsche Elektrizitätsunternehmen jedoch Koalitionen mit Akteuren zu bilden, die gleichgerichtete Interessen verfolgen, um über den europäischen Weg, ihre Anliegen gegen bestehende nationale Regelungen durchzusetzen.14

4 Fazit

Die vorliegenden Ergebnisse verdeutlichen, dass die kollektive und die individu-elle Interessenvermittlung großer Unternehmen in der europäischen Politik durch ihre nationalen Repräsentationsmuster geprägt werden. Umgekehrt kann die Interessenvermittlung der Unternehmen in der europäischen Politik aber auch mit bedeutsamen Auswirkungen auf die nationalen Repräsentationsmuster ver-bunden sein. So können intergouvernementale Strategien der Interessenvermitt-lung die Position der großen Unternehmen gegenüber den nationalen staatlichen und sektoriellen Akteuren stärken, die nicht an den Interessenkoalitionen auf der europäischen Ebene beteiligt sind. Zudem können sie die Position der großen Unternehmen gegenüber den staatlichen Akteuren verbessern, die nicht direkt in die europäischen Aushandlungsprozesse eingebunden sind. Intergouvernemen-tale Strategien auf der europäischen Ebene können daher Asymmetrien der Inter-essendurchsetzung verstärken und die ohnehin schon starke Position großer Un-ternehmen in der nationalen Politikgestaltung ausweiten.

14 Bisher waren die „two-level-game“-Strategien der deutschen Unternehmen jedoch wenig

erfolgreich, da sie am Agieren zentraler Vetospieler und an der Bildung von „Gegenkoalitio-nen“ auf der nationalen bzw. auf der europäischen Ebene gescheitert sind (vgl. Schumann 2005: 258 ff.)

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Darüber hinaus können Interessenkoalitionen zwischen großen Unternehmen und zentralen staatlichen Akteuren auf der europäischen Ebene auch die Rolle natio-naler Branchenverbände unterminieren. Beispielsweise kommt dem französi-schen Branchenverband UFE im Unterschied zur EDF in den europäischen Aus-handlungsprozessen bislang kaum Bedeutung zu. In Deutschland schwächt die Interessenkoalition zwischen den großen Unternehmen und staatlichen Akteuren auf der europäischen Ebene die Position des VDEW vor allem in den Fällen, in denen sich die deutschen Elektrizitätswirtschaft in unterschiedliche Lager spaltet. Zum einen wird die Interessenaggregation des Spitzenverbands in solchen Situa-tion ohnehin schon blockiert, zum anderen höhlt die Koalition der großen Unter-nehmen mit zentralen staatlichen Akteuren den Branchenkonsens, der bei diver-gierenden Interessen der Mitgliedsunternehmen nur auf der Grundlage von Mi-nimalpositionen erzielt werden kann, zusätzlich aus. Die Handlungsfähigkeit nationaler Branchenverbände kann daher durch intergouvernmentale Strategien der großen Unternehmen deutlich eingeschränkt werden.

Darüber hinaus können die großen Unternehmen ihre Handlungsfähigkeit im europäischen Mehrebenensystem nicht nur durch intergouvernementale, son-dern auch durch Strategien des „two-level-game“ erweitern. Auch wenn Interes-senkoalitionen großer deutscher Elektrizitätsunternehmen gegen das Strom-einspeisungs-, Erneuerbare Energien- und Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz schei-terten (vgl. Schumann 2005: 225 ff.), verdeutlicht bspw. der Fall Almelo15, bei dem niederländische Regionalverteiler das Importmonopol der heimischen Über-tragungsgesellschaft SEP über die Nutzung der Rechtsordnung der EG aus-hebelten, dass der europäische Weg durchaus erfolgreich genutzt werden kann, um gegen nationale Regelungen zu steuern. Damit eröffnen sich vor allem für die Europäischen Kommission bedeutsame Optionen, durch Interessenkoalitio-nen mit großen Unternehmen außerhalb formeller Entscheidungsprozesse gegen nationale Politikansätze zu steuern und somit parlamentarisch verantwortliche Politik zu unterminieren. Dadurch könnte sie den Integrationsstand ohne expli-zite Ermächtigung durch die Mitgliedstaaten und über die Interessen nationaler Akteure hinweg in Bereichen erhöhen, die nicht in den politischen Entschei-dungsprozessen behandelt wurden oder zu denen die staatlichen Akteure ihre Zustimmung verweigert haben.16

15 Vgl. Le Nestour/Zinow 1995. 16 Vgl. dazu ausführlich Schumann/Bandelow/Widmaier 2005.

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Héritier, Adrienne/Mingers, Susanne/Knill, Christoph/Becka, Martina, 1994: Die Verän-derung von Staatlichkeit in Europa. Ein regulativer Wettbewerb: Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Opladen.

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Der nordamerikanische „Softwood Lumber War“: Unterschiedliche Interessenvermittlung durch Parteien und Verbände in USA und Kanada Der nordamerikanische „Softwood Lumber War“ Wilhelm Bleek

1 Vorbemerkung

Die USA und Kanada eignen sich ideal für einen Vergleich der Auswirkungen von Parlamentarismus und Präsidentialismus. Beide Staaten ähneln sich in viel-facher Weise. In politischer Hinsicht handelt es sich gleichermaßen um entwi-ckelte föderale Demokratien mit einer engen Anbindung an die europäische demokratische Tradition und Politik. In sozioökonomischer Sicht sind beide Flächenstaaten, durch einen fortgeschrittenen Industralisierungsgrad und eine andauernde Einwanderung multikulturell geprägt. Vor dem Hintergrund dieser Ähnlichkeiten lassen sich im Rahmen einer Differenzmethode (Mill 1843) die Auswirkungen des zentralen Unterschieds beider politischen Systeme auf die jeweilige Politik analysieren.

Der zentrale Unterschied zwischen den beiden nordamerikanischen Staaten besteht darin, dass die USA nahezu idealtypisch den Präsidentialismus verkör-pern, während Kanada einen vom Westminster Modell geprägten Parlamenta-rismus aufweist (vgl. Lehner/Widmaier 2002, insbes. 16/17). Parlamentarismus und Präsidentialismus unterscheiden sich vor allem im Hinblick auf die damit verbundenen Systeme der intermediären Interessenvermittlung: Parlamentarische Regierungssysteme basieren auf dem Prinzip der Parteienkonkurrenz, während in präsidentiellen Regierungssystemen Parteien eine untergeordnete Rolle spielen, die Institutionenkonkurrenz ausschlaggebend ist (Lehner/Widmaier 2002, bes. 115). Damit verbunden divergieren auch die Funktionen und Strukturen der Interessenverbände.

In der Vergleichenden Regierungslehre dominiert bisher die Fragestellung, wie sich die jeweiligen Regierungssysteme auf die Innenpolitik auswirken. Der vorliegende Beitrag erweitert diese Perspektive, indem nach den Auswirkungen auf das zwischenstaatliche Verhältnis gefragt wird. Am Beispiel des Bauholz-krieges zwischen den USA und Kanada sollen nicht nur die unterschiedlichen Interessenvermittlungsstrukturen in den beiden nordamerikanischen Staaten herausgearbeitet, sondern auch deren Beitrag zu den zwischenstaatlichen Feind-bildern aufgezeigt werden. Durch den Vergleich der amerikanischen und kanadi-schen Strukturen der gesellschaftlich-politischen Interessensartikulation werden

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die in der modernen Vergleichenden Regierungslehre zentralen Perspektiven des historischen Institutionalismus und des Rational-Choice Institutionalismus ver-bunden. Damit folgt der Beitrag der Perspektive eines historisch fundierten In-stitutionenvergleichs (vgl. Lehner/Widmaier 2002, insbes. 67).

2 Der Dauerstreit um „Softwood Lumber“1

Zwischen den USA und Kanada schwelt seit Jahrzehnten ein „Softwood Lumber War“, der immer wieder zu offenen Auseinandersetzungen entflammt. In diesem Handelskrieg geht es um Abgaben und Einfuhrzölle auf Bauholz.

„Softwood Lumber“ ist weiches und damit nicht nur leicht zu verarbeiten-des, sondern auch flexibles Holz aus Fichten-, Tannen- und Zederwäldern, das mit seinen „two by fours“2 für die nordamerikanische Bauindustrie aufgrund der dominierenden Fachwerkbauweise eine zentrale Rolle spielt. Es wächst in den USA vor allem in den Pazifikstaaten Washington, Oregon und Kalifornien, aber auch im Südosten wie in Alabama und Georgia, in Kanada insbesondere in der Pazifikprovinz British Columbia und in geringerem Umfang in Ontario und Que-bec sowie den Atlantikprovinzen. Bauexperten meinen, dass das kanadische Bauholz von besserer Qualität sei, weil es aufgrund der geographisch-klimati-schen Voraussetzungen langsamer wächst und damit eine größere Dichte auf-weise. Unbestritten ist ein anderer Strukturunterschied zwischen den Holzindust-rien der beiden nordamerikanischen Bruderstaaten: Während in den USA die nutzbaren Wälder weitgehend in Privatbesitz sind, steht das kanadische Nutzholz überwiegend, und das gilt insbesondere für den primären Produzenten British Columbia, auf „Crown land“, d.h. auf Gelände, das der Provinz gehört. Dieser Gegensatz hat entscheidende Konsequenzen für die Vermarktung des Bauholzes und ist die eigentliche Ursache des „Weichholzkrieges“: Während in den Verei-nigten Staaten die Waldbesitzer die Bäume an die Sägewerke zur Weiterverar-beitung versteigern, erheben in Kanada die Provinzen eine Gebühr, mit der das Recht zum Abholzen und Verarbeiten von Baumstämmen aus staatlichen Wäl-dern abgegolten wird.

1 Die Informationen zu diesem Abschnitt entstammen vor allem zahlreichen nordamerikanischen

Webseiten, insbesondere der Zeitungen „Globe and Mail“ (Toronto) und „New York Times“ sowie der Fernsehsender CBC und CTV. Hingegen sind die Mitteilungen der im Weichholz-krieg involvierten politischen Akteure und insbesondere der Interessensgruppen (siehe unten) wegen ihres Bias in diesem Abschnitt nur mit Vorsicht berücksichtigt worden.

2 Vierkanthölzer in den Maßen 2x4 inches, d.h. ca. 5x10 cm.

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Diese so genannte „stumpage fee“ ist der harte Kern des Weichholzkrieges.3 Die Interessensgegensätze zwischen den amerikanischen und kanadischen Holzpro-duzenten gehen weit ins 19. Jahrhundert zurück, schon in den 1820er Jahren hätten sie fast zu einem Krieg um die Grenze zwischen dem US-Staat Maine und der britischen Kolonie New Brunswick geführt (vgl. Lower 1938). Sie ver-schärften sich mit dem Beginn der 1980er Jahre, als die amerikanischen Holz-produzenten ihren Klagen darüber, dass diese kanadische Gebühr – im Vergleich zu ihren eigenen Auktionspreisen – zu niedrig sei und damit eine unangemessene Subvention, wenn nicht den Versuch eines Dumpings, darstelle, Taten folgen ließen. Erstmals im Jahr 1982 beantragte die amerikanische Holzindustrie, kana-dische Holzimporte mit einem Ausgleichszoll (countervailung duty) zu belegen. Wurde dieser Antrag zunächst abgelehnt, so gab ihm vier Jahre später das ameri-kanische Handelsdepartment (Department of Commerce) statt und entschied auf einen Zollsatz von 15 % auf kanadische Weichholzimporte. Die verschreckte kanadische Seite fand sich daraufhin zu einem „Memorandum of Understanding“ für die nächsten fünf Jahre bereit, wonach Kanada selbst diesen Prozentsatz als Zusatzsteuer erheben – und damit die entsprechenden Einkünfte behalten – wür-de. Als dieser Kompromiss 1991 auslief, war Kanada nicht zu seiner Fortsetzung bereit, weil es meinte, dass der Rechtstatbestand einer unzulässigen Subvention nicht mehr erfüllt werde. In den nächsten Jahren wurde der Krieg mit juristischen Mitteln fortgesetzt. Schließlich erreichten die beiden Staaten im Jahr 1996 ein neues „Softwood Lumber Agreement“, demzufolge der kanadische Export von abgabefreiem Bauholz auf einem mittleren Niveau eingefroren wurde. Als dieses Abkommen im üblichen Turnus auslief, konnte man sich wiederum nicht eini-gen. Auf Antrag der amerikanischen Holzindustrie verfügte das US-Handels-ministerium im Jahr 2002 nicht nur mit Verweis auf unberechtigte Subventionen einen Zoll von 18,79 Prozent auf kanadische Weichholzeinfuhren, sondern noch zusätzliche 8,43 Prozent, die als Strafzoll für Dumping-Praktiken deklariert wur-den, d.h. es wurde behauptet, dass die Kanadier dieses Produkt auf dem ameri-kanischen Markt unter ihren Produktionskosten verschleudern würden. Insge-samt also haben seit diesem Jahr – und das gilt bis heute – die kanadischen Bau-holzexporteure trotz des allgemeinen Prinzips einer nordamerikanischen Frei-handelszone einen Zoll von 27,22 Prozent an der Grenze zu den USA zu entrich-ten.

3 Der nachfolgende historische Abriss des Konfliktes beruht vor allem auf der detailreichen

Ausarbeitung von T. M. Aspey und J. C. Thomas 1997 und dem daran anknüpfenden Überblick in www.wikipedia.org/wiki/softwood_US_-_Canada_softwood_lumber_dispute. Die Anfänge der gegenwärtigen Phase des nordamerikanischen Bauholzkrieges hat analysiert: David Leyton-Brown.

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Diese scheinbar unendliche Geschichte des Wechsels von Phasen einseitig ver-fügter Ausgleichszölle und solchen des Kompromisses, von Kampfeszeiten und Waffenstillständen, wurde noch verwickelter durch die Anrufung von Han-delsgerichten und Schlichtungsgremien durch die beiden Seiten, insbesondere durch Kanada. Der amerikanisch-kanadische Holzkrieg landete nicht nur vor Gremien der Welthandelsorganisation, sondern beschäftigte vor allem die Insti-tutionen der 1989 zunächst von den USA und Kanada gegründeten nordamerika-nischen Freihandelsorganisation (NAFTA), der sich fünf Jahre später auch Me-xiko anschloss. Die Schiedsgerichte, weitgehend paritätisch zusammengesetzt, entschieden mehrfach, dass die Einfuhrzölle von den USA entweder aufgrund falscher Berechnungen zu hoch angesetzt worden waren und daher zu reduzieren seien, bzw. dass der Tatbestand der Subventionierung auf kanadischer Seite nicht vorliege – so die letzte einstimmige Entscheidung eines NAFTA-Panels vom 17. März 2006. Doch bisher hat die amerikanische Seite diese an sich bindenden Entscheidungen nicht akzeptiert, sondern ist immer wieder in die Berufung ge-gangen und hat vor allem Verhandlungen gefordert.

Es geht bei diesem nordamerikanischen Kampf um Bauholz keineswegs um „peanuts“. Der Ex- und Import zwischen den USA und Kanada stellt mit einem jährlichen Wert (2005) von 502 Milliarden US-Dollar das größte zwischenstaat-liche Handelsvolumen in aller Welt dar: Die Vereinigten Staaten führen aus Kanada Güter im Werte von 290 Milliarden US-Dollar ein und damit vier Fünf-tel des kanadischen Gesamtexports, aus den USA kommen mit Gütern im Wert von 211 Milliarden Dollar drei Viertel der kanadischen Importe (vgl. U.S. Cen-sus Bureau). Bauholz (softwood lumber) macht dabei trotz der erwähnten Be-lastungen mit einem Wert von 7, 4 Milliarden jährlich (2005) einen nicht unbe-deutenden Anteil des kanadischen Gesamtexports in die Vereinigten von Ame-rika aus. In der kanadischen Holzindustrie sind 280 000 Arbeiter beschäftigt und es wird geschätzt, dass aufgrund der „Soft Lumber Wars“ weitere 15 000 Wald-arbeiter arbeitslos geworden sind, vorwiegend in ländlichen Gegenden British Columbias, wo kaum andere Arbeit zu finden ist. Auf der anderen Seite beklagt die amerikanische Holzindustrie, dass durch den unfairen Wettbewerb der Kana-dier in den USA zahlreiche kleinere Waldbesitzer in den Bankrott getrieben worden seien und Sägewerke schließen mussten. Ohne Zweifel spielen bei den unterschiedlichen Positionen der beiden Staaten auch arbeitsmarktpolitische Rücksichten und Sorgen eine erhebliche Rolle. Aber es geht auch schlicht ums Geld, nicht nur der Unternehmen auf beiden Seiten der Grenze, sondern auch der Staaten: Die USA haben in den letzten fünf Jahren durch die Abgaben auf kana-dische Bauholzeinfuhren 5,2 Milliarden US Dollar in die Staatskasse eingesackt, die nach kanadischer Auffassung zurückgezahlt werden müssen, letztlich an die

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kanadischen Holzproduzenten. So steht bei diesem Handelskrieg für beide Seiten viel auf dem Spiel.

3 Die Schlachtordnungen der politischen Systeme

Kein Wunder, dass der neue kanadische Premierminister Stephen Harper von der Konservativen Partei nach seinem partiellen Wahlsieg vom 23. Januar 2006 nicht nur allgemein die Verbesserung der Beziehungen zum südlichen Nachbarn, son-dern insbesondere die Beilegung des „softwood lumber dispute“ zu einer seiner fünf politischen Hauptprioritäten gemacht hat. Ende April 2006 einigten sich die beiden nordamerikanischen Regierungschefs und ihre Verhandlungsführer auf ein neues Softwood Lumber Agreement, wonach die kanadischen Holzexpor-teure 4 Milliarden Dollar der von den USA erhobenen Ausgleichs- und Strafzölle zurückerhalten und sich im Gegenzug nicht nur auf einen Mindestpreis ihrer Verkäufe in die Vereinigten Staaten, sondern auch eine Begrenzung ihrer Ex-porte auf 34 Prozent des US-Marktes verpflichten. Die Ratifizierung dieses Ab-kommens, in Kanada teils als sinnvoller Ausgleich, teils als fauler Kompromiss eingeschätzt, durch das kanadische Parlament ist allerdings noch ungewiss. Es ist abzusehen, dass trotz dieser Entspannungsbemühungen der Konflikt langfristig weiterschwelen wird. Der Grund für diese skeptische Prognose ist die Einsicht in die Bedeutung der unterschiedlichen politischen Systeme und gesellschaftlichen Strukturen der Interessensartikulation, die in den beiden nordamerikanischen Staaten herrschen, aber den Akteuren oft nicht bewusst sind.

Die Kanadier erwarteten von ihrem Premierminister, dass er den Handels-krieg endlich im Spitzengespräch mit dem amerikanischen Präsidenten beilegen kann, dass die beiden sich wie Feldherren nach einem langjährigen und verlust-reichen, aber letztlich unentschiedenen Kampf auf einen dauerhaften Frieden einigen können. Doch hinter dieser Hoffnung steht eine illusionäre Vorstellung von der innenpolitischen Macht des angeblich „mächtigsten Mannes der Welt“. Der Grund für diese, zumal im Vergleich mit dem kanadischen Regierungschef, geringe Durchsetzungskraft des amerikanischen Präsidenten in der Innen- und auch der internationalen Handelspolitik liegt in den Eigentümlichkeiten des Re-gierungssystems.

Das präsidentielle Regierungssystem der USA beruht auf der personalen Unabhängigkeit von Parlament und Regierung bei deren gleichzeitiger funktio-naler Verflechtung.4 Präsident wie der aus den zwei Kammern des Senats und des Repräsentantenhauses bestehende Kongress verfügen über eine jeweils ei-

4 Aus der Vielzahl deutschsprachiger Darstellungen des amerikanischen Regierungssystems

seien genannt: Ernst Fraenkel 1960, Emil Hübner 1989 und Kurt Shell 1992, Lehner/Widmaier2002: 115ff.

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genständige Legitimation durch den Wähler, werden in separaten und verschie-denartigen Wahlen auf eine unterschiedliche Amtsdauer gewählt. Die zwischen dem Präsidentenamt und der Kongressmitgliedschaft bestehende Inkompatibilität gibt dem Staats- und Regierungschef der USA zwar eine unabhängige Autorität, mindert aber auch seine Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten auf das Parlament ganz erheblich. So kann sich der amerikanische Präsident nicht auf eine feste Mehrheit des Kongresses stützen und verlassen, selbst wenn dieser sich mehr-heitlich aus Senatoren und Repräsentanten seiner eigenen Partei zusammensetzt; auf der anderen Seite wird er aber auch durch einen von der anderen Partei do-minierten Kongress nicht automatisch politisch lahmgelegt. Die institutionelle Trennung zwischen Exekutive und Legislative im amerikanischen Regierungs-system lässt sich auch am innenpolitischen Einfluss- und Entscheidungsprozess um „Softwood Lumber“ illustrieren: So unterzeichneten am 1. Mai 2001 52 Senatoren sowohl aus den Reihen der Republikaner als auch der Demokraten einen Brief an den Präsidenten, in welchem sie den Kanadiern einen unfairen Handel vorwarfen, während fünf Jahre später 21 Senatoren wiederum aus beiden parteipolitischen Lagern einen Brief an den Leiter des Handelsministeriums (Secretary of the Department of Commerce) veröffentlichten, in dem die US-Regierung aufgeforderte wurde, als Gegenmaßnahme auf die kanadischen Sub-ventionierung seiner Holzindustrie Ausgleichszölle zu erheben.5

Kanada hingegen hat vom britischen Mutterland das parlamentarische Re-gierungssystem übernommen.6 Im so genannten „Westminster Modell“ des Ver-einigten Königreichs geht alle Staatsgewalt im Prinzip aus dem gewählten Par-lament hervor und ist an dieses gebunden (Lehner/Widmaier 2002: 84 ff.). Der Monarch als formeller Souverän wird als ein Teil des Parlaments angesehen („king in parliament“); nur durch seine Unterschrift erhalten die vom Unter- und Oberhaus gefassten Beschlüsse Gesetzeskraft. Das „Commonwealth of Canada“, wie der offizielle Titel des nördlichsten Staates auf dem amerikanischen Konti-nent lautet, ist ebenfalls eine Monarchie, wobei der britische Monarch bzw. die britische Monarchin der „King“ bzw. die „Queen of Canada“ ist. Sie wird in der kanadischen Hauptstadt Ottawa durch einen von der kanadischen Regierung be-stimmten Generalgouverneur bzw. eine Generalgouverneurin vertreten, der bzw. die als faktisches Staatsoberhaupt alle königlichen Hoheitsrechte und Repräsen-tationsfunktionen ausübt. Wie in Großbritannien gibt es in Kanada eine Erste Kammer, in diesem Fall einen Senat, der sich allerdings nicht aus Lords zusam-

5 Die beiden Briefe werden zitiert auf der Webseite der Lobbyorganisation der amerikanischen

Holzproduzenten: www.fairlumbercoalition.org. 6 Es gibt leider keine deutschsprachige Gesamtdarstellung des kanadischen Regierungssystems,

allerdings prägnante Beiträge zu dessen Verständnis, insbesondere in den Arbeiten von Rainer-Olaf Schultze, beginnend mit dessen Heidelberger Dissertation (Schultze 1977).

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mensetzt (diese aristokratische Position hat Kanada schon vor langer Zeit abge-schafft), sondern aus von der kanadischen Regierung auf Lebenszeit, genauer gesagt bis zum Erreichen des 75. Lebensjahres, ernannten Personen, wobei aller-dings ein Proporz zwischen den vier großen Regionen des Landes berücksichtigt werden muss. Doch das wichtigste kanadische Verfassungsorgan ist wie in Großbritannien das „House of Commons“, das Unterhaus. Es besteht aus den Abgeordneten, die in 301 „ridings“ auf der Grundlage des relativen Mehrheits-wahlrechtes gewählt werden.

In diesem parlamentarischen System ist die Regierung nichts anderes als ein „Ausschuss“ des Parlaments, genauer gesagt der Parlamentsmehrheit: Nach den Unterhauswahlen wird der Führer der stärksten Partei zum Premierminister er-nannt und bestimmt seinerseits die Mitglieder der Regierung, kann aber auch durch ein Misstrauensvotum des Unterhauses jederzeit gestürzt werden, was in der Regel Neuwahlen herbeiführt. Auf der anderen Seite kann der Regierungs-chef im parlamentarischen Regierungssystem jederzeit das Parlament auflösen und Wahlen ansetzen, ein wichtiges Mittel zur Disziplinierung seiner eigenen Parlamentsfraktion. So gelten die drei konstitutiven Prinzipien des britischen Regierungssystems (Lehner/Widmaier 2002: 85) auch für Kanada: Parlaments-souveränität, Kabinettsregierung und Kontrolle sowie Legitimation durch Partei-enkonkurrenz, worauf noch einzugehen sein wird.

Weniger bekannt ist, in welchem Maße diese beiden unterschiedlichen Re-gierungssysteme, wie sie die Politik der Vereinigten Staaten und Kanadas prä-gen, aus der gemeinsamen Geschichte Nordamerikas hervorgegangen sind, ge-nauer gesagt, aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg.7 Die Verfassung der Vereinigten Staaten, wie sie zunächst 1777 als Konföderation und 1787 als Bundesstaat konzipiert wurden, beruht auf einer Republikanisierung der konsti-tutionellen Struktur Großbritanniens zu jener Zeit: An die Stelle der erblichen Position des Monarchen, der damals nicht nur repräsentative, sondern auch exe-kutive Prärogativrechte innehatte und dem das Ober- und Unterhaus als Vertre-tung des Adels und des Bürgertums gegenüberstanden, trat in den sich als unab-hängig erklärenden nordamerikanischen Kolonien der von der Staatsbürgerschaft – allerdings bis heute indirekt – gewählte Präsident. Bis in die Gegenwart schimmert im repräsentativen Alltag des amerikanischen Präsidentenamtes, aber auch in der Bedeutung von einzelnen Familien für seine Besetzung (Roosevelt, Bush), dessen monarchische Herkunft durch. In Großbritannien auf der anderen Seite war der Verlust der 13 nordamerikanischen Kolonien der Auslöser für einen stillschweigenden Verfassungswandel von einer konstitutionellen zu einer parlamentarischen Monarchie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. In dessen 7 Vgl. den allgemeinen Hinweis von Ulrich Widmaier auf die Vielfalt von Verfassungen als

Ergebnis historischer Entwicklungen (Lehner/Widmaier 2002: 27).

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Gefolge musste Georg III. (der als „Mad King George“ Filmgeschichte machte) die faktische Regierungsgewalt an den Premierminister und dessen Kabinett abgeben, die nun nicht mehr als politische Gehilfen des Monarchen fungierten, sondern aus der Parlamentsmehrheit hervorgingen und dieser politisch aufs Engste verbunden waren. Dieses parlamentarische Regierungssystem haben die nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg verbleibenden Kolonien „Bri-tisch Nordamerikas“ 1867 bei ihrer Konstituierung zum Commonwealth of Ca-nada übernommen. So stehen sich heute in Nordamerika zwei unterschiedliche Perioden der britischen Verfassungsgeschichte gegenüber, was ihr gegenseitiges Verständnis und ihre Zusammenarbeit eher erschwert.

In diesen beiden sehr verschiedenartigen Regierungssystemen kommt den politischen Parteien eine höchst unterschiedliche Bedeutung zu. Im präsidentiel-len System der USA sind die Parteien weniger bedeutsame Institutionen der Interessensaggregation und Politiksteuerung, sondern vorwiegend Wahlkampf-organisationen und politische „Clubs“.“ (Lehner/Widmaier 2002: 121). Die ame-rikanischen Parteien spiegeln damit jene frühe Phase der europäischen Parteien-geschichte der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wider, in der sie keine fest gefügten Mitglieder- und Massenorganisationen, sondern lose ideologische Strömungen und Elitenbündnisse waren. Es wundert daher nicht, dass eine so spezifische Frage wie der „Softwood Lumber Dispute“ in den Plattformerklärungen der amerikanischen Parteien keine Rolle spielt, vielmehr die entsprechenden Stellungnahmen pro und contra quer durch die beiden großen Parteien gehen.

Ganz anders sieht es in Kanada aus, dort gehören Stellungnahmen zum in-neramerikanischen Streit um das Bauholz zum programmatischen Profil der politischen Parteien. So versteht sich die traditionsreiche und häufig regierende Liberal Party, insbesondere seit Pierre Trudeau, der als Premierminister von 1968 bis 1982 mit einer nur kurzen Unterbrechung regierte, als Champion der Souveränität Kanadas und Anwalt der nationalen Interessen, auch und gerade gegenüber dem mächtigen Bruderstaat im Süden. Auch die späteren liberalen Regierungschefs Jean Chretien (1993-2003) und Paul Martin (2003-2006) setz-ten bei aller ihrer Unterschiedlichkeit auf eine Abgrenzungsrhetorik gegenüber den USA, darin nicht unähnlich dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schrö-der, aber auch schon Helmut Schmidt. So erklärte Paul Martin im August 2005 nach der vorletzten für Kanada günstigen Entscheidung der NAFTA, die USA müssten sich jetzt an die Regeln halten oder Kanada würde Handelsalternativen wie China bevorzugen. Es wundert auch nicht, dass Jack Leyton, der derzeitige Parteichef der sozialdemokratischen New Democratic Party (NDP), am 17. März 2006 vor dem NAFTA-Gipfeltreffen den kanadischen Premierminister auffor-derte, sich im Interesse der Familien und Gemeinden der Waldarbeiter entschie-

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den bei George W. Bush für den ungehinderten Zugang des kanadischen Holzes zum amerikanischen Markt einzusetzen. Der konservativen Partei und den von ihr gestellten Premierministern, Brian Mulroney von 1984 bis 1992 und Stephen Harper seit dem Januar 2006, geht es primär um ein freundschaftliches Verhält-nis zu den USA, zumal wenn diese wie in ihren Amtszeiten von republikani-schen Präsidenten geführt werden. Sie setzen daher auf die Streitbeilegung durch Verhandlungen und nicht auf die Durchsetzung von Schlichtungsentscheidun-gen.

In diesen Stellungnahmen zum Handelskrieg um das Bauholz spiegeln sich die verschiedenartigen Wählerklientel und Mitgliederprofile der kanadischen Parteien wider. Diese werden in der einschlägigen kanadischen Fachliteratur vielfach als „brokerage parties“, als Maklerparteien, bezeichnet. Ganz ähnlich wie in Großbritannien hat sich auch in Kanada mit der Entwicklung des parla-mentarischen Regierungssystems zunächst ein Zweiparteiensystem herausgebil-det, in welchem sich mit der Conservative Party die eher aristokratisch und ang-likanisch profilierten Tories und mit der Liberal Party die eher bürgerlich und katholisch orientierten Whigs gegenüberstanden. Doch dann trat in Kanada ein, was Ulrich Widmaier im Zusammenhang mit der Tendenz des relativen Mehr-heitswahlrechtes zur Formierung eines Zweiparteiensystems als Ausnahme er-wähnt hat: „Kleinere Parteien (Third Parties) haben nur dann Aussicht auf Er-folg, wenn sie regional sehr stark sind.“ (Lehner/Widmaier 2002: 93). Die er-heblichen ethnokulturellen und regionalen Cleavages des Landes führten zu einer kontinuierlichen Fragmentierung des Parteiensystems. 1921 zog mit der in den Prärieprovinzen starken agrarsozialistischen „Co-operative Commonwealth Fe-deration“ (CCF)8 erstmals eine dritte Partei ins Parlament ein, aus der schließlich in den 1960er Jahren die sozialdemokratische New Democratic Party (NDP) hervorging. Ihr ist es im Gegensatz zur britischen Labour Party nie gelungen, die Liberal Party als zweite Partei abzulösen, nicht nur weil in Kanada das indus-trielle Proletariat eine geringere Rolle spielte, sondern auch weil die kanadischen Liberalen bis heute darauf achten, einen sozialen Liberalismus zu vertreten. Eine vierte Partei, der Bloc Quebecois, zog schon drei Jahre nach ihrer Gründung im Jahr 1990 ins kanadische Unterhaus ein: Bei ihr handelt es sich um den bundes-politischen Arm der Unabhängigkeitsbewegung in der francophonen Provinz, in der sich schon 1976 mit der Parti Quebecois (PQ) eine Separatistenpartei for-miert hatte, die seitdem mehrfach die Regierung in der Provinz übernommen und diese schon zweimal in Referenden fast zum Erfolg geführt hat. Ebenfalls im Jahr 1993 gelang der Reform Party der Sprung ins Parlament, die 1987 als Aus-druck der Protestinteressen in den Westprovinzen, vorzugsweise in der reichen

8 Vgl. die Doktorarbeit von Seymour Martin Lipset 1950.

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Ölprovinz Alberta, gegen die Bundesregierung im fernen Ottawa und die politi-sche und personelle Dominanz von Ontario und Quebec in der Bundespolitik gegründet worden war. Diese Partei hat durch mehrfache Umbenennungen (Uni-ted Alternative, Canadian Alliance) versucht, das rechte Lager wieder zu verei-nigen und damit zur nationalen Alternative zu den regierenden Liberalen zu werden. Das ist aber erst unter Stephen Harper im Jahr 2003 mit dem Zusam-menschluss der Canadian Alliance mit der Progressive Conservative Party zur „Conservative Party“ gelungen, die bei den Parlamentswahlen im Oktober 2004 zur stärksten Oppositionspartei aufstieg und im Januar 2006 die Mehrheit, wenn auch nur die relative Mehrheit der Sitze im Unterhaus gewonnen hat und damit derzeit auch den Premierminister stellt. So waren in Kanada lange Zeit fünf und sind seit dem Zusammenschluss der Konservativen vier Parteien im Parlament vertreten.

Diese Tatsache kann im extremen Fall dazu führen, dass die Mehrheitsre-gierung zur Ausnahme von der Regel einer Minderheitsregierung wird. Seit dem zweiten Weltkrieg ist Kanada in den Jahren 1957/58, von 1962 bis 1968, zwi-schen 1972 und 1974 und 1979/80 und seit 2004 von Minderheitsregierungen geführt worden. Kanada kennt nicht die Praxis von Koalitionsregierungen. Viel-mehr übernimmt der Führer der stärksten Parlamentspartei, auch wenn diese nicht über die absolute Mehrheit der Sitze verfügt, das Amt des Premierminis-ters. Er ist dann auf die Tolerierung, genauer gesagt, die Unterstützung seiner einzelnen Vorlagen durch wechselnde Mehrheiten angewiesen. Das ist ein aufre-gendes und ungewisses Spiel, denn die Oppositionsparteien können jederzeit der Regierung die Unterstützung versagen: „to pull the plug“ (den Stöpsel aus der Badewanne ziehen). Da nach einer solchen Entscheidung Wahlen anstehen, in denen die Wähler möglicherweise ihre Verärgerung zeigen, überlegen sich alle Parteien genau, ob, wann und warum sie es zu einem solchen dramatischen Schritt kommen lassen. Man hat das Gefühl, dass die Kanadier derzeit nicht unglücklich mit der Realität einer Minderheitsregierung sind: Die Oppositions-fraktionen haben viel mehr Einfluss als gewöhnlich, der Premierminister kann die Erwartungen seiner ungeduldigen Partei mit dem Hinweis auf notwendige Kompromisse dämpfen – und die Wähler haben das Gefühl, dass ihre gewählten Repräsentanten weniger übermütig werden. Doch ist es nicht ausgeschlossen, dass die derzeitige konservative Minderheitsregierung Kanadas noch 2006 über ein mit der parlamentarischen Ratifizierung des Softwood Lumber Agreements verbundenes Misstrauensvotum fällt und es damit zu Neuwahlen kommt.

Das von Großbritannien geerbte parlamentarische Regierungssystem wird in Kanada, wie an dessen Parteiensystem deutlich wird, von dessen föderalisti-scher Realität überlagert (vgl. Schultze 1992). Bund und Teilstaaten – in Kanada sind das 10 Provinzen und drei Territorien im Norden des Landes – teilen sich

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die Ausübung der Staatsgewalt. Dieses bundesstaatliche Gefüge ist nicht unähn-lich der bundesdeutschen Situation, geht aber in vielen Aspekten weiter als diese. So bestehen in Kanada auf Bundes- und auf Provinzialebene separate Parteiorga-nisationen. Wie in Deutschland sind auch in Kanada die Regierungen der Teil-staaten die Träger der föderalen Mitsprache auf Bundesebene, allerdings verfü-gen sie nicht über ein eigenes Bundesorgan wie den Bundesrat – die Mitglieder des Senates werden von der Bundesregierung ernannt –, sondern bringen sich über Institutionen wie die Premierminister- und Ministerkonferenzen zu Gehör, vor allem aber durch informelle und direkte Verhandlungen mit Ottawa. Im Softwood Lumber Conflict hat vor allem der Premier von British Columbia die Interessen seiner besonders betroffenen Provinz an einer Übereinkunft immer wieder auf Bundesebene zu Gehör gebracht. Dieser, wie auch andere Provinz-premiers, macht keinen Hehl daraus, dass sein Eintreten für den kanadischen Bauholzexport, aber auch die Festlegung der Höhe der Stumpage Fee wesentlich auf dem Interesse an der Vermeidung von wachsender Arbeitslosigkeit beruht.

Die föderale Struktur hat Kanada im Gegensatz zum Regierungssystem mit den Vereinigten Staaten gemeinsam, bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Aus-gestaltung und Gewichtung. Daher sind es in den USA nicht nur die Kongress-mitglieder aus jenen Wahlbezirken, in denen der Anbau und die Verarbeitung von Softwood Lumber eine bedeutsame Rolle spielen, sondern auch die Gouver-neure an der Spitze der jeweiligen Bundesstaaten, die sich für die Interessen der einschlägigen Industrie einsetzen. So forderte die Southern Governors’ Associa-tion am 26. September 2000 den Kongress wie den Präsidenten nachdrücklich auf, sich für einen offenen und fairen Holzverkauf in Kanada – natürlich nach amerikanischem Vorbild – einzusetzen.

Das Beispiel des „Softwood Lumber Wars“ illustriert Ulrich Widmaiers all-gemeine Feststellung über die erheblichen Schwierigkeiten bei der Problemver-arbeitung und Leitungsfähigkeit, mit denen das präsidentielle Regierungssystem der USA konfrontiert ist: „Die starke institutionelle Differenzierung des ameri-kanischen Regierungsssytems, die geringe Integrationsfähigkeit der Parteien und die instabilen Mehrheitsverhältnisse im Kongress begünstigen einen starken Einfluss partikularer Interessen sowie eine wenig koordinierte und wechselhafte Politik.“ (Lehner/Widmaier 2002: 124). Das parlamentarische Regierungssystem hingegen führt zur Bündelung von Einzelinteressen durch das Parteiensystem und Durchsetzung von kollektiven Interessen durch eine idealiter von der Parla-mentsmehrheit getragene und unterstützte Regierung. Kein Wunder, dass der spätere US-Präsident Woodrow Wilson, von Beruf Politikwissenschaftler, in seiner 1883 angenommenen Dissertation über Wege nachgedacht hat, wie man

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auch in den Vereinigten Staaten das parlamentarische Regierungssystem einfüh-ren könne.9

In Kanada hat das parlamentarische Regierungssystem, das formal durch die Abhängigkeit der Regierung vom Parlament definiert ist, faktisch zur Dominanz des Regierungschefs gegenüber dem Parlament, zumindest der ihn unterstützen-den Parlamentsmehrheit, geführt. Wie die deutsche Kanzlerdemokratie gelegent-lich als „semiautoritäres System“ (Karl Loewenstein) bezeichnet worden ist, so hat ein bekannter kanadischer Kolumnist von der „friendly dictatorship“ gespro-chen, die in seinem Land herrsche (Simpson 2001). Im Gegensatz zum kanadi-schen Premierminister, aber auch zum deutschen Bundeskanzler, verfügt der amerikanische Präsident über keine Kommandogewalt über seine parlamentari-schen Truppen, kann er sich nicht auf eine solide Unterstützung durch das Par-lament verlassen, selbst wenn seine Partei in Senat und Repräsentantenhaus die Mehrheit der Sitze innehat. Er kann, bildlich gesprochen, innenpolitisch keine geschlossenen Armeen einsetzen, sondern muss vielmehr seine verstreuten Re-gimenter unter sehr eigensinnigen Kommandeuren immer wieder zusammenfüh-ren, permanent fragile Bündnisse mit und zwischen einzelnen Kongressmitglie-dern knüpfen, um sein politisches Programm umsetzen zu können.

4 Die Scharmützel der Verbände

Landesweit gibt es in den Vereinigten Staaten neben den beiden großen, aber lose organisierten Parteien noch zahlreiche Vereinigungen wie Gewerkschaften, Arbeitgeberorganisationen, Berufs- und Industrieverbände und dergleichen (vgl. Lösche). Doch auch auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Interessensaggrega-tion spielen nicht die zentralen, meist vielfältig zusammengesetzten und lose strukturierten Großverbände, sondern eine Vielzahl regionaler und spezialisierter Gruppen die erste Geige, finden sich höchstens mit anderen „single issue organi-sations“ zu ad hoc-Koalitionen zusammen. Dieser fragmentierte und lokalisti-sche Charakter des amerikanischen Verbandssystems spiegelt nicht nur die Ei-gentümlichkeiten der Entwicklung der politischen und gesellschaftlichen Kultur in den USA wider, er ist ebenfalls eine Folge des präsidentiellen Systems (vgl. Lehner/Widmaier 2002: 121 ff.): Da im Kongress die Abgeordneten und Sena-toren primär an ihre Wiederwahl in örtlichen Wahlkreisen denken müssen und daher eher nach Interessensbindungen als nach Parteizugehörigkeit abstimmen, spielt „grass root lobbying“ im politischen Alltag der USA eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung von gesellschaftlich-wirtschaftlichen Anliegen. Selbst

9 Woodrow Wilson 1885: Congressional Government. A Study in American Politics.

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nationale Interessensorganisationen werden bei der Durchsetzung ihrer Anliegen vor allem auf der örtlichen Ebene aktiv, bringen ihre finanziellen Mittel vorwie-gend bei der Unterstützung von einzelnen Abgeordneten und Kandidaten ein, von denen sie sich einen „best return“ versprechen.

Diese Eigentümlichkeit des US-amerikanischen Systems der Interessens-organisation zeigt sich auch bei den Kombattanten im Softwood Lumber War. Alle erwähnten Anträge an das US-Handelsministerium auf Ausgleichszölle ka-men von der „Coalition for Fair Lumber Imports“.10 Das ist nach deren eigenen Angaben eine Allianz von größeren und kleineren Sägewerken im ganzen Land, die von angeblich Hunderttausenden ihrer Angestellten und Zehntausenden von Waldbesitzern unterstützt wird. Die „Coalition“ hat sich zum Ziel gesetzt, Kana-das „unfaire Praxis“ zu bekämpfen, dass von der dortigen Regierung subventio-niertes Bauholz auf dem amerikanischen Markt zu Dumpingpreisen verschleu-dert wird. Ihr Gegner ist nach eigenen Aussagen nicht die kanadische Holzin-dustrie, sondern sind die von der Coalition in die Nähe der zentralistischen Planwirtschaft sowjetischer Prägung gerückten kanadischen Praktiken der Ab-gabe von Holz aus öffentlichen Wäldern an private Sägewerke. So erklärte der Vorsitzende der Coalition, Steve Swanson11: „We can compete against any lum-ber industry in the world, but we can’t compete against their government, too.” Die Organisation unterhält ein Büro in bester Washingtoner Regierungsadresse, an der Pennsylvania Avenue gleich hinter dem Weißen Haus.

Doch die eigentliche Arbeit für diese Lobbyorganisation der amerikani-schen Holzindustrie wird von einer „public relations and public affairs firm“ im nahen Alexandria in Virginia erledigt: von der Firma „S&H“, nach ihren Grün-dern Brian Smith and Mark Harroff benannt.12 Dieses Unternehmen preist auf seiner Webseite als besondere Qualität seines Produkts den „integrated ap-proach“ an: Es offeriert gleichermaßen Beratung, Vermittlung und Werbung. Zu seinen Kunden gehört nicht nur das der Atomindustrie verbundene „National Energy Institute“ und die „National Restaurant Association“, sondern auch die „American Forest&Paper Association“ und die „National Christmas Tree Asso-ciation“. Doch besonders interessant muss für die amerikanische Holzindustrie sein, dass S&H auch Wahlkämpfe für 29 Mitglieder des Repräsentantenhauses, 3 Senatoren und 5 Gouverneure erfolgreich organisiert hat. Die meisten dieser politischen Kunden kommen aus Bauholzstaaten wie Maine, New Hampshire, Pennsylvania, Alabama, Oregon und Washington. Doch noch aufschlussreicher

10 Vgl. deren Webseite: www.fairlumbercoalition.org, der auch die folgenden Angaben entnom-

men sind. 11 Die Swanson Group in Westoregon beschäftigt 1000 Waldarbeiter und ist auf den Einsatz von

Hubschraubern beim Logging spezialisiert. Vgl. www.swansongroupinc.com. 12 Vgl. die ausführlichen Angaben auf der Webseite: www.smithharrof.com.

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ist die Feststellung, dass alle über 60 politischen Kunden der Agentur Republi-kaner sind – offensichtlich setzt die Holzindustrie auf politisch-bürokratische Verbindungen zur derzeitigen Administration.

Ein umso bedeutsamerer Coup gelang darum der amerikanischen Holzin-dustrie mit einem immer noch häufig zitierten Meinungsartikel des früheren demokratischen Präsidenten Jimmy Carter in der „New York Times“ vom 24. März 2001. In diesem langen Beitrag outete sich der bisher mehr als Erdnuss-farmer bekannte 39. Präsident aus dem Staat Georgia auch als Besitzer eines kleineren Waldes mit Weich- und Hartholz, der seit Jahrzehnten im Besitz seiner Familie ist. Carter, ansonsten eher für sein internationales Eintreten für Men-schenrechte bekannt, prangerte die Subventionspraktiken der kanadischen Holz-produzenten und ihre ökonomischen und ökologischen Folgen für die USA an: Viele zumeist kleinere Waldbesitzer könnten deswegen nicht mehr in die Auf-forstung investieren, müssten ihren Boden veröden lassen und würden in den Bankrott getrieben.

Bezeichnenderweise steht in den Vereinigten Staaten auch auf dem Gebiet der kanadischen Holzimporte einer Lobbyorganisation eine andere Gruppe mit entgegen gesetztem Programm gegenüber. Die „American Consumers for Affor-dable Housing“ (ACAH) ist eine Allianz von 15 Organisationen wie der „Natio-nal Association of „Home Builders“, aber auch der großen Baumarktkette Home Depot.13 Sie hat sich zum Ziel gesetzt, „to support policies that will open the softwood lumber market between the U.S. and Canada”. Hingegen würde die Erhebung von Ausgleichszöllen auf kanadische Holzimporte, so erklärten die ACAH in einem Brief an Präsident Bush vom 1. Oktober 2001, die Bauholz-preise anheben und damit nicht nur den Hausbau verteuern, sondern auch die Arbeitsplätze von 6 Millionen Arbeitern in der einschlägigen Industrie gefähr-den.

Natürlich stehen den amerikanischen Interessen an günstigen Marktbedin-gungen für „ihr Holz“ auf kanadischer Seite entsprechende Interessen an der Förderung der eigenen Exporte in den großen Holzmarkt des südlichen Nachbarn gegenüber. Erklingt südlich des 49. Breitengrades meist im „Soft Lumber War“ der Schlachtruf nach „fair trade“, so schallt es aus dem Norden „free trade“ zu-rück. Doch im Gegensatz zu den USA gibt es in Kanada wegen der unterschied-lichen Strukturen der Holzindustrie und deren Verhältnis zu den Provinzregie-rungen keine einschlägige Lobbygruppe auf nationaler Ebene. In der Provinz British Columbia, die besonders vom „Softwood Lumber War“ betroffen ist, hat sich zwar die holzverarbeitende Industrie zu einem „Council of Forest In-dustries“ zusammengeschlossen, doch die Verteidigung der Interessen der ein- 13 Vgl. die Webseite: www.acah.org, aber auch die Webseite der National Association of Home

Builders: www.nahb.org.

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heimischen Holzproduzenten und -exporteure wird überwiegend von dem Mi-nistry of Forests and Range, dem Provinzministerium für Forsten und Weideflä-chen, getragen, das auch in der Öffentlichkeitsarbeit sehr aktiv ist.14

Generell ist das kanadische System der Interessenartikulation und -aggregation wesentlich allgemeiner und zentralistischer angelegt als das US-amerikanische (vgl. Pross 1993 und Montpetit 2004). Nationale Einflussgruppen wie der „Business Council on National Issues“ (BCNI), eine 1977 gegründete Vereinigung von Vorstandsvorsitzenden großer kanadischer Unternehmen, die Canadian Chamber of Commerce mit ihren regionalen und örtlichen Handels-kammern, die Canadian Federation of Agriculture, die Canadian Medical Asso-ciation und die Canadian Tax Foundation bringen ihre Stimme in der kanadi-schen Hauptstadt zu Gehör. Da in Kanada aufgrund seines parlamentarischen Regierungssystems der Gesetzgebungsprozess hochzentralisiert und die Partei-disziplin ausgeprägt sind, können die Interessengruppen kaum die Rivalitäten zwischen einzelnen Abgeordneten ausbeuten. Ihre Ansprechpartner sind viel-mehr die nationalen Parteiorganisationen und vor allem die Ministerialbürokra-tien, die in parlamentarischen Regierungssystemen eine kaum zu unterschätzen-de Rolle bei der Vorbereitung von Gesetzesentwürfen und der Ausführung von Gesetzesbeschlüssen spielen. Zwischen den Spitzen der Verbände und der Be-amtenschaft bestehen in Kanada wie in Deutschland vielfältige informelle Kon-takte, die weit über den Lobbybereich der Vertretung von Einzelinteressen in die Sphären eines wechselseitigen Informationsaustausches und der Koordination von gemeinsamen Projekten hineinreichen. Während es in Washington vor Ge-rüchten und Enthüllungen über Einflusskanäle und Seilschaften nur so brodelt, verläuft die Zusammenarbeit der politisch-bürokratischen Eliten und gesell-schaftlich-wirtschaftlichen Vereinigungen in Ottawa ziemlich geräuschlos. So hat ein kanadischer Politikwissenschaftler das Lobbying in seinem Land als den Versuch beschrieben, „keeping things pleasant, dull and controlled“ (Hugh Thorburn, in: Canadian Encyclopedia, S. 1893). Diese Beschreibung entspricht dem allgemeinen Selbstbild von der kanadischen Psyche – auch und gerade im Kontrast zu den Aufgeregtheiten im südlichen Nachbarstaat.

Zwischen den beiden nordamerikanischen Staaten bestehen fundamentale Unterschiede nicht nur im politischen System und im Verfahren der Interessens-vertretung, sondern auch in den dominierenden sozialwissenschaftlichen Erklä-rungsmustern zum Verständnis dieser soziopolitischen Bereiche. In den USA dominieren ökonomische Theorien der Politik und insbesondere die Überlegun-gen Mancur Olsons zur Logik kollektiven Handelns (vgl. Lehner/Widmaier 2002: 45 ff.). Ihre Aussagen zur Bedeutung von selektiven Anreizen, zur Prob-

14 Vgl. die Webseite: www.for.gov.bc.ca.

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lematik von Trittbrettfahrern und insgesamt zu den Vorteilen von kleineren ge-genüber größeren Gruppen scheinen besonders geeignet, die Realität der gesell-schaftlich-politischen Interessensvermittlung in den USA auf den Begriff zu bringen. Die kanadischen Sozialwissenschaftler hingegen greifen eher auf Kor-poratismusmodelle zurück – und knüpfen dabei explizit an Philippe Schmitter, aber auch Fritz Scharpf und Wolfgang Streeck an (vgl. Monpetit 2004: 309 und 313). Sie sehen die Interessengruppen in Kanada nicht wie in den USA vorzugs-weise auf dem Gebiet des Lobbying tätig, sondern verstehen sie als Mitspieler im umfassenden Prozess des Governance und des Public Consumerism. Etwas über-spitzt resümiert: Verbände sind in Kanada mehr am „public good“ orientiert, während sie in den USA „single issues“, Einzelinteressen verfolgen, aus deren Gesamtheit dann erst das Gemeinwohl hervorgeht. Oder um es mit Ulrich Wid-maier zusammenzufassen: „Das amerikanische Regierungssystem verfügt zwar über ein beträchtliches Berücksichtigungspotential, wenn es um hoch organisati-ons- und konfliktfähige Interessen geht, versagt aber häufig dann, wenn es sich um zwar breite, aber wenig organisations- und konfliktfähige Interessen han-delt.“ (Lehner/Widmaier 2002: 149). Man wird hinzufügen können: Das politi-sche System Kanadas verfügt aufgrund seiner relativen Abkoppelung von den Pressionen der organisierten Interessen, genauer gesagt, infolge deren Bündelung und Filterung durch die politischen Parteien, über ein wesentlich größeres Wert-berücksichtigungspotential, zumal wenn es um breite, aber weniger organisati-ons- und konfliktfähige Interessen geht.

5 Nachwort: Zur politischen Kultur der zwischenstaatlichen Unterschiede in Nordamerika

Das Ergebnis dieser historischen Darstellung des nordamerikanischen Bauholz-krieges und des politikwissenschaftlichen Vergleichs der unterschiedlichen Schlachtordnungen, mit denen die USA und Kanada diese Auseinandersetzung führen, kann mit Ulrich Widmaier zu folgenden sozialwissenschaftlichen Ein-sichten verallgemeinert werden, welche die eingangs aufgestellte These bestäti-gen. Erstens: Interaktionen von Staat und Wirtschaft finden im Rahmen von institutionellen Strukturen statt, die erheblich zwischen Ländern variieren kön-nen (Lehner/Widmaier 2002: 13); zweitens: Politische Systeme sind nicht ratio-nal durchkonstruierte Systeme, sondern das Produkt bestimmter historischer Entwicklungen, die ihrerseits bestimmte gesellschaftliche, ökonomische und politische Bedingungen reflektieren (Lehner/Widmaier 2002: 67); drittens: Ver-schiedenartige Strukturen von demokratischen Systemen führen zu unterschied-lichen Handlungssystemen, weil sie gesellschaftliche Interessen unterschiedlich

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repräsentieren, unterschiedliche Machtverhältnisse und Konfliktregulierungs-muster erzeugen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme unterschiedlich verarbeiten und unterschiedliche Partizipationschancen eröffnen (Lehner/Wid-maier 2002: 145).

Auf der anderen Seite spricht aber vieles dafür, dass sich diese geschichts- und systembedingten Unterschiede zwischen den beiden nordamerikanischen Staaten in einem Prozess der Angleichung abschleifen werden. Der wichtigste Faktor, der auf diese Entwicklung einwirkt, ist die enge Verzahnung der beiden Wirtschaften und deren Auswirkung auf den gesellschaftlichen Alltag. Ange-sichts des ökonomischen Größenunterschiedes zwischen den beiden Staaten handelt es sich dabei weniger um eine wechselseitige Angleichung, sondern weitgehend um eine einseitige Anpassung der kanadischen an die amerikani-schen Verhältnisse. Nicht nur amerikanische Produkte, sondern immer mehr auch US-Geschäftsketten bestimmen den kanadischen Markt. So erscheint auf den ersten Blick Kanada wie ein riesiger 51. Staat der USA, nur etwas weiter nördlich gelegen und dementsprechend kälter.

Doch bei etwas mehr Vertrautheit mit dem kanadischen Commonwealth und der amerikanischen Republik entdeckt man schnell, dass die geschichts-bedingten Unterschiede in der gesellschaftlichen und politischen Kultur der bei-den Staaten tief eingeschliffen sind und auf lange Zeit noch weiter bestehen werden. Seymour Martin Lipset hat sie in seinem prägnanten Vergleich der Wer-te und Institutionen der USA und Kanadas auf den Gegensatz von Individu-alismus und Kommunitarismus, wenn nicht Kollektivismus, von Antistaatlich-keit und Etatismus, von Populismus und Elitismus, von Fundamentalismus und Pragmatismus, von Wettbewerb und Wohlfahrtsorientierung gebracht. Kein Wunder, dass einem Kanada viel europäischer erscheint als die USA und dass die Deutschen Kanada mehr lieben als die USA. Journalistisch formuliert: Im nördlichen Staat lebt es sich gesellschaftlich wärmer als im südlichen Nachbarn. Die Vereinigten Staaten sind historisch gesehen das Produkt einer Revolution gegen die europäischen Verhältnisse, Kanada hingegen das Produkt einer Gegen-revolution. Diese Geburtsunterschiede wirken trotz aller Angleichungen bis heute fort: „Canadians and Americans will never be alike.“ (Lipset 1990: 227). Auf klassische Weise wurden diese Unterschiede in der Wertordnung der beiden Staaten in ihren Gründungsdokumenten ausgedrückt: Während sich die Grün-dungsväter der Vereinigten Staaten in der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1776 ganz in der Tradition von John Locke für “life, liberty and the pursuit of happiness” als die höchsten Werte aussprachen, formulierte der British North America Act von 1867 in der Tradition von Edmund Burke „peace, order and good government“ als die höchsten Zeile des Commonwealth of Canada.

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In dieser kontinentalen Konfrontation nicht nur von ökonomischen Interessen und politischen Systemen, sondern auch grundlegenden Wertordnungen, haben die Kontrahenten auch sehr unterschiedliche Wahrnehmungen und Erwartungen, was die andere Seite angeht. Die überwiegende Mehrzahl der US-Amerikaner bis hin zu ihren gesellschaftlichen und politischen Eliten ist sich der Unterschied-lichkeit ihrer nördlichen Nachbarn kaum bewusst, führt die Existenz eines zwei-ten nordamerikanischen Staates auf historische Zufälle zurück und nimmt an, dass die Kanadier über kurz oder lang ganz normale Amerikaner werden. Zwar haben die USA im 20. Jahrhundert nicht versucht und werden im 21. Jahrhundert nicht mehr versuchen, wie es im 18. und 19. Jahrhundert zumindest dreimal geschehen ist, die unter dem Joch der britischen Krone stehenden englisch- (und französisch-) sprachigen Subjekte im Norden zu befreien, doch gehen sie davon aus, dass sich der Anachronismus zweier separater Staaten und Gesellschaften unter dem Zwang der ökonomischen Entwicklung verflüchtigen wird. Für diese allgemeine amerikanische Einstellung gegenüber den kanadischen Verhältnissen ist die Selbstverständlichkeit bezeichnend, mit der die US-Seite im Bauholzstreit davon ausgeht, dass ihr Marktmodell der Versteigerung von Waldprodukten auch in Kanada das dortige Modell des staatlichen Zuschlags ersetzen muss, geht es doch um die Durchsetzung von Freiheit und Demokratie gegen Planwirtschaft und staatlichen Paternalismus.

Ganz anders die kanadischen Einschätzungen der USA und die Erwartun-gen an den südlichen Nachbarn. Für die Kanadier gehört das Misstrauen gegen-über den imperialen Absichten ihrer südlichen Nachbarn, mögen sich diese noch so demokratisch geben, zu den Grundlagen ihrer nationalen Identität. Immer wieder wird der berühmte Ausspruch Pierre Trudeaus vor dem Presseclub in Wa-shington im März 1969 zitiert: „Living next to you is in some ways like sleeping with an elephant. No matter how friendly and even-tempered is the beast, one is effected by every twitch and grunt (jedem Kneifen und Grunzen).“ Die Kanadier tun sich schon schwer genug damit, im Schatten der politischen und wirtschaftli-chen Weltmacht zu leben. Umso wichtiger ist es ihnen, ihre eigene kulturelle und politische Identität zu bewahren. Sie wollen dabei nicht nur eigenständig bleiben, sondern auch vor allem anders als die US-Amerikaner sein: “Canadians are the world’s oldest and most continuing un-Americans.” (Lipset 1990: 53). Es gibt den Kanadiern eine spitzbübische Genugtuung zu wissen, dass trotz des ameri-kanischen Krieges gegen ihr angeblich staatlich subventioniertes Bauholz ein Drittel aller Häuser in den USA mit kanadischen Balken gebaut wird – vielleicht weil diese einfach besser, nämlich stabiler sind.

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Verwaltungspolitik im Bundesländervergleich 111

Verwaltungspolitik im Bundesländervergleich – Große Entwürfe statt inkrementalistische Reformen? Verwaltungspolitik im Bundesländervergleich Jörg Bogumil

In den 1990er Jahren war die allgemeine nationale und internationale Diskussion um Verwaltungsreformen vor allem durch das „Paradigma“ des New Public Managements geprägt (vgl. Naschold/Bogumil 2000; Jann u.a. 2004). Konkrete Reforminitiativen sind in Deutschland in dieser Zeit vor allem auf der kommuna-len Ebene im Bereich von Binnenmodernisierungsmaßnahmen zu beobachten. Die Aktivitäten der zweiten zentralen Verwaltungsebene, der Länder, können in diesem Bereich eher als zurückhaltend interpretiert werden (vgl. Reichard 2004). Zu Beginn des 21. Jahrtausends aber beginnen in den Bundesländern - von vielen Beobachtern relativ unerwartet – verstärkte Diskussionen und Aktivitäten im Bereich der Verwaltungsstrukturen und der Verwaltungsverfahren. Hintergrund dieser aktuellen Verwaltungsstrukturreformen in allen deutschen Bundesländern ist die Finanzknappheit der öffentlichen Kassen.

Ich möchte am Beispiel der jüngsten Verwaltungsstrukturreformen in den Bundesländern die These begründen, dass es nicht mehr nur zu inkrementellen Veränderungen von Verwaltungsstrukturen kommt, die bisher in der Nach-kriegszeit dominierend waren, sondern dass sich Tendenzen zur Realisierung von umfassenden Verwaltungsreformen abzeichnen. Dies kann einerseits als Folge eines Lernprozesses der Politik gedeutet werden und ist andererseits mit dem „Zwang“ zum Personalabbau verbunden. Die Wiederaneignung der Verwal-tungspolitik durch die Politik ist aber nicht vorbehaltlos positiv zu werten, son-dern kann durch die Ausblendung funktionaler und sachlicher Aspekte zu z.T. erheblichen Problemlagen führen.

Im Folgenden wird zunächst auf einige Besonderheiten des Politikfeldes Verwaltungspolitik eingegangen und die Frage der Reformfähigkeit öffentlicher Verwaltungen betrachtet. Anschließend werden die aktuellen Verwaltungsstruk-turreformen und die Art der politischen Steuerung derselben näher betrachtet. Im dritten Teil wird dann diskutiert, welche Folgen die „Wiederaneignung“ der Verwaltungspolitik durch die Politik mit sich bringt.

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1 Verwaltungspolitik und Verwaltungsreformen – Dominanz des Inkrementalismus

Versucht man sich den Erfolgsbedingungen von Verwaltungsreformen zu nä-hern, muss zunächst auf einige Besonderheiten des Politikfeldes Verwaltungspo-litik hingewiesen werden. Verwaltungspolitik kann als der Versuch verstanden werden, durch Veränderungen der Strukturen des öffentlichen Sektors (z.B. Per-sonal, Organisation und Verfahren) Verwaltungshandeln zu beeinflussen. Fol-gende Besonderheiten sind dabei zu beachten: So gibt es zum einen eine weitge-hende Identität von Subjekt und Objekt der Verwaltungspolitik. Verwaltungspo-litik ist eine Politik, welche die Verwaltung weitgehend selbst betreibt, weil sich die politische Führung diesem Thema ungern annimmt und weil die Eigeninte-ressen der Verwaltung und ihrer Mitglieder unmittelbar berührt sind. Dass sich die Verwaltung selbst grundlegend verändert und infrage stellt, ist bei Abwesen-heit manifesten äußeren Drucks allerdings äußerst unwahrscheinlich.

Zum anderen handelt es sich bei Verwaltungspolitik um eine sehr indirekte Form politischer Steuerung. Verwaltungspolitik beruht auf einem Dreischritt. In einem ersten Schritt, der als Institutionenpolitik gekennzeichnet werden kann, ist sie unmittelbar auf die Veränderung organisatorischer, personeller und instru-menteller Strukturen gerichtet. Erst im zweiten Schritt und mittelbar strebt sie an, vermittels dieser institutionellen Änderungen die Leistungsfähigkeit (Effektivi-tät) und Wirtschaftlichkeit (Effizienz) des Verwaltungshandelns zu beeinflussen und zu steigern. Schließlich und letztlich sollen diese institutionellen und Per-formanz-Veränderungen gesamtwirtschaftliche und sozialpolitische Effekte (outcomes) hervorbringen. Es gibt nun aber keine eindeutigen, einfachen und robusten Erkenntnisse über Wirkungsbeziehungen zwischen Steuerungsaktivitä-ten (Instrumenten) und -ergebnissen. Stattdessen sind Strukturen, Verhalten und Ergebnisse allenfalls „lose gekoppelt“. Verwaltungspolitik zeichnet sich also dadurch aus, dass zwar Einigkeit über allgemeine Zielvorstellungen besteht (Ef-fizienz, Effektivität, Legalität, Legitimität), die Instrumente zur Erreichung die-ser Ziele aber überaus kontrovers diskutiert werden.

Vor diesem Hintergrund lassen sich aus der Sichtung der Literatur (Ellwein, Scharpf, Naschold, Jann, Benz, Seibel), angereichert durch eigene Erfahrungen mit den Reformen seit Anfang der 1990er, folgende Aussagen zum Erfolg oder Misserfolg thesenartig festhalten:

1. Reformabsichten werden immer massiv durch diejenigen beeinflusst, die sie umsetzen. Daher sei die Festlegung der Umsetzungsprozesse von gleicher Bedeutung wie die Festlegung der Ziele einer Verwaltungsreform, so

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Scharpf seine Erfahrungen resümierend (Scharpf 1987). Institutionelle Re-formen beginnen also eigentlich erst nach der politischen Durchsetzung.

2. Je größer die Autonomie einer Verwaltung, als umso reformresistenter er-weist sie sich. Dies lässt sich an vielen Beispielen aus dem Bereich der Mi-nisterialverwaltungen zeigen. Am reformfähigsten ist hingegen generell die kommunale Ebene, da sie am wenigsten autonom ist und am stärksten unter Öffentlichkeitsdruck steht.

3. Zwischen der Art des Problemdrucks (verwaltungsextern, verwaltungsin-tern), dem Reformobjekt (Organisation, Recht, Personal, Finanzen) und dem Ausmaß der Reformunterstützung gibt es nach Seibel einen Zusam-menhang. Reformbegünstigend wirken verwaltungsexterner Problemdruck und bei den Reforminstrumenten eher Ansätze zur Organisations- oder Rechtsreform als jene der Personal- oder Finanzreform sowie schlussend-lich ein Elitenkonsens über die Reformnotwendigkeit (Seibel 1998).

4. Aufgaben- und institutionenspezifische Differenzierungen sind erfolgreicher durchsetzbar als Globalkonzepte, die bis in die jüngste Vergangenheit in der Regel scheiterten. Dies hat zum einen mit dem komplexen Anspruch des „großen Wurfs“ zu tun. Muss doch bei umfassenden Veränderungsprozes-sen in Organisationen immer ein vorübergehender Funktionsverlust in Kauf genommen werden. Dies hat sich gerade in öffentlichen Verwaltungen als eine wesentliche Reformsperre für solche Veränderungskonzepte erwiesen, da der Betrieb ja weiterlaufen muss. Umfassende Reformprozesse tendieren daher dazu, die Organisation zu überfordern, mit dem Ergebnis, dass sie sel-ten Ergebnisse zeitigen (Bogumil/Naschold 2000). Zum anderen scheitern umfassende Reformkonzepte an der Vielgestaltigkeit öffentlicher Verwal-tung, die sich gegenüber einem generellen Zugriff weitgehend sperrt.

5. Das Prinzip der Einheit der Verwaltung ist ein Mythos. Es macht durchaus einen Unterschied, ob man eine Ordnungsverwaltung, eine Dienstleistungs-verwaltung oder eine politische Verwaltung verändern will. In Abhängig-keit von den Verwaltungstypen und je nach Aufgabenstellung, Aufgaben-vollzug, Organisation und Kontrollmodus bestehen beträchtliche Unter-schiede. Als Beispiele, bei denen langfristig deutliche Verbesserungen zu beobachten sind, hat Thomas Ellwein die Einwohnermeldeämter, die Ge-werbeaufsichtsämter, die Finanzämter und die Polizei erwähnt. Negative Beispiele sind für ihn eher Verwaltungen, die stark politisiert sind und ein hohes Maß an Verflechtung aufweisen, wie z.B. die Ministerialverwaltun-gen (Ellwein 1994). Umfassende Reformversuche überfordern somit häufig auch Politik und Verwaltungsspitzen. Die individuelle Aushandlung und Durchsetzung von Maßnahmen stellt einen Kampf an zu vielen Fronten dar, der in einem Teil der Politik- und Verwaltungsbereiche Befreiungsschläge

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und kostspielige Kompromisse notwendig macht. Dies kann zum Scheitern der weit reichenden Pläne führen.

6. Verwaltungsreformen scheitern vor allem an starken Beharrungskräften in den Organisationen. Es bedarf immer der Schaffung eines institutionellen und auch individuellen Eigennutzes und einer aktiven Gestaltung von Re-formprozessen. Nur auf diese Weise ist es möglich, die zum Organisations-alltag gehörenden, aber oftmals wenig thematisierten mikropolitischen Pro-zesse so zu „steuern“, dass sie im Sinne der Reformmaßnahmen eingesetzt werden können. Immer dann, wenn ein Reformprozess in deutlichem Aus-maß Gewinner und Verlierer produziert, verschärfen sich die mikropoliti-schen Auseinandersetzungen in Organisationen. Angesichts der institutio-nellen Rahmenbedingungen im öffentlichen Dienst, die vielen Akteuren er-hebliche Machtpotenziale zuweisen, ist gerade hier die Beachtung der Machtspiele in Reformprozessen unerlässlich (Bogumil/Naschold 2000). Wenn durch Reformmaßnahmen bestehende Kernüberzeugungen und Spiel-regeln der Akteure in Frage gestellt werden, bringt dies erhebliche Proble-me mit sich, da die Produktion von Anreizen zur Veränderung der Spielre-geln in der öffentlichen Verwaltung nicht einfach ist. Neue Spielregeln werden nur dann von den Akteuren akzeptiert, wenn die Gewinnchancen gleich bleiben, besser werden oder die Kosten für den Widerstand unver-hältnismäßig hoch sind.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass angesichts der bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen und der Akteurskonstellationen die Aus-sichten für umfassende Verwaltungsreformen in der öffentlichen Verwaltung prinzipiell begrenzt sind. Dies ist die ziemlich übereinstimmende Schlussfolge-rung aus verschiedenen organisations- und steuerungstheoretischen Ansätzen. Verwaltungsreformen sind daher in der Regel keine geplanten Prozesse der Problemlösung, sondern eher inkrementelle Anpassungen an veränderte Bedin-gungen, oftmals orientiert an historisch angelegten Lösungsmustern.

2 Verwaltungsstrukturrefomen als große Entwürfe?

Die Diskussion um die Reform der Verwaltungsstrukturen und -verfahren in den Bundesländern hat eine lange Tradition, denn seit der Nachkriegszeit gab es immer wieder Diskussionen, Ansätze und Vorstöße, den hergebrachten Verwal-tungsaufbau zu ändern, zu optimieren, zu straffen und effizienter zu gestalten, allerdings selten mit durchgreifendem Erfolg. Neu sind nun die gegenwärtige Intensität und das Ausmaß der praktischen Reformmaßnahmen. Alle Länder

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haben – wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Instrumenten – in den vergangenen Jahren weit reichende Maßnahmen im Bereich der Verwal-tungsstrukturreformen eingeleitet. Unter dem Druck der Haushaltskonsolidierung stellen sie sich verstärkt der schon lange von der Verwaltungswissenschaft ein-geforderten Aufgabe, zu einer Konzentration und Straffung der unmittelbaren Staatsverwaltung zu kommen, dabei insbesondere

Doppelstrukturen aus Sonderbehörden und Mittelinstanzen abzubauen,Kommunalisierungspotentiale auszuschöpfendort, wo möglich, Aufgaben zu privatisieren und die Verfahrenswege und Verfahrenszeiten kunden- und bürgerorientierter zu gestalten.

Dabei lassen sich in den 13 Flächenländern grob folgende Reformpfade unter-scheiden1:

a. Staatliche und kommunale Konzentration im Rahmen der Zweistufigkeit: Kennzeichen der zweistufigen Konzentration ist es, dass es keine allgemei-ne Mittelinstanz mehr gibt (Schleswig-Holstein, Brandenburg, Saarland, Mecklenburg-Vorpommern) oder sie abgeschafft wird (Niedersachsen im Jahr 2005). Es wird versucht, die dadurch in stärkerem Ausmaß vorhande-nen Sonderbehörden durch Zusammenführung (Konzentration) oder Um-wandlung in Landesbetriebe zu reduzieren. Zudem wird eine Reduzierung des Umfangs der unteren Landesverwaltung angestrebt. Dies geschieht durch ihre Integration in obere Landesbehörden oder indem Aufgaben auf Kommunen und Kreise (als Auftragsangelegenheit oder Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung) verlagert werden. Die kommunale Konzentration ist in Mecklenburg-Vorpommern und im Saarland am fortgeschrittensten.

b. Staatliche Bündelung im Rahmen der Dreistufigkeit: Dieses grundsätzliche Modell wird vertreten von Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Rheinland-Pfalz. Hier gibt es verschiedenste Formen von staatlichen Mittelinstanzen. Weder ihre Aufgabenwahrnehmung noch ihre Einbindung in die Verwaltungsstruk-

1 Die Reformpolitiken der jeweiligen Landesregierungen lassen sich kaum einer klaren Parteipo-

litik im ideologischen Sinne zuordnen, orientieren sich doch Landesregierungen gleicher Cou-leur oft an sehr unterschiedlichen Reformmodellen (vgl. z.B. die diametral entgegen gesetzten Reformvorschläge der CDU in Niedersachsen und der CDU in Baden-Württemberg). Jenseits der Orientierung an der Effizienzsteigerung angesichts der Haushaltsnöte scheinen vor allem die Konstellation zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien und die Person des Minister-präsidenten relevante Erklärungsfaktoren für die Ausrichtung der Reformpolitik zu sein (vgl. Bogumil/Ebinger 2005).

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tur sind bundesweit einheitlich. Grob lassen sich drei Typen unterscheiden: der dreistufige Aufbau mit Landesverwaltungsämtern in Sachsen-Anhalt2

und Thüringen3der dreistufige Aufbau mit funktionalem Aufgabenzuschnitt in Rheinland Pfalz4der dreistufige Aufbau mit regional ausgerichteten Mit-telinstanzen in Hessen, Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Nord-rhein-Westfalen5. Ausgehend von diesem dreistufigen Aufbau wird in der Regel eine Fokussierung der Mittelinstanzen versucht, indem diese einer Aufgabenkritik unterzogen, entbehrliche Aufgaben teils privatisiert, teils an Kreise und Kommunen abgegeben werden, sie z.T. funktional neu ausge-richtet oder durch die Integration von unteren und oberen Sonderbehörden in ihrer Aufgabenwahrnehmung sogar gestärkt werden (Baden-Württemberg).

2 Ein Landesverwaltungsamt (LVwA) in Halle mit Außenstellen in Magdeburg und Dessau

wurde zum 01.01.2004 in Sachsen-Anhalt eingerichtet, da eine Kreisgebietsreform, die zu aus-reichend großen Kreisen führen und damit die Abschaffung der 1990 eingerichteten Regie-rungspräsidien ermöglichen sollte, gescheitert war (vgl. Bock 2000: 67). Im Zuge der geplanten Funktionalreform soll es jedoch in Folge von Kommunalisierungen und Privatisierungen zu ei-ner Aufgabenreduktion kommen (vgl. Leimbach / Borschel 2004: 486 f.).

3 Von Stellung und Aufgaben her ähnelt das LVwAA weitgehend den Regierungspräsidien bzw. Bezirksregierungen in anderen Ländern (Peter 2004: 307). Es ist jedoch für das gesamte Terri-torium des Freistaats Thüringen zuständig; insofern stellt es nach diesem Kriterium eine Lan-desoberbehörde dar (vgl. Helbing 1998: 76).

4 Rheinland-Pfalz verfügte bis zum Jahr 2000 über einen dreistufigen, an regionalen Kriterien orientierten Verwaltungsaufbau mit drei Bezirksregierungen in Neustadt an der Weinstraße, Koblenz und Trier. Diese wurden im Rahmen des Verwaltungsorganisationsgesetzes (VwORG) durch so genannte Direktionen mit funktionalem Aufgabenzuschnitt ersetzt (vgl. Stadelmaier / Konzendorf 2004: 730; Bogumil et al. 2004: 48). Die Standorte der Mittelbehörden blieben da-bei erhalten, sie erhielten jedoch ortsweise andere Zuständigkeiten; außerdem wurden 30 Son-derbehörden in sie integriert.

5 In Hessen soll bis zum Jahr 2008 ein Gesamtkonzept umgesetzt werden, das zu einer Stärkung der drei Regierungspräsidien als Bündelungs- und Einheitsbehörden führen soll, indem eine or-ganisatorische Straffung und Verschlankung der Behörden sowie eine Beschränkung auf die Kernfunktion der Bündelung realisiert werden (vgl. Brenski 2004: 192.). In Sachsen wurde im März 2004 ein umfangreiches Verwaltungsmodernisierungsgesetz verabschiedet. Ziel war es, die Verwaltungsorganisation zu straffen, Vorschriften und Verfahren zu deregulieren und Auf-gaben auf die Kommunen zu übertragen (vgl. Brenski 2004: 337). Hiervon waren auch die all-gemeinen Mittelbehörden betroffen. Zu Baden-Württemberg und NRW vgl. Bogumil et al. 2004 und Bogumil/Ebinger 2005. In NRW strebt die neue Landesregierung eine Regionalisie-rung im Rahmen der Dreistufigkeit an, ein Modell, welches bislang in keinem Land praktisch umgesetzt wurde. Nach diesem Modell sollen die Regierungspräsidien abgeschafft werden. An ihre Stelle sollen Regionalverbände oder Regionalverwaltungen treten, die nicht mehr Teil der staatlichen Landesverwaltung wären, sondern selbständige Verwaltungsträger, die staatliche Aufgaben als Auftragsaufgaben ausführen. Diese Organe sollen ergänzt werden durch in direk-ter oder indirekter Wahl demokratisch legitimierte Versammlungen.

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An dieser Stelle kann keine Darstellung aller Maßnahmen oder Auswirkungen dieser Verwaltungsstrukturreformen in den Bundesländern erfolgen (vgl. hierzu Bogumil u.a. 2004, Bogumil/Ebinger 2005; Bogumil/Kottmann 2006; Brenzki 2004; Hesse/Götz 2003; 2004; Reichard 2004; Bauer u.a. 2006 sowie diverse Hesse-Gutachten zu den einzelnen Bundesländern, die allerdings stärker auf der konzeptionellen Diskussionsebene zu verorten sind). Stattdessen soll es hier ausschließlich um die Art der politischen Steuerung dieser Verwaltungsreform-prozesse gehen, die sich, so die grundlegende These dieses Aufsatzes, nachhaltig verändert hat.

Die aktuellen Verwaltungsstrukturreformmaßnahmen sind unabhängig von ihrer unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtung in der Vorgehensweise durch-aus ähnlich ausgerichtet und unterscheiden sich damit von früheren Reformver-suchen. Vor dem Hintergrund der angespannten Lage der öffentlichen Finanzen und angesichts eines Personalkostenanteils der Länder von durchschnittlich ca. 40% ist das allererste Ziel der Reformmaßnahmen die Reduktion der Personal-kosten in der Landesverwaltung. Um diese auch zu erreichen, werden die Mo-dernisierungsbemühungen durch klare Vorgaben und eine gezielte Prozesssteue-rung angeleitet, die die bisherige Dominanz eher inkrementalistischer Reforman-sätze infrage stellt. Besonders deutlich wird diese neue Vorgehensweise in Ba-den-Württemberg und Niedersachsen. Diese neue Politik der Verbindung einer Personalkostenreduktion mit größer angelegten Verwaltungsreformen (Große Entwürfe) ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

1. Im Vorfeld der Neugestaltung wurden auf politischer Ebene die Eckpunkte der Reform einschließlich der zukünftigen strukturellen Ausrichtung und der wirtschaftlichen Ziele beschlossen. Dies geschah in Ad-hoc-Komitees unter Ausschluss der Öffentlichkeit, ohne eine detaillierte Aufgabenkritik und ohne eine intensive Einbeziehung der Verwaltungen. Damit wurden Unruhe und Kritik der Verwaltung und eine Diskussion in der Öffentlich-keit während der Planungsphase vermieden.

2. Die politisch vorgegebenen Eckpunkte der Reform werden als monolithi-sche, nicht zu diskutierende Reformpakete dargestellt und entsprechend vermarktet. Mit dem Argument, dass die Reform nur als Ganzes umgesetzt und Ausnahmen nicht gemacht werden können, entzogen sich die Regie-rungen der bei inkrementalistischen Reformen üblichen, aufreibenden Kompromisssuche auf fachlicher Ebene. In Baden-Württemberg wurde noch während der Regierungszeit von Ministerpräsident Teufel beschlossen, zum 1.1.2005 350 Sonderbehörden abzubauen, zusammenzulegen oder in die allgemeine Verwaltung einzugliedern. Von den Maßnahmen waren ca. 20.000 Beschäftigte betroffen. In der Regel wurden die oberen Sonderbe-

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hörden in die allgemeinen Mittelinstanzen und die unteren Sonderbehörden in die Kommunen verlagert, so dass man sich hier eindeutig am Prinzip der konzentrierten Dreistufigkeit orientiert hat. In Niedersachen ist mit dem Re-gierungsantritt von Ministerpräsident Wulff der genau entgegen gesetzte Weg gegangen worden, indem die Auflösung der fünf Bezirksregierungen und die Verteilung ihrer Aufgaben auf Ministerien, Sonderbehörden und Kommunen beschlossen wurde, eine klare und für ein Flächenland völlig neue Ausrichtung an der Zweistufigkeit. Beide Maßnahmen stellen im Spektrum der in der Nachkriegszeit realisierten Maßnahmen auf Länder-ebenen zweifelsohne große Reformentwürfe dar.

3. Nach den politischen Grundsatzentscheidungen wurden die betroffenen Verwaltungseinrichtungen jeweils selbst beauftragt, zeitnah Vorschläge für die Umsetzung dieser Maßnahmen vorzulegen. Dies beinhaltet, dass die Ressorts eine Aufgabenkritik vornehmen und ein Konzept zur Implementie-rung der politischen Leitlinien entwickeln müssen. Man kann diesen Vor-gang als „unechte“ Aufgabenkritik bezeichnen, da der Prozess nicht offen, sondern sowohl hinsichtlich der zukünftigen Verwaltungsstrukturen als auch in Bezug auf die zu erwirtschaftenden Einsparungen vorgegeben ist. Die normalerweise anzutreffende Verhaltensweise, dass die einzelnen Ver-waltungen Hinweise erarbeiten, warum fachliche Interessen eine derartige Verwaltungsreform nicht zulassen, wurde in beiden Fällen dadurch umgan-gen, dass durch gezieltes Prozessmanagement nur solche Vorschläge akzep-tiert wurden, die auf der Linie des Gesamtpaketes lagen, egal ob sie inhalt-lich angemessen waren oder nicht. Zudem wurden den Verwaltungen keine weiteren Umsetzungsdetails vorgegeben, sondern – im Rahmen der generel-len Leitlinie – ihnen selbst überlassen. Damit wird die Verantwortung für die Entwicklung des Feinkonzepts den Ressorts selbst überlassen, was den Widerstand im Implementationsprozess stark reduziert.

4. In beiden Fällen sind diese Umstrukturierungsmaßnahmen mit exakt festge-legten Einsparvorgaben versehen worden. In Baden-Württemberg ist in den betroffenen Verwaltungsbereichen binnen fünf Jahren eine „Effizienzrendi-te“ von 20% der Personalkosten des Jahres 2004 zu erwirtschaften. In Nie-dersachsen sollen durch festgelegte Stelleneinsparungen ebenfalls innerhalb von fünf Jahren Einsparungen in ähnlichen Dimensionen realisiert werden.

5. In beiden Fällen konnte diese Strategie natürlich nicht gegen die gesamte Landesverwaltung durchgesetzt werden, sondern es wurden strategische Bündnisse verschiedener Verwaltungszweige gegen andere geschlossen. In Baden-Württemberg verband sich Ministerpräsident Teufel mit den Landrä-ten und den Regierungspräsidenten gegen die Ministerialverwaltung, in

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Niedersachsen wurde ein Bündnis der Landräte und der Ministerialverwal-tung gegen die Bezirksregierungen realisiert.

In beiden Ländern ist es mit dieser Strategie gelungen, innerhalb nur eines Jahres diese recht weit reichenden Maßnahmen umzusetzen, so dass die Verwaltungen seit Anfang 2005 in den neuen Verwaltungsstrukturen arbeiten.

3 Wiederaneignung der Verwaltungspolitik – Chance oder Risiko?

Die beschriebene Tendenz zur Realisierung von „großen Verwaltungsreformen“ kann als Reaktion und Folge eines Lernprozesses der Politik gedeutet werden. Zum einen erwiesen sich inkrementalistische Reformansätze als sehr zeitauf-wändig und aufgrund ihrer Kompromissorientierung zudem oft als inhaltlich unbefriedigend. Zum anderen würdigen die Bürger als „Kunden“ der Politik inkrementalistische Reformansätze nur sehr bedingt. Für gewöhnlich gehen par-tielle und schleichende Reformbemühungen aufgrund ihrer Komplexität und ihres unspektakulären Charakters im politischen Tagesgeschäft unter. Die neue Politik der „Großen Entwürfe“ stellt eine Lösung für diese Schwierigkeiten des klassischen inkrementalistischen Reformprozesses dar. Erstens können durch einen Totalumbau der Landesverwaltung Vetopositionen „im Handstreich“ zer-stört und Machtverhältnisse verändert werden. Damit entfällt der Zwang, die Vorschläge einer echten, d.h. fachlich und nicht ausschließlich politisch begrün-deten Aufgabenkritik berücksichtigen zu müssen und Kompromisslösungen einzugehen. Des Weiteren können durch die Verlagerung nicht nur beträchtliche Einsparungen durchgesetzt werden – mit zusätzlichen Kompetenzen gelockte Verwaltungsebenen erkaufen diese i.d.R. gerne durch die Zusage einer günstige-ren Erledigung. Die Realisierung der Kostensenkung wird durch die Kompe-tenzverlagerungen auch in die Hände Dritter – und damit weg aus der die Regie-rung direkt belastenden politischen Arena – verlagert.

Das wesentliche Motiv für die großen Entwürfe ist die Absicherung einer wirklichen Einsparpolitik, die Stärkung politisch loyaler Verwaltungsebenen und das Verdeutlichen von Reformkompetenz und nicht so sehr ein neues Interesse der Politik für Verwaltungsstrukturen und -verfahren. Da man gelernt hat, dass durchgreifende Reformen mit der Verwaltung kaum zu machen sind, macht man diese gegen Teile der Verwaltung. Angesichts des beispielslosen externen Fi-nanzdrucks und des schlechten Rufs der Bürokratie können inhaltliche Diskussi-onen um die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen ausgeblendet werden. Diese Aus-blendung funktionaler und sachlicher Argumente kann aber in der Praxis durch-aus zu Problemlagen führen. Dies soll kurz an zwei Beispielen erläutert werden:

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der Abschaffung der Bezirksregierungen und Auswirkungen dieser Modernisie-rungsbemühungen auf die Umweltverwaltung.

1. Nach ersten Analysen führt die Abschaffung der staatlichen Mittelinstanzenin Niedersachsen zu einigen Problemlagen, denn sie bringt die Gefahr eines wachsenden Ressortegoismus aufgrund fehlender Bündelung mit sich und begünstigt damit das Anwachsen von Konflikten auf der Regierungsebene, führt unzweifelhaft zu einem Anwachsen und einer Verfestigung von Son-derbehörden, führt in Kombination mit dem teilweisen Wegfall des Wider-spruchsverfahrens zu einem deutlichen Anstieg von Gerichtsverfahren in Höhe von knapp 40% und könnte in einzelnen Aufsichtsbereichen (Kom-munalaufsicht, Naturschutz) negative Auswirkungen mit sich bringen (vgl. Bogumil/Kottmann 2006).

2. Die Modernisierungsprozesse führen im Bereich der Umweltverwaltung zu erheblichen Problemlagen, da die Besonderheiten dieser6 im Rahmen der ganzheitlichen Reformkonzepte zu wenig berücksichtigt werden. Dabei stel-len sich insbesondere Maßnahmen der Kommunalisierung aus der Sicht des Umweltschutzes vielfach als problematisch dar. Hier ist die Gefahr einer unglücklichen Konzentration der Kompetenzen für übergreifende Umwelt-belange und lokale Wirtschaftsförderung gegeben. So könnte sich die Kommunalverwaltung einem starken Druck von Seiten der lokalen Wirt-schaft bei Genehmigungen und Überwachung im Rahmen der Gewerbeauf-sicht, bei der Ausweisung von Überschwemmungsgebieten oder der Aus-weisung von Naturschutzgebieten ausgesetzt sehen. Die „Politisierung“ von Entscheidungen auf der Ebene der Kreise ist daher ein zentraler Aspekt bei der Debatte um die Neuorganisation der Umweltverwaltung. Da entspre-chende Bedenken von allen Beteiligten – auch von der Seite der Wirt-schaftsverbände und sogar aus der Arbeitsebene der Kommunalverwaltung selbst – geäußert werden, sind sie als äußerst glaubhaft einzustufen (vgl. Bauer u.a. 2006).

6 Die Umweltverwaltung in den Ländern war nun seit ihrem Ausbau in den 1980er Jahren lange

Zeit relativ stark sektoralisiert und durch die Dominanz regulativer Tätigkeiten wenig kommu-nalisiert. Die starke Sektoralisierung wurde unter anderem damit begründet, dass die „Umwelt“ ein Allgemeingut sei und folglich ohne den Schutz einer, ihre Individualrechtsgüter schützen-den Lobby auskommen muss. Umweltschutz – verstanden als Schutz der natürlichen Lebens-grundlage vor schädlichen Einwirkungen – ist folglich eine Aufgabe, die maßgeblich vom All-gemeininteresse getragen werden muss. Neben dem Umweltrecht muss auch die organisatori-sche Ausgestaltung des staatlichen Umweltschutzes diesen besonderen Bedingungen Rechnung tragen und die Erfüllung der Aufgabe ermöglichen.

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Diese Beispiele verdeutlichen, dass auch der verständliche Wunsche nach politi-scher Steuerungsfähigkeit nicht zu einer Opferung der Problemlösungsfähigkeit staatlichen Handelns führen darf. Inkrementelles Vorgehen hat darüber hinaus den erheblichen Vorteil, dass historische, fest in der Tradition des Landes und der Verwaltung verwurzelte kulturelle Prägungen berücksichtigt werden können. Gegen die neuerdings zu beobachtenden politisch motivierten Reformkaskaden spricht auch, dass damit die für eine systematische Organisationsentwicklung notwendige „Ruhe“ im strukturellen Aufbau nicht mehr gegeben ist. Die bisheri-gen, allerdings noch unzureichenden empirischen Erfahrungen deuten darauf hin, dass die Kombination dramatischer Personalkostenreduktionen mit der Strategie großer Reformentwürfe möglicherweise zu nicht unerheblichen Einbußen an Leistungsqualität führen kann. Zwar kann man, in Anlehnung an ein Zitat des mecklenburgischen Umweltministers, auch im Dunkeln ohne Licht Fahrrad fah-ren, nur eben nicht so sicher. Im Hinblick auf den Wegfall von Kontroll- und Überwachungsfunktionen – bspw. im Umweltschutz – scheinen Vorreiter der Reformbewegung derzeit einen ähnlichen Weg zu beschreiten.

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Neujustierung von privaten und öffentlichen Interessen 123

Zur Neujustierung von privaten und öffentlichen Interessen in der europäischen Infrastrukturpolitik – das Beispiel der Wasserversorgung Neujustierung von privaten und öffentlichen Interessen

Heiderose Kilper

1 Einleitung

Über Jahrzehnte hinweg hat es zum Kernbestand deutscher Sozialstaatlichkeit gehört, dass der Staat nicht nur als Garant der Daseinsvorsorge fungiert, sondern auch selbst diese Leistungen erbracht hat. Dies gilt in erster Linie für die Kom-munen. Mit ihren Stadtwerken, Verkehrsbetrieben und Wohnungsgesellschaften, aber auch Krankenhäusern, Kindergärten, Sport- und Freizeitanlagen stellen sie für die Bürger ein breites Spektrum an Versorgungsleistungen bereit, und zwar zu Preisen, die nicht ausschließlich und primär an Rentabilitätskriterien ausge-richtet sind. Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge werden als öffentliche Güter betrachtet, deren Erbringung dem Gemeinwohl dienen soll, und die von daher nicht am freien Markt ver- und gekauft werden.

Beides, sowohl die Behandlung dieser Güter und Leistungen als öffentliche Güter wie auch deren Erbringung durch öffentliche Organisationen, ist seit ge-raumer Zeit unter Druck geraten. Dies hat ordnungspolitische, ökonomische, aber auch fiskalische Gründe. Europaweit ist der Markt für bestimmte Infra-strukturleistungen inzwischen liberalisiert worden. Dies gilt für den Bereich der Energieversorgung (Strom und Gas) wie für das Gebiet der Telekommunikation. Einzelne Kommunen in Deutschland gehen dazu über, ihre Unternehmen kom-plett an private Investoren zu verkaufen, um mit den Erlösen den Kommunal-haushalt zu sanieren. Jüngstes Beispiel dafür ist die Stadt Dresden, die sich von ihren Wohnungsgesellschaften vollständig getrennt hat. Im Bereich der öffentli-chen Daseinsvorsorge vollzieht sich ein institutioneller Wandel, in dem es zu einer Neujustierung zwischen privaten und öffentlichen Interessen kommt.

Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem institutionellen Wandel, wie er im Bereich der Wasserversorgung zu beobachten ist, und der einige Besonder-heiten aufweist. Während nahezu sämtliche Bereiche der öffentlichen Daseins-vorsorge vor allem unter Effizienz- und Effektivitätskriterien auf den Prüfstand gestellt werden und die Frage des öffentlichen oder privaten Eigentums immer öfter zugunsten von Letzterem entschieden wird, kann für die Ressource Wasser eine Sonderstellung beobachtet werden. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass hier die kartellrechtlichen Vorschriften des Gesetzes gegen Wettbewerbs-

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beschränkungen (GWB) auch in der novellierten Fassung keine Anwendung finden. Eine Liberalisierung im Wasserbereich ist in Deutschland gesetzlich ausgeschlossen. Die Sonderstellung lässt sich auch daran ablesen, dass die euro-päische Politik mit der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) in diesem Sektor zwar durchaus einen institutionellen Wandel angestoßen hat, dies aber primär mit ökologischen und nicht mit ökonomischen Zielsetzungen begründet. Während die Liberalisierung der Märkte im Bereich von Energieversorgung und Telekommunikation auf die Umsetzung von europäischem Wettbewerbsrecht zurückzuführen ist, ist dessen Gültigkeit für den Wasserbereich weit weniger eindeutig.

Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass sich in diesem Infrastruktur-Sektor europaweit neue Organisationsformen herausbilden, die nicht mehr ein-deutig über Mechanismen der staatlichen Hierarchie gelenkt werden, aber auch nicht ausschließlich privaten Marktmechanismen unterworfen sind. Zu beo-bachten sind vielfältige Ausprägungen intermediärer Organisationen, die in dem Beziehungsgeflecht zwischen Versorgern, Verbrauchern und Regulationsbehör-den angesiedelt sind und hier ganz unterschiedlich wirken.

Sich in diesem Kontext mit den Arbeiten von Ulrich Widmaier zu beschäf-tigen, ist lohnend. Mit dem Zusammenhang zwischen Aufgaben und Struktur öffentlicher Organisationen hat er sich wiederholt auseinandergesetzt – so auch in seiner Antrittsvorlesung an der Ruhr-Universität Bochum1. Gerade für die Suche nach Erklärungsansätzen für die offensichtliche Sonderstellung der Was-serversorgung im gegenwärtigen Prozess des Wandels im Bereich der öffentli-chen Daseinsvorsorge finden sich hier nachdenkenswerte Anregungen und Hin-weise. Dies gilt insbesondere für die Distanzierung von der „unproduktiven Di-chotomie ‚Staat-Markt’“ und den Hinweis auf „Zwischenformen der organi-satorischen Gestaltung“, die durchaus als effizient betrachtet werden (Widmaier, 1996: 8). Es trifft auch auf den Befund zu, dass es einen „wahre(n) Fundus von vielfältigen institutionell-organisatorischen Möglichkeiten zur Organisation eines solchen Beschaffungsprozesses“ gebe (Widmaier, 1996: 8).

Der institutionelle Wandel im Wassersektor legt es nahe, diese Anregungen aufzunehmen, da dieser nicht der rein ökonomischen Entwicklungslogik von Liberalisierung und Privatisierung folgt, wie sie für andere Infrastrukturbereiche gilt. Dies hängt mit den besonderen Eigenschaften der Ressource Wasser zu-sammen. Deren Charakter als öffentliches Gut wird offensichtlich nicht so umstandslos zur Disposition gestellt wie andere Güter und Leistungen der öffent-lichen Daseinsvorsorge. Es sind drei Befunde Widmaiers, die so etwas wie den „roten Faden“ für die Argumentation und Gliederung des nachfolgenden Beitra- 1 Gehalten am 26. Juni 1996 unter dem Titel „Der kleine Unterschied. Über Theorie und Praxis

der Modernisierung privater und öffentlicher Organisationen“.

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ges bilden: 1. die Betonung, dass sich öffentliche Organisationen mitunter mit der Produktion von Gütern und Dienstleistungen zu beschäftigen haben, die sich „durch ganz spezifische Eigenschaften auszeichnen“ (Widmaier, 1996: 5); 2. der Hinweis auf „Zwischenformen der organisatorischen Gestaltung“ (Widmaier, 1996: 8) bei der Leistungserbringung im Infrastrukturbereich; 3. die Metapher des „kleinen Unterschieds“ (Widmaier, 1996), die jetzt für den institutionellen Wandel im Wassersektor reklamiert wird.

Im Folgenden wird die Wasserversorgung als ein besonderes Gut der Infra-strukturversorgung (ökonomische Perspektive) bzw. der öffentlichen Daseins-vorsorge (normative Perspektive) dargestellt. Es werden die institutionellen Rahmenbedingungen und Organisationsformen skizziert, unter und in denen dieses Gut in Deutschland bereitgestellt wird (Kapitel 2). Es werden Forschungs-ergebnisse vorgestellt, die im Rahmen eines europäischen Forschungsprojekts am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) erar-beitet worden sind, und die sich mit der Herausbildung neuer intermediärer Or-ganisationen in der Wasserversorgung beschäftigen (Kapitel 3). Im Schluss-kapitel werden die wichtigsten Ergebnisse des Beitrags zusammengefasst. Es wird aufgezeigt, dass der institutionelle Wandel im Wassersektor einer anderen, ganz eigenen Logik folgt. „Der kleine Unterschied“ gegenüber anderen Berei-chen der Infrastrukturversorgung und der öffentlichen Daseinsvorsorge mani-festiert sich darin, dass mit diesem Wandel andere, weil primär ökologische Ziele verfolgt werden, und dass sich dieser Wandel weit vielschichtiger gestaltet, als er mit der „unproduktiven Dichotomie ‚Staat-Markt’“ (Widmaier, 1996: 8) erfasst werden könnte (Kapitel 4).

2 Wasserversorgung – ein besonderes Gut der öffentlichen Daseinsvorsorge

2.1 Die ökonomische Begründung

Öffentliche Güter befriedigen öffentliche Bedürfnisse. In der ökonomischen Theorie wird diese Aussage dahingehend präzisiert, dass derartige öffentliche Bedürfnisse nicht kollektiv, sondern nur von einzelnen Individuen empfunden werden können. Diese ihrerseits sind bei öffentlichen Gütern nicht willens oder in der Lage, diese Bedürfnisse durch die Bereitstellung von Gütern und Dienst-leistungen zu befriedigen. Öffentliche Güter sind in der Terminologie der öko-nomischen Theorie Kollektivgüter, die sich dadurch auszeichnen, dass hier die Gewinnmöglichkeiten fehlen, die private Unternehmen veranlassen könnten, das

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betreffende Gut anzubieten. Der Preis- oder Marktmechanismus versagt und muss durch einen anderen Entscheidungsmechanismus ersetzt werden.

Als klassischer Bereich, auf den die Theorie des Marktversagens ihre An-wendung findet, gilt der Infrastrukturbereich. Was unter Infrastruktur subsumiert wird, kann nicht allgemein oder abschließend definiert werden. Dies ist ange-sichts der „Heterogenität der Infrastruktur“ (Frey, 1988: 202, Sp.1) auch nicht verwunderlich. Übereinstimmung wird konstatiert „lediglich in Bezug auf den Verkehr und die Energieversorgung“ (ebd.). Wegen der von ihm aufgezählten technischen, ökonomischen und institutionellen Merkmale rechnet Frey (1988) weiterhin zur Infrastruktur die Bereiche Nachrichtenübermittlung, Was-serversorgung, Umweltschutz („Entsorgung“), Kirchenbauten und Freizeitanla-gen (Kultur, Sport, Erholung) sowie das Bildungs-, Forschungs- und Gesund-heitswesen (ähnlich: Bach, 1994: 214).

Für die Güter und Leistungen, die im Infrastrukturbereich hervorgebracht und angeboten werden, wird vor allem aus zwei Gründen ein Marktversagen angenommen: a) wegen der Rentabilitätsproblematik. Hohe Investitionskosten und ein hoher Fixkostenanteil, die sich erst in einem langen Zeitraum amortisie-ren, machen, so die Argumentation, Investitionen in diesen Bereich für Private uninteressant. Dies gilt insbesondere für die Einrichtungen der technischen, der baulichen und der Verkehrsinfrastruktur; b) wegen der Trittbrettfahrer-Proble-matik. Es ist im Infrastrukturbereich nur bei verhältnismäßig hohen Kosten mög-lich, Zahlungsunwillige von der Inanspruchnahme auszuschließen. Dies gilt etwa für Straßen, Wege und Brücken als Teile der Verkehrsinfrastruktur oder auch für Parks als Teil der Erholungsinfrastruktur.

In den Wirtschaftswissenschaften ist die Theorie des Marktversagens um-stritten. Auch Widmaier (1996) teilt diese Skepsis. Am Beispiel der Geschichte der Leuchttürme an den Küsten Englands zeigt er auf, „daß es so etwas wie ge-nuin öffentliche Güter kaum gibt“ (Widmaier, 1996: 8). Er argumentiert, dass die Definition dessen, was öffentliche Güter und hoheitliche Aufgaben sind, eine politische Entscheidung ist. Diese ist ihrerseits von den partikularen Interessen einzelner Organisationen beeinflusst, die in bestimmten Phasen einen dominie-renden Einfluss in der Politik ausüben. Um auf das Beispiel der englischen Leuchttürme zurückzukommen: Hier war es der Wunsch der englischen Marine, dass das System vereinheitlicht und zentralisiert worden ist.

Ein Blick auf die aktuelle Entwicklung im Bereich der Infrastruktur bestä-tigt diesen Befund. Auf die Liberalisierung der Märkte im Bereich der Energie-versorgung und der Telekommunikation wurde bereits verwiesen. Die Einfüh-rung von Mautgebühren für Lastkraftwagen zeigt, dass es für die Trittbrettfahrer-Problematik durchaus Lösungen gibt. Selbst im Sicherheitssektor, einem Kern-

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bereich staatlicher Aufgabenerfüllung, werden bestimmte Leistungen inzwischen privat erbracht.

Auch für unser Thema, die Wasserversorgung, lassen sich aus ökonomi-scher Sicht leicht Argumente finden, die gegen das Vorhandensein der Trittbrett-fahrer-Problematik sprechen und mit denen die Theorie des Marktversagens widerlegt werden könnte. Anders wäre die Tatsache nicht zu erklären, dass in-zwischen große Energieversorgungsunternehmen die Kommunen bedrängen, die Wasserversorgung zu privatisieren. Dies gilt auch für den Umstand, dass die deutsche Wirtschaftsministerkonferenz immer wieder Anstrengungen unter-nimmt, um das Liberalisierungsverbot in der Wasserversorgung aufzuheben. Zudem gelten die Wasserversorgung in England/Wales und in Frankreich als Vergleichsbeispiele für mehr Markt und Wettbewerb bzw. weniger Staat (Kluge u.a., 2003: 7).

Und dennoch: Das Liberalisierungsverbot für die Wasserversorgung gilt in Deutschland. Dies lässt die Vermutung zu, dass in der deutschen Politik derzeit (noch?) ein normatives Grundverständnis dominiert, das gegenüber einer rein ökonomischen Argumentation immun ist.

2.2 Die normative Begründung

Fragt man nach den Wurzeln dieses Grundverständnisses, kommt man nicht umhin, die Schrift „Die Verwaltung als Leistungsträger“ zur Hand zu nehmen, die von Ernst Forsthoff verfasst und 1938 erschienen ist.2 In dieser Schrift ist erstmalig in Deutschland die Daseinsvorsorge als Aufgabe der modernen Ver-waltung bestimmt worden. Es sind drei Begriffe, die Forsthoff in seiner Schrift verwendet und die auch für unser heutiges Verständnis der Notwendigkeit einer öffentlichen Daseinsvorsorge konstitutiv sind: der beherrschte Raum; der effek-tive Raum; die soziale Bedürftigkeit.

Im Kapitel „Die Daseinsvorsorge als Aufgabe der modernen Verwaltung“ schildert Forsthoff in wenigen Passagen deren Entstehungsbedingungen. In die-sem Zusammenhang trifft er die Unterscheidung zwischen beherrschtem und effektivem Raum. Als „beherrschten Raum“ bezeichnet er denjenigen, „der dem Menschen in so intensiver Weise zugeordnet ist, daß er ihm allein gehörend, als sein Eigen betrachtet, sich als sein Herr bezeichnen darf. Es ist der Hof, der A-cker, der ihm gehört, das Haus, in dem er lebt“ (Forsthoff, 1959: 25). Dieser „beherrschte Raum“ bietet dem Menschen nun eine Summe von Lebensgütern,

2 Im Jahre 1959 sind das erste und das vierte Kapitel der Schrift wieder aufgelegt worden, er-

gänzt um zwei neue Kapitel und jetzt unter dem Titel „Rechtsfragen der leistenden Verwal-tung“ veröffentlicht (Forsthoff, 1959).

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über die er allein verfügt und die für ihn eine gesicherte Lebensbasis darstellen. Als „effektiven Raum“ bezeichnet Forsthoff denjenigen, „in dem sich das Leben, über den beherrschten Raum hinaus, tatsächlich vollzieht“ (Forsthoff, 1959: 25). Er spricht von der „Möglichkeit einer sozusagen weiträumigen Lebensweise“, die die modernen technischen Mittel, insbesondere das moderne Verkehrswesen, bieten. „An die Stelle des Hauses ist die Etage, das möblierte Zimmer, die Schlafstelle getreten. Die bis zur Minimalisierung gehende Verengung des be-herrschten Lebensraumes kennzeichnet die städtische, zumal die großstädtische Lebensweise“ (ebd.).

Der dritte Begriff ist der Begriff der „sozialen Bedürftigkeit“. Darunter ver-steht Forsthoff „die Lage, in der sich derjenige befindet, der sich die notwendi-gen oder über das Maß des Notwendigen hinaus erstrebten Lebensgüter nicht durch Nutzung einer Sache, sondern im Wege der Appropriation zugänglich machen muß“ (Forsthoff, 1959: 26). In einer Fußnote stellt Forsthoff klar, dass „soziale Bedürftigkeit“ in diesem Sinne nicht mit sozialer Fürsorge gleichgesetzt werden darf – im Gegenteil: die „soziale Bedürftigkeit“ des modernen Menschen ist „in gewisser Weise unabhängig von der ökonomischen Lage“ (Forsthoff, 1959: 26, Fn. 6).

Die Argumentation Forsthoffs lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die in-dustriell-technische Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, das Bevölke-rungswachstum und die Verstädterungsprozesse, die damit einhergegangen sind, haben die Daseinsvorsorge zur Aufgabe der modernen Verwaltung gemacht. Infolge des sozialen und siedlungsstrukturellen Wandels ist die soziale Bedürf-tigkeit des Menschen ein strukturelles Merkmal jeder modernen Gesellschaft. Der effektive Raum prägt den Lebensalltag des Menschen. Dieser ist nicht mehr im Besitz der elementarsten Lebensgüter. Vielmehr muss er sich diese aneignen. Eine gerechte, sozial angemessene Gestaltung der Appropriationschancen – dies, so Forsthoff, ist die Aufgabe der modernen Verwaltung. Und diese Aufgabe nennt er „Daseinsvorsorge“.

Folgt man der Argumentation Forsthoffs und unterstellt die „soziale Bedürf-tigkeit“ als strukturelles Merkmal menschlichen Daseins in einer modernen In-dustriegesellschaft, muss – anders als in der ökonomischen Kollektivgut-Theorie und der Theorie des Marktversagens – die Existenz genuin öffentlicher Güter bejaht werden. Dies gilt insbesondere für die Ressource Wasser bzw. die Trink-wasserversorgung. Die Ressource Wasser gehört zu den Naturelementen, die für den Menschen lebensnotwendig sind. Ohne Nahrungsmittel kann der Mensch unter bestimmten Umständen mehrere Tage, ja Wochen überleben, ohne Wasser nur wenige Tage. Die kontinuierliche Versorgung der Bevölkerung mit gesun-dem Trinkwasser, aber auch die Abwasserentsorgung, gehören in Deutschland seit der Herausbildung des modernen Rechts- und Sozialstaats Ende des 19.

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Jahrhunderts zu den Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge. Es gilt als Auf-gabe der öffentlichen Verwaltung, alle Bürger, auch in entlegenen Gebieten, mit Wasser zu versorgen, und zwar in einer Qualität, die nicht zur Schädigung der Gesundheit führt, und zu Preisen, die gesellschaftlich akzeptiert sind und von Bürgern aller Einkommensschichten bezahlt werden können. Die „soziale Be-dürftigkeit“ des modernen Menschen, dessen Lebensalltag vom „effektiven Raum“ geprägt ist, ist gerade in der Trinkwasserversorgung gegeben. So heißt es in § 1 der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie (WRRL): „Wasser ist keine übliche Handelsware, sondern ein ererbtes Gut, das geschützt, verteidigt und behandelt werden muss“.

2.3 Institutionelle Rahmenbedingungen und Organisationsformen in der Leistungserbringung

Die Einsicht, dass Wasser ein besonderes Gut der öffentlichen Daseinsvorsorge ist, hat seinen Niederschlag nicht nur in der europäischen Richtlinie, sondern auch im deutschen Rechtssystem gefunden. Nach dem Wasserhaushaltsgesetz und den Landeswassergesetzen obliegt die Verteilung der Nutzungsrechte von Wasser dem Staat, der diese langfristig (bis zu 30 Jahre) an die Versorgungs-unternehmen vergibt. Wesentliche Vorschriften des Gesetzes gegen Wettbe-werbsbeschränkungen n.F. (GWB) finden auf dem Wasserversorgungsmarkt keine Anwendung. Die Monopolstellung der Versorgungsberechtigten und damit auch das Rechtsgut der geschützten Gebietsmonopole sind somit gesetzlich ab-gesichert.3 Damit sind auch bestimmte Vertragstypen von den kartellrechtlichen Vorschriften der §§ 1, 15 und 18 GWB freigestellt.4

Zentrale Akteure in der Wasserversorgung sind die Kommunen. Im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie nach Art. 28 Abs. 2 GG gehört die

3 Die Schaffung geschützter Gebietsmonopole wird auch mit volkswirtschaftlichen Argumenten

begründet: Die Verteilung von Wasser durch mehrere Unternehmen im gleichen Gebiet würde angesichts der hohen Kosten für verbaute Anlagen und Rohrleitungen, für die Wartung etc. die Kosten insgesamt erhöhen. Die Schaffung von Gebietsmonopolen wird auch mit ökologischen Argumenten begründet: Da die lokalen Wasservorkommen nicht beliebig vermehrbar sind, sind dem Betrieb von parallelen Wasserleitungsnetzen natürliche Grenzen gesetzt, da dieser nicht automatisch zu einer Erhöhung der geförderten Wassermengen führen würde. Andererseits gilt, dass bei zu geringen Durchflussmengen schnell Qualitätseinbußen und damit trinkwasser- bzw. gesundheitshygienische Risiken auftreten.

4 Im Einzelnen: Demarkationsverträge, mit denen sich die Versorgungsunternehmen untereinan-der und mit den Gebietskörperschaften über die Versorgungsgebiete absprechen; Konzessions-verträge zwischen Gebietskörperschaften und Versorgungsunternehmen; Preisbindungsverträgemit Preissicherungsklauseln; Verbundverträge, mit denen bestimmte feste Leitungswege aus-schließlich einem oder mehreren Unternehmen zur Verfügung gestellt werden.

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örtliche Daseinsvorsorge zu deren elementarem Aufgabenbereich. In der Regel hat die öffentliche Wasserversorgung Vorrang vor anderen, privaten Anspruchs-interessenten, sei es aus der Industrie oder aus der Landwirtschaft.

Aufgrund der Siedlungsstruktur und der naturräumlichen Besonderheiten, die für die Wasserversorgung von Bedeutung sind, hat sich in Deutschland als Mustertyp der kommunale Wirtschaftsbetrieb durchgesetzt, der für die Endkun-den die Versorgungsleistungen erbringt und sich vollständig im Besitz der öf-fentlichen Hand befindet. Kommunale Eigenbetriebe und Kommunale Eigen-gesellschaften sind nach wie vor die dominierenden Unternehmensformen in der Wasserversorgung (vgl. Kluge u.a., 2003: 15, Abb.4). Die institutionellen Rah-menbedingungen legen diese Organisationsstruktur auch nahe.

Dennoch finden sich auch in der Wasserversorgung zunehmend neue Un-ternehmensformen, in die private Unternehmen einbezogen sind. Diese sind häufig als Betreiber-, Kooperationsmodell oder Dienstleistungskonzessions-modell organisiert. Auch Pacht- und Betriebsführungsverträge bewegen sich im Rahmen der funktionalen Privatisierung. Zu beobachten ist eine Verschiebung hin zu privatrechtlichen Betriebstypen und zum gemischt-wirtschaftlichen Un-ternehmenstyp. (Teil-)Leistungen werden an private Unternehmen delegiert, oder diese werden finanziell und funktional beteiligt (vgl. dazu Bach, 1994). Hier lässt sich eine räumliche Zweiteilung beobachten. In den urbanen Agglome-rationen sind zunehmend auch privatrechtliche Unternehmen aktiv, während in ländlichen Räumen die öffentlich-rechtlichen Versorger dominieren. Da ein Teil der öffentlichen Unternehmen unterkapitalisiert ist, sind sie bestrebt, sich partiell mit privatem Kapitel zu versorgen sowie damit auch – das ist zumindest die Erwartung – Know-how zur Effizienzsteigerung bei der Leistungserbringung einzukaufen.

Kluge u.a. (2003) unterscheiden deshalb verschiedene Optionen, die sich den Kommunen zur Neustrukturierung ihrer kommunalen Unternehmen anbie-ten, und die sie als „Transformation der Versorgungsunternehmen“ (Kluge u.a., 2003: 18) werten. Sie konstatieren: „Der Staat ‚als bisheriger Alleinträger öf-fentlicher Unternehmen’ beginnt sich immer mehr aus der unmittelbaren Pro-duktion von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen zurückzuziehen und sich in die Position des Gewährleistungsstaates zu geben, der sicherzustellen hat, dass die Bevölkerung in angemessenem Umfang mit Dienstleistungen von allgemei-nem Interesse bzw. mit Dienstleistungen der Daseinsvorsorge versorgt wird“ (Kluge u.a. 2003: 16).

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3 Institutioneller Wandel im Wassersektor

3.1 Auslösende Faktoren

Das geschilderte institutionelle Gefüge im Wassersektor ist europaweit im Wan-del begriffen. Fragt man nach den Faktoren, die diesen Wandel bewirkt haben, so lassen sich diese im Wesentlichen vier Entwicklungstendenzen zuordnen. Diese überlagern und bedingen sich teilweise gegenseitig: die Modernisierung des öffentlichen Sektors mit dem Ziel der Effektivitäts- und Effizienzsteigerung in der Leistungserbringung; die europäische Debatte über Daseinsvorsorge; die Privatisierung im Energiesektor und die prekäre Finanzlage vieler deutscher Kommunen.

Der öffentliche Sektor ist in West-Deutschland Anfang/Mitte der 1980er Jahre in den Mittelpunkt organisatorischer Reformbestrebungen gerückt. Unter dem Vorwurf der zu geringen Effizienz in der Leistungserstellung wie auch an-gesichts enger werdender Handlungsspielräume in den öffentlichen Haushalten sind die Aufbau- und die Ablauforganisation im öffentlichen Sektor kritisch untersucht und bewertet worden. Mit dem Konzept des „New Public Manage-ment“ (NPM)5 wurden in der öffentlichen Verwaltung Formen der Arbeitsorga-nisation und des Managements eingeführt, die aus der Privatwirtschaft über-nommen worden sind. Innerhalb von Organisationen sind dezentrale Einheiten mit eigenem Budget, eigener Personalhoheit und eigenen Organisa-tionszuständigkeiten gebildet worden. Die öffentliche Leistungserbringung ist teilweise privatisiert worden. Mit diesen Rationalisierungsprozessen hat sich Widmaier (1996) ausführlich beschäftigt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die-sen Prozess private wie öffentliche Organisationen immer wieder nach derselben Logik durchlaufen, und dass dabei einmal der öffentliche, dann der private Sek-tor die Vorreiterfunktion übernimmt.

Die europäische Debatte über Daseinsvorsorge wurde angestoßen durch die Grundsätze des Europäischen Wettbewerbsrechts sowie durch Verlautbarungen der Europäischen Kommission zu Leistungen der Daseinsvorsorge.6 Diese Doku-mente haben Eingang in den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemein-schaft (EGV) gefunden. Wie Kluge u.a. (2003: 11) konstatieren, wird durch das europäische Gemeinschaftsrecht das „vormalige exklusive Recht des Staates, im Bereich der Daseinsvorsorge ohne Wettbewerb tätig zu sein, (…) zunehmend in

5 Zum Zusammenhang zwischen Regionalisierung und NPM vgl. Benz u.a., 1999: 52-58. 6 Vgl. als Überblick zur Diskussion: Schader-Stiftung (Hrsg.), 2001: Die Zukunft der Daseins-

vorsorge. Öffentliche Unternehmen im Wettbewerb. Darmstadt; dies. (Hrsg.), 2003: Öffent-liche Daseinsvorsorge – Problem oder Lösung? Argumente und Materialien zur Debatte. Darm-stadt (hier mit ausführlichem Dokumententeil).

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Frage gestellt.“ Im Energie- und Telekommunikationssektor haben in den ver-gangenen Jahren grundlegende Strukturveränderungen stattgefunden, sind die Unternehmen privatisiert und die Märkte liberalisiert worden. Für die Wasser-versorgung ist die Entwicklung nicht eindeutig. Kluge u.a. (2003: 22) sprechen von einem „Schwebezustand“, weil die Verlautbarungen der Europäischen Kommission hier diffus sind. Es ist nicht eindeutig definiert, ob es sich bei der Wasserversorgung um Dienstleistungen im allgemeinen Interesse handelt, die wirtschaftlicher Natur sind – dann würden die europäische Wettbewerbskontrolle und die Marktöffnung greifen – oder ob es sich um Dienstleistungen im allge-meinen Interesse handelt, die nicht-wirtschaftlicher Natur sind. Dann wären die EU-Wettbewerbsregeln nicht anwendbar.

In Folge der Privatisierung im Energiesektor streben einige Energie-Versor-ger danach, in der Ver- und Entsorgung eine Oligopol-Stellung zu besetzen und den Konsumenten Leistungen aus einer Hand anzubieten. Die Wasserversorgung in Deutschland ist für diese Unternehmen hierbei in doppelter Hinsicht interes-sant. Zum einen bildet sie ein Standbein in der Portfolio-Absicherung. Zum an-deren wird sie als „Eintrittskarte“ in die lukrative Abwasserentsorgung und -behandlung gesehen. Das heißt mit anderen Worten: Die großen Energie-Unter-nehmen bedrängen die Kommunen, ihre kommunalen Wirtschaftsbetriebe zu privatisieren und damit den Markt der Wasserversorgung zu liberalisieren. Es sind vor allem drei Argumente, die für eine Privatisierung der Wasserversorgung ins Feld geführt werden: Effizienzsteigerung bzw. die Realisierung betriebswirt-schaftlicher Optimierungspotenziale; Kostensenkungen und damit eventuell auch Preissenkungen für die Verbraucher; schnellere Entscheidungswege durch den Abbau von Bürokratie.

Mit diesen ökonomischen Interessen von Energie-Versorgern an einer Markterweiterung trifft sich die prekäre Finanzlage vieler deutscher Kommunen. Diese schafft bei manchen politisch Verantwortlichen eine hohe Bereitschaft, Geschäftsanteile an kommunalen Unternehmen zu verkaufen, um kurzfristig das kommunale Finanzdefizit zu verringern. Wie die Studie von Kluge u.a. (2003) zeigt, haben in der Wasserversorgung in den letzten zehn Jahren vor allem dieje-nigen Organisationsformen an Bedeutung gewonnen, die als AG oder GmbH fungieren und an denen private Unternehmen beteiligt sind (Kluge, 2003: 16).

Während diese Faktoren in Europa und Deutschland in den letzten Jahren allgemein zum Wandel in der organisatorischen Ausgestaltung der Infrastruktur- und Daseinsversorgung geführt haben, kommt speziell für den Bereich der Was-serversorgung ein weiterer Faktor hinzu, die Europäische Wasserrahmenrichtli-nie (WRRL), die seit Dezember 2000 in Kraft ist. Diese zielt auf eine Neuord-nung der Wasserbewirtschaftung in Europa und setzt neue Maßstäbe für die

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ökologischen Ziele, die räumliche Organisation und die Instrumente des Gewäs-serschutzes (vgl. als Überblick: Finke, 2005).

Als zentrales Ziel formuliert die Richtlinie, innerhalb von 15 Jahren in Eu-ropa den guten ökologischen und chemischen Zustand der Gewässer zu errei-chen. Innerhalb von drei Jahren, d.h. bis Ende 2003, sollte die Richtlinie in nati-onales Recht umgesetzt sein. Mit der WRRL wird mit den naturräumlich be-stimmten Flussgebietseinheiten eine neue räumliche Gebietskulisse geschaffen. In Deutschland gibt es jetzt zehn unterschiedlich große Flusseinzugsgebiete, wobei der größte Teil zu internationalen Flussgebietseinheiten gehört. Die WRRL fordert weiterhin, bis Ende 2010 in der Wasserversorgung das Kosten-deckungsprinzip einzuführen. Die von der WRRL angestrebte Gebührenpolitik für die Ressource Wasser soll die so genannten Umwelt- und Ressourcenkosten in die Preise einrechnen und damit der Förderung eines nachhaltigen Umgangs mit Wasser dienen.

Vor allem auf Grund der veränderten räumlichen Gebietskulisse (natur-räumlich bestimmte Flussgebietseinheiten versus territorial bestimmte Versor-gungsgebiete auf Länder- bzw. (inter-)kommunaler Ebene) hat die Umsetzung der WRRL in Deutschland schon jetzt zu einem „weitgehend impliziten Institu-tionenwandel auf subnationaler Ebene“ (Moss, 2003b: 22) geführt.

3.2 Intermediäre Organisationen als neuartige „Zwischenformen der organisatorischen Gestaltung“

Während in nahezu allen Bereichen der Infrastrukturversorgung und der öffentli-chen Daseinsvorsorge ökonomische Interessen und betriebswirtschaftliche Ar-gumente dafür ausschlaggebend waren und sind, dass Organisationen moderni-siert bzw. privatisiert und Märkte liberalisiert werden, sind es im Wassersektor primär ökologische Zielsetzungen, die zu einem institutionellen Wandel führen und die den „wahre(n) Fundus von vielfältigen institutionell-organisatorischen Möglichkeiten“ (Widmaier, 1996: 8) weiter anreichern. Forschungsbefunde, die im Rahmen des Projekts „New intermediary services and the transformation of urban water supply and wastewater disposal systems in Europe“7 vorgelegt

7 Das Projekt ist für eine Laufzeit von drei Jahren (11/2002 – 10/2005) von der Europäischen

Kommission im 5. Rahmenprogramm gefördert worden. Das europäische Projektteam hat sich aus Wissenschaftlern folgender Forschungseinrichtungen zusammengesetzt: Universität New-castle; Universität Salford; Technische Universität Dänemark; Panteion Universität Athen; Metropolitan Research Institute Budapest; Urban Alternatives Association Sofia; Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung Erkner (Projektkoordination). Mitglieder im Projektteam waren zudem acht Praxispartner. Weitere Informationen unter: www.irs-net.de/intermediaries.

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worden sind, führen zu der erstaunlichen Entdeckung, dass sich im Wassersektor inzwischen europaweit neue Organisationsformen herausgebildet haben. Diese können im Sinne der Widmaier’schen Terminologie als neuartige „Zwischen-formen der organisatorischen Gestaltung“ (Widmaier, 1996: 8) charakterisiert werden – „neuartig“ deswegen, weil sie von den bisher bekannten Modelle der Teilprivatisierung öffentlicher Leistungen (z.B. Konzessions-, Betreiber-, Ko-operationsmodell etc.) abweichen. Es sind intermediäre Organisationen, die von privaten Akteuren oder von privaten und öffentlichen Akteuren gemeinsam ge-tragen werden. Diese sind zwischen Regulierungsbehörden, Anbietern und Kon-sumenten angesiedelt und erbringen in diesem Beziehungsgeflecht vielfältige Leistungen.

Zielsetzung des genannten Projektes war es, für sieben ausgewählte Stadt-regionen in Europa8 intermediäre Organisationen im Wassersektor zu identifizie-ren und deren Beitrag zu einer nachhaltigen Wasserwirtschaft zu untersuchen. Mit dem Projekt war damit auch der Anspruch verbunden, einen Beitrag zur schnelleren Implementation von Kernzielen einer europäischen Wasserpolitik im Allgemeinen und der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie im Besonderen zu leisten.

Insgesamt sind für ausgewählte europäische Großstadtregionen im Wasser-sektor 113 intermediäre Organisationen identifiziert worden (Moss/Wissen, 2005). Um die Vielfalt der intermediären Organisationen, die hier tätig sind, aufzuzeigen, sollen beispielhaft nur die Organisationen namentlich genannt wer-den, die in der Region Berlin vorgefunden wurden: ucb Management Beratung GmbH; BSU Beratungs- und Service-Gesellschaft; newtech Umwelttechnik GmbH; AKUT Umweltschutz Ingenieure Burkard und Partner; Kompetenz-Zentrum Wasser Berlin; Verein zur Förderung des Wasserwesens – VFW; Tech-nologiestiftung Berlin – TSB; Mobiles Umwelttechnik Zentrum – M.U.T.Z.; Wassermuseum Berlin; Naturschutzzentrum Ökowerk Berlin; www.umweltbildung-berlin.de; Online Service der Berliner Wasserbetriebe; Verbraucherzentrale Bundesverband – vzbv; Initiative „Nachhaltiges Wirtschaf-ten im Friseurhandwerk“; Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland – BUND-, Landesverband Berlin.9

Ein Ergebnis des Forschungsprojekts lautet, dass intermediäre Organisatio-nen im Wassersektor oft als „versteckte Akteure“ wirken: „Intermediary work is

8 Im Einzelnen sind folgende Großstadtregionen untersucht worden: Berlin/Deutschland; So-

fia/Bulgarien; Kopenhagen/Dänemark; Volos-Region/Griechenland; Nord-Ost-England/NewCastle/Großbritannien; Nord-West-England/Manchester/Großbritannien; Budapest/Ungarn. Für Frankreich ist eine überregionale Erhebung durchgeführt worden.

9 Die intermediären Organisationen in den anderen Stadtregionen bzw. in Frankreich sind na-mentlich aufgeführt bei Moss/Wissen, 2005/Anhang 3.

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Neujustierung von privaten und öffentlichen Interessen 135

often hidden, characterised by conversational practices that take place outside of formal water institutions.“10 Sie sind sich der intermediären Funktionen, die sie erfüllen, oft gar nicht bewusst. Das heißt mit anderen Worten: Die faktische Wahrnehmung intermediärer Aufgaben erfolgt oft nicht-intendiert. Die Namen der Organisationen, die für die Großstadtregion Berlin genannt wurden und die im öffentlichen Bewusstsein oft für andere Aufgaben stehen, lassen diesen Be-fund plausibel erscheinen.

Die Bandbreite tatsächlich wahrgenommener intermediärer Funktionen ist beachtlich. Intermediäre Organisationen

qualifizieren die Akteure und leisten technische Hilfe in allen Fragen des Wassermanagementsbilden Partnerschaften und initiieren Diskurse, um die Leistungen im Was-sersektor zu verbessern schaffen neue Märkte für innovative Produkte und Dienstleistungen wirken als Lobbyisten für institutionelle Reformen im Wassermanagement schaffen Verständigung und Übereinkommen zwischen unterschiedlichen Interessengruppenwirken zwischen unterschiedlichen territorialen Hoheitsbereichen des Was-sermanagementsmobilisieren Aufmerksamkeit und Unterstützung für den Wasserschutzschaffen Informations-Plattformen für die Öffentlichkeit machen auf Defizite in der Wasserversorgung und der Abwasserentsorgung aufmerksamüberwachen die Leistungen von Versorgungsunternehmen fördern die Verbreitung Wassersparender Technologien fördern alternative Diskurse über das Wassermanagement heuern Experten auf dem Gebiet von Technik und Management an, um ausgewählte Probleme zu thematisieren koordinieren Förderprogramme im Bereich von Forschung und Entwick-lungorganisieren Initiativen und Kampagnen jedweder Art zum Thema „Was-ser“engagieren sich bei der Lösung von Wasserkonflikten schaffen Bewusstsein für Umwelt-, soziale oder institutionelle Aspektemachen die Ressource Wasser für Anbieter und Konsumenten sichtbarer verkoppeln Wassermanagement mit anderen Politikfeldern.

10 Final Report/Section 6: Detailed report, S. 35 (masch. MS).

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Um die Vielfalt der Formen und Leistungen, die von intermediären Organisatio-nen im Wassersektor erbracht werden, zu sortieren, werden diese folgenden vier Bereichen zugeordnet:

„1. bridge-builders, mediators, go-betweens or brookers, facilitating dialogues, re-solving conflicts or building partnerships; 2. ‘info-mediaries’, disseminating information, offering training und providing tech-nical support; 3. advocates, lobbyists, campaigners, gatekeepers or image-makers, fighting for par-ticular causes and 4. commercial pioneers, innovators and ‘eco-preneurs’” (Moss/Wissen, 2005: 20f.)

4 Institutioneller Wandel im Wassersektor oder: „Der kleine Unterschied“

Ausgangspunkt dieses Beitrags war die Beobachtung, dass der institutionelle Wandel, wie er europaweit im Bereich der Wasserversorgung zu beobachten ist, gegenüber anderen Bereichen der Infrastrukturversorgung und der öffentlichen Daseinsvorsorge einige Besonderheiten aufweist.

Die erste Besonderheit liegt in der Natur der Ressource Wasser selbst. Was-ser zählt zu den natürlichen Elementen, die für den Menschen lebensnotwendig sind. Es gilt als eine wichtige Aufgabe des modernen Sozialstaats, die Bevölke-rung im gesamten Staatsgebiet in ausreichendem Maße und mit hoher Zuverläs-sigkeit mit hygienisch einwandfreiem Wasser zu versorgen, und zwar zu Preisen, die in der breiten Bevölkerung Akzeptanz finden. Insofern ist Wasser ein beson-deres Gut der öffentlichen Daseinsvorsorge und die Trinkwasserversorgung ein besonderer Bereich der Infrastrukturversorgung.

Die zweite Besonderheit liegt darin, dass sich hier seit geraumer Zeit und europaweit Organisationen herausbilden, die nicht den bisher bekannten Formen der arbeitsteiligen oder gemeinschaftlichen Leistungserbringung durch private und öffentliche Akteure entsprechen, sondern etwas Neues, etwas Andersartiges darstellen: intermediäre Organisationen. Deren Träger sind private Akteure, aber auch private und öffentliche Akteure gemeinsam. Diese sind zwischen den Or-ganisationen und Akteuren angesiedelt, die im Wassersektor die klassische Trias aus Anbietern, Konsumenten und Regulierern ausmachen. Sie wirken auf eine vielfältige Art und Weise innerhalb dieses Beziehungsgeflechts.

Die dritte Besonderheit liegt darin, dass diesen intermediären Organisatio-nen bei der Erfüllung der Zielsetzungen der WRRL, mit der vorrangig qualita-tive, weil ökologische Ziele verfolgt werden, eine besondere Bedeutung beige-messen wird. Intermediäre Organisationen sind Ausdruck eines vielschichtigen,

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oft „versteckten“ institutionellen Wandels in der Wasserversorgung, jenseits der Dichotomie von Markt und Staat.

Der „kleine Unterschied“ (Widmaier, 1996) zwischen privaten und öffentli-chen Organisationen besteht also im Wassersektor in zweierlei Hinsicht: Zum einen in der Tatsache, dass es sich bei der Ressource Wasser um ein öffentliches Gut handelt, das sich durch „ganz spezifische Eigenschaften“ (Widmaier, 1996: 5) auszeichnet. Zum anderen in der Tatsache, dass in diesem Sektor Modernisie-rung und institutioneller Wandel partiell einer anderen, weil durch ökologische Ziele vorgegebenen Entwicklungslogik folgen. In Gestalt der intermediären Or-ganisationen entstehen hier ganz neuartige „Zwischenformen der organisatori-schen Gestaltung“ (Widmaier, 1996: 8).

Literatur

Bach, Stefan, 1994: Private Bereitstellung von Infrastruktur unter besonderer Berücksich-tigung der Verhältnisse in den neuen Bundesländern. In: Vierteljahreshefte zur Wirt-schaftsforschung, H.3, 208-245.

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Finke, Lothar, 2005: Wasserrahmenrichtlinie. In: Handwörterbuch der Raumordnung, hrsg. von der Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Hannover, 1276-1283.

Forsthoff, Ernst, 1959: Rechtsfragen der leistenden Verwaltung. Stuttgart. Frey, René, L., 1988: Infrastruktur. In: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd.

4. Tübingen, 200-215. Kluge, Thomas u.a., 2003: Netzgebundene Infrastrukturen unter Veränderungsdruck -

Sektoranalyse Wasser. netWorks-Papers, H.2, Berlin.Moss, Timothy (Hrsg.), 2003a: Das Flussgebiet als Handlungsraum. Institutionenwandel

durch die EU-Wasserrahmenrichtlinie aus raumwissenschaftlichen Perspektiven. Münster.

Moss, Timothy, 2003b: Raumwissenschaftliche Perspektiverweiterung zur Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie. In: ders. (Hrsg.): Das Flussgebiet als Handlungsraum. Institutionenwandel durch die EU-Wasserrahmenrichtlinie aus raumwissenschaftli-chen Perspektiven. Münster, 21-43.

Moss, Timothy/Wissen, Markus, 2005: Making senses of diversity. A synergy report on an inventory of 113 intermediary organisations of water management in Europe. Erkner.

New intermediary services and the transformation of urban water supply and wastewater disposal systems in Europe – Intermediaries. Final report/Section 6: Detailed report. Erkner 2005.

Schader-Stiftung (Hrsg.), 2001: Die Zukunft der Daseinsvorsorge. Öffentliche Unterneh-men im Wettbewerb. Darmstadt.

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138 Heiderose Kilper

Schader-Stiftung (Hrsg.), 2003: Öffentliche Daseinsvorsorge – Problem oder Lösung? Argumente und Materialien zur Debatte. Darmstadt.

Widmaier, Ulrich, 1996: Der kleine Unterschied. Über Theorie und Praxis der Moderni-sierung privater und öffentlicher Organisationen. Antrittsvorlesung am 26. Juni 1996 an der Ruhr-Universität Bochum. Masch. Ms.

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Unwissen als Problem politischer Steuerung in der Verkehrspolitik

Nils C. Bandelow

1

1 Das Problem

Räumliche Mobilität gehört zu den wichtigsten Einzelinteressen in modernen Demokratien. Individuen wollen und müssen sich selbst oder Güter möglichst schnell und flexibel transportieren. Ermöglicht wird die individuelle Mobilität durch das Mittel des Verkehrs (vgl. Becker/Gerike/Völlings 1999: 13). Die Or-ganisation des Verkehrs erfordert angesichts vielfältiger Konflikte zwischen konkurrierenden Einzelinteressen oder zwischen Einzelinteressen und einem Gemeinwohl kollektive Entscheidungen. Die Formulierung und Umsetzung verbindlicher Entscheidungen zur Steuerung des Angebots und der Nutzung unterschiedlicher Verkehrsträger bilden den Gegenstand der Verkehrspolitik.

Verkehrspolitik beinhaltet verschiedene Entscheidungsfelder, in denen un-terschiedliche Steuerungsinstrumente zum Einsatz kommen. Verkehrspolitische Entscheidungen müssen einen Rahmen entwickeln, um direkt oder indirekt eine Bereitstellung der Verkehrsträger zu gewährleisten oder zumindest zu er-möglichen. Zudem legt die Verkehrspolitik Bedingungen fest, die den jeweiligen Kostenbeitrag für die Nutzung der Verkehrsträger bestimmen. Verkehrspolitik kann sich dabei darauf beschränken, die notwendige Infrastruktur für eine zu-künftig erwartete Verkehrsnachfrage bereitzustellen. Sie kann bei einem größe-ren Steuerungsanspruch auch darauf einwirken, dass die individuellen Kosten des Verkehrs möglichst wenig von einem vorgegebenen Modell gesamtgesell-schaftlicher Kosten abweichen. Ein noch stärker erweiterter Steuerungsanspruch ist gegeben, wenn Verkehrspolitik die zukünftige Verkehrsnachfrage gezielt beeinflussen will. Eine solche Beeinflussung kann das Volumen der Verkehrs-nachfrage oder die Entscheidung für einen bestimmten Verkehrsträger umfassen. Grundsätzlich lässt sich eine Tendenz zu einer Erweiterung des Steuerungs-anspruchs feststellen: Bis in die 1970er Jahre orientierte sich die Verkehrspolitik am Predict-and-Provide-Modell der Befriedigung prognostizierter Verkehrsnach-frage. Heutige Verkehrspolitik folgt dagegen verstärkt dem Modell des von der OECD eingeführten Leitbilds Anticipate-and-Manage und beinhaltet dann auch

1 Ich danke Sandra Augustin-Dittmann, Wilhelm Bleek, Stefan Kundolf, Judith Litzenburger und

Birgit Mangels-Voegt für kritische und vor allem konstruktive Hinweise.

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Ziele der Verkehrsvermeidung oder der Verlagerung von Verkehr zwischen Luft, Straße, Schiene und Binnenschifffahrt (vgl. z. B. Dudley 2003).

Unabhängig von der inhaltlichen Zielsetzung können verschiedene Gover-nanceformen bei der Erreichung verkehrspolitischer Ziele zum Einsatz kommen. Dabei lässt sich ein Kontinuum von hierarchischer Steuerung über Verhandlung bis zum Wettbewerb unterscheiden. Staatliche Steuerung kann dadurch erfolgen, dass der Staat selbst öffentliche Güter bereitstellt, wie es bis zur Bahnreform im Schienenverkehr überwiegend der Fall war. Überlässt er die Bereitstellung pri-vatwirtschaftlichen Akteuren, kann mit regulativen Vorschriften direkt gesteuert werden. Regulative Vorschriften waren bzw. sind die administrative Festlegung von Transportpreisen und Kontingentierungen im gewerblichen Güterfernver-kehr, Arbeitszeitvorschriften für LKW-Fahrer, Tempolimits etc. Diese Formen des „harten“ Regierens spielen allerdings in modernen Demokratien eine immer geringere Rolle. An deren Stelle sind indirektere Steuerungsformen der Kon-trolle von Preisbildungsverfahren durch die Marktteilnehmer getreten. Die Be-einflussung gesellschaftlichen Handelns erfolgt dann indirekt über finanzielle Anreize, prozedurale Steuerung oder Überzeugung (vgl. Braun/Giraud 2003).

Verkehrspolitische Steuerung steht vor wachsenden Herausforderungen: Ei-nerseits steigen die gesellschaftlichen und politischen Anforderungen und Be-dürfnisse an eine Umsetzung normativer Zielvorgaben, andererseits scheinen die staatlichen Steuerungsmöglichkeiten zu erodieren. Vor diesem allgemeinen Spannungsfeld stellt sich die Frage, worin die konkreten Probleme verkehrspoli-tischer Steuerung liegen und wie diese möglicherweise zu bearbeiten sind. Um diese Frage zu beantworten, werden in einem ersten Schritt die Besonderheiten von Verkehr als Politikfeld unter Berücksichtigung der bisher hierzu eher spärli-chen und fragmentierten politikwissenschaftlichen Forschung vorgestellt. Der anschließende Abschnitt skizziert die wichtigsten Akteure, Ressourcen und Ziele in der Verkehrspolitik. Dabei werden die segmentierten Kommunikationsstruktu-ren in diesem Politikfeld deutlich. Vor diesem Hintergrund wird im vierten Ab-schnitt das Problem des Unwissens als Kombination von Nicht-Wissen und Wis-sensillusion diskutiert. An die Problemdiagnose schließt sich eine Diskussion der möglichen Strategien einer erfolgreichen verkehrspolitischen Steuerung an, be-vor abschließend weiterführende Forschungsfragen vorgestellt werden.

2 Verkehr als Politikfeld

Die verkehrspolitische Forschung wird von wirtschaftswissenschaftlichen Frage-stellungen, Methoden und Modellen dominiert. Diese Modelle orientieren sich üblicherweise am normativen Ziel des Predict-and-Provide, also der möglichst

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umfassenden Befriedigung aktueller und für die Zukunft prognostizierter Ver-kehrsnachfrage. Gezielte Steuerung im Sinne eines Anticipate-and-Manage-Modells wird hingegen abgelehnt: „Von daher besteht die Aufgabe der Ver-kehrspolitik in einer Marktwirtschaft in erster Linie darin, den Wettbewerb zwi-schen verschiedenen Verkehrsträgern auf der Grundlage einer Belastung mit ihren möglichst unverfälschten volkswirtschaftlichen Kosten zu gewährleisten. Keinesfalls ist es dagegen die Aufgabe der Verkehrspolitik, quasi vorab eine ‚optimale Verkehrsaufteilung’ zu definieren und die Nachfrager dann mit Hilfe entsprechender Manipulation der Verkehrsmittelwahl in die gewünschte Rich-tung zu drängen“ (van Suntum 1986: 12). Auf Grundlage spieltheoretischer Mo-delle wird dann argumentiert, dass der Abbau von Wettbewerbsbeschränkungen auf dem Verkehrsmarkt und die Reduktion staatlicher Regulierung zu einer Wohlfahrtssteigerung führen würden (vgl. für viele Preston/Whelan/Wardman 1999).

Viele soziologische Arbeiten aus dem engeren Umfeld der Schnittstelle von Wissenschaft und Politikberatung zum Thema Verkehrspolitik stellen einen expliziten Gegenpol zur marktwirtschaftlichen Position dar. Sie zielen explizit auf die Entwicklung von Argumenten zur Verschiebung der Verkehrsaufteilung (z. B. Schwarz 1996; Monheim 1997; Hey 1998; Canzler/Knie 2000; Canz-ler/Knie 2005).

Politikwissenschaftliche Analysen zum Politikfeld Verkehr bemühen sich dagegen um eine Integration aller Perspektiven. Bisher ist der politikwissen-schaftliche Forschungsstand aber fragmentiert und empirisch wenig gesättigt, da es bisher nur vereinzelte Analysen gibt (für Ausnahmen siehe Lehmbruch 1992; Sager/Kaufmann 2002; Dudley 2003). Es lassen sich vier wesentliche Perspekti-ven der bisherigen politikwissenschaftlichen Verkehrsforschung erkennen: In den 1970er und 1980er Jahren dienten spezielle verkehrspolitische Fragen der Anwendung von theoretischen Ansätzen zum Regieren in der Bundesrepublik Deutschland (z. B. Braunthal 1972). Dabei dominierte zunächst die Perspektive der Politikverflechtungstheorie (Mäding 1978; Garlichs 1980; Reh 1988; 1995). Eine zweite, spätere Perspektive ist dagegen nicht am politischen System der Bundesrepublik Deutschland interessiert, sondern versucht der Verlagerung verkehrspolitischer Kompetenzen auf die EU gerecht zu werden. Verkehr wird als Anwendungsfall des Regierens in der EU bzw. im europäischen Mehrebenen-system gesehen (z. B. Weyand 1996; Giorgi/Schmidt 2002; Dommel 2005). In einem dritten Zugang wird versucht, das Politikfeld als solches allgemein zu erschließen (Walther 1996). An diesen allgemeinen Überblick knüpfen als vierte Perspektive international vergleichende Arbeiten zur Verkehrspolitik mit einem jeweils speziellen politikfeldanalytischen Interesse an (für einen Überblick vgl. Hirschi/Schenkel/Widmer 2002).

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Alle vorliegenden Analysen bieten unvollständige und dennoch fruchtbare An-knüpfungspunkte für eine Beantwortung der Frage nach Steuerungsproblemen in der Verkehrspolitik, die mit den Eigenschaften des Politikfelds zusammenhängen (vgl. zu den Kriterien Heinelt 2003). Die Spezifika des Feldes liegen in den offe-nen Policy-Grenzen und der (teilweise damit verbundenen) geringen Prognose-fähigkeit. Verkehrspolitische Entwicklungen werden durch Entscheidungen aus fast allen anderen Politikbereichen beeinflusst. So haben etwa technologiepoliti-sche Entscheidungen Auswirkungen auf die Entwicklungen neuer Verkehrstech-nologien. Wirtschaftspolitische Entscheidungen beeinflussen die Verkehrsnach-frage ebenso wie die Wohnungsbau- und Raumordnungspolitik. Verkehrspolitik wiederum ist eng verbunden mit der Umwelt- und der Energiepolitik (siehe auch Sager/Kaufmann 2002: 4; Hirsch/Schenkel/Widmer 2002: 2). Verkehrspolitik muss mehr als andere Politikbereiche zukunftsorientiert sein, da die Time-Lags zwischen politischen Entscheidungen und deren Wirksamkeit sehr groß sind. Dies gilt insbesondere für die Bereitstellung der Verkehrsinfrastruktur. Ver-kehrsplanung ist daher mehr als andere Felder auf zuverlässige Prognosen ange-wiesen.

Schließlich ist das Politikfeld der Verkehrspolitik gekennzeichnet durch spezifische Akteurskonstellationen und Strukturen der Interessenvermittlung, die es zu einem Spezialfall der Politikverflechtung einerseits und der administrativen Interessenvermittlung andererseits machen. Auffällig sind dabei die segmentier-ten und zugleich hoch integrierten Entscheidungsnetze unter Beteiligung von jeweils Teilen von Politik und Verwaltung und von einflussreichen Vertretern gesellschaftlicher und vor allem wirtschaftlicher Interessen.

3 Akteure und Einzelinteressen in der Verkehrspolitik

An der Verkehrspolitik ist eine Vielzahl von Akteuren mit wechselnden Kon-fliktlinien beteiligt. Dabei haben sich segmentierte Entscheidungsnetze heraus-gebildet, deren Gegenstände aber nicht durchgängig voneinander getrennt sind. Dies gilt vor allem für das Verhältnis zwischen den Verkehrsträgern. Die wirt-schaftlichen Interessen der verschiedenen Anbieter im Schienen-, Binnenschiff-fahrts-, Eisenbahn- und Luftverkehr sind jeweils in einflussreichen Interessen-verbänden organisiert. So umfasst die aktuelle Lobbyliste des Deutschen Bun-destags 60 Verbände, die verkehrspolitische Interessen angeben (BMJ 2005; für Überblicke über nationale und europäische verkehrspolitische Akteure siehe auch Köberlein 1997: 12-15; Becker/Gerike/Völlings 1999: 29).

In der Politikwissenschaft hat vor allem der Allgemeine Deutsche Automo-bil-Club e. V. (ADAC) Aufmerksamkeit erlangt (vgl. z. B. Alemann 1989). Der

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ADAC wird dabei als typisches Beispiel für die von Mancur Olson (1965; vgl. auch Lehner/Widmaier 2002: 54-55) beschriebene Logik kollektiven Handelns gesehen. Vor allem die positiven materiellen Anreize, mit denen der ADAC seine inzwischen über 15 Millionen Mitglieder gewonnen hat, dienen als Erklä-rung der Organisation einer diffusen Gruppe. Allerdings ist der ADAC kein reiner Lobbyverband der Autofahrer. Er funktioniert einerseits als Unternehmen, das bestimmte Versicherungs- und Serviceleistungen anbietet. Andererseits ist er ein Interessenverband des Kraftfahrzeugwesens. Der ADAC tritt unter anderem für einen Ausbau der Straßeninfrastruktur ein (vgl. Becker/Gerike/Völlings 1999: 125). Daneben plädiert der ADAC für technische Lösungen bei Verkehrs-sicherheitsproblemen mit möglichst geringen Einschränkungen für die Autofah-rer (z. B. durch Tempolimits).

Der ADAC steht in Konkurrenz zu anderen Autofahrerverbänden mit ähnli-chem Serviceangebot. Der größte Konkurrent ist der Automobilclub von Deutschland (AvD) mit ca. 1,5 Millionen Mitgliedern, der insbesondere im Mo-torsport engagiert ist (vgl. Heldmann 2002). Dagegen haben die kleineren Ver-bände wie der Autoclub Europa (ACE) und der Verkehrsclub Deutschland (VCD) geringeren Einfluss. Der ACE war ursprünglich ein rein gewerkschaftli-cher Verkehrsclub und hat trotz seiner Öffnung für Nicht-Mitglieder der DGB-Gewerkschaften seit 1995 mit 550.000 Mitgliedern ein deutlich kleineres Ge-wicht als ADAC und AvD. Noch geringere Bedeutung hat der Verkehrsclub Deutschland (VCD) mit 60.000 Mitgliedern. Der VCD wurde 1986 von Umwelt-schützern als Gegenstimme zu ADAC und AvD gegründet und tritt für Ver-kehrsvermeidung sowie eine Stärkung von Alternativen zum individuellen moto-risierten Personenverkehr ein (Becker/Gerike/Völlings 1999: 127).

Obwohl die Autofahrerverbände die bekanntesten Lobbyisten der Ver-kehrspolitik sind, ist ihr Einfluss im Vergleich zu den großen Unternehmen des Straßenverkehrs gering. Mit den Autokonzernen, den 17 Unternehmen der Mine-ralölwirtschaft mit Sitz in Deutschland und den Spediteuren im Straßengüterver-kehr treten drei der wichtigsten deutschen Interessengruppen für die Interessen des Straßenverkehrs ein. Die großen Autokonzerne nutzen in der Regel direkte Einflussmöglichkeiten unter anderem über die jeweiligen Landesregierungen. Sie sind auch Mitglied im Verband der Automobilindustrie (VdA), der über 500 Hersteller von Automobilen, Automobilteilen und aus der Zuliefererindustrie organisiert.

Die Unternehmen der Mineralölwirtschaft sind im Mineralölwirtschaftsver-band (MWV) zusammengeschlossen. Der wichtigste Verband für den Straßen-güterverkehr ist der 2003 gegründete Deutsche Speditions- und Logistikverband (DSLV). Der DSLV ist ein Zusammenschluss zweier Verbände und hat inzwi-schen rund 4.000 Mitglieder, die fast 90 Prozent des Branchenumsatzes reprä-

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sentieren. Mit dem Bundesverband Spedition und Logistik (BSL), dem Bundes-verband Möbelspedition (AMÖ) und dem Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) besteht ein ergänzendes Organisationsnetz. Gemeinsam mit ADAC und AvD bilden die Anbieter von Straßenverkehrs-leistungen eine starke Lobby für den Ausbau der Straßeninfrastruktur und für die Unterstützung des Straßenverkehrs durch regulative und fiskalische Entschei-dungen. Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) als Dachver-band von 36 Mitgliedsverbänden gehört zu den Lobbyisten des Straßenverkehrs. Der BDI hat bereits Mitte der 1950 Jahre gemeinsam mit den Verbänden der Spediteure das damals geplante Straßenentlastungsgesetz verhindert und eine Modifikation des späteren Verkehrsfinanzgesetzes 1955 durchgesetzt (vgl. Braunthal 1972). Insgesamt bestehen also im Straßenverkehr mit den Autokon-zernen, der Mineralölwirtschaft und dem Speditionsgewerbe drei mächtige Ak-teursgruppen, die wesentlich an der Formulierung und Umsetzung der Verkehrs-politik beteiligt sind. Bei bestimmten Einzelfragen und vor allem im Hinblick auf die Sicherung der Akzeptanz verkehrspolitischer Entscheidungen sind dar-über hinaus weitere Akteure wie die Autofahrerclubs relevant.

Die Organisationsstruktur des Schienenverkehrs unterscheidet sich traditio-nell von der privat- und erwerbswirtschaftlichen Organisation des Straßenver-kehrs. Zwar war auch der Schienenverkehr bei seiner Einführung in Deutschland nach 1835 fast überall in privater Hand. Seit der Reichsgründung 1871 folgte aber eine schrittweise Überleitung in öffentlichen Besitz. Nachdem zunächst Länderbahnen gegründet wurden, entstand nach dem ersten Weltkrieg die Deut-sche Reichsbahn (vgl. Engartner 2005: 511). Bis Ende 1993 wurde auch der bundesdeutsche Bahnverkehr von Staatsbahnen dominiert. Die 1994 entstandene Deutsche Bahn AG (DB) als Nachfolgerin der Deutschen Bundesbahn und der ostdeutschen Reichsbahn ist zwar formal eine Aktiengesellschaft, bis zur Umset-zung der gegenwärtig geplanten materiellen Teilprivatisierung bleibt die DB aber vollständig im Besitz des Bundes. Lediglich die rechtliche und finanzielle Ver-antwortung für den Schienennahverkehr wurde zum 1. Januar 1996 vom Bund auf die Länder übertragen (vgl. Herr/Lehmkuhl 1997). Artikel 87 e (4) des Grundgesetzes bindet zudem den Schienenverkehr an das „Wohl der Allgemein-heit.“ Vor diesen Hintergrund ist die Bundesregierung nicht nur Adressat von Interessengruppen, sondern selbst der wichtigste Akteur des Schienenverkehrs. Die Schlussfolgerungen daraus sind umstritten: Kritiker der Bahn sehen in der Verflechtung mit der Bundesregierung einen Vorteil für die Durchsetzung der Interessen des Schienenverkehrs (z. B. van Suntum 1986). Andererseits ist nicht nur die Regierung selbst, sondern auch der Vorstand der DB an den Interessen des Bundes orientiert. Dem Schienenverkehr fehlen daher starke unabhängige Verbände von Leistungsanbietern.

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Auch die Gewerkschaften vertreten keine unabhängigen Brancheninteressen des Schienenverkehrs. Wichtigste Interessenvertretung der Mitarbeiter der DB ist die ehemalige Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED). Die GdED hat sich 2000 in Transnet (TRANsport, Service und NETze) umbenannt, um zu symbolisieren, dass auch DB-Mitarbeiter außerhalb des Bahndienstes vertreten werden. Die Gewerkschaft hat 290.000 Mitglieder. In der zentralen Frage der Umsetzung einer materiellen Privatisierung der DB unterstützt Transnet den Bahnvorstand. Transnet kooperiert auch eng mit der Verkehrsgewerkschaft GDBA (Gewerkschaft Deutscher Bundesbahnbeamten und Anwärter), größere Distanz besteht dagegen zur traditionsreichen Gewerkschaft Deutscher Lokomo-tivführer (GDL). Die GDL ist wie die GDBA nicht im DGB, sondern im dbb beamtenbund und tarifunion (dem ehemaligen Beamtenbund) organisiert. Sie hat gut 40.000 Mitglieder aus dem Fahrpersonal sowohl der DB als auch privater Eisenbahnen. Im Gegensatz zu Transnet und der GDL verfolgt die GDBA eine eher konfrontative Strategie gegenüber dem Bahnvorstand, wie sich vor allem bei Tarifverhandlungen zeigt. Eine noch stärkere Distanz kennzeichnet die Dienstleistungsgesellschaft Verdi. Die Bedeutung von Verdi in der Verkehrs-politik ist allerdings umstritten: Einerseits ist Verdi mit 2,4 Millionen Mitglie-dern neben der IG Metall die größte Einzelgewerkschaft. Andererseits vertritt Verdi in der Verkehrswirtschaft aber nur wenige Hundert Mitarbeiter nichtbun-deseigener Eisenbahnen (NE-Bahnen). Verdi steht als „linke“ Gewerkschaft bei dem zentralen Konflikt der Bahnprivatisierung in Opposition zu den Positionen der partnerschaftlichen Gewerkschaften.

Der Konflikt innerhalb der Gewerkschaften verdeutlicht die doppelte Inter-essenstruktur im Schienenverkehr: Einerseits treten die Organisationen gemein-sam für die Stärkung des eigenen Verkehrsträgers ein. Andererseits besteht ein Konflikt darüber, ob und in welcher Form Deregulierung, Privatisierung und Dezentralisierung zu Verbesserungen oder zu Verschlechterungen für den Schie-nenverkehr führen. Die Kritiker einer wettbewerblichen Orientierung der Bahn haben sich in dem Netzwerk „Bahn für alle“ zusammengeschlossen. Das Netz-werk umfasst die Globalisierungskritiker von Attac Deutschland, die Gruppe „bahn von unten“ in Transnet und verschiedene Umweltverbände. Die Kritiker verfügen einerseits über ausreichenden Einfluss, um die Legitimität von politi-schen Entscheidungen zu stellen. Andererseits fehlen ihnen Ressourcen, um poli-tische Entscheidungen maßgeblich zu beeinflussen.

Die Interessenorganisation von Straßen- und Schienenverkehr unterscheidet sich somit grundlegend. Dies betrifft nicht nur den Organisationsgrad der jewei-ligen Nutzer: Einen starken Verband der Bahnkunden – vergleichbar dem ADAC – gibt es in dieser Form nicht. „Pro Bahn“ als Verband der Fahrgäste des öffent-lichen Personenverkehrs vertritt lediglich 5.000 Mitglieder. Noch bedeutsamer

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ist aber der Gegensatz zwischen der privatwirtschaftlichen Interessenstruktur des Straßenverkehrs und dem gemeinwirtschaftlichen Schienenverkehr. Die unter-schiedlichen Organisationen sind somit auch mit verschiedenartigen Zielsetzun-gen des Verkehrs verbunden, welche die Wahrnehmung verkehrspolitischer Probleme und Lösungen prägen. Die wichtigsten wirtschaftlichen Interessenver-tretungen des Schienenverkehrs sind der Vorstand der DB und die großen Ge-werkschaften. Insgesamt sind die Interessen dieser Akteure eng miteinander verknüpft. Dabei bestehen einerseits Interessenkonflikte, vor allem in der Tarif-politik. In anderen Fragen, vor allem bei der Privatisierung der DB, kooperieren die relevanten Akteure aber eng untereinander.

Neben Straßen- und Schienenverkehr sind auch Binnenschifffahrt und Luft-verkehr durch eigene Verbände an verkehrspolitischen Entscheidungen beteiligt. Ähnlich wie im Straßenverkehr ist die Infrastruktur (Flughäfen, Binnenhäfen) weitgehend in öffentlicher Hand. Im Gegensatz zur DB sind dabei neben dem Bund auch Länder und Kommunen als Eigentümer beteiligt. Die Luftverkehrs-gesellschaften und die Binnenschifffahrtsbetreibenden sind dagegen überwie-gend in privater Hand. Die Interessenverbände wie der Bundesverband der Bin-nenschifffahrt konzentrieren sich jeweils auf die Wahrnehmung der wirtschaftli-chen Interessen des jeweiligen Verkehrsträgers. Für jeden Teilbereich der Ver-kehrspolitik finden sich somit unterschiedliche dominante Akteure, die jeweils die sie betreffenden Entscheidungen wesentlich mitbestimmen.

Zahlreiche weitere Akteure nehmen auf die Verkehrspolitik Einfluss. Hier-zu gehören nicht nur Verbände und Unternehmen, sondern auch die Parteien, die Gebietskörperschaften und zunehmend auch supranationale Akteure wie die Generaldirektionen der Europäischen Kommission. In der Verkehrspolitik findet sich somit eine Vielzahl von Interessen, die sich nicht – wie in vielen anderen Politikfeldern – auf zwei Interessenkoalitionen reduzieren lassen. Gleichzeitig sind die Zuständigkeiten zwischen EU, Bund und Ländern verteilt. Allgemeine Zustimmung zu verkehrspolitischen Entscheidungen setzt daher die Akzeptanz durch Akteure mit vielen unterschiedlichen Interessen und normativen Orientie-rungen voraus.

Die verflochtenen politischen Kompetenzen und die Vermachtung durch In-teressenverbände werden häufig als wesentliches Problem der Entscheidungs-findung gesehenen (vgl. z. B. Reh 1988; Monheim 1997). Allerdings sind nicht an jeder verkehrspolitischen Entscheidung alle Akteure beteiligt. Vielmehr exis-tieren enge Verbindungen zwischen ausgewählten Interessengruppen und Akteu-ren im federführenden Bundesministerium (seit 2005 Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, BMVBS). Diese Einbindung von Interes-senverbänden in die Entscheidungsfindung weicht allerdings vom Idealtyp kor-poratistischer Entscheidungsfindung (vgl. Schmitter 1979) ab. Eine Besonderheit

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der Verkehrspolitik besteht etwa im Vergleich zur Gesundheitspolitik und ande-ren korporatistisch geprägten Politikfeldern darin, dass die Interessenvermittlung in den jeweiligen Teilbereichen eher segmentiert als koordiniert verläuft. Die Organisation des BMVBS und seiner Vorgänger orientiert sich am Prinzip der Trennung zwischen den Verkehrsträgern. Neben einer Grundsatz- und einer Zentralabteilung finden sich traditionell eigene Abteilungen bzw. relativ auto-nome Unterabteilungen für den Straßenbau und Straßenverkehr, für Eisenbah-nen, Wasserstraßen und Luftfahrt. Diese Fachbereiche entwickeln gemeinsam mit den jeweiligen Regelungsadressaten in enger wechselseitiger Kommunika-tion (und teilweise auch personellem Austausch) eigene politische Strategien (vgl. Heldmann 2002). Der strategische Austausch zwischen Verwaltung und gesellschaftlichen Akteuren zum wechselseitigen Nutzen ist ein Extremfall der administrativen Interessenvermittlung (vgl. Lehmbruch 1987; Schu-mann/Bandelow/Widmaier 2005).2 Administrative Interessenvermittlung wurde ursprünglich als besonders geeignete Voraussetzung für politische Steuerung gesehen. In der Verkehrspolitik bestehen allerdings zwei zentrale Probleme. Erstens mangelt es an gemeinsamen Kommunikationsforen zum Austausch zwi-schen den Perspektiven der Vertreter der verschiedenen Verkehrsträger. Diese sind unter anderem inhaltlich unverzichtbar, da verkehrspolitische Entscheidun-gen jeweils auch die Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Verkehrsträgern und damit letztlich alle Akteure betreffen. Zweitens fehlt es an Möglichkeiten für schwache Interessen wie Bahnkunden und Kritikern der Privatisierungen, sich konstruktiv an der Politikproduktion zu beteiligen.

Die Akteursstrukturen und die Strukturen der Interessenvermittlung in der Verkehrspolitik können die Erfolge und Misserfolge staatlicher Steuerung in diesem Bereich nicht vollständig erklären. So hat die Politikverflechtung seit Mitte der 1980er Jahre infolge der aktiveren Rolle der Europäischen Union noch zugenommen, da eine weitere Ebene entstanden ist. Dennoch scheint gleichzeitig das Steuerungspotential der Verkehrspolitik eher gewachsen zu sein. Dafür spricht zumindest, dass in den letzten Jahren die verkehrspolitischen Pfadabhän-gigkeiten zumindest teilweise durchbrochen werden konnten (vgl. Lehmkuhl 2007). Eine mögliche Erklärung dafür kann in den Inhalten der Verkehrspolitik gesehen werden. Segmentierte Interessenstrukturen können zwar „harte“ Formen des Regierens unterstützen. Sie stehen aber der Entwicklung von Wissen als Grundlage politischer Steuerung entgegen.

2 Der einzige Unterschied zur ursprünglichen Definition Lehmbruchs besteht darin, dass sich in

der Verkehrspolitik eine Abteilungsautonomie und keine Ressortautonomie findet.

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4 Unwissen und kollektives Handeln

Neben den genannten Akteuren spielen in der Verkehrspolitik auch Wissen-schaftler als Politikberater eine zentrale Rolle. Wissenschaftliche Politikberatung zielt im Rahmen eines technokratischen Modells auf die Bereitstellung von ob-jektivem Wissen, an dem sich politische Entscheidungen orientieren sollen (vgl. kritisch dazu: Lompe 1966; Habermas 1968; Wewer 2003). Die im technokrati-schen Modell der Politikberatung angenommene Bereitstellung von Wahrheiten durch wissenschaftliche Forschung wurde in der neueren Politikfeldanalyse rela-tiviert (vgl. Fischer/Forester 1993; Bandelow 1999; Fischer 2003). Dennoch spielen technische Informationen gerade für die Verkehrspolitik eine zentrale Rolle (vgl. Walther 1996: 133-146). Die Ergebnisse vor allem ingenieurwissen-schaftlicher Forschung können sowohl Grundlage als auch Ergebnis politischer Steuerungsbemühungen sein. So tragen z. B. Verkehrsleitsysteme oder Hoch-geschwindigkeitseisenbahnen dazu bei, einen Modal Shift (eine Verschiebung des Anteils der verschiedenen Verkehrsträger am Verkehrsaufkommen) zu errei-chen oder eine Überlastung bestehender Verkehrskapazitäten zu reduzieren. Politische Steuerung kann dies nutzen, indem gezielt bestimmte Forschungen gefördert werden, um so indirekt normative Zielvorgaben zu erreichen. Gleich-zeitig müssen politische Entscheidungen auf Analysen verkehrspolitischer Prob-leme und technischer Lösungsmöglichkeiten beruhen. Trotz der fehlenden end-gültigen Objektivierbarkeit dieser Informationen können diese unterschiedliche Qualität haben. Informationen, die nach kurzer Zeit oder bereits in der Ge-genwart von anderen Akteuren nicht akzeptiert werden, erschweren die Formu-lierung und Durchsetzung von Entscheidungen. Politische Entscheidungen sind daher an konsensual akzeptierten Informationen interessiert. Unabhängig von einer ontologischen Wahrheit können im Rahmen von steuerungstheoretischen Fragestellungen diese konsensualen Informationen als „Wissen“ bezeichnet wer-den, während umstrittene Informationen im Hinblick auf das Spannungsfeld zwischen Einzelinteressen und kollektivem Handeln als „Glauben“ zu bezeich-nen sind.3

3 Diese Nominaldefinition entspricht einem implizit verbreiteten Verständnis. Sie führt in kon-

kreten Fällen zu einer Begriffsverwendung, die von dem Wissensbegriff etwa der Ingenieurwis-senschaften abzuweichen scheint. Grundlage hierfür ist aber kein anderer Wissensbegriff, son-dern es sind unterschiedliche Gemeinschaften, auf welche die Begriffe angewendet werden. „Wissen“ ist für ausdifferenzierte Fachwissenschaften jede Information, die von der entspre-chenden Scientific-Community geteilt wird. Bei politischen Entscheidungen kann sich der Beg-riff nicht auf eine Wissenschaftsgemeinschaft beschränken, sondern muss die Anerkennung durch alle relevanten Akteure einschließen. Daher kann Wissen in einem politischen Prozess nicht allein durch wissenschaftliche Methoden erzeugt werden, sondern setzt immer auch poli-tische Kommunikation voraus.

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Nicht-Wissen, also das Fehlen konsensual akzeptierter Informationen für politi-sche Entscheidungen, ist ein zentrales Problem der Verkehrspolitik. Dies gilt unabhängig davon, ob politische Ziele im Rahmen hierarchischer Steuerung, durch Wettbewerb oder in Verhandlungsgremien entschieden werden. Probleme des Nicht-Wissens finden sich bei allen drei Governanceformen Hierarchie, Markt und Verhandlung.

Probleme hierarchischer Steuerung werden sowohl von Ökonomen als auch Politikwissenschaftlern diskutiert, dabei aber bisher nur selten auf Nicht-Wissen zurückgeführt. Die Kritik beruht vor allem auf der traditionellen Bedeutung die-ser Governanceform im Verkehrswesen. Verkehr gehört trotz der Deregulierung und Privatisierung der letzten 20 Jahre zu den staatsnahen Politikbereichen. Grundlage des besonderen Staatseinflusses ist die Wahrnehmung des Verkehrs als meritorisches Gut, dessen Bereitstellung durch einen unregulierten Wettbe-werb zu unerwünschten Umweltschäden und einem Verkehrschaos führen würde (Engartner 2005: 506). Bereits diese Wahrnehmung ist umstritten (vgl. z. B. van Suntum 1986). Hierarchische staatliche Steuerung steht somit unabhängig von den jeweils verfolgten Inhalten vor einem Akzeptanzproblem.

Staatliche Verkehrspolitik beinhaltet heute vor allem die Bereitstellung der Infrastruktur für alle Verkehrsträger. Angesichts der langen Zeitphasen zwischen der politischen Entscheidung für Bau, Ausbau oder Schließung von Flughäfen, Straßen, Eisenbahnlinien und Kanälen und deren Umsetzung sind aktuelle ver-kehrspolitische Entscheidungen auf die Befriedigung einer zukünftigen Ver-kehrsnachfrage ausgerichtet. Die Prognosen zukünftiger Verkehrsentwicklungen basieren auf vielfältigen Annahmen, bei denen Einflüsse außerhalb des Politik-felds eine zentrale Rolle spielen (vgl. BVU/DLR/ISL1996). Zu diesen Einflüssen gehören beispielsweise wirtschaftliche Eckdaten (inklusive der Entwicklung der Weltwirtschaft), Informationen zur Entwicklung der notwendigen Ressourcen für den Betrieb der verschiedenen Verkehrsträger (Rohstahl, Steinkohle, Mine-ralöl etc.), wobei jeweils der konkurrierende Rohstoffverbrauch anderer Sektoren zu beachten ist. Gleichzeitig ist auch die Mobilitätsnachfrage zu prognostizieren. Wie sich diese entwickeln wird, ist insbesondere für den Gütertransport unge-wiss, zumal hier etwa beim transnationalen Transport landwirtschaftlicher Er-zeugnisse schwer prognostizierbare Entwicklungen wie Wettereinflüsse eine Rolle spielen können. Hinzu kommen Analysen bisheriger Trends und Abschät-zungen der Auswirkungen politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen.

Vor diesem Hintergrund haben sich verkehrspolitische Prognosen oft als falsch erwiesen. Noch Anfang der 1980er Jahre wurde das Ende des Modal Shift zugunsten des Autoverkehrs prognostiziert. Vor dem Hintergrund der Erfahrun-gen mit der Ölkrise sah man Sachzwänge, aus denen zwingend eine kurzfristige Wende in der Verkehrspolitik abzuleiten sei (Busse 1980). Bisher haben sich die

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damaligen Prognosen in keiner Weise erfüllt. Problematisch ist nicht nur, dass einzelne zukünftige Entwicklungen, z. B. Energiekrisen oder Terroranschläge, zu unvorhergesehenen Veränderungen im Modal Split (der Verteilung des Verkehrs auf verschiedene „Modi“, also Verkehrsträger) führen können. Auch politische Entscheidungen können die zukünftige Verkehrsnachfrage verändern. So ist etwa der Anteilsrückgang der Schiene beim Güterverkehr gleichermaßen eine Folge politischer Entscheidungen wie auch systemspezifischer Nachteile des Schienen-güterverkehrs (vgl. Lemper 2000: 63-70). Auch bei konkreten Vergleichen zwi-schen Kommunen mit unterschiedlichem Modal Split lässt sich der konkrete Einfluss politischer Entscheidungen nicht quantifizieren (vgl. Klein 1999).

Nicht nur Prognosen sind umstritten. Auch bei der Bewertung der Auswir-kungen der formellen Privatisierung des Bahnverkehrs 1994 oder bei der Me-thode internationaler Verkehrsvergleiche besteht kein Konsens. So sehen Befür-worter eines staatlichen Bahnverkehrs die Schweiz als geeignetes Vorbild für Deutschland an, während für die Befürworter marktwirtschaftlicher Strukturen im Schienenverkehr der öffentliche Schienenverkehr der Schweiz mit seinem relativ hohen Anteil am Modal Split ein unvergleichbarer Spezialfall ist (vgl. z. B. Engartner 2005).

In den letzten Jahren wurde verstärkt versucht, den Grenzen der staatlichen Planung in der Verkehrspolitik durch einen Wandel der Governanceform von der Hierarchie zum Markt gerecht zu werden. Dabei wurden unterschiedliche For-men einer Pigou-Steuer eingesetzt (vgl. Walther 1996: 124; Köberlein 1997: 212-214). So sollen Ziele, die nicht allein und direkt den jeweiligen Nutzern eines Verkehrsmittels zukommen oder bei denen die Nutzer nicht in der Lage sind, die Zielerreichung bei ihrer Entscheidung für eine Verkehrsnutzung ange-messen zu berücksichtigen, in den Markt integriert werden. Diese Ziele umfas-sen insbesondere Umweltschutz, Gesundheit und Sicherheit (vgl. Howes 2000: 79). Ein Problem dieser Strategie besteht darin, dass es nicht möglich ist, dem Markt eine monetäre Quantifizierung der Umweltkosten zu übertragen, da Um-weltkosten nicht aktuelle, sondern zukünftige Bedürfnisse betreffen. Hier muss also der Staat eine Quantifizierung vornehmen. Auch dem Staat fehlen aber Mo-delle zur Quantifizierung von Umweltkosten, die konsensual von allen Akteuren anerkannt würden. Auf EU-Ebene wird seit Mitte der 1990er Jahre versucht, Grundlagen für ein Abgabensystem zu entwickeln, das unter anderem Umwelt-schutz- und Staukosten integrieren soll. Allerdings bestehen unterschiedliche Berechnungsmodelle in den Mitgliedstaaten (vgl. Howes 2000).

Auf den ersten Blick scheint zumindest eine grundsätzliche vergleichende Bewertung der Kosten der verschiedenen Verkehrsträger möglich. So sehen sowohl die Europäische Kommission als auch die Bundesregierung im Perso-nenverkehr wie auch im Güterverkehr wesentlich höhere externe Kosten für den

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Straßen- und Luftverkehr als für den Schienenverkehr. Als externe Kosten er-fasst dabei die Europäische Kommission vorgelagerte Kosten, Folgen für die Städte, Natur und Landschaft, Klimawandel, Luftverschmutzung, Lärm und Unfälle (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1: Durchschnittliche externe Verkehrskosten (EU-15 und Norwegen, Schweiz) aus Sicht der EU

Quelle: Europäische Kommission 2001, Anhang II: 125.

Die Tabellen 2 und 3 zeigen aus Sicht der Bundesregierung den jeweiligen Ener-gieverbrauch der Verkehrsträger. Die Daten deuten darauf hin, dass die Binnen-schifffahrt in dieser Hinsicht ökologisch der nachhaltigste Verkehrsträger zu sein schein, während der relative End-Energieverbrauch des Luftverkehrs am höchs-ten ist – und dabei den relativen Energieverbrauch selbst des Straßenverkehrs um das 20- bis 40fache zu übertreffen scheint. Der Straßenverkehr wiederum ver-braucht demnach gemessen an den Leistungen sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr ca. die dreifache Energiemenge wie der Schienenverkehr. Gleich-zeitig zeigt ein Vergleich der Tabellen 2 und 3, dass der Modal Shift bisher sys-tematisch zu einer Verkehrsverlagerung von ressourcenschonenden zu energiein-tensiveren Verkehrsträgern geführt hat.

Die Zahlen lassen aber auch erkennen, dass der jeweilige Energieverbrauch der Verkehrsträger nicht konstant ist. Offenbar ist es bei allen Verkehrsträgern möglich, durch technische Entwicklungen den relativen Ressourcenverbrauch deutlich zu reduzieren. Die Daten zum Modal Split suggerieren zudem eine Klarheit, die der eigentlichen Datengrundlage nicht entspricht. Basieren doch die Erhebungen auf einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen, die ihrerseits oft nur auf indirekte Indikatoren oder auf Schätzungen zurückgreifen können (vgl. BMVBW 2005: 222-223).

Eine marktwirtschaftliche Steuerung des Verkehrs auf Grundlage einer In-ternalisierung der externen Verkehrskosten kann somit zwar mit Vergleichszah-len arbeiten, doch sind diese Zahlen in ihrer Lesart umstritten und erlauben nur begrenzte Prognosen für die Zukunft. Dies zeigt sich vor allem beim Vergleich zwischen Straßen- und Schienenverkehr. Während Kritiker einer staatlichen Eisenbahn davon ausgehen, dass der Staat die Wettbewerbsbedingungen des

Personenverkehr (EUR/1000 Pkm)

Güterverkehr(EUR/1000 tkm)

Bahn 20 19 PKW/LKW 87 88 Luftverkehr 48 205

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Bahnverkehrs durch überhöhte Unterstützungen im Vergleich zum Straßenver-kehr deutlich verbessern würde (z. B. van Suntum 1986; Laaser/Rosenschon 2001: 3), deuten Kritiker des Automobilverkehrs die Abgaben- und Preisvertei-lung in umgekehrter Richtung: Danach hat die Verkehrspolitik zu einer systema-tischen Wettbewerbsverzerrung zulasten des Schienenverkehrs geführt (vgl. Petersen/Schallaböck 1995: 165; Engartner 2005: 505).

Tabelle 2: Modal Split 1993

Personenverkehr Mrd. Pkm

GüterverkehrMrd. tkm

End-EnergieverbrauchPetajoule

Binnenschifffahrt 57,6 30 Eisenbahnen 63,4 65,6 84 Straßenverkehr 740,8* 251,5 2263 Luftverkehr 27,7 0,4 219 * Motorisierter Individualverkehr Quelle: BMVBW 2005: 228-229, 252-253, 295.

Tabelle 3: Modal Split 2003

Personenverkehr Mrd. Pkm

GüterverkehrMrd. tkm

End-EnergieverbrauchPetajoule

Binnenschifffahrt 58,2 10 Eisenbahnen 71,3 79,8 78 Straßenverkehr 885,8* 362,9 2215 Luftverkehr 43,3 0,8 292 * Motorisierter Individualverkehr Quelle: BMVBW 2005: 228-229, 252-253, 295.

Ein spezielles Problem bei der Quantifizierung von gesamtgesellschaftlichen Kosten des Verkehrs besteht darin, dass Verkehrskosten sich nicht eindeutig auf einzelne Nutzer zurückführen lassen. Verkehrskosten entstehen durch den jewei-ligen Gesamtverkehr zu einem Zeitpunkt. Dabei können höhere Grenzkosten einer zusätzlichen Nutzung derselben Verkehrsinfrastruktur entstehen, wenn bereits ein hoher Nutzungsgrad vorliegt. Nicht allein die Menge der Nutzer, sondern auch deren Heterogenität kann zu höheren Kosten führen: Kraftfahr-zeuge, die mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten dieselben Straßen nutzen wollen, behindern eher die gegenseitige Nutzung als dies bei homogenen Nut-zern der Fall wäre. Es ist nicht möglich, die unterschiedlichen Grenzkosten ein-deutig einem Nutzer zuzuordnen. Ein Beispiel kann dies verdeutlichen: Wenn auf einer einspurigen Straße zwei Kraftfahrzeuge mit unterschiedlicher Ge-

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schwindigkeit fahren wollen, ist eine politische Entscheidung notwendig, wie mit diesem Problem umzugehen ist. Soll dem langsamen Fahrzeug die Nutzung ver-sagt werden (wie dies z. B. bei deutschen Autobahnen für Fahrzeuge mit einer geringeren Grundgeschwindigkeit als 60 Km/h der Fall ist)? Soll das langsame Fahrzeug das schnellere aufhalten dürfen? Soll das langsamere Fahrzeug ge-zwungen werden, dem schnelleren Fahrzeug ein Überholen zu ermöglichen? Soll eine zusätzliche Spur bereit gestellt werden? Wenn Letzteres geschieht (und faktisch ist dies die übliche Lösung im Rahmen eines Predict-and-Provide-Para-digmas), welcher der beiden Verkehrsteilnehmer hat die Notwendigkeit zum Bau einer zweiten Spur verursacht? Ökonomen weisen mitunter die Verantwortung einseitig einem Nutzer – hier dem langsameren Fahrzeug – zu (so z. B. van Sun-tum 1986). Dies ist aber kein konsensuales Wissen, sondern eine normative Set-zung, die nicht von allen Beteiligten so geteilt wird. Eine technokratische Ver-kehrspolitik, die sich auf die Umsetzung scheinbarer Sachzwänge reduziert, lässt sich aus den Kostenvergleichen daher nicht ableiten.

Neben Hierarchie und Markt spielen auch Verhandlungen eine wichtige Rolle bei der Steuerung der Verkehrspolitik. Verhandlungen zielen auf Konsens, der sowohl durch Tausch (Bargaining) als auch durch Überzeugung (Arguing) erreicht werden kann. In der Verkehrspolitik sind Verhandlungen vor allem in-nerhalb der jeweils in sich geschlossenen segmentierten Akteursnetze möglich. Die segmentierten Gemeinschaften aus Industrie, Gewerkschaften und naheste-henden Wissenschaftlern, parteipolitischen Akteuren, Umweltschutzverbänden sowie den zuständigen Abteilungen der Verwaltung verfügen jeweils über eigene Kernüberzeugungen. Dennoch ist es problematisch, hier von reinen Überzeu-gungskoalitionen im Sinne des Advocacy-Coalition-Frameworks (Saba-tier/Jenkins-Smith 1993) zu sprechen. In allen Koalitionen sind Überzeugungen und materielle bzw. institutionelle Interessen jeweils eng verbunden. Die Be-deutung der jeweiligen Einzelinteressen wird aber bei den Akteuren gerade auf-grund des scheinbaren Wissens innerhalb der jeweiligen Teilnetze überlagert. Die Verkehrspolitik leidet so in besonderer Weise unter einer Wissensillusion: An die Stelle der nicht verfügbaren, aber eigentlich notwendigen Informationen sind konkurrierende Belief-Systeme getreten. Angesichts der Segmentierung des Politikfelds findet kaum Austausch zwischen den Belief-Systemen statt. Das Problem der verkehrspolitischen Institutionen liegt daher nicht nur in den for-mal-rechtlichen Steuerungshindernissen der verflochtenen Entscheidungsstruktu-ren und der Eigenschaft des Verkehrs als Querschnittsproblem, sondern auch in der Kombination von Nicht-Wissen und Wissensillusion. Kollektives Handeln wird so bei jeder Governanceform erschwert. Daher ist zu diskutieren, welche Ziele vor diesem Hintergrund politische Steuerung haben kann und wie diese zu erreichen sind.

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5 Politische Steuerung bei Unwissen

Politische Steuerung bezieht ihre Legitimität aus der Berufung auf Gemeinwohl-ziele. Die klassische Gemeinwohldimension des Verkehrs besteht darin, einen Beitrag zur Herstellung gleicher Lebensverhältnisse zu leisten, worunter vor allem die gleichmäßige Sicherung von Mobilität fällt. Dieses Ziel lässt sich in seiner allgemeinsten Form aus dem Diskriminierungsverbot (Artikel 3 Abs. 3) und dem Sozialstaatspostulat (Artikel 20 Abs. 1 und 28 Abs.1) des Grundgeset-zes ableiten. Beide Forderungen wurden bereits 1949 verankert und sind als politische Handlungsmaximen noch wesentlich älter als die Bundesrepublik Deutschland. Neue Gemeinwohlziele sind vor allem auf externe Effekte ausge-richtet, die sich als ökologische Dimension der Nachhaltigkeit zusammenfassen lassen. Im Grundgesetz wurde der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen erst 1994 als Ziel festgeschrieben (Artikel 20 a).

An der Sicherung eines sozialen Gemeinwohls ist bis heute bei allen Ver-kehrsträgern vor allem die Organisation der jeweiligen Infrastruktur ausgerichtet. Bei den Verkehrsträgern selbst findet sich dagegen nur im Schienenverkehr eine Orientierung am sozialen Gemeinwohl (Walther 1996: 68). Straßen- und Luft-verkehr sind dagegen überwiegend an privatwirtschaftlichen Interessen orien-tiert. Einschränkungen der Gewinnorientierung, wie sie etwa das VW-Gesetz von 1960 und die Mitbestimmungsgesetze formulieren, dienen weniger ver-kehrsspezifischen Zielen als dem Interessenausgleich zwischen Kapital und ab-hängig Beschäftigten innerhalb der Unternehmen.

Vor diesem Hintergrund ist bei der Frage nach den Möglichkeiten politi-scher Steuerung zunächst zu klären, wie das soziale Gemeinwohl in verkehrs-politische Strukturen integriert werden kann und soll. Die aktuell auf allen politi-schen Ebenen verfolgte Strategie zielt auf die Einschränkung der klassischen Gemeinwohlziele und möchte die Situation des Schienenverkehrs weitgehend dem Straßen- und Luftverkehr angleichen. In diese Richtung zielen alle gegen-wärtig diskutierten Varianten einer materiellen Teilprivatisierung der DB. Es findet sich kein relevanter Akteur, der für eine umgekehrte Aufhebung der A-symmetrie plädiert: Diese würde darin bestehen, auch den Straßen- und Luft-verkehr verstärkt zur sozialen Dimension der Nachhaltigkeit zu verpflichten. Eine bisher schwache Protestbewegung tritt allerdings für einen Erhalt der öf-fentlichen Bahnen und eine Stärkung ihrer Situation im Wettbewerb durch zu-sätzliche Steuermittel ein. In der politischen Auseinandersetzung stehen ver-schiedene Probleme einer konsensualen Lösung entgegen. Umstritten ist zu-nächst das Ausmaß der Mobilität, die allen Bürgern zur Verfügung gestellt wer-den muss. Problematisch ist zudem die verbreitete Wahrnehmung eines Kon-flikts zwischen dem sozialen Gemeinwohl und den Grundprinzipien marktwirt-

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schaftlicher Ordnung. Ein zentrales Problem der sozialen Dimension der Nach-haltigkeit liegt darin, dass eine allgemein akzeptierte Operationalisierung dieses Ziels fehlt.

Das Ökologieziel als neuere Teildimension verkehrspolitischen Gemein-wohls wurde in die Entscheidungen aller Segmente der Verkehrspolitik inte-griert. Allerdings spielt es im Luft- und Straßenverkehr nur eine untergeordnete Rolle. Die vorgegebenen Grenzwerte etwa bei Abgasuntersuchungen und die steuerlichen Anreize haben bisher nicht zu einer Umsetzung der technisch mög-lichen Maßnahmen geführt. Neben dem Problem der Steuerungsinstrumente besteht ein weiteres zentrales Hindernis zur Verwirklichung dieses Ziels: Nach wie vor sind die Auswirkungen des Modal Split auf die Ökologie umstritten (vgl. oben Abschnitt 4).

Eine technokratische Vorgabe von Zielen und Instrumenten zur Verwirkli-chung eines verkehrspolitischen Gemeinwohls ist daher nicht möglich. Moderne politische Steuerung kann sich deshalb nicht allein am Ziel der Nachhaltigkeit orientieren, sondern muss sich teilweise mit dem schwächeren Ziel der Akzep-tanz begnügen. Akzeptanz ist nicht allein als einseitige Folgebereitschaft der Bevölkerung gegenüber den politischen Eliten zu verstehen. Vielmehr setzt Ak-zeptanz die Anerkennung durch alle zentralen Akteure und die Bevölkerung voraus (vgl. Hirschi/Schenkel/Widmer 2002).

Diese Akzeptanz kann durch Wissen erhöht werden. Nicht-Wissen ist dabei nicht nur das unvermeidliche Gegenteil von (gesellschaftlichem) Wissen in mo-dernen Wissensgesellschaften (so Japp 1999; Willke 2005: 62). Wissen, das nicht mit objektiver Wahrheit zu verwechseln ist, sondern einen interpretativen Konsens aller Akteure bezeichnet, kann durch Diskurse vermehrt werden. In Politikfeldern, bei denen starke Unterschiede in der Wahrnehmung und Inter-pretation Policy-bezogener Informationen bestehen, spielt die Entwicklung ge-meinsamer Problemwahrnehmungen eine zentrale Rolle (vgl. Nullmeier 1993). Ein zentrales Ziel liegt dann darin, Gemeinsamkeiten zu produzieren, um akzep-tierte und nachhaltige Entscheidungen treffen zu können. Dies stellt eine wich-tige Grundlage politischer Steuerung dar. Dieses Wissen kann nicht nur tech-nisch sein, also etwa auf neue Hochgeschwindigkeitszüge zielen. Es muss auch die gesellschaftliche Kommunikation betreffen, also z. B. Leitbilder entwickeln, die den Schienenverkehr mit den Bedürfnissen potentieller Bahnkunden versöh-nen. Politisch entsteht dabei das Problem unterschiedlicher Zeithorizonte von Politik und Steuerungsmedium. Politische Entscheidungen orientieren sich an Zyklen weniger Jahre, die u. a. von Wahlterminen geprägt werden (vgl. Ale-sina/Roubini/Cohen 1999; Sieg 2000). Die Produktion verkehrspolitischen Wis-sens ist dagegen ein Prozess, der erst nach längeren Zeitphasen politische Rele-vanz gewinnt, da die Umsetzung von Lernprozessen in Politikergebnissen mit

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vielfältigen Hindernissen verbunden ist (vgl. Bandelow 1999). Institutionell lässt sich dieses Dilemma reduzieren, indem verkehrspolitische Entscheidungen aus der Arena des Parteienwettbewerbs verlagert werden. Die zunehmende Nutzung verkehrspolitischer Kompetenzen durch die EU ist auf den ersten Blick ein Schritt in diese Richtung. Die Langfristigkeit der Wirkung dieser Kompetenz-verschiebung im europäischen Mehrebenensystem bestätigt allerdings auch die Blockaden gegenüber einem kurzfristigen Politikwandel, die weniger auf politi-schen Institutionen als vielmehr auf dem Fehlen konsensual akzeptierter Infor-mationen beruhen. Gleichzeitig lässt sich an der EU-Verkehrspolitik auch ein weiteres Dilemma beobachten: Eine Entparlamentarisierung der Verkehrspolitik wird zwar einerseits den Besonderheiten des Feldes gerecht, steht aber gleich-zeitig im Widerspruch zu den Anforderungen input-orientierter Demokratietheo-rien. Handelt es sich dabei doch um eine Top-Down-Strategie, bei der die Parti-zipationsmöglichkeiten der Bevölkerung nicht erweitert, sondern reduziert wer-den.

Politische Steuerung bei Unwissen muss sich an den Anforderungen delibe-rativer Demokratietheorie orientieren (vgl. Habermas 1992), um Akzeptanz er-reichen zu können. Deren Konsequenzen bestehen in einer möglichst breiten aktiven Beteiligung der Bevölkerung an Entscheidungsfindungsprozessen. Mög-lich wäre zum Beispiel der Einsatz von Bürgerforen oder Planungszellen (vgl. Dienel 2002). In solchen Foren können zufällig ausgewählte Bürger unter-schiedliche Aspekte verkehrspolitischer Konflikte diskutieren. Politische Steue-rung ist somit als diskursiver Lernprozess zu gestalten (vgl. Bandelow 2000; Mangels-Voegt 2002). Dies setzt eine dauerhafte sozialwissenschaftliche Be-gleitung voraus, um die Gestaltung und Wirksamkeit partizipativer Entschei-dungsfindung zu gewährleisten.

Vor allem zur Lösung von Konflikten im Personenverkehr bestehen inhalt-liche Ansatzpunkte für eine Reduktion des Konfliktniveaus durch politische Lernprozesse (vgl. Lehmbruch 1992). Im Gegensatz zum Güterverkehr sind hier die Konflikte direkter und weniger durch technokratische Argumentationen be-lastbar. Auch die empirische Forschung zeigt bereits erste Hinweise auf erfolg-reiche verkehrspolitische Steuerung auf Grundlage von Lernprozessen (vgl. Dudley 2003).

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6 Ausblick

Ein zentrales Konfliktthema der Verkehrspolitik ist die politische Steuerung des Modal Split. Die Aufteilung des Verkehrs zwischen den Verkehrsträgern berührt erstens die materiellen Interessen der Anbieter von Verkehrsleistungen. Zweitens werden mit der Aufteilung verschiedene Gemeinwohlfragen berührt. Die Viel-dimensionalität des Konflikts bewirkt, dass sich in der öffentlichen und politi-schen Auseinandersetzung materielle Interessen und gemeinwohlbezogene Ar-gumentationen überlagern. Gleichzeitig sind politische Entscheidungen in die-sem Feld in besonderer Weise auf Informationen angewiesen. Es wurde gezeigt, dass politische Steuerung dabei vor dem zentralen Problem des Nicht-Wissens steht: Entscheidungen basieren jeweils auf Informationen, die nicht von allen Akteuren geteilt werden und daher nicht als Wissen bezeichnet werden können. Die segmentierte Struktur der Interessenvermittlung in der Verkehrspolitik führt zudem zu einer Wissensillusion. Diese besteht darin, dass jeweils enge kommu-nikative Verflechtungen zwischen den materiellen und ideologischen Befürwor-tern eines Verkehrsträgers bestehen. Innerhalb dieser Netzwerke werden Über-zeugungen entwickelt und bestätigt, die von den anderen Akteuren nicht geteilt werden.

Vor diesem Hintergrund wurde argumentiert, dass die Probleme der Ver-kehrspolitik nicht allein dadurch gelöst werden können, dass Blockaden hierar-chischer Steuerung abgebaut werden – etwa durch eine Reduktion der Vetospie-ler oder die Entflechtung der Entscheidungsfindung im deutschen Föderalismus. Politische Steuerung setzt vielmehr Informationen voraus. Diese Informationen müssen aus politischer Perspektive nicht objektiv „wahr“ sein. Die Frage nach Wahrheit oder Unwahrheit kann die Politikwissenschaft getrost den Religionen überlassen. Um Nachhaltigkeit und vor allem Akzeptanz zu erreichen, sind aber konsensuale Wahrnehmungen Policy-bezogener Informationen durch alle rele-vanten Akteure notwendig. Dieser kognitive Konsens, also Wissen in einem interpretativen Verständnis, muss erweitert werden. Es ist nicht zu erwarten, dass hierarchische Entscheidungen allein dieses Ziel erreichen können. Dagegen kön-nen „weiche“ Formen des Regierens zu einer Erweiterung von Wissen beitragen und so verkehrspolitischen Wandel ermöglichen.

Zukünftige Verkehrspolitik bedarf einer engeren Vernetzung der Kommu-nikation zwischen den verschiedenen Perspektiven. Um breite Akzeptanz für Verkehrspolitik zu erreichen, müssen verstärkt Foren geschaffen werden, in denen sich individuelle Akteure mit ihren Argumenten untereinander austau-schen und in die Entscheidungsprozesse einbringen können. Die Aufgabe einer anwendungsorientierten Politikwissenschaft liegt darin, die Erweiterung von Wissen zu ermöglichen. Dies ist keine selbstverständliche Aufgabe: Wissen-

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schaft muss nicht unbedingt Wissen schaffen, sie kann auch Fragen und Dissense und damit Nicht-Wissen und sogar Unwissen produzieren. Dies ist aus rein aka-demischer Sicht auch notwendig. Um politische Steuerung zu erleichtern, sollte sich aber die universitäre Politikfeldanalyse gezielt darum bemühen, eine Per-spektive zu entwickeln, die von allen Akteuren geteilt werden kann und so zum gegenseitigen Verständnis und zur Ausweitung von Konsens beiträgt.

Diese normative Forderung führt zu einer Reihe weiterer Aufgaben für die politikwissenschaftliche Verkehrsforschung (vgl. Bandelow/Mangels-Voegt 2007). Diese Aufgaben betreffen zunächst eine empirische Vertiefung der hier skizzierten Argumentation. So sind die inneren Strukturen der verkehrspolitisch relevanten Verbände und insbesondere deren Rolle bei der Entscheidungs-findung bisher nur unzureichend bekannt. Von besonderem Interesse sind hier unter anderem die Ziele der verschiedenen Gewerkschaften von Mitarbeitern im Schienenverkehr: Auf welcher Grundlage definieren diese Gewerkschaften ihre Ziele bei der Debatte um die materielle Privatisierung der DB und welche Strate-gien bestehen für eine möglicherweise nach der Privatisierung notwendige Neu-ausrichtung der Mitgliedschaftsstruktur?

Auch die systematische Anwendung der Theorien und Konzepte der mo-dernen Politikfeldanalyse auf die Verkehrspolitik verspricht Erkenntnisse, die zudem die allgemeine politikwissenschaftliche Fachdebatte fortführen können. Dies gilt etwa für die Tragweite und für notwendige Modifikationen der Partei-endifferenzthese in der Verkehrspolitik. Gibt es einen systematischen Unter-schied zwischen der Verkehrspolitik sozialdemokratischer und bürgerlicher Re-gierungen? Lassen sich mögliche Unterschiede theoretisch durch die Orientie-rung auf verschiedene Wählerklientele erklären? Sind die Unterschiede auch im Vergleich zwischen Bundesländern nachweisbar?

Ebenfalls auf Grundlage der theoretischen Debatte der Politikfeldanalyse sind die hier skizzierten Fragen effektiver verkehrspolitischer Steuerung weiter-zuführen. So bestehen erst rudimentäre Informationen zur Wirksamkeit ver-schiedener Steuerungsinstrumente bei der Erreichung konkreter verkehrspoliti-scher Ziele. Geklärt werden muss auch, wie eine effektive Beteiligung von Bür-gerforen an politischen Entscheidungsprozessen im Rahmen der verfassungs-rechtlichen Vorgaben ermöglicht werden kann.

Aus wissenspolitologischer und lerntheoretischer Sicht sind vor allem Er-klärungen für den langfristigen Wandel der Verkehrspolitik von Interesse. Inwie-fern lassen sich die veränderten verkehrspolitischen Ziele auf Policy-bezogenes Lernen zurückführen? Welche Rolle spielen Ergebnisse ingenieur- und wirt-schaftswissenschaftlicher Forschung für die Verkehrspolitik? Zur Beantwortung dieser Fragen ist eine engere Zusammenarbeit von Politikwissenschaft und Ver-kehrswissenschaften notwendig.

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In einem weiteren Schritt ist vor dem Hintergrund der beschriebenen Besonder-heiten des Politikfelds Verkehr zu untersuchen, inwiefern die Ergebnisse auf andere Politikfelder zu übertragen sind. Nicht-Wissen und Wissensillusion sind zwar ein besonderes Problem der Verkehrspolitik. Grundsätzlich wird politische Steuerung aber auch in anderen Politikfeldern mit Unwissen konfrontiert. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Forschungs- und Umweltpolitik. Politische Steuerung muss daher nicht nur in der Verkehrspolitik auf Grundlage partizipati-ver Diskurse erfolgen, um auf diese Weise den Bereich konsensual akzeptierter Informationen zu ergründen und zu erweitern.

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Einzelinteressen und kollektives Handeln in Organisationen. 163

Einzelinteressen und kollektives Handeln in Organisationen. Das Dilemma der Steuerung wissensintensiver Arbeit Einzelinteressen und kollektives Handeln in Organisationen. Uwe Wilkesmann

1 Einleitung

Ein Grundproblem jeder Organisation ist die Frage, wie Einzelinteressen und kollektive Interessen zusammengebracht werden können (vgl. Widmaier 1978). Das Problem wird in freiwilligen Organisationen und in Unternehmen ganz un-terschiedlich gelöst. In freiwilligen Organisationen, wie Interessenorganisatio-nen, Parteien und Vereinen, stimmen – zumindest in der idealtypischen Defini-tion – Einzelinteressen und Kollektivinteressen immer überein. Ein Akteur tritt genau deshalb einer freiwilligen Vereinigung bei, weil sie seine Individualinter-essen vertritt. Der Briefmarkensammler tritt deshalb einem Philatelisten-Verein bei, weil er dort Gleichgesinnte trifft. Bei Unternehmen stimmen Einzelinteres-sen und Kollektivinteressen nie überein. Vielmehr werden die Einzelinteressen durch monetäre und nicht-monetäre Anreize mit den Kollektivinteressen in Ü-bereinstimmung gebracht. Der einzelne Akteur lässt sich sein Interesse abkaufen. Der Opelarbeiter geht nicht jeden Morgen ans Band, weil er so gerne Autos baut, sondern weil er Geld verdienen muss.

Allerdings können auch bei freiwilligen Organisationen ähnliche Probleme auftreten. Je größer und professioneller eine freiwillige Vereinigung wird, desto problematischer ist die Grundannahme der Interessenübereinstimmung (vgl. Wilkesmann et al. 2002). Wiesenthal (1993) hat drei Dilemmata freiwilliger Vereinigungen aufgelistet: (1) Das Trittbrettfahrerproblem bei der Mobilisierung von Mitgliedsbeiträgen, das durch Olsons Logik des kollektiven Handelns be-gründet ist. (2) Der Konflikt zwischen den Prinzipien demokratischer Repräsen-tation und administrativer Effektivität (Weitbrecht 1969). (3) Das Dilemma der Aushandlung eines Kollektivwillens bei heterogenem Interesseninput (Of-fe/Wiesenthal 1980). Diese drei Dilemmata machen deutlich, dass es bei großen und professionellen Vereinigungen durchaus Differenzen zwischen Ein-zelinteresse- und Kollektivinteresse gibt. Diese werden in der Regel durch eine Hierarchisierung überwunden: Das Trittbrettfahrerproblem wird entweder durch selektive Anreize, die eine Organisationsspitze vergibt, oder durch Überwachung gelöst. Im Normalfall übernimmt ein hierarchisch höher gestellter Agent der Organisation diese Aufgabe. Der Konflikt zwischen demokratischer Willensbil-

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164 Uwe Wilkesmann

dung und administrativer Effektivität wird in der Regel hierarchisch gelöst. Je professioneller eine freiwillige Organisation ist, desto eher setzt sich die Hierar-chiespitze top-down durch. In der gleichen Weise werden heterogene Interes-seninputs häufig hierarchisch reguliert. Somit passen sich freiwillige Organisati-onen in der Praxis den Mechanismen der Unternehmen an1.

In beiden Organisationsformen wird demnach letztendlich das Koordinati-onsmittel der Hierarchie benutzt, um Einzelinteressen in kollektives Handeln zu verwandeln. Unternehmen können qua Herrschaft Einzelinteressen in kollektives Handeln einbinden. Große freiwillige Organisationen handeln de facto ebenso. Dieses bewährte Lösungsmuster von Organisationen kommt aber bei wissens-intensiver Arbeit an seine Grenzen. Qua Hierarchie kann nicht mehr kollektives Handeln hergestellt werden. Warum dies so ist, wird im nächsten Abschnitt ge-zeigt. Kollektives Handeln kann bei wissensbasierter Arbeit nur durch institutio-nalisierte Selbststeuerung entstehen. Wie diese begründet ist, wird im dritten Abschnitt erläutert. Abschließend wird an einem Fallbeispiel aufgezeigt, wie kollektives Handeln institutionalisiert gesteuert werden kann. Zuerst muss aber kurz definiert werden, was wissensintensive Arbeit ist.

2 Das Problem kollektiven Handelns bei wissensintensiver Arbeit

Nach der hier verwendeten Definition sei wissensintensive Arbeit eine Tätigkeit,

1. deren Mittel und Zwecke nicht programmiert sind und die deshalb konstitu-tiv darauf angewiesen ist, dass

2. zum einen der Tausch von Daten oder Informationen und zum anderen die interaktive Generierung neuen Wissens erfolgen.

Im zweiten Teil der Begriffsdefinition wird unter Wissensarbeit eine Tätigkeit verstanden, die zum einen den Tausch von Daten oder Informationen (bei einer Community of Practice) und zum anderen die interaktive Generierung neuen Wissens beinhaltet. Der Tausch von Daten findet z.B. sowohl bei jeder Projekt-gruppenarbeit statt, bei der alle Teilnehmer etwas beitragen, als auch bei der elektronischen Speicherung von best practices eines Beratungsvorgangs in einer Datenbank einer Unternehmensberatung. Allerdings könnte argumentiert wer-den, dass diese Definition auf alle Arten von Arbeit zutrifft. Auch und gerade im Taylorismus findet Kopfarbeit statt, die durch den Austausch von Daten und die Generierung von Wissen bestimmt ist. Selbst in der tayloristischen Handarbeit 1 Es existieren jedoch auch Tendenzen, bei denen sich Unternehmen den Strukturen freiwilliger

Organisation annähern (vgl. Wilkesmann et al. 2002).

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Einzelinteressen und kollektives Handeln in Organisationen. 165

finden sich noch Rudimente von Datenaustausch, schließlich müssen Arbeiter angelernt werden und es können Situationen auftreten, die nur durch zusätzlichen Datentransfer gelöst werden können (vgl. Deutschmann 2002: 41). Hier soll Wissensarbeit aber gerade von tayloristischer Arbeit differenziert werden. Aus diesem Grunde wird für ein zusätzliches Definitionskriterium auf eine alte Diffe-renzierung nach March und Simon (1958) (vgl. Romme 2003) zurückgegriffen. Nach March und Simon lässt sich Arbeit anhand der beiden Dimensionen Mittel und Zwecke sowie programmiert oder nicht-programmiert differenzieren. Bei programmierter Arbeit handelt es sich um Routinetätigkeiten, bei nicht-pro-grammierter Arbeit um komplexe und sehr unterschiedliche Arten von Tätigkei-ten. Daraus ergibt sich ein Vierfelder-Schema (vgl. Tab. 1). Sind Mittel und Zweck programmiert, dann handelt es sich um eine standardisierte Produktion. Flexible Spezialisierung ist ein Beispiel für eine Arbeitsform, bei der die Mittel programmiert sind, nicht aber die Zwecke. Hochverantwortliche Tätigkeiten, wie z.B. in der Flugsicherung oder am Leitstand eines Kernkraftwerkes, sind Bei-spiele für Arbeit, deren Zwecke programmiert, deren Mittel aber nicht-program-miert sind. Der letzte Fall, bei dem sowohl Mittel als auch Zwecke nicht-pro-grammiert sind, stellt wissensintensive Arbeit dar (Tab. 1).

Tabelle 1: Typologie der Arbeit (nach March/Simon 1958 und Romme 2003: 702)

Zwecke programmiert nicht-programmiert

programmiert

standardisierteProduktion

Arbeit bei flexibler Spe-zialisierung (gut entwi-ckelte Routinen werden benutzt, um auf individu-elle Kundenwünsche zu reagieren)

Mittel

nicht-programmiert

Arbeit in hoch-verant-wortlicher Organisation (z.B. Flugsicherung, Operationsstand von Kernkraftwerken)

wissensintensive Arbeit

Ein Beispiel für wissensintensive Arbeit ist die Generierung neuen Wissens in Projektgruppen. In Forschungs- und Entwicklungsabteilungen sowie bei Reorga-nisationen werden in der Regel Projektgruppen gebildet, weil ein Individuum

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166 Uwe Wilkesmann

allein nicht alle Informationen besitzt, die zur Lösung des Problems notwendig sind. Neues Wissen ist für die Organisation notwendig, will sie auch zukünftig erfolgreich sein. Aus der Sicht des einzelnen Akteurs muss es aber nicht rational sein, sein Wissen mit den anderen Akteuren in der Projektgruppe zu teilen bzw. gemeinsam mit ihnen neues Wissen zu generieren. Individuell ist die Trittbrett-fahrerposition vorteilhaft. Bei einer gemeinsamen Wissensarbeit kommt kollek-tives Handeln nicht unbedingt zustande.

Im Folgenden wird die geschilderte Situation – in einfacher Form – spiel-theoretisch modelliert.2 Allerdings wird aus Gründen der Vereinfachung auf den Wahrscheinlichkeitswert verzichtet. Weiter unten wird gezeigt, dass die Situation einem Gefangenendilemma entspricht. Zur besseren Lesbarkeit erfolgen daher zunächst ein paar allgemeine Vorbemerkungen. Das Modell des Gefangenen-dilemmas wird hier als Heuristik benutzt, um zu beschrieben, wie die Situation aussieht, wenn weder Möglichkeiten der internen Stabilisierung noch der exter-nen Eingriffe existieren. In der Realität ist beides sicherlich in einem gewissen Umfang immer schon gegeben.

Das Gefangenendilemma wird hier sowohl in der Zwei-Personen-Form als auch in der N-Personen-Form benutzt (vgl. Luce/Raiffa 1989).

Für zwei Spieler I und II ist das Gefangenendilemma folgendermaßen defi-niert (Tab. 2):3

Tabelle 2: Zwei-Personen-Gefangenendilemma

Akteur II C (Kooperation) D (Defektion)

C (Kooperation) R / R S / T Akteur I

D (Defektion) T / S P / P

Jeder Spieler hat zwei Strategien: mit dem anderen Spieler zu kooperieren oder nicht zu kooperieren. Erstere Strategie heißt Kooperation (C), die zweite wird Defektion (D) genannt. Die linke Auszahlung bezeichnet den Nutzen für Spieler I, die rechte den Nutzen für Spieler II. Für die Buchstaben4 können dabei belie-bige Zahlenwerte eingegeben werden, die aber folgender Reihenfolge genügen müssen: T > R > P > S und R > (T+S)/2.

Das Dilemma besteht nun darin, dass die individuell rationale Strategie die Defektionsstrategie ist. Wenn beide diese Strategie wählen, dann pendelt sich 2 Es wird dabei die Wert-Erwartungstheorie zu Grunde gelegt (Esser 1999: 247ff). 3 Die ursprüngliche Version stammt von A.W. Tucker (vgl. Davis 1972: 104ff; von Neu-

mann/Morgenstern 1961; Rapoport/Chammah 1965; zur Einführung Dixit/Nalebuff 1995). 4 R steht für reward, T für temptation (dies ist die Free-rider-Position), S für sucker’s pay off und

P für punishment.

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aber die Lösung P/P ein, die pareto-suboptimal ist. Individuell rationales Han-deln führt also nicht zu einem kollektiv rationalen Ergebnis. Damit dies der Fall ist, müssen Wege gefunden werden, dass die kooperative Strategie auch indivi-duell rational wird, sich also das Ergebnis R/R einpendelt. Dies geschieht dann, wenn die Auszahlungsbedingungen in die Rangfolge des assurance-game ge-bracht werden: R > T > P > S.5

Diese Überwindung des Gefangenendilemmas kann sowohl extern als auch durch interne Stabilisierung der kooperativen Strategie erfolgen. Extern können durch einen dritten Akteur selektive Anreize verteilt werden, die die Auszah-lungsbedingungen in ein assurance-game verwandeln. Intern lassen sich ver-schiedene Möglichkeiten finden: Die berühmtesten Möglichkeiten sind die Itera-tion der Situation (Axelrod 1987) und die Einführung eines Pfands (vgl. Raub 1992; Abraham 1996). In diesem Artikel wird die Möglichkeit der Überwindung des Dilemmas durch eine intra-organisationale Institution diskutiert.

Bei der Erweiterung von zwei auf n Personen kommt ein zusätzliches Mo-ment im individuellen Kalkül vor. Ob die Defektions- oder die Kooperations-strategie einen höheren Nutzen für Ego erzielt, hängt von der Anzahl aller ande-ren kooperierenden Akteure ab. In einer gewissen Spanne von kooperierenden Akteuren existieren eine Anzahl n1 und n2 (mit n1 < n2) von Akteuren, die einen Schwellenwert markieren (Elster 1989: 29). Kooperieren weniger als n1 Akteure, dann ist es individuell indifferent, ob einige oder gar keiner kooperiert. Der indi-viduelle Nutzen von Ego kann nur durch Defektion gesteigert werden. In der Spanne der Anzahl von Kooperierenden n1 und n2 verbessert die allgemeine Kooperation das Ergebnis für jeden Akteur. Kooperieren hingegen schon mehr als n2 Akteure, dann entsteht durch zusätzliche Kooperation kein individueller Nutzenzuwachs für jeden. Ego kann seinen Nutzen nur durch Defektion erhöhen. Zwischen n1 und n2 kann sich die kooperative Strategie aber selbst stabilisieren. Das N-Personen-Gefangenendilemma ist durch folgende drei Bedingungen defi-niert:

3. D(n) > C(n)

4. C(n-1) > D(0)

5. D(n) > D(0)

5 Wenn das Gefangenendilemma in ein assurance-game überführt worden ist, heißt dies nicht

zwingend, dass es nur ein Ergebnis dieses Spiels gibt. Das assurance-game hat nämlich zwei Gleichgewichtspunkte: R/R und P/P. Das Gleichgewicht R/R ist aber gegenüber dem Gleich-gewicht P/P dominant, da es pareto-optimal ist (vgl. Voss 1985: 161).

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D und C bezeichnen die Wahl der jeweiligen Strategien von Ego (Defektion oder Kooperation). In der Klammer ist die Anzahl der Kooperierenden angegeben. Die Ungleichungen drücken die Nutzenrelation aus der Sicht von Ego aus.

Dies lässt sich an der kollektiven Lernsituation in einer Projektgruppe ver-deutlichen (vgl. Wilkesmann 1999; Cabrera/Cabrera 2002). Aus der Sicht des einzelnen Organisationsmitglieds ergibt sich die Frage, warum es überhaupt neue Ideen entwickeln soll. Zwar weiß Ego (als Organisationsmitglied), dass das Un-ternehmen nur langfristig überleben kann und damit langfristig sein Arbeitsplatz gesichert ist, wenn es neue Ideen generiert, jedoch impliziert dies für Ego auch Kosten. Wenn zu Problemen neue Lösungen erarbeitet werden müssen, dann verursacht die Beteiligung an der Produktion der neuen Lösung für jeden Akteur Kosten. Aus der Sicht von Ego ist es rational, die Kosten Alter tragen zu lassen, d.h. auf Lösungsvorschläge der anderen Akteure zu warten, ohne sich selbst zu engagieren. Die individuellen Kosten werden dabei also hoch veranschlagt. Wenn die anderen Organisationsmitglieder neue Ideen produzieren und somit den Fortbestand des Unternehmens sichern oder zum gemeinsamen Erfolg der Projektgruppe beitragen, dann ist es für Ego immer rational, keine Kosten für den eigenen Lernprozess aufzubringen, d.h. wenn die anderen kooperieren, ist es für Ego rational zu defektieren [D(n) > C(n)]. Damit ist spieltheoretisch die erste Bedingung des Gefangenendilemmas erfüllt.

Auch die zweite Bedingung [C(n-1) > D(0)] gilt, da der Nutzenverlust – in Form eines möglichen Arbeitsplatzverlustes – für Ego größer ist, wenn er und n-1 Organisationsmitglieder sich der Anstrengung der Produktion neuer Lösungen unterziehen, als wenn niemand bereit ist dies zu tun.

Die dritte Bedingung für ein n-Personen-Gefangenendilemma [D(n) > D(0)]ist ebenfalls erfüllt, da der Nutzenverlust durch die Verweigerung aller Organi-sationsmitglieder bei der Produktion neuer Lösungen größer ist, als wenn we-nigstens einige lernen.

Theoretisch könnte in einer Organisation – wie oben gezeigt – das Problem des kollektiven Handelns qua Hierarchie gelöst werden, d.h. die Hierarchie ver-gibt als dritter Akteur selektive Anreize und verändert somit die Auszahlungs-bedingungen des Gefangenendilemmas. Die Vergabe von externen Anreizen stößt aber an prinzipielle Grenzen:

1. Wenn durch die Mitglieder gemeinsames Wissen (Frey/Osterloh 2000) in einer Organisation generiert werden soll, können zum einen Beiträge des Einzelnen nicht in eine eindeutige Beziehung zu individuell wirkenden, mo-tivationsgenerierenden Anreizen gebracht werden. Die potentielle Wirkung selektiver Anreize verpufft dabei vor allem an der Unsichtbarkeit und damit Nicht-Zurechenbarkeit der individuell erbrachten Leistung aus der Perspek-

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tive der Vorgesetzten. Er kann nicht beobachten, ob Müller oder Mayer be-sonders viel zur gemeinsamen Lösung der Projektgruppe beigetragen haben.

2. Zum anderen ist bei der Produktion solcher Pool-Ressourcen nicht nur der individuelle Input, sondern auch der gemeinsame Interaktionsprozess ent-scheidend. In der Unternehmenspraxis werden zur Generierung von neuen Ideen häufig Projektgruppen oder andere Gruppenformen eingesetzt, weil sie das kollektive Lernen fördern und die Lösung komplexer Probleme über die Zusammenführung individueller Wissensbasen und Sichtweisen ermög-lichen (Wilkesmann 2000), die nicht mit der Information eines Individuums alleine erzielt worden wären.

3. Es wird nur die Handlung ausgeführt, die belohnt wird, andere werden ver-nachlässigt. Dies ist bei Aufgaben im Sinne von „multiple tasks“ dysfunk-tional (vgl. Frey/Osterloh 2000). Wird z.B. die Anzahl der vorgetragenen neuen Ideen belohnt, so wird das Verhalten der Akteure nur auf die Quan-tität, ohne Kontrolle der Qualität gelenkt. Die Einführung weiterer Anreize, um auch die anderen Tätigkeiten zu belohnen, führt zu überkomplexen An-reizsystemen, in denen jede Handlung zu einer Belohnung führt. Solche Systeme verursachen nur hohe Transaktionskosten, ohne einen handlungs-steuernden Effekt zu haben (vgl. Parker 2002).

4. Selektive Anreize können eine Anspruchspirale erzeugen. Über die Zeit erwarten Akteure immer mehr Anreize für den gleichen Beitrag, damit wei-terhin Motivation erzeugt wird.

Wenn die klassische Lösung der Hierarchie nicht greift, was dann? Im Folgen-den soll die Alternative intra-organisationaler Institutionen für die Steuerung von wissensintensiver Arbeit diskutiert werden.

3 Welcher Institutionenbegriff kann hier weiterhelfen?

Ich werde hier aus Zeitgründen nicht alle verschiedenen Institutionen-Begriffe vergleichen können, von Berger/Luckmann (1969), über Meyer/Rowan (1977), DiMaggio/Powell (1983), North (1988), Williamson (1990) bis zu Scharpf/Mayntz (1995). Stattdessen will ich mich an den Neo-Institutionalismus nach Scott anlehnen. Scott unterscheidet bekanntlich drei verschiedene Säulen: regulativ, normativ und kulturell-kognitiv (vgl. Tab. 3).

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170 Uwe Wilkesmann

Tabelle 3: Die drei Säulen der Institution

Pillar

regulative normative cultural-cognitive

basis of compliance

expedience social obligation taken-for-granted-nessshared under-standing

basis of order

regulative rules binding expecta-tions

constructivescheme

mechanisms coercive normative mimetic

logic instrumentality appropriateness orthodoxy

indicators ruleslawssanctions

certificationaccreditation

common beliefs shared logics of action

basis of legitimacy

legally sanctioned morally gov-erned

comprehensiblerecognizableculturally sup-ported

Quelle: Scott 2001: 52.

Die erste Säule beschreibt den ökonomischen Ansatz des Institutionalismus: Institutionen basieren auf Regeln. Diese Regeln werden qua Überwachung und Sanktionierung durchgesetzt. Dafür sind Belohnung und Bestrafung notwendig. Regulative Institutionen können zum einen als Rahmenbedingungen oder als Regeln verstanden werden, die (nutzenmaximierendes) Handeln koordinieren und begrenzen, die sich also als Rahmenbedingungen oder als Regeln des choi-ce-within-constraints darstellen, wobei eine Regelverletzung entsprechend sank-tioniert wird. „In this conception, regulatory processes involve the capacity to establish rules, inspect others’ conformity to them, and as necessary, manipulate sanctions – rewards or punishments – in an attempt to influence future be-haviour“ (Scott 2001: 52). Zum anderen kann auch Überredung zu einem Ein-verständnis und der Befolgung der Regeln führen. Allerdings ist Konformität nur

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eine Antwort der Akteure auf regulative Institutionen, da Regeln interpretiert und auch verändert werden können (Scott 2001: 54).

Die normative Säule erfasst die vorschreibende, evaluierende und ver-pflichtende Dimension des sozialen Lebens. Sie beinhaltet nach Scott sowohl Werte als auch Normen. Werte versteht er als Konzeptionen des Präferierten oder des Wünschenswerten. Normen dagegen beschreiben, wie Dinge gemacht werden sollten, sie definieren legitime Mittel, um einen präferierten Zweck zu verfolgen.

„Normative systems include both values and norms. Values are conceptions of the preferred or the desirable, together with the construction of standards to which existing structures or behavior can be compared and assessed. Norms specify how things should be done; they define legitimate means to pursue valued ends. Norma-tive systems define goals or objectives (e.g., winning the game, making profit) but also designate appropriate ways to pursue them (e.g., rules specifying how the game is to be played, conceptions of fair business practices)” (Scott 2001: 54/55).

Im Gegensatz zur regulativen Säule werden in diesem Fall gewisse Handlungen nicht auf Grund von Zwang, Bestrafung, Überredung oder eines Kosten-Nutzen-Kalküls gezeigt und andere unterlassen, sondern weil die Befolgung erwartet wird und es eine moralische Verpflichtung gibt.

Mit der kulturell-kognitiven Säule werden die Form der Wahrnehmung der Wirklichkeit und die sinnhafte Erschließung der Welt in den Vordergrund ge-stellt. Dies sind nicht subjektive Überzeugungen, sondern es ist ein symbolisches System, das den individuellen Akteuren external ist. Im intra-organisationalen Bereich sind gemeinsame Scripte oder gemeinsame Überzeugungen Beispiele dafür. Es wird dadurch eine gemeinsame Rahmenordnung des Sinns erzeugt.

Ein Problem des Ansatzes von Scott ist sein Eklektizismus. Er stellt keinen in sich konsistenten Ansatz dar, der das Entstehen, die Entwicklung sowie die Funktion von Institutionen erklären könnte. Um Erklärungskraft zu bekommen, muss der Institutionenansatz mikrosoziologisch fundiert werden. Erst durch die Definition der Übergänge von Makro-Mikro-Makro wird sozialwissenschaftliche Erklärungskraft generiert und ein strenger Holismus abgebaut, der vielen Institu-tionenansätzen innewohnt. Aus diesem Grunde werde ich hier den Ansatz nach Scott abwandeln und im Sinne von Nee (1998) und Greenwood und Hinings (1996) als choice-within-constraints Ansatz modellieren. Ich werde Scott also im Sinne eines choice-within-constraints Ansatzes modifizieren und Institutionen nach Nee als Governance sozialer Beziehung definieren.

“Institutions, defined as webs of interrelated rules and norms that govern social relationships, compromise the formal and informal social constraints that shape the

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172 Uwe Wilkesmann

choice-set of actors. Conceived as such, institutions reduce uncertainty in human re-lations. They specify the limits of legitimate action in the way that the rules of a game specify the structure within which players are free to pursue their strategic moves using pieces that have specific roles and status positions” (Nee 1998: 8).

Roberts and Greenwood (1997) unterscheiden zwischen vorbewussten und nach-bewussten constraints und entwickeln so einen choce-within-constraints Rah-men, der nicht nur die regulative Säule nach Scott umfasst, sondern auch Berger und Luckmanns taken-for-granted Überzeugungen, also die kulturell-kognitiveSäule. Institutionen können den Effekt vorbewusster constraints haben, in dem Sinne, dass Akteure etwas als selbstverständlich wahrnehmen, ohne sich ihrer eigenen Interessen bewusst zu werden. Nachbewusste constraints beziehen sich auf bewusste, absichtsvolle Handlungen, die sich dann in taken-for-granted Rou-tinen verwandeln. Der Vorteil dieses Ansatzes ist es, dass er eine Erklärung von Institutionen, ihrer Entwicklung, Funktionen sowie des Wandels liefert.

Nach Scott lässt sich die regulative Säule auch als choice-within-constraints Ansatz verstehen. Diese Sichtweise impliziert dann jedoch auch, dass soziale Normen im Sinne Colemans als Normen, die negative externe Effekte in sozialen Dilemma-Situationen überwinden, wie z.B. das Kollektivgutproblem, auch zur regulativen Säule zählen würden. Die Entwicklung und Durchsetzung einer sozi-alen Norm stellt nach diesem Ansatz selbst wiederum ein second-order-free-rider Problem dar, das aber einfacher überwunden werden kann, da auf der zweiten Ebene nur ein Sanktionierer vom Rest der Gruppe belohnt werden muss (Cole-man 1990). Dieser Ansatz kann nach Lazega (2000) mit der Netzwerkforschung kombiniert werden: In einer lateralen Kontrollsituation ist die Netzwerkposition entscheidend. In einem Fallbeispiel einer Anwaltspartnerschaft betont er, dass alle Partner ein Interesse daran haben, einen potentiellen Defektor zu bestrafen. Einige Netzwerkcharakeristika helfen dabei, das second-order-free-rider Problem einfacher zu überwinden: Je enger die Verknüpfung zwischen einem Partner und dem potentiell zu Sanktionierenden und je mächtiger der Sanktionierer im Sinne der Seniorität ist, desto einfacher ist eine regulative Institution zu erreichen. Durch die enge Verknüpfung werden die Kosten der Interaktion reduziert. Senio-rität erzeugt einen höheren Status, der mehr Macht verleiht und dadurch die Sanktionskapazität erhöht (Lazega 2000: 208).

Die normative Säule kann reinterpretiert werden als Normen, die als by-products sozialer Interaktion entstehen. In diesem Sinne überwinden sie nicht Dilemma-Situationen, sondern lösen Koordinations-Situationen. Normen, die Dilemma-Situationen überwinden, gehören demnach zur regulativen Säule, weil sie sich nur durch Sanktionen durchsetzen lassen. An diesem Punkt bewegen wir

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uns auch weg von Scotts Interpretation der normativen Säule6. Die normative Säule dient demnach der Koordination, die durch Verständigung erzielt wird. Koordinationsprobleme werden durch konventionelle Normen gelöst (Esser 2000: 109). Da in diesem Fall keine antagonistischen Interessen vorliegen, ist die Entstehung dieser Säule nicht an Sanktionsmechanismen gebunden, sondern stabilisiert sich selbst.

Die kulturell-kognitive Säule soll hier im Rahmen des choice-within-constraints Ansatzes als gemeinsames, kognitives Schema interpretiert werden, das durch die gemeinsame Wahrnehmung einer Arbeitssituation entsteht, also eine vorbewusste Institution nach Roberts und Greenwoods (1997). Wenn eine gemeinsame Wahrnehmung der Arbeitssituation existiert, dann entsteht eine kognitive Institution, die Arbeitshandeln koordinieren kann, auch wenn dies nicht in der bewussten Intention der Akteure verankert ist.

Nach Scott argumentiert der Neo-Institutionalismus auf verschiedenen Ebe-nen: der des Welt-Systems, der Gesellschaft, des organisationalen Feldes, der Organisation und innerhalb von Organisationen (Scott 2001: 87). Was sind nun intra-organisationale Institutionen, die Wissensarbeit koordinieren können? Wie lassen sie sich begründen?

4 Was sind intra-organisationale Institutionen und wie steuern sie wissensintensive Arbeit?

Ein bekannter Definitionsvorschlag von intra-organisationalen Institutionen stammt von Elsbach (vgl. Elsbach 2002). Sie definiert intra-organisationale In-stitutionen „as taken-for-granted beliefs that arise within and across organiza-tional groups and delimit acceptable and normative behaviour for members of those groups” (Elsbach 2002: 37). Diese Definition ist allerdings sehr eng, da sie nur die kulturell-kognitive Säule umfasst. Deshalb wird im Folgenden eine Mik-rofundierung der drei Säulen nach Scott erfolgen, die auch den regulativen und normativen Aspekt von Institutionen erfasst.

4.1 Die regulative Säule

Der wichtigste Faktor für die Regulierung von Wissensarbeit ist die Governance-Struktur der Organisation. „’Governance’ refers to arrangements that define authoritatively in whose interest an organization should be controlled. Govern-

6 Dies ist der Preis, der für einen einheitlichen choice-within-constraints Ansatz zu zahlen ist.

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ance structures are institutionalised arrangements legitimating how decisions and politics ought to be made, by whom, and for whom (O’Sullivan 2000)” (Green-wood/Empson 2003: 912). Drei verschiedene Governance-Formen lassen sich differenzieren: Partnerschaften, Eigentümer-Unternehmen und Aktiengesell-schaftsformen. Partnerschaften sind Zusammenschlüsse von zwei oder mehr Akteuren, um Güter oder Dienstleistungen zu produzieren. Hauptsächlich An-waltskanzleien und Beratungsunternehmen sind als Partnerschaften organisiert. Der Vorteil einer Partnerschaft ist – zumindest theoretisch –, dass alle Mitarbei-ter auch Eigentümer sind und somit alle über alles in der Organisation entschei-den. Damit handelt es sich um eine extrem flache Hierarchie. In einer Partner-schaft sind alle gleich, jeder hat das gleiche Recht, Entscheidungen zu fällen und alle sind gleichermaßen verantwortlich für den ökonomischen Erfolg der Organi-sation. In diesem Sinne haben alle Partner das gleiche Interesse: Sie sind alle Prinzipale (im Sinne der Prinzipal-Agenten-Theorie) und alle sind verantwortlich für die Effizienz und die Effektivität der gesamten Organisation. Individuelles und kollektives Ziel fallen in diesem Fall zusammen. Aus diesem Grunde wird keiner eine free-rider Position einnehmen und alle werden durch Wissensteilung bemüht sein, das Ziel zu erreichen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist aber, dass alle Partner den gleichen Ausbildungshintergrund haben bzw. die gleiche Tätigkeit ausführen, also eine gemeinsame Sprache sprechen, andernfalls könn-ten sie keine Informationen teilen. Daraus folgt die erste Hypothese zur Mikro-fundierung:

H1 („Partnerschaft“): In einer Partnerschaft sind Mitglieder eher bereit, ihre Informationen zu teilen als in einem Eigentümer-Unternehmen oder in einer Aktiengesellschaftsform.

Wenn allerdings die Größe der Partnerschaft zunimmt, dann kann individu-elles und kollektives Interesse doch auseinander fallen. Wissen wird zu einem privaten Gut und einzelne Partner können zu einer differierenden Kalkulation kommen. Information zurückzuhalten, kann dann doch dominant werden. Dieses Dilemma ist jedoch einfach zu überwinden, wenn alle den gleichen Job tun, weil sie sich prinzipiell wechselseitig sehen und beurteilen können. Die wechselsei-tige Sichtbarkeit und damit die wechselseitige Beurteilung hängt jedoch von der Gruppengröße ab: Mit zunehmender Größe sinkt die wechselnde Überwachung. Den Hintergrund dieser Überlegung stellen die bekannten Ansätze und Modelle zur Überwindung des first und second-order-free-rider Problems dar (Heckathorn 1998, 1993, 1996) sowie die Kollektivgutproblematik (Olson 1965). Je kleiner also die Gruppe, desto höher ist die Überwachungskapazität, die feststellt, ob sich alle am Informationstransfer beteiligen. Aus diesen Überlegungen folgt die zweite Hypothese zur Mikrofundierung:

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H 2 („Gruppengröße“): Je kleiner die Gruppe, desto einfacher kann Information transferiert werden.

Wie Lazega (2000) zeigt, wird die Überwindung des second-order-free-ri-der Problems durch die Netzwerkposition des Sanktionierers unterstützt: Wenn es enge Bindungen zwischen den Akteuren gibt, und wenn die Netzwerkposition dem potentiellen Sanktionierer Macht verleiht, dann ist es einfacher, eine regula-tive Institution zu erreichen.

H 3 („Macht“): Je mehr Macht eine Netzwerkposition verleiht und wenn Verbindungen zwischen den Akteuren existieren, desto eher kann eine Norm (in diesem Fall die Norm der Informationsweitergabe) durchgesetzt werden.

Wie oben dargestellt, sind Wissen und Informationstransfer in einer großen Partnerschaft ein öffentliches Gut – mit allen dazugehörigen Problemen. In Or-ganisationsformen wie der Partnerschaft, in der alle Mitglieder mehr oder weni-ger gleich sind, kann eine Evaluation der Arbeitsergebnisse nicht über den klas-sischen Weg der Hierarchie vorgenommen werden, sondern nur über peer re-view. Alle Partner, die im letzten Jahr miteinander gearbeitet haben, beurteilen sich wechselseitig im Hinblick auf Informationsweitergabe und Beteiligung an der Entwicklung neuen Wissens. Damit diese wechselseitige Evaluation auch Gewicht bekommt und damit die Einschätzung, ob z.B. ein Partner mit einem anderen seine Information geteilt hat oder nicht, wird das Ergebnis des peer re-view mit einer Belohnung verknüpft. In der Regel handelt es sich dabei um eine Prämien- oder Bonuszahlung. Damit wird letztendlich auf eine der Basisannah-men von Homans (1974) Bezug genommen, dass Menschen ihr Verhalten in die Richtung steuern, in der sie eine Belohnung ihres Verhaltens erwarten.

H 4 („Belohnung“): Je höher die wahrgenommene Belohnung ist, die ans peer review geknüpft ist, desto eher werden die Mitarbeiter ein Verhalten zeigen, das im peer review erwartet wird.

4.2 Die normative Säule

Normen in Organisationen dienen nicht nur dazu, Dilemmata zu überwinden, sondern auch Koordinationsprobleme zu lösen. Diese Art von Normen bezieht sich auf die Fragen der guten Arbeit oder der internen Arbeitsbeziehungen. Weil dies als by-product von Interaktion entsteht, bestimmt die Interaktionsdichte und die Homogenität der Gruppe die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser nor-mativen Institution. Durch die Homogenität wird sichergestellt, dass alle Teil-nehmer dieselbe Sprache sprechen, d.h. dass sie einen gemeinsamen Background besitzen, gemeinsame Interessen und eine gemeinsame Wissensbasis haben. In

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der Literatur zum Wissensmanagement findet sich dieses Phänomen auch als Community of Practice (Wenger et al. 2002).

“Communities of Practice are groups of people who share a concern, a set of problems, or a passion about a topic, and who deepen their knowledge and expertise in this area by interacting on an ongoing basis. … This people don’t necessarily work together every day, but they meet because they find value in their interactions. As they spend time together, they typically share information, insight, and advice. They help each other to solve problems. They discuss their situations, their aspira-tions, and their needs” (Wenger et al. 2002: 4).

Danach ist die Entwicklung neuen Wissens eng an die Existenz solcher Gruppen geknüpft.

H 5 („Homogenität“): Je höher die Homogenität der Mitarbeiter in Bezug auf ihr Vorwissen ist, desto wahrscheinlicher ist die Informationsteilung unter-einander.

4.3 Die kulturell-kognitive Säule

Die kulturell-kognitive Seite wird im Neo-Institutionalismus betont. Besonders die Experimente von Zucker (1977) sowie die theoretischen Überlegungen von DiMaggio (1997) haben diese Säule herausgestellt. Zucker interpretiert ihre Experimente, die eine Abwandlung der berühmten Experimente von Sherif (1935) zur Konformität mit Hilfe des autokinetischen Effekts sind, als kognitive Institutionen. Aus der Arbeitspsychologie sind ähnliche Studien bekannt. Die Züricher Schule der Arbeitspsychologie hat den Zusammenhang zwischen Ar-beitsorganisation und gemeinsamer Kognition immer wieder hervorgehoben. Auch in der amerikanischen Arbeitspsychologie existieren – ausgehend von den Untersuchungen von Hackman und Oldham (1980) – ähnliche Ergebnisse. Hier konnte festgestellt werden, dass ein großer Handlungs- und Entscheidungsspiel-raum zu entsprechender gemeinsamer Kognition führt, die einen Austausch von Information oder allgemeiner von Kooperation erleichtert. Da mehr oder weniger alle beteiligten Akteure in einer solchen Arbeitssituation die gleiche Kognition aufweisen, kann von einer kognitiven Institution gesprochen werden.

H 6 („Handlungsraum“): Je größer der Handlungs- und Entscheidungsspiel-raum der Akteure ist, desto wahrscheinlicher bildet sich eine gemeinsame Kog-nition heraus, die die Teilung von Information unterstützt.

Außerdem muss berücksichtigt werden – dies ist eine der Grundannahmen des Neo-Institutionalismus –, dass sich die Legitimität der intra-organisationalen Institutionen durch deren Verbindung und Verweis auf externale Institutionen,

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d.h. Institutionen der Organisation, des organisationalen Feldes oder gesell-schaftliche Institutionen, beziehen. Es ist z.B. unmöglich, eine Projektgruppe, die ohne oder mit extrem flacher Hierarchie arbeitet, in einer sehr hierarchischen Organisation zu etablieren. Alle in der Projektgruppe geforderten Institutionen würden keine Legitimität innerhalb der Organisation erlangen. H 0 („externe Institutionen“): Intra-organisationale Institutionen haben einen umso größeren Effekt auf das Verhalten von Mitarbeitern, je stärker diese mit externalen Institutionen verknüpft sind.

Tabelle 4 fasst die Hypothesen noch einmal zusammen. Tabelle 4: Hypothesen

Säule regulative normative kulturell-kognitive

H 0 (ext. Insti-tutionen): Intra-organisationaleInstitutionenhaben einen umso größeren Effekt auf das Verhalten von Mitarbeitern, je stärker diese mit externalenInstitutionenverknüpft sind.

H1 (Partnerschaft): In einer Partnerschaft sind Mitglie-der eher bereit, ihre Infor-mationen zu teilen als in einem Eigentümer-Unter-nehmen oder in einer Aktiengesellschaftsform.H 2 (Gruppengröße): Je kleiner die Gruppe, desto einfacher kann Information transferiert werden. H 3 (Macht): Je mehr Macht eine Netzwerk-position verleiht und wenn Verbindungen zwischen den Akteuren existieren, desto eher kann eine Norm (in diesem Fall die Norm der Informationsweiter-gabe) durchgesetzt werden. H 4 (Belohnung): Je höher die wahrgenommene Be-lohnung ist, die ans peer review geknüpft ist, desto eher werden die Mitarbei-ter ein Verhalten zeigen, das im peer review erwar-tet wird.

H 5 (Homogeni-tät): Je höher die Homogenität der Mitarbeiter in Bezug auf ihr Vorwissen ist, desto wahr-scheinlicher ist die Informati-onsteilung unter-einander.

H 6 (Handlungs-raum): Je größer der Handlungs- und Entscheidungsspiel-raum der Akteure ist, desto wahrscheinli-cher bildet sich eine gemeinsame Kogni-tion heraus, die die Teilung von Infor-mation unterstützt.

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5 Ein Fallbeispiel für die Steuerung wissensintensiver Arbeit

In diesem Kapitel sollen die entwickelten Hypothesen veranschaulicht werden. Auf Grund der Datenlage kann zu diesem Zeitpunkt keine Hypothesentestung vorgenommen werden, sondern nur die Bedeutung der einzelnen Hypothesen an der Praxis aufgezeigt werden. Das Fallbeispiel beruht auf drei qualitativen Inter-views (zu jeweils ca. 1 ½ Stunden), die mit Partnern von McKinsey in Deutsch-land und in den USA durchgeführt wurden, sowie zahlreichen Dokumentenana-lysen.

Mit 85 Büros in 44 Ländern ist McKinsey weltweit vertreten (McKinsey 2005). Ursprünglich ist McKinsey 1926 in Chicago gegründet worden und war zuerst eine rein amerikanische Partnerschaft. Nach dem Tod von James McKin-sey 1937 spalteten sich die Partner des New Yorker Büros von dem Bostoner ab und gründeten zwei verschiedene Firmen: McKinsey & Company sowie A.T. Kearney & Company. Erst 1959 wurde das erste europäische Büro in London gegründet. Danach setzte aber eine rasante Entwicklung in Europa ein. Schon 1966 war das Londoner Büro mit 37 Beratern nach dem New Yorker Büro (mit 96 Beratern) bereits das zweitgrößte Büro weltweit und war somit sogar größer als das zuerst gegründete Büro in Chicago (31 Berater) (McKennan 2005: 178). In den 1960er Jahren wurden Büros in Genf, Paris, Amsterdam und Düsseldorf gegründet. Anfang der 1970er Jahre wurde die Hälfte des Gewinns in Büros erwirtschaftet, die nicht in den USA ansässig waren.

Tabelle 5: Rentabilität der kontinentalen Büros

Profitability of Continental Offices (Source: McKinsey & Company Archives) Year Profit $ Staff Per Person $ 1962 59,100 5 11,800 1963 115,100 9 12,789 1964 127,900 12 10,658 1965 219,400 18 12,189 1966 456,800 26 17,569 1967 753,500 42 17,940 1968 1,370,200 62 22,100 1969 2,324,400 91 25,524

Quelle: McKennan 2005: 178.

Der Informationsfluss war in den 1950er und 1960er Jahren allerdings eine Ein-bahnstraße. McKennan spricht von einer „institutionellen Rohrleitung“ (McKen-nan 2005: 169) für Managementideen von den USA nach Europa. Dies lag aller-

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dings an der Tatsache, dass damals die europäischen Manager konkret nachfrag-ten, weil sie die Organisationsprinzipien ihrer amerikanischen Konkurrenten kennen lernen wollten. McKennan spricht etwas ironisch davon, dass die euro-päischen Manager den Sirenen-Gesängen der amerikanischen Berater erlegen sind (McKennan 2005: 172).

Mit einem Fallbeispiel kann natürlich keine Hypothesentestung vorgenom-men werden, aber es können beispielhaft die einzelnen Säulen der Institutionen verdeutlicht werden.

Ein interessantes Beispiel für Hypothese 0 (externe Institutionen) ergibtsich, wenn die unterschiedlichen Homepages in Deutschland und den USA ver-glichen werden. Auf der deutschen Seite wird besonders betont, dass McKinsey eine Partnerschaft ist, keine strikte Hierarchie und kein Vorstand existieren. Alle Partner sind gleich, jeder nimmt teil im Entscheidungsfindungsprozess und alle sind verantwortlich für die ganze Organisation. Nichts davon findet sich auf der Homepage in den USA. Die Betonung egalitärer Strukturen passt nicht in den amerikanischen Wettbewerbsmarkt.

Da hier kein Vergleich zu einem Eigentümer-Unternehmen oder einer Akti-engesellschaft existiert, kann nichts zur H1 (Partnerschaft) gesagt werden. Zu H2 (Gruppengröße) lässt sich jedoch anmerken, dass die Partnerschaft McKin-sey mittlerweile eine große, weltweite Organisation geworden ist, die aus diesen Gründen eine interne Hierarchie ausgebildet hat. Die Organisation ist im Besitz der weltweit 900 Partner, welche alle in der Beratungsarbeit stehen. Allerdings besteht eine gewisse Hierarchie zwischen den Agenten (die sich in Junior- und Senior-Berater differenzieren) und den Partnern, die sich wiederum in Principals und Directors unterteilen. Auf Grund der Größe der Partnerschaft wird das bot-tom-up Partnerprinzip mit top-down Hierarchie-Elementen durchsetzt. Ein Agent kann nur dann Partner werden, wenn er von allen anderen Partnern dazu ernannt wird. Wichtigstes Entscheidungsgremium weltweit sind das Shareholder Com-mittee und der Managing Director. Letzterer wird von allen Directors auf drei Jahre gewählt – nicht aber von den Principals. Die Principals übergeben ihr Stimmrecht de facto an das Shareholder Committee. Das Shareholder Committee wiederum wird von allen Partnern gewählt. Das Machtinstrument des Managing Directors besteht darin, dass er top-down Personalentscheidungen treffen kann: Er setzt die Länderchefs und die Leiter der Practices ein. Zwar trifft er seine Entscheidung immer nur in Absprache mit den jeweiligen Partnern, aber er hat die letzte Entscheidung. An diesem Punkt wird das Prinzip der Partnerschaft bei McKinsey also durch hierarchische Elemente durchbrochen. Alle Partner (Prin-cipals und Directors) treffen sich einmal jährlich weltweit zu einem Meeting, auf dem alle wichtigen Grundsatzfragen besprochen werden. Die Länderchefs wer-den durch ein „monthly management meeting“ unterstützt, in dem ca. sechs vom

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Landeschef bestimmte Directors ihn bei strategischen Entscheidungen beraten und unterstützen. Die operative Beratungsarbeit wird – mehr oder minder – au-tonom von den einzelnen Büros organisiert und durchgeführt.

Die eigentliche Organisationsform von McKinsey ist dabei eine Matrix-struktur, die zum einen durch die starke, lokale Verankerung der einzelnen Büros (die im großen Umfang autonom arbeiten) und zum anderen durch 19 verschie-dene Industry and Functional Practices beschrieben ist. Die transnationale Wis-sensarbeit findet in den Practices statt. Sie sind das eigentliche Herzstück der Wissensarbeit bei McKinsey. In den Industry and Functional Practices finden sich weltweit Berater zu gewissen Arbeitsschwerpunkten zusammen (z.B. Au-tomotive & Assembly, Consumer Industry Group, Financial Institutions Group, Healthcare, Leadership & Organization, Marketing, Risk Management), tauschen ihre Daten zu diesen speziellen Themen aus, generieren gemeinsam neues Wis-sen und sind dabei auch Ansprechpartner für alle Berater weltweit, wenn in ih-rem Beratungsprojekt eine Frage zu diesem Themenschwerpunkt auftritt, welche das Beratungsteam vor Ort nicht sofort selbst lösen kann. In den Practices sollen neue Wissens-Trends erkannt oder selbst gesetzt werden, zu denen dann neues Wissen generiert wird (vgl. Kluge et al. 2003). Die Practices treffen sich virtuell und vierteljährlich auch face-to-face. Dabei ist ihre Größe überschaubar. Auf dem Europatreffen der Financial-Practices kommen ca. 30 Partner zusammen. Jeder einzelne kennt somit alle Partner, die zu gleichen oder ähnlichen Themen arbeiten. Aber nicht nur von der Größe, auch von der Homogenität ist eine wech-selseitige Beurteilung möglich. In den Financial-Practices sind fast ausschließ-lich Betriebswirte engagiert und ein paar Juristen, die alle das Feld der Finanz-dienstleistung sehr gut kennen.

Auch H4 (Belohnung) lässt sich anschaulich am Beispiel McKinsey illust-rieren. Die Überwachungskapazität ist bei McKinsey mit einer entsprechenden Sanktionskapazität gekoppelt, die an den Prozess des peer reviews geknüpft ist (Kluge et al. 2003). Alle Partner werden ca. einmal pro Jahr beurteilt. Die Beur-teilung koordiniert ein Evaluator, der aus einem möglichst geographisch weit entfernten Land kommt und vom Managing Director ernannt wird. Beurteilungs-grundlagen sind dabei die Selbstbewertung in Form eines eigenen Tätigkeits-berichts, die Beurteilung aller anderen Partner, mit denen der jeweilige Partner zusammengearbeitet hat sowie die Beurteilung durch die (in Projekten unter-stellten) Junior- und Senior-Berater. Die Partner, mit denen der zu Beurteilende zusammengearbeitet hat, kommen häufig aus der gleichen Practice. Bei der Be-urteilung spielt die Bereitschaft zum Informationstausch eine große Rolle. An diese wechselseitige Beurteilung ist auch eine hohe Sanktionskapazität gekop-pelt: Das Einkommen hängt von dieser Beurteilung ab. Neben dem regulären Einkommen werden auch die Überschüsse an die Partner verteilt. Hier gilt das

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Prinzip der einen Firma weltweit, d.h. alle Überschüsse werden weltweit addiert und dann auf alle Partner verteilt. Als Schlüssel wird das bisher gezahlte Jah-reseinkommen genommen. Wird z.B. ein Bonus von 100% ausgezahlt, so ver-doppelt sich bei jedem sein Jahreseinkommen.

Für die Erhaltung der regulativen Institution der Partnerschaft ist allerdings noch eine zentrale Voraussetzung anzusprechen: Zuerst muss ein Berater Partner werden. 1950 führte der damalige Manager Director Marvin Brown ein neues Rekrutierungssystem ein, das er von den großen Anwaltkanzleien übernahm: das up-or-out System (McKennan 2005: 214). Gemeint ist damit, dass Universitäts-absolventen von führenden Hochschulen gezielt angesprochen und geworben werden. Wenn sie als Juniorberater eingestellt werden, müssen sie sich in den ersten vier Jahren beweisen. Entweder steigen sie auf und werden zum Senior-berater und nach einer gewissen weiteren Zeitspanne dann zum Partner oder sie müssen das Unternehmen verlassen. Alle großen Unternehmensberatungen sor-gen so für einen großen Nachfluss an ‚frischem Wissen’ aus den Universitäten. Bis zu 80% der Juniorberater verlassen das Unternehmen wieder innerhalb der ersten vier Jahre. Meistens ist Grund, dass sie ein gutes Angebot von einem e-hemaligen Klienten bekommen haben.

Die normative und die kulturell-kognitive Säule (H5 Homogenität und H6 Handlungsraum) sind (wie auch die Differenz zur regulativen Säule) rein analytischer Natur. In der Praxis verwischen die Grenzen. Dies wird besonders deutlich bei diesem Beispiel. Die Koordination der Wissensarbeit wird bei Mc-Kinsey noch durch andere institutionelle Faktoren unterstützt. So gibt es eine gemeinsam geteilte normative Erwartung über gute Beratung. Die Gruppe der Partner ist eine sehr homogene Gruppe, was durch die extrem selektive Auswahl sowie später durch die gemeinsame Ernennung als Partner bewirkt wird. Der Auswahlprozess bei der Einstellung dauert in der Regel drei Tage mit vielen Assessment-Centern etc. Am Ende dieses stark selektiven Prozesses entsteht eine in-group, die sich in gemeinsamen Werten ständig selbst bestärkt. Individuelle und organisationale Interessen werden kaum mehr differenziert. Die Interview-partner sprachen oft davon, dass etwas im Sinne McKinsey machbar oder nicht machbar ist. Jeder ist bereit, einem anderen zu helfen oder eine Nacht durchzuar-beiten, wenn dadurch McKinsey nach außen besser dasteht. „Wir sind verpflich-tet, uns wechselseitig zu helfen, damit McKinsey das beste Ergebnis verkaufen kann“, war ein mehrfach geäußerter Satz in den Interviews.

Wie Robertson, Scarbrough und Swan (2003) anhand von zwei Fallstudien gezeigt haben, ist für die Koordination bei Wissensarbeit in Beratungsunterneh-men zusätzlich eine entsprechende Typisierung notwendig, die eine soziale Iden-tität unter den Wissensarbeitern stiftet. Die soziale Identität wird bei der Wis-sensarbeit im Rahmen anspruchsvoller Dienstleistungen in der Regel über ein

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Elitebewusstsein geschaffen. Durch ein sehr strenges Auswahlverfahren für neue Mitglieder und die Verfügbarkeit von wichtigen Ressourcen wird ein Elite-bewusstsein begründet, welches auch die alltägliche Arbeit bestimmt. So wird die soziale Identität durch eine in-group geschaffen (Perkmann/Robertson 2003). In in-groups ist die Wissensteilung sehr viel einfacher, da sich die Gruppe als Gemeinschaft versteht und Erfolg und Misserfolg auch kollektiv attribuiert. Die-ses Elitebewusstsein ist nicht nur normativ, sondern auch ein kulturell-kognitiver Faktor, der über das Auswahlverfahren und die Arbeitssituation erzeugt wird. Wer diese Auswahlhürden übersprungen hat und wer in der „Freiheit“ von Mc-Kinsey arbeiten darf, muss sich einfach selbst und alle anderen Kollegen als Elite wahrnehmen.

Außerdem wird von jedem Partner eine gewisse soziale Verpflichtung er-wartet. Diese drückt sich darin aus, dass jeder über die eigentliche Beratungs-tätigkeit hinausgehende Aktivitäten unternehmen soll oder sich an den pro-bono-Aktivitäten der Partnerschaft beteiligt (McKinsey 2005). Bei den pro-bono-Akti-vitäten werden kostenlose Projekte mit öffentlich-rechtlichen Institutionen, sozi-alen Vereinen, Museen etc. durchgeführt. Alle Partner entwickeln oder initiieren solche pro-bono Aktivitäten.

Bei McKinsey existiert keine formal vorgegebene Arbeitsstruktur. Lediglich Ziele sind vorgegeben, die Mittel können vollständig selbst eingesetzt werden. Es entsteht aus dieser extrem freien Arbeitsweise, verbunden mit dem Elite-bewusstsein der in-group, ein kognitives Schema, das alle McKinsey Mitarbeiter auszeichnet. Dies genau zu analysieren, bedarf einer noch ausstehenden eigenen Erhebung.

6 Resümee: Die Überwindung des Dilemmas kollektiven Handelns durch intra-organisationale Institutionen

Organisationen haben scheinbar immer schon vorgängig das Dilemma zwischen Einzelinteresse und kollektivem Handeln überwunden. Qua Hierarchie hat jede Organisation die Sanktionsmacht, das Gefangenendilemma im Rahmen des kol-lektiven Handelns zu überwinden. Allerdings gerät diese Sanktionsmacht an ihre Grenzen bei wissensintensiver Arbeit. Da nicht durch selektive Anreize von außen das Gefangenendilemma der gemeinsamen Generierung neuen Wissens überwunden werden kann, muss sich kollektives Handeln in diesem Fall selbst stabilisieren. Intra-organisationale Institutionen tragen zur Selbststabilisierung kollektiven Handelns bei wissensintensiver Arbeit bei. In Anlehnung an die drei Säulen der Institutionen nach Scott sind hier Hypothesen entwickelt worden, wie sich wissensintensive Arbeit selbst koordinieren kann, d.h. aus vielen verschie-

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denen Einzelinteressen ein kollektives Handeln sich selbst formen kann. An einem Fallbeispiel sind die Bedeutungen der Hypothesen illustriert worden. Aber erst eine noch ausstehende quantitative Untersuchung kann die institutionelle Selbststeuerung von wissensintensiver Arbeit wirklich empirisch belegen.

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Die Verankerung der sozioökonomischen Konfliktlinie 187

Die Verankerung der sozioökonomischen Konfliktlinie in den deutschen Eliten

Ursula Hoffmann-Lange und Trygve Gulbrandsen

1 Einleitung: Die Bedeutung der sozioökonomischen Konfliktlinie für das deutsche Parteiensystem und ihre Messung

Nach der Cleavage-Theorie von Lipset und Rokkan (1967) hat die sozioökono-mische Konfliktlinie bei der Entstehung der westeuropäischen Parteiensysteme eine zentrale Rolle gespielt. Andererseits hat jedoch die neuere Wahlforschung ergeben, dass im Verlauf der letzten vier Jahrzehnte die Bedeutung der Klassen-zugehörigkeit für das Wahlverhalten zurückgegangen ist. Dies ist vor allem auf Veränderungen in der Struktur der Erwerbsbevölkerung sowie die Pluralisierung der Lebensbedingungen zurückzuführen. Allerdings existieren beträchtliche länderspezifische Unterschiede hinsichtlich des Grads der Verankerung der so-zioökonomischen Konfliktlinie in der Wählerschaft wie auch in der Geschwin-digkeit ihrer Abnahme (vgl. u.a. Brettschneider et al. 2002).

Der historische Zusammenhang zwischen politischen Ideologien und den Interessen bestimmter Bevölkerungsgruppen impliziert, dass es sich bei den traditionellen Konfliktlinien um Koalitionen zwischen Parteieliten einerseits und sozialen Gruppen andererseits handelt (Pappi 1977: 195). Diese Koalitionen sind in der Regel auch organisatorisch verfestigt. Sie lassen sich damit noch präziser als Koalitionen von Parteieliten mit Verbandseliten definieren, die den Parteien als Gegenleistung für die Vertretung ihrer Interessen organisatorische Unterstüt-zung und Wählerstimmen zur Verfügung stellen.

In Deutschland existiert eine traditionell relativ enge politische und organi-satorische Verflechtung von SPD und Gewerkschaften. Umgekehrt weist die FDP als liberale Partei enge Verbindungen mit den Verbänden des Unternehmer-lagers bzw. des alten Mittelstandes auf. Während die CDU/CSU, wie früher bereits die Zentrumspartei, wirtschafts- und sozialpolitisch für sich in Anspruch nimmt, alle sozioökonomischen Gruppen zu repräsentieren, steht sie als dezidiert bürgerliche Partei den Unternehmensinteressen ebenfalls näher als den Gewerk-schaften, verfügt aber durch ihren Arbeitnehmerflügel auch über Verbindungen zum organisierten Arbeitnehmerlager.

Unabhängig davon, wie groß die Veränderungen in Struktur und Verhalten der Wählerschaft tatsächlich sein mögen, müssen Veränderungen im Wählerver-halten nicht zwingend auch Rückwirkungen auf die Bedeutung der traditionellen

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Koalitionen auf Elitenebene haben. So herrscht in der sozialwissenschaftlichen Literatur weitgehend Einmütigkeit darüber, dass die sozioökonomische Konflikt-linie für die Strukturierung der westeuropäischen Parteiensysteme nach wie vor zentral ist und auf Elitenebene nach wie vor Bestand hat. Dies wird unter ande-rem durch die Daten des Party Manifestos-Projekts belegt (vgl. Budge et al. 2001). Auch Lijphart betont in seiner vergleichenden Analyse, dass dem Klas-sen-Cleavage in 32 der 36 von ihm untersuchten Demokratien eine hohe und in den übrigen vier eine zumindest mittlere Bedeutung zukommt (1999: 79-82).

Andererseits müssen sich die politischen Parteien veränderten Wählermärk-ten anpassen und können dadurch gezwungen sein, nicht nur ihre politischen Positionen zu verändern, sondern auch ihre Beziehungen zu gesellschaftlichen Organisationen neu zu strukturieren. Versäumen sie es, sich neue Wählergruppen zu erschließen, während gleichzeitig ihre alten Koalitionen erodieren oder an Bedeutung abnehmen, so riskieren sie, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen sich dauerhaft anderen Parteien zuwenden. Ein Beispiel hierfür ist die Abwande-rung großer Teile der Neuen Sozialen Bewegungen von der SPD zu den Grünen. Von daher ist die Frage nach den Koalitionen zwischen Parteien und gesell-schaftlichen Organisationen immer wieder neu zu untersuchen.

Analysen des Wahlverhaltens der verschiedenen Bevölkerungsgruppen ge-ben also ein nur unvollständiges Bild der gesellschaftlichen Verankerung sozio-politischer Konfliktlinien und müssen durch Untersuchungen der Beziehungen auf Elitenebene ergänzt werden. Konflikte zwischen SPD und Gewerkschaften einerseits sowie die Öffnung der katholischen Kirche gegenüber der SPD (und umgekehrt) andererseits sind mindestens ebenso wichtige Anzeichen der Ver-änderung politischer Konstellationen wie die Abnahme der sozialstrukturellen Bindung des Wahlverhaltens.

Koalitionen zwischen Organisationen sind in der Regel durch Doppelmit-gliedschaften, Personalverflechtungen sowie finanzielle, organisatorische und politische Unterstützung bei der Vertretung der Organisationsinteressen abge-stützt. Sie sind daher relativ beständig und reagieren erheblich langsamer auf gesellschaftliche Veränderungen als individuelle Wahlentscheidungen. Damit können sie Konfliktmaterien konservieren, die für die Wählerschaft bereits an Bedeutung verloren haben. Im vorliegenden Beitrag wird untersucht, in welchem Ausmaß dies in Deutschland auf die sozioökonomische Konfliktlinie zutrifft. Hierfür greifen wir auf die Daten der bislang vorliegenden nationalen Elitebestu-dien (1968, 1972, 1981, 1995) zurück.1

1 Theoretischer Ansatz und Auswahlverfahren der drei Mannheimer Elitestudien von 1968, 1972

und 1981 sind in Hoffmann-Lange (1992) beschrieben, die der Potsdamer Elitestudie von 1995 in Bürklin/Rebenstorf et al. (1997).

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Die Verankerung der sozioökonomischen Konfliktlinie 189

Tabelle 1: Fallzahlen der deutschen Elitestudien

1968 1972 1981 1995

Sektor n % n % n % n %

Politik: CDU/CSU 52 6,4 128 7,0 125 7,2 119 5,1

Politik: SPD 50 6,2 110 6,0 124 7,1 141 6,0

Politik: FDP 18 2,2 47 2,6 25 1,4 63 2,7

Politik: B’90/Grüne - - - - - - 116 5,0

Politik: PDS - - - - - - 44 1,9

Politik insgesamt 120 14,9 285 15,6 274 15,7 4981 21,3

Wirtschaft 222 27,4 447 24,5 459 26,3 422 18,0

Gewerkschaften 69 8,5 49 2,7 87 5,0 97 4,1

Nicht-politische Eliten insgesamt 688 85,1 1540 84,4 1470 84,3 1843 78,7

Insgesamt 808 100,0 1825 100,0 1744 100,0 2341 100,0

1 In dieser Studie waren in der Gruppe der Politiker zusätzlich noch einige partei-lose Politiker, Kommunalpolitiker sowie Vertreter der Parteistiftungen enthal-ten, die aus Vergleichsgründen in den folgenden Analysen nicht berücksichtigt werden.

Quelle: Mannheimer Elitestudien 1968, 1972, 1981; Potsdamer Elitestudie 1995

In allen vier Umfragen wurden führende Positionsinhaber in den wichtigsten Sektoren der (west-)deutschen Gesellschaft befragt, u.a. aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Verbänden, Medien, Wissenschaft. Die vorliegende Analyse be-schränkt sich dabei auf die (partei-)politischen Eliten sowie die Wirtschafts- und Gewerkschaftseliten. Im Sektor Politik erstreckte sich die Auswahl der Zielper-sonen u.a. auf die Mitglieder von Bundes- und Landesregierungen, die Inhaber legislativer Führungspositionen in Fraktionsvorständen und Ausschüssen des Bundestags und der Landtage sowie die Mitglieder der Bundes- und Landesvor-stände der im Bundestag bzw. den Landtagen vertretenen Parteien. In der Wirt-schaft wurden die Vorstände und Aufsichtsräte der größten Wirtschafts- und Finanzunternehmen einbezogen, ferner die Inhaber von Führungspositionen in den großen Wirtschaftsverbänden (BDI, BDA, DIHK)2. Als Gewerkschaftseliten 2 Die großen Branchenverbände sind jeweils in den Spitzenverbänden repräsentiert.

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wurden die Inhaber von Führungspositionen im DGB, in den DGB-Mitgliedsgewerkschaften sowie in der DAG ausgewählt. Die Fallzahlen für die Gruppen differieren dabei etwas zwischen den verschiedenen Studien (vgl. Ta-belle 1). Insbesondere die erste Mannheimer Elitestudie von 1968 ist von der Positionenauswahl und den Fallzahlen nur eingeschränkt vergleichbar. Dies ist bei der Interpretation zu berücksichtigen.

Für die Analyse wurden die Politiker nach ihrer Parteizugehörigkeit unter-teilt. Die Eliten in Wirtschaftsunternehmen und Wirtschaftsverbänden konnten zu einer Gesamtgruppe Wirtschaftselite zusammengefasst werden, da zwischen ihnen im Hinblick auf ihre organisatorischen Verflechtungen und ihre politischen Einstellungen nur marginale Unterschiede bestehen. Die Unterschiede innerhalb des Gewerkschaftslagers sind ebenfalls nur gering, so dass auch hier eine einzige Gruppe gebildet werden konnte.

2 Parteipräferenzen und Parteimitgliedschaften der Wirtschafts- und Gewerkschaftseliten

In allen vier Studien war eine Frage nach der Parteipräferenz enthalten. In den Umfragen von 1968 und 1972 wurden die Befragten gebeten, eine Rangordnung der verschiedenen Parteien zu bilden, in den beiden jüngeren Studien kam das sog. Parteienskalometer zum Einsatz, bei dem die politischen Parteien einzeln auf einer Sympathieskala von -5 bis +5 bewertet wurden. Zusätzlich wurde hier auch noch nach der Wahlabsicht gefragt. Im Interesse der Vergleichbarkeit zwi-schen den Studien wurde jedoch auch für 1981 und 1995 aus den Skalometer-werten die Parteipräferenz gebildet.3

Abbildung 1 zeigt zunächst die Entwicklung der Parteipräferenzen der Wirt-schafts- und Gewerkschaftseliten, wobei die bürgerlichen Parteien (CDU/CSU, FDP) einerseits und die linken Parteien (SPD, B’90/Grüne, PDS) andererseits zusammengefasst wurden, um den Einfluss von Fluktuationen bzw. Ausdifferen-zierungen innerhalb der beiden Lager auszuschalten. Damit folgen wir dem Vor-gehen von Bartolini und Mair, die darauf verwiesen haben, dass sich die Veran-kerung des traditionellen Klassenkonflikts nur angemessen durch die Blockvola-tilität erfassen lässt und die Gesamtvolatilität daher als Summe der Volatilitäten innerhalb und zwischen den Parteiblöcken konzeptualisiert werden muss (1990: Kap. 1).

3 Wegen der Möglichkeit von Gleicheinstufungen ist der Anteil der fehlenden Werte für diese

beiden Umfragen etwas höher und liegt bei 14,2% (1981) bzw. 20,8% (1995).

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Abbildung 1: Parteipräferenzen von Wirtschafts- und Gewerkschaftseliten

Die Daten bestätigen die Existenz einer eindeutigen Blockbildung. Darüber hin-aus lässt sich auch ein hohes Maß an Kontinuität über die Zeit erkennen. Zu allen vier Zeitpunkten haben zwischen 80 Prozent und 90 Prozent der Wirtschaftseli-ten eine Präferenz für Union oder FDP angegeben, während sich die Gewerk-schaftseliten für eine der linken Parteien entschieden haben. Der Anteil für das jeweils andere Lager lag dagegen konstant unter 20 Prozent. Tabelle 2 zeigt weiterhin, dass die Ausdifferenzierung innerhalb des linken Lagers der SPD geschadet hat, auch wenn es der PDS zum Zeitpunkt der jüngsten Umfrage 1995 noch kaum gelungen war, sich in den Eliten zu etablieren. Ein Blick auf das bürgerliche Lager offenbart zudem, dass die FDP innerhalb der Wirtschaftseliten

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

1968 1972 1981 1995

Wirtschaft bürgerl. Parteien

Wirtschaft linke Parteien

Gewerkschaften bürgerl. Parteien

Gewerkschaften linke Parteien

Quelle: Mannheimer Elitestudien 1968, 1972, 1981, Potsdamer Elitestudie 1995

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auf eine relativ konstante Unterstützung zählen kann, die ihre Wahlergebnisse bei weitem übersteigt.4

Tabelle 2: Parteipräferenzen der Wirtschafts- und Gewerkschaftseliten im Zeitverlauf (Zeilenprozentwerte)

CDU/ CSU SPD FDP

B’90/ Grüne PDS

Wirtschaftseliten

1968 61,5 17,4 21,2 - -

1972 75,5 10,7 13,8 - -

1981 76,6 7,1 15,5 0,8 -

1995 76,0 8,8 12,6 2,2 0,3

Gewerkschaftseliten

1968 10,3 88,2 1,5 - -

1972 12,2 85,7 2,0 - -

1981 13,3 84,3 1,2 1,2 -

1995 9,6 75,3 1,4 13,7 0,0

Erster Sympathierang für eine der aufgeführten Parteien. 1968 und 1972: basierend auf einer Rangordnung der Parteien. 1981 und 1995: basierend auf den Skalometerwerten des Parteienskalometers (Skala: +5 bis -5). Aufgrund der unterschiedlichen Frageformate variiert der Anteil der Befragten ohne eindeutigen ersten Parteienrang und wurde daher bei der Prozentuierung nicht berücksichtigt.

Quelle: Mannheimer Elitestudien 1968, 1972, 1981; Potsdamer Elitestudie 1995

Ein noch besserer Indikator ist die organisatorische Abstützung der Koalitionen durch Parteimitgliedschaften der Wirtschafts- und Gewerkschaftseliten einerseits und durch Verbandsmitgliedschaften der politischen Eliten andererseits. Tabel-le 3 zeigt, dass ein sehr hoher Prozentsatz der Gewerkschaftseliten parteipolitisch organisiert ist. Zu allen drei Zeitpunkten, für die Angaben vorliegen, waren min-destens vier Fünftel von ihnen Mitglied der SPD. Diese hohen Anteilswerte bes-tätigen die enge Verbindung zwischen Gewerkschaften und SPD, ungeachtet der offiziell parteipolitischen Neutralität des DGB. Offensichtlich sind die Unions- 4 Auch in den übrigen Eliten findet die FDP eine vergleichbar überproportionale Unterstützung,

insbesondere wenn man statt der Parteipräferenz die Wahlabsicht betrachtet (vgl. Hoffmann-Lange/Bürklin 2001: 179).

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parteien in den Gewerkschaftsführungen über eine symbolische Repräsentanz durch einzelne Persönlichkeiten nicht hinausgekommen. Auch die anderen lin-ken Parteien sind in den Führungsetagen des DGB kaum vertreten, obwohl mitt-lere DGB-Funktionäre bei der Gründung und in der Führung der WASG eine aktive Rolle gepielt haben. Ob die im Mai 2006 erfolgte Wahl des CDU-Mitglieds Ingrid Sehrbrock zur Stellvertretenden DGB-Vorsitzenden als Nach-folgerin des SPD-Mitglieds Ursula Engelen-Kefer und die Wahl von Amelie Buntenbach (B’90/Grüne) in den DGB-Vorstand Hinweis auf eine Abkehr des DGB von der SPD sind, wird erst die Zukunft erweisen (vgl. hierzu auch Hassel 2006).

Tabelle 3: Parteimitgliedschaften1 von Wirtschafts- und Gewerkschaftseliten im Zeitverlauf 2 (Zeilenprozentwerte)

keine CDU/ CSU SPD FDP

Wirtschaftseliten

1972 72,6 18,2 6,5 2,2

1981 68,6 20,5 7,4 3,3

1995 67,6 21,7 7,9 2,9

Gewerkschaftseliten

1972 6,1 12,2 81,6 0,0

1981 1,1 13,8 85,1 0,0

1995 13,4 8,2 76,3 1,0

1 Die Angaben für 1968 sind unvollständig und daher nicht ausgewiesen. 2 Sonstige Parteimitgliedschaften wurden bei der Prozentuierung berücksichtigt,

aber wegen ihrer geringen Zahl nicht ausgewiesen (1972: n=2; 1981: n=4; 1995: n=1).

Quelle: Mannheimer Elitestudien 1968, 1972, 1981; Potsdamer Elitestudie 1995

Auch in umgekehrter Richtung bestätigt sich die nach wie vor enge Verbindung zwischen SPD und Gewerkschaften. Zu allen drei Befragungszeitpunkten gab eine Mehrheit der befragten SPD-Politiker eine Gewerkschaftsmitgliedschaft an. Während dieser Anteil 1972 und 1981 noch über 90 Prozent betrug, sank er bis 1995 allerdings auf 75,9% ab. Etwa die Hälfte der Spitzenpolitiker von B’90/Grünen (44,8%) und PDS (58,1%) gab 1995 ebenfalls eine Gewerk-schaftsmitgliedschaft an. Diese beiden Parteien stehen somit den Gewerkschaf-

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ten ebenfalls deutlich näher als die Politiker der bürgerlichen Parteien. Die Ver-flechtung der Gewerkschaften mit den Unionsparteien ist auch in dieser Rich-tung weit weniger eng. Während 1972 und 1981 noch zwischen einem Fünftel und einem Viertel der befragten Spitzenpolitiker der CDU/CSU eine Gewerk-schaftsmitgliedschaft angab, sank dieser Anteil bis 1995 auf 14,3% ab.

Auch die neueren Daten Trampuschs (2006) zur gewerkschaftlichen Bin-dung von Mitgliedern des Bundestagsausschusses für Arbeit und Sozialordnung zeigen für den Zeitraum seit Beginn der 1990er Jahre einen vergleichbaren Rückgang der Gewerkschaftsmitgliedschaft auf Seiten dieser für den DGB be-sonders wichtigen Gruppe von SPD-Abgeordneten.5 Zudem nahmen auch die Anteile der sozialdemokratischen Ausschussmitglieder ab, die bereits einmal eine Führungsposition in wirtschafts- und sozialpolitischen Verbänden einge-nommen haben, ebenso wie der Anteil derjenigen mit früherer oder aktueller Mitgliedschaft in Aufsichts-, Betriebs- oder Personalräten (Trampusch 2006: 656-657). Trambusch wie auch Hassel interpretieren dies als Teil eines durch die zunehmende Professionalisierung der Politik bedingten Trends zur Entflechtung von Politik und Verbänden. Hassel schließt darüber hinaus sogar auf einen ge-samtgesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Gewerkschaften. Allerdings ver-läuft dieser Prozess eher schleichend und die Verflechtung zwischen SPD und den DGB-Gewerkschaften ist bis heute relativ eng geblieben.

Zwischen den bürgerlichen Parteien und den Wirtschaftsverbänden gibt es demgegenüber keine vergleichbar enge Verflechtung über Mitgliedschaften. Dies liegt einmal daran, dass Wirtschaftsverbände mit Ausnahme der Kammern keine individuellen Mitglieder haben. Umgekehrt ist auch der Anteil der Parteimitglie-der in den Wirtschaftseliten weit geringer als in den Gewerkschaftseliten und liegt bei weniger als einem Drittel. Unterteilt man die Gesamtgruppe der Wirt-schaftseliten allerdings danach, ob sie ihre Hauptposition in Unternehmen oder in Wirtschaftsverbänden haben, zeigt sich eine erheblich stärkere Nähe der Wirt-schaftsverbände zur Politik. Hier betrug der Anteil der Parteimitglieder 1995 immerhin 39,9% (Großunternehmen: 27,1%). In beiden Untergruppen liegen die Unionsparteien mit 12,5% (Großunternehmen) bzw. 34,7% (Wirtschaftsverbän-de) vor den übrigen Parteien, wobei bei den Unternehmensvertretern mit nur geringem Abstand (12,1%) bereits die SPD folgt (Wirtschaftsverbände nur 1,7%).

Anders als bei den Mitgliedschaften zeigen die 1995 erhobenen Kontakt-muster zwischen Politik und Interessengruppen allerdings, dass die Kontakte

5 Darüber hinaus zeigen Trampuschs Daten auch, dass der Anteil der in Gewerkschaften organi-

sierten Unionsabgeordneten in diesem Ausschuss seit 1972 ohne klaren Trend zwischen ca. ei-nem Viertel und zwei Fünfteln fluktuiert hat und damit weit höher liegt als in der Gesamtgrup-pe der Unionspolitiker.

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stärker von funktionalen Gesichtspunkten als von politischer Sympathie geprägt sind. Eine Mehrheit der Politiker der beiden Volksparteien pflegt nämlich regel-mäßige Kontakte sowohl mit der Wirtschaft (Unternehmen bzw. Industrie- und Arbeitgeberverbände) als auch mit den Gewerkschaften. Bei den Unionspoliti-kern waren dies 51,3%, bei den SPD-Politikern sogar 67,4%. Dasselbe gilt für 42,9% der befragten FDP-Politiker, während andererseits fast ein Drittel in die-ser Gruppe ausschließlich Kontakte zu Unternehmen und Wirtschaftsverbänden angab. Umgekehrt beschränken die Eliten von B’90/Grünen und noch mehr die der PDS ihre Kontakte stärker auf das Gewerkschaftslager (52,6% bzw. 56,8%) und nannten wesentlich seltener Kontakte zur Wirtschaft (37,9% bzw. 27,3%).

Im Vergleich zu einer 1989 durchgeführten Umfrage bei Bundestagsabge-ordneten ist der Anteil der in der Elitestudie 1995 befragten Spitzenpolitiker, die Kontakte zu beiden Seiten pflegen, erheblich höher (vgl. Hirner 1993: 180). Dies erklärt sich vermutlich daraus, dass in der Potsdamer Elitestudie keine Hinter-bänkler, sondern lediglich Mitglieder der Bundes- und Landesexekutiven sowie Mitglieder der Fraktionsführungen und Ausschussvorsitzende in Bundestag und Landtagen befragt wurden, die noch stärker als einfache Abgeordnete Kontakte nach allen Seiten pflegen müssen. Fast die Hälfte der befragten Politiker kann in diesem Sinne als „Broker“ zwischen den konfligierenden Interessengruppen bezeichnet werden, die zumindest die Positionen beider Seiten zur Kenntnis nehmen, auch wenn sie persönlich eher eine Präferenz für die eine oder die ande-re Seite haben mögen.

3 Einstellungen zu politischen Streitfragen

Für den Nachweis der Kontinuität der traditionellen sozioökonomischen Kon-fliktlinie auf Elitenebene ist weiterhin wichtig, ob sich die politischen Einstel-lungen der Elitegruppen nach wie vor entlang dieser Konfliktlinie polarisieren. Dies wird zunächst durch die Selbsteinstufungen auf der Links-Rechts-Skala bestätigt, die eine klare Trennung der beiden politischen Lager erkennen lassen (vgl. Abbildung 2). Die Kurven der Unionspolitiker und der Wirtschaftseliten einerseits sowie der SPD und der Gewerkschaftseliten andererseits verlaufen sehr ähnlich. Abbildung 3 zeigt darüber hinaus, dass der Durchschnittswert der SPD-Politiker etwas links von dem der Gewerkschaftseliten liegt. Die Durch-schnittswerte von Wirtschaftseliten und Unionspolitikern unterscheiden sich dagegen kaum. Allerdings stufen sich die Wirtschaftseliten häufiger weiter rechts von der Mitte ein, während die Kurve der Unionspolitiker sehr viel steiler ver-läuft, mit einer eindeutigen Spitze beim Skalenwert 6, den zwei Fünftel von ihnen gewählt haben.

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Abbildung 2: Selbsteinstufung der Elitegruppen auf der Links-Rechts-Skala

Abbildung 3 zeigt ferner die politisch-ideologische Außenseiterposition der PDS-Politiker. Diese schlägt sich auch in sehr negativen Sympathiewerten der übrigen Elitegruppen für die PDS nieder, wobei sie 1995 von den Politikern von B’90/Grünen mit einem Durchschnittswert von -1.4 noch relativ am besten be-wertet wurde (SPD-Politiker: -3.4, Unionspolitiker: -4,6, FPD-Politiker: -3,9). Die Wirtschaftseliten stuften die PDS mit -4,0, die Gewerkschaftseliten mit -2,7 ein.

0%

5%

10%

15%

20%

25%

30%

35%

40%

45%

links 1 2 3 4 5 6 7 8 9 rechts10

Politiker CDU/CSU

Politiker SPD

Wirtschaftseliten

Gewerkschaftseliten

Quelle: Potsdamer Elitestudie 1995

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Abbildung 3: Gruppenmittelwerte für die Selbsteinstufung auf der Links-Rechts-Skala

Die Eliteumfragen von 1972, 1981 und 1995 enthielten jeweils einige Fragen, mit denen die Einstellungen der Eliten zu aktuellen wirtschafts- und sozialpoliti-schen Streitfragen erhoben wurden. 1968 waren leider nur zwei diesbezügliche Fragen enthalten, nämlich nach dem Einfluss des Staates auf die Wirtschaft und auf die Bewertung der in der Bundesrepublik herrschenden Chancengerechtig-keit. Die Ergebnisse für die erste Frage folgen der sozioökonomischen Konflikt-linie nur bedingt. Vielmehr traten damals nicht nur SPD und Gewerkschaften, sondern auch die Unionspolitiker für eine Globalsteuerung der Wirtschaft ein und hielten den wirtschaftspolitischen Einfluss des Staates mehrheitlich für an-gemessen (vgl. auch Rupp 2000: 179). Nur ein knappes Fünftel der Unionspoli-tiker bewertete den aktuellen Staatseinfluss auf die Wirtschaft als zu hoch. Inte-ressanterweise hatte 1968 selbst ein Drittel der befragten Wirtschaftseliten am Ausmaß des staatlichen Einflusses nichts auszusetzen.

Bei der Interpretation dieser auf den ersten Blick erstaunlichen Werte ist zu berücksichtigen, dass die Umfrage zu einem Zeitpunkt stattfand, als es der dama-

6,21

6,15

5,36

3,89

3,54

3,29

2,16

PolitikerCDU/CSU

Wirtschaft

Politiker FDP

Gewerkschaften

Politiker SPD

PolitikerB'90/Grüne

Politiker PDS

Quelle: Potsdamer Elitestudie 1995

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ligen Großen Koalition gerade gelungen war, die erste Rezession der Nach-kriegszeit durch eine aktive keynesianische Wirtschaftspolitik zu überwinden. Lediglich die FDP als Oppositionspartei stand dieser Politik eher kritisch gegen-über. Erst beim Wunsch nach mehr wirtschaftspolitischem Einfluss des Staates zeigt sich der Gegensatz zwischen den beiden politischen Lagern. Während sich im bürgerlichen Lager nur kleinen Minderheiten hierfür aussprachen, wurde dies von der Hälfte der SPD-Politiker und Gewerkschaftseliten unterstützt.

Bei der Frage nach der Chancengerechtigkeit ist die Frontstellung zwischen den beiden politischen Lagern ebenfalls zu erkennen. Die große Mehrheit der Unionspolitiker und der Wirtschaftseliten hielt die Lebenschancen in der Bun-desrepublik für gerecht verteilt. SPD-Politiker und Gewerkschaftseliten hielten diese Verteilung dagegen mehrheitlich für ungerecht. Die FDP-Politiker nahmen hier eine mittlere Position zwischen den beiden Lagern ein. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass diese Frage nur der Hälfte der Befragten gestellt wurde, so dass die Fallzahl in dieser Gruppe mit nur zwölf Befragten äußerst klein und das Ergebnis möglicherweise unzuverlässig ist.

Auch 1972 war die Polarisierung zwischen den parteipolitischen Lagern zwar erkennbar, aber nicht besonders stark ausgeprägt. An der Forderung nach Erweiterung der Mitbestimmung lässt sich erkennen, dass sich die FDP in der sozialliberalen Koalition relativ weit in Richtung der SPD bewegt hatte, was schließlich zur gemeinsamen Verabschiedung des Mitbestimmungsgesetzes von 1976 führte. Die Unionspolitiker waren in dieser Frage gespalten, aber eine knappe Mehrheit unterstützte diese Forderung ebenfalls. Selbst innerhalb der Wirtschaftseliten trat über ein Viertel für eine Ausweitung der Mitbestimmung ein.

Darüber hinaus gab es auch einen weitgehenden Konsens zwischen Unions-parteien, SPD und Gewerkschaften über die Erweiterung der Sozialversicherung. Eine Mehrheit der FDP und eine knappe Mehrheit der Wirtschaftseliten stand ihr ebenfalls aufgeschlossen gegenüber. Lediglich im Hinblick auf eine Vermögens-umverteilung waren die Unterschiede ausgeprägter, wobei fast die Hälfte die Wirtschaftseliten selbst diese Forderung unterstützte. Rückblickend lässt sich feststellen, dass zu Beginn der 1970er Jahre der Zeitgeist offensichtlich auf wirt-schafts- und sozialpolitische Reformen gerichtet und die Polarisierung zwischen den beiden Lagern weit weniger ausgeprägt war als heute.

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Tabelle 4: Bewertung wirtschafts- und sozialpolitischer Issues durch politische Eliten, Wirtschaftseliten und Gewerkschaftseliten 1968, 1972 und 1981 (in % der jeweiligen Gruppe)

Bürgerliches Lager Linkes Lager

Politiker: CDU/CSU

Politiker FDP

Wirtschafts-eliten

Politiker: SPD

Gewerk-schaftseliten

1968

Staat hat zu viel Einfluss auf die Wirtschaft 17,3 50,0 32,1 2,0 1,4

Staat hat zu wenig Einfluss auf die Wirtschaft 7,1 5,6 8,6 48,0 50,7

Chancengerechtigkeit1 100,0 66,7 85,2 29,6 25,0

1972

Für Erweiterung der Mitbe-stimmung2 54,0 78,7 27,4 95,3 100,0

Für Erweiterung der Sozial-versicherung2 91,2 78,7 56,8 98,1 98,0

Für Vermögens-umverteilung2 62,0 63,0 47,0 95,2 100,0

1981

Preisstabilität wichtig3 89,4 76,0 93,6 68,3 74,7

Abbau Staatsverschuldung wichtig3 96,7 80,0 91,2 51,6 29,9

Für Preiskontrolle für wich-tige Produkte3 4,8 16,7 12,6 63,9 69,0

Für Abbau von Sozial-leistungen zur Verminderung der Staatsverschuldung3 79,0 76,0 84,1 17,9 9,2

Für Erweiterung der Mitbe-stimmung2 5,6 4,0 6,2 83,1 94,3

1 Zu dieser Frage gab es keine Skalenvorgabe. Gefragt wurde lediglich danach, ob die Befragten der Meinung waren, die Chancen, im Leben zu etwas zu kom-men, seien im Großen und Ganzen gerecht oder nicht gerecht verteilt. Die Frage wurde im Split-Half-Verfahren nur der Hälfte der Befragten gestellt.

2 Werte 4 bis 6 auf einer 6-stufigen Skala 3 Werte 6 bis 10 auf einer 10-stufigen Skala

Quelle: Mannheimer Elitestudien 1968, 1972, 1981

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200 Ursula Hoffmann-Lange und Trygve Gulbrandsen

Tabelle 5: Bewertung wirtschafts- und sozialpolitischer Issues durch politische Eliten, Wirtschaftseliten und Gewerkschaftseliten 1995 (in % der jeweiligen Gruppe)

Bürgerliches Lager Linkes Lager

Politiker CDU/CSU

Politiker FDP

Wirtschafts-eliten

Politiker SPD

Politiker B’90/Grüne

Politiker PDS

Gewerk-schafts-eliten

Umstrittene Themen

Positive Bewer-tung der Realisie-rung sozioöko-nomischer Fair-ness in Deutsch-land

1 84,7 63,5 80,0 14,3 8,6 0,0 6,3

Staat sollte Auf-gaben abgeben 90,8 84,1 80,6 39,7 38,8 4,5 22,7

Verhinderung des Missbrauchs von Sozialleistungen wichtig

2 86,6 72,6 80,6 32,1 12,9 6,8 38,1

Konsensuelle Themen

Kampf gegen die Arbeitslosigkeit wichtig

2 98,3 98,4 97,6 99,3 99,1 95,5 99,0

Sicherung des Wirtschaftsstand-ortes Deutsch-lands wichtig

2 99,2 100,0 97,4 94,3 61,4 27,3 89,7

Abbau der Staats-verschuldung wichtig

2 94,1 95,2 92,4 82,1 75,0 47,7 69,1

Sicherung des Sozialstaates wichtig

2 84,9 77,4 61,7 97,8 99,1 100,0 97,9

1 Summenindex aus den Bewertungen der Realisierung von Chancengleichheit, sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit in Deutschland; Wertebereich 5 bis 7 auf einer 7-stufigen Skala

2 Werte 4 bis 7 auf einer 7-stufigen Skala

Quelle: Potsdamer Elitestudie 1995

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Die Verankerung der sozioökonomischen Konfliktlinie 201

Die Befragung von 1981 lässt dagegen bereits Risse innerhalb der sozialliberalen Regierungskoalition erkennen, obwohl diese erst 1980 mit deutlicher Mehrheit wiedergewählt worden war. Dies kann man schon daran ablesen, dass ein Fünftel der befragten FDP-Spitzenpolitiker bereits ein Jahr vor dem 1982 erfolgten Koa-litionswechsel für eine schwarz-gelbe Koalition eintrat. Auch eine deutliche Mehrheit der Wirtschaftseliten (58,2%) befürwortete eine Koalition aus Union und FDP. In dieser Elitegruppe war allerdings auch schon 1972 mehr als ein Drittel (35,1%) für eine Koalition aus Union und FDP gewesen. Nur eine Min-derheit (13,0%) hatte damals die sozialliberale Koalition unterstützt. Rudolf Wildenmann folgerte aus diesen Ergebnissen bereits im Frühjahr 1982, die am Ruder befindliche sozialliberale Regierung sei nicht mehr mehrheitsfähig (Wil-denmann 1982: 165) und publizierte einen Artikel mit dem Titel „Die Elite wünscht den Wechsel“ (Die ZEIT Nr. 11/1982, S. 6-7).

Rupp führt den Koalitionswechsel von 1982 auf den „Einfluß marktradika-ler Ideologeme von jenseits des Atlantiks und ihre bereits erfolgreich erschei-nende Umsetzung in Großbritannien“ zurück, die die Vorstellungswelt der bun-desdeutschen Liberalen beeinflusst hätten (2000:215). Diese Wende betraf aber offensichtlich nicht nur die FDP, sondern zu dieser Zeit erfolgte auch eine wirt-schaftspolitische Umorientierung der Unionsparteien. Vorreiter waren jedoch zweifellos die Wirtschaftseliten, die in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen schon zuvor signifikant marktliberalere Einstellungen aufgewiesen hatten.

Bei den Einstellungen zu Sachfragen lässt sich die Entfremdung der beiden Partner der sozialliberalen Koalition am besten am Thema Mitbestimmung able-sen. Während 1972 eine große Mehrheit der FDP-Politiker für eine Erweiterung der Mitbestimmung eingetreten war, lehnten nun 96% von ihnen eine weitere Ausweitung ab, während gleichzeitig 83,1% der SPD-Politiker und sogar 94,3% der Gewerkschaftseliten eine solche anstrebten. Die Unionspolitiker sprachen sich ebenfalls fast geschlossen dagegen aus. Das ebenfalls im Fragebogen enthal-tene Thema staatlicher Preiskontrollen stand zwar nicht auf der politischen A-genda, jedoch waren auch hier die Fronten eindeutig verteilt. Geringere Unter-schiede ergaben sich demgegenüber für die Forderung nach Abbau von Sozial-leistungen zu Gunsten einer Verminderung der Staatsverschuldung. Immerhin die Hälfte der SPD-Politiker hielt den Abbau der Staatsverschuldung für wichtig. Auch der Preisstabilität wurde von einer Mehrheit des linken Lagers eine hohe Wichtigkeit zugeschrieben. Für beide Ziele lagen die Anteilswerte im linken Lager aber deutlich niedriger als bei den Repräsentanten des bürgerlichen La-gers.

Für 1995 zeigt sich hinsichtlich der Einschätzung der Realisierung sozio-ökonomischer Fairness in Deutschland sowie der Wichtigkeit, die dem Abbau von Staatsaufgaben und der Verhinderung des Missbrauchs von Sozialleistungen

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202 Ursula Hoffmann-Lange und Trygve Gulbrandsen

zugeschrieben wurde, eine relativ hohe Polarisierung zwischen den beiden La-gern (vgl. Tabelle 5). Dies wird auch durch die Korrelationskoeffizienten bestä-tigt, die r=-.71 für den Index sozioökonomischer Fairness, r=-.61 für die Wich-tigkeit der Bekämpfung des Missbrauchs von Sozialleistungen und r=-.73 für die Selbsteinstufung auf der Links-Rechts-Skala betragen.

Andererseits lassen sich jedoch auch Themen erkennen, für die ein erheb-lich höheres Maß an Einigkeit bestand, z.B. über die Wichtigkeit des Abbaus der Arbeitslosigkeit und der Staatsverschuldung. Dem Abbau der Staatsverschul-dung wurde nun auch von vier Fünfteln der SPD-Politiker eine hohe Priorität zugeschrieben, während ihn 1981 nur die Hälfte von ihnen für wichtig gehalten hatte. Für die Sicherung des Sozialstaats und des Wirtschaftsstandsorts Deutsch-land sind die Differenzen dann aber wieder ausgeprägter. Über die Wichtigkeit wirtschaftspolitischer Ziele besteht also offensichtlich ein höherer Konsens als über die Mittel zur Zielerreichung und hinsichtlich der Bewertung der erreichten Realisierung dieser Ziele.

Das Ergebnis einer deutlichen Zunahme der Polarisierung zwischen bürger-lichem und linkem Lager gegenüber den 1960er und frühen 1970er Jahren wird auch durch die Analyse der deutschen Wahlprogramme gestützt. Demnach war sie in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre am geringsten und stieg bis 1972 nur geringfügig an. Von da an nahm die Polarisierung bis 1994 (und 1998) kräftig zu, auch wenn sie im internationalen Vergleich immer noch nicht besonders stark ausgeprägt war (vgl. Klingemann/Volkens 2001).

4 Differenzen innerhalb der beiden politischen Lager

Die bisherige Analyse war in erster Linie den Differenzen zwischen den beiden politischen Lagern gewidmet. Gerade im Hinblick auf die Stabilität der Koalitio-nen ist jedoch auch die Frage interessant, wie kompakt die beiden Lager sind und ob es Gruppen gibt, die zwischen diesen vermitteln können. Erste Hinweise darauf lieferten die Tabellen 4 und 5, in denen sich bei den Anteilswerten teil-weise beträchtliche lagerinterne Differenzen zeigten.

Mittels multipler Regressionsanalysen lassen sich diese noch besser quanti-fizieren.6 Die entsprechenden Analysen wurden auf die Umfrage von 1995 be- 6 Bei dieser Regressionsanalyse mit Dummy-Variablen handelt es sich letztlich um Mittelwerts-

vergleiche zwischen den Subgruppen, für die streng genommen eine Varianzanalyse die ange-messene Analysemethode wäre. Mathematisch ist das Vorgehen beider Verfahren jedoch weit-gehend identisch. Die Regressionsanalyse mit Dummy-Variablen hat für die vorliegende Frage-stellung den Vorteil, dass jeweils eine der Gruppen, nämlich einmal die Wirtschaftseliten und zum anderen die Gewerkschaftseliten als Bezugsgruppen zu Grunde gelegt werden. Die Kon-stante gibt deren Mittelwert an, während die b-Koeffizienten die Abweichung der übrigen Sub-

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Die Verankerung der sozioökonomischen Konfliktlinie 203

schränkt und für die drei abhängigen Variablen mit dem höchsten Polarisie-rungsgrad berechnet, nämlich die Selbsteinstufung auf der Links-Rechts-Skala, den Index der Bewertung sozioökonomischer Fairness in Deutschland sowie die Wichtigkeit, die die Befragten der Verhinderung des Missbrauchs von Sozialleis-tungen zuschrieben.

Tabelle 6 enthält die Ergebnisse der Analyse für das bürgerliche Lager. Da die Verteilungen und Mittelwerte für die beiden Gruppen der Wirtschaftselite, also die Unternehmens- und Verbandsrepräsentanten, sehr ähnlich waren, wur-den diese auch in der vorliegenden Analyse zusammengefasst. Daher werden hier lediglich drei Gruppen unterschieden, nämlich Wirtschaftseliten, Unionspo-litiker und FDP-Politiker. Für Unions- und FDP-Politiker wurde dabei jeweils eine Dummy-Variable gebildet. Die b-Koeffizienten geben die Abweichung dieser beiden parteipolitischen Eliten vom Mittelwert der Wirtschaftseliten an. Es zeigt sich, dass sich die Positionen der Unionspolitiker kaum von denen der Wirtschaftseliten unterscheiden. Keiner der Koeffizienten ist signifikant.

Tabelle 6: Differenzen innerhalb des bürgerlichen Lagers: Regressionsanalysen mit Dummy-Variablen (b-Koeffizienten)

Selbsteinstufungauf der Links-Rechts-Skala

Index sozioöko-nomischer Fair-

ness

Verhinderung des Missbrauchs von Sozialleistungen

Konstante 6.324** 5.505** 5.788**

Politiker CDU/CSU -.100 -.034 -.082

Politiker FDP -.957** -.439** -.455**

korrigiertes R2 .06 .04 .00

N 487 487 487

* p<0.05 ** p<0.01 Quelle: Potsdamer Elitestudie 1995

Dagegen weichen die Positionen der FDP-Politiker im Hinblick auf alle drei Einstellungen signifikant von denen der Wirtschaftseliten ab. Entgegen der ver-breiteten Wahrnehmung, dass die FDP in wirtschafts- und sozialpolitischen Fra-ge rechts von der Union stehe, geht die Abweichung allerdings in die entgegen-

gruppen von diesem Mittelwert zeigen. Ein Vergleich der beiden Verfahren ergab nur minimale Unterschiede in den Koeffizienten, so dass im Interesse der größeren Anschaulichkeit die Er-gebnisse der Regressionsanalyse dargestellt werden.

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204 Ursula Hoffmann-Lange und Trygve Gulbrandsen

gesetzte Richtung. In allen drei Fragen nehmen die FDP-Politiker gemäßigtere Positionen ein. Dies bestätigt im Hinblick auf die Wahrnehmung soziopolitischer Fairness der deutschen Gesellschaft das bereits für 1968 gefundene Ergebnis, dass eine größere Minderheit der FDP-Politiker die gesellschaftlichen Konse-quenzen des freien Marktes durchaus kritisch bewertet. Auch scheint ihnen die Bekämpfung des Missbrauchs von Sozialleistungen weniger vordringlich. Zu-dem stufen sie sich selbst auch erheblich weiter links ein (vgl. Abbildung 3). Diese Abweichungen sind zwar signifikant, andererseits aber nicht besonders ausgeprägt. Wegen der kleinen Anzahl der befragten FDP-Politiker innerhalb dieses Lagers beträgt die durch diese Abweichungen erklärte Varianz zudem weniger als 10 Prozent. Alles in allem lässt sich daher konstatieren, dass das bürgerliche Lager relativ kompakt ist und nur kleinere interne Differenzen hin-sichtlich wirtschafts- und sozialpolitischer Fragen aufweist.

Demgegenüber existieren innerhalb des linken Lagers erheblich größere Unterschiede. In die Analyse wurde zusätzlich zu den auch bislang schon be-rücksichtigten Untergruppen noch eine weitere aufgenommen, nämlich die der Gewerkschaftsvertreter in mitbestimmten Großunternehmen. Da sich die Zuge-hörigkeit zu dieser Gruppe nicht unmittelbar aus der Position der Befragten er-schließen lässt, wurde sie über deren Gewerkschaftsmitgliedschaft definiert. Denn es lässt sich vermuten, dass in den Vorständen und Aufsichtsräten von Großunternehmen nur die Repräsentanten der Arbeitnehmerseite Mitglied einer Gewerkschaft sind. Diese Gruppe ist besonders interessant, da ihre Mitglieder einerseits die Interessen der Arbeitnehmerseite vertreten, andererseits jedoch auch das Unternehmensinteresse im Auge haben müssen. Diese Doppelfunktion stellt den typischen Fall einer cross-pressure-Situation dar. Zusätzlich wurden in die Analyse auch noch Dummy-Variablen für die Politiker von SPD, B’90/Grünen und der PDS aufgenommen. Bezugsgruppe sind die Gewerk-schaftseliten.

Tabelle 7 zeigt die Konsequenzen der ambivalenten Position der Arbeit-nehmervertreter in den Großunternehmen. Ihre politischen Einstellungen wei-chen signifikant von denen der übrigen Gewerkschaftseliten ab. Im Hinblick auf alle drei Einstellungen nehmen sie erheblich konservativere Positionen ein. Die SPD-Politiker stufen sich selbst dagegen etwas weiter links ein als die Gewerk-schaftseliten, beurteilen aber die sozioökonomische Fairness etwas positiver. Die befragten Politiker von B’90/Grünen verorten sich noch weiter auf der Linken und weichen hinsichtlich der Wahrnehmung sozioökonomischer Fairness kaum von den Gewerkschaftseliten ab. Bemerkenswert ist zudem, dass die Gewerk-schaftseliten die Bekämpfung des Missbrauchs von Sozialleistungen für wichti-ger halten als die Politiker dieser beiden Parteien.

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Die Verankerung der sozioökonomischen Konfliktlinie 205

Am stärksten weichen jedoch die PDS-Politiker von den Positionen der übrigen Gruppen dieses Lagers ab. In allen drei Fragen nehmen sie signifikant linkere Positionen ein als die Gewerkschaftseliten. Dies bestätigt, dass die PDS die poli-tische Polarisierung in Deutschland nicht unerheblich erhöht hat.

Tabelle 7: Differenzen innerhalb des linken Lagers: Regressionsanalysen mit Dummy-Variablen (b-Koeffizienten)

Selbsteinstufungauf der Links-Rechts-Skala

Index sozioöko-nomischer Fair-

ness

Verhinderung des Missbrauchs von Sozialleistungen

Konstante 3.904** 3.617** 4.117**

Gewerkschafts-vertreter in Unter-nehmen .880** .951** .559*

Politiker SPD -.360* .422** -.301

Politiker B’90/Grüne -.610** -.156 -1.331**

Politiker PDS -1.745** -1.185** -1.867**

korrigiertes R2 .22 .27 .19

N 422 422 422

* p<0.05 ** p<0.01

Quelle: Potsdamer Elitestudie 1995

5 Fazit

Während die sozioökonomische Konfliktlinie für das Wahlverhalten an Bedeu-tung verloren haben mag, haben die Ergebnisse der vorstehenden Analysen ge-zeigt, dass die Koalitionen zwischen Wirtschaft, CDU/CSU und FDP einerseits sowie Gewerkschaften und SPD andererseits auf Elitenebene nach wie vor deut-lich ausgeprägt sind. Die Polarisierung zwischen den beiden politischen Lagern hat gegenüber den 1960er und frühen 1970er Jahren sogar noch zugenommen. Diese Differenzen sind über Organisationsverflechtungen abgesichert, die sich an der hohen Stabilität der Parteipräferenzen von Wirtschafts- und Gewerk-schaftseliten sowie –– bei Gewerkschaften und SPD – auch an den gegenseitigen Mitgliedschaften ablesen lassen.

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206 Ursula Hoffmann-Lange und Trygve Gulbrandsen

Eine Abschwächung der traditionellen Koalition der deutschen Wirtschaft mit den bürgerlichen Parteien war zumindest bis zum Zeitpunkt der letzten Elitenbe-fragung 1995 nicht auszumachen. Das linke Lager hat sich dagegen durch B’90/Grüne und PDS ausdifferenziert, was sich in hoch signifikanten Positionsunter-schieden zwischen den Politikern dieser drei Parteien niederschlägt. Allerdings hat diese Ausdifferenzierung in erster Linie die Wählerbasis der SPD geschmä-lert, während die traditionelle Koalition zwischen SPD und Gewerkschaften zumindest bis 1995 ungebrochen Bestand hatte.

Der Anpassungsdruck auf Gewerkschaften und SPD hat aber nicht nur durch die beiden neuen Parteien zugenommen, die auf Grund ihrer politischen Präferenzen, ihrer Mitgliedschaften und Kontaktmuster eindeutig dem linken politischen Lager zuzurechnen sind, sondern auch durch den Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft und den dadurch bedingten zahlenmäßigen Rückgang ihrer traditionellen Wähler- bzw. Mitgliederklientel. Insofern wären neuere Daten wünschenswert, um den Veränderungsprozess weiter verfolgen zu können.

Die Existenz politischer Konkurrenz im linken Parteienlager eröffnet den Gewerkschaften zugleich die Option, die SPD unter Druck zu setzen. Dies gilt vermutlich weniger für B’90/Grüne, die den Gewerkschaften eher distanziert gegenüberstehen, jedoch versucht die Linkspartei als selbsternannte Vertreterin traditionell linker Politik, der SPD in den Gewerkschaften Terrain abzujagen. Ob eine stärkere Anbindung an die Linkspartei allerdings eine attraktive Option für die Gewerkschaften wäre, darf bezweifelt werden. Ein wichtiger Grund hierfür ist die Tatsache, dass die wirtschaftspolitischen Verbände immer auch ihre Ko-operationsfähigkeit mit dem jeweils anderen politischen Lager im Auge haben müssen. Eine engere Bindung der Gewerkschaften an die Linkspartei würde diese gefährden. Insofern bleibt die SPD einstweilen der sicherste politische Partner für die Gewerkschaften, jedoch ist auch eine stärkere Öffnung des DGB Richtung Unionsparteien durchaus nicht auszuschließen.

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Die Verankerung der sozioökonomischen Konfliktlinie 207

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Deutschland im OECD-Vergleich 209

Deutschland im OECD-Vergleich: Ein statistischer Annäherungsversuch Deutschland im OECD-Vergleich Werner Voß

1 Die Problemstellung

Dieser Beitrag widmet sich der Frage, wie sich die wirtschaftliche Lage Deutsch-lands im OECD-Vergleich darstellt und welches die Größen sind, die mit den Unterschieden zwischen den einzelnen OECD-Ländern in Verbindung gebracht werden können. Es erfolgt also – und dies sei vorweg betont – eine Be-schränkung auf gesamtwirtschaftliche Aspekte, während Stichworte wie bei-spielsweise Sozialstruktur, Rechtssystem, Demographie oder andere, die unter vergleichenden Gesichtspunkten selbstverständlich auch von Interesse sein könn-ten, hier nicht betrachtet werden bzw. nur insoweit in den Blick genommen wer-den, soweit sie direkt mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Beziehung gesetzt werden können oder müssen.

Von entscheidender Bedeutung für das Ergebnis eines solchen Vergleichs ist natürlich die Frage, welche Indikatoren zur Bemessung des Konstrukts „wirt-schaftliche Lage“ verwendet werden sollen. In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf eine einzige Größe, nämlich auf die jährliche Zuwachsrate des Brutto-inlandsprodukts als Indikator für Wirtschaftswachstum.1 In diesem Zusammen-hang soll dann die Frage beantwortet werden, ob Bestimmungsgründe benannt werden können, welche die Unterschiede des wirtschaftlichen Wachstums zwi-schen den OECD-Ländern erklären können.

Es wird bei der Auswahl dieses Indikators Zuwachsrate des Bruttoinlands-produkts also unterstellt, dass diese Größe ein geeignetes Maß für den wirt-schaftlichen Erfolg einer Volkswirtschaft oder ein geeignetes Wohlstandsmaß ist.2 Aber selbst wenn man dies bezweifelt ist unumstritten, dass dieser Größe – gerade unter vergleichenden Aspekten – große Bedeutung zukommt, da sie zwei-felsfrei eine beträchtliche Aussagekraft aufweist.

1 Es soll bewusst darauf verzichtet werden, die sicherlich sehr interessante Diskussion aufzugrei-

fen, ob diese Größe ein geeigneter Indikator ist, die wirtschaftliche Lage der einzelnen Länder zutreffend zu beschreiben, ob es also nicht erforderlich ist auch andere Kennziffern, beispiels-weise die Exportquote, die Zahl der Unternehmensgründungen oder ähnliche Größen, in die Betrachtung mit aufzunehmen.

2 Auf die Gründe, die dagegen sprechen das Sozialprodukt (oder dessen Zuwachsrate) als Wohl-standsindikator zu nutzen, gehen beispielsweise Hunt/Sherman 1993: 52 ff. und Hardes 1995: 392 ff. ein.

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210 Werner Voß

Für einen Ländervergleich, wie er in diesem Beitrag vorgesehen ist, bietet sich die Methode der Aggregatdatenanalyse an. „In der empirischen Politikwissen-schaft haben wir es … häufig mit Situationen zu tun, in denen weder kontrol-lierte Untersuchungsbedingungen herstellbar noch genügend Beobachtungen (Fälle) erhältlich sind. In solchen Situationen erweist sich die sogenannte ver-gleichende Methode als geeignete Strategie“ (Lehner/Widmaier 1995: 56), wie sie von Ulrich Widmaier zusammenfassend beschrieben wird (Widmaier 1997). Im Einzelnen führt er dazu aus: „Die Analyse von hochaggregierten Daten wird in erster Linie dann als Instrument zur empirischen Prüfung von Theorien bzw. Hypothesen gewählt werden wenn:

Die Theorie auf der Makroebene formuliert ist, und/oder Aus Gründen der Verfügbarkeit, Vergleichbarkeit oder Machbarkeit dieses Verfahren geboten ist.“ (Widmaier 1997: 104).

Diese beiden Punkte beschreiben zutreffend die Situation, die den Rahmen die-ses Beitrags absteckt. Zum einen wird Deutschland im OECD-Vergleich be-trachtet, was bedeutet, dass sinnvollerweise auf länderbeschreibende Aggregat-daten wie sie beispielsweise von der OECD selbst bereitgestellt werden, zurück-gegriffen wird (Stichwort Verfügbarkeit). Zum anderen wird ein theoretisches Konzept zugrunde gelegt (siehe dazu Abschnitt 4), welches auf der Makroebene angesiedelt ist, so dass die beiden von Widmaier genannten Punkte angesprochen sind.

Damit ist allerdings auch klargestellt, dass das Thema „Einzelinteressen und kollektives Handeln“ in diesem Beitrag nicht im Vordergrund der Betrachtungen stehen kann, weil sich in den verwendeten Aggregatdaten (siehe dazu Abschnitt 5) Einzelinteressen nur sehr bedingt wiederfinden lassen. Wenn beispielsweise über die statistischen Zusammenhänge zwischen Erwerbstätigenquote und Pro-duktivität einerseits und Wirtschaftswachstum andererseits gesprochen wird, dann sind zwar Einzelinteressen der Erwerbstätigen und der Arbeitssuchenden implizit angesprochen; diese können aber nicht ohne Rückgriff auf Individual-daten – was in diesem Beitrag nicht vorgesehen ist – empirisch belegt werden.

Gleichwohl steht außer Frage, dass Ausgangspunkt aller modellmäßigen Betrachtungen von Beeinflussungen des Wirtschaftswachstums die Individuen sind, „die in Abhängigkeit von ihren Einkommensquellen, ihren Ressourcen und Opportunitäten über Präferenzen verfügen, aus der eine Nachfrage nach einer bestimmten Politik resultiert.“ (Plümper 2003: 21). Darauf soll aber im Folgen-den nicht näher eingegangen werden.

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Deutschland im OECD-Vergleich 211

2 Die Ausgangslage

Die zentrale Untersuchungsvariable ist – wie oben ausgeführt wurde – die Ver-änderungsrate des Bruttoinlandsprodukts, wobei wir uns auf den Zeitraum zwi-schen 2000 und 2004 beziehen.3 Betrachtet man diese Variable, so erhält man für die OECD-Länder die Befunde der Tabelle 1. Diese Zuwachsraten wurden aus Angaben zum preisbereinigten BIP für die Jahre 2000 und 2004 berechnet, stel-len also die Veränderungen des realen (preisbereinigten) BIP in diesem Zeitraum dar. Beim Ländervergleich wurden die Wechselkurse des Jahres 2000 zugrunde gelegt.

Tabelle 1: Reales Wirtschaftswachstum 2000 bis 2004

Land BIP-Zuwachs 2000-2004 (%)

Land BIP-Zuwachs 2000-2004 (%)

Canada 10,54 Italy 3,67

Mexico 6,27 Luxembourg 11,73

United States 10,42 Netherlands 2,56

Australia 15,23 Norway 7,31

Japan 6,80 Poland 12,00

Korea 20,17 Portugal 1,97

New Zealand 17,62 Slovak Republic 19,21

Austria 4,75 Spain 10,61

Belgium 5,69 Sweden 8,18

Czech Republic 12,39 Switzerland 2,89

Denmark 5,18 Turkey 16,01

Finland 9,67 United Kingdom 9,73

France 5,92

Germany 2,36 OECD-Total 8,57

Greece 17,97 Major seven 8,21

Hungary 15,20 OECD-Europe 6,45

Iceland 13,10 EU15 6,05

Ireland 22,32 Euro area 5,11

Diese Angaben verdeutlichen, dass Deutschland mit einer Zuwachsrate von 2,36% im Zeitraum 2000 bis 2004 ziemlich am Ende der Liste rangiert und da-mit deutlich unter dem Schnitt aller OECD-Länder (Zuwachsrate: 8,57%), unter

3 Alle statistischen Angaben, auf die im Folgenden zurückgegriffen wird, sind offiziellen OECD-

Statistiken (www.oecd.org/statsportal/) und der Veröffentlichung „Deutschland in Zahlen 2005“ (Institut der deutschen Wirtschaft Köln) entnommen.

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212 Werner Voß

dem Schnitt der europäischen OECD-Länder (6,45%) und auch unter dem Schnitt der Länder der Europäischen Union (6,05%) liegt. „Wissenschaftliche und publizistische Beobachter, aus dem In- wie dem Ausland, hatten dem „Mo-dell Deutschland“ bereits seit Mitte der 1990er Jahre attestiert, in einer struktu-rell bedingten Krise gefangen zu sein … So mehrten sich ab Mitte der 1990er Jahre die Diagnosen, die eine deutsche Krankheit attestierten“ (Jochem/Siegel 2003: 8).

Stellt man die Angaben der obigen Tabelle zusätzlich grafisch dar, erhält man Abbildung 1.

Abbildung 1: Wirtschaftswachstum der OECD-Staaten 2000 – 2004 (sortiert)

Zuwachs des BIP in % (2000 - 2004)

1,97

2,36

2,56

2,89

3,67

4,75

5,18

5,69

5,92

6,27

6,80

7,31

8,18

9,67

9,73

10,42

10,54

10,61

11,73

12,00

12,39

13,10

15,20

15,23

16,01

17,62

17,97

19,21

20,17

22,32

0,00 5,00 10,00 15,00 20,00 25,00

Portugal

Germany

Netherlands

Switzerland

Italy

Austria

Denmark

Belgium

France

Mexico

Japan

Norway

Sweden

Finland

United Kingdom

United States

Canada

Spain

Luxembourg

Poland

Czech Republic

Iceland

Hungary

Australia

Turkey

New Zealand

Greece

Slovak Republic

Korea

Ireland

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Deutschland im OECD-Vergleich 213

Angesichts dieser Ausgangslage stellt sich die Frage, welches die Faktoren sein könnten, welche die gezeigten Unterschiede bzw. die unterdurchschnittliche Stellung Deutschlands erklären können.

3 Erklärungsansätze

Vergleiche zwischen den OECD-Ländern sind nicht neu. Wir verweisen in die-sem Zusammenhang auf die Veröffentlichung von Obinger, Wagschal und Kittel (2003). Aus solchen Vergleichen ergibt sich, dass – wie nicht anders zu erwarten – das Wirtschaftswachstum entwickelter Volkswirtschaften von einer Vielzahl von Einflussgrößen beeinflusst wird, die – grob und nicht überschneidungsfrei – wie folgt gruppiert werden können:

Wirtschaftliche Einflussgrößen wie zum Beispiel Zugriff auf natürliche Ressourcen, Investitionsquote, gesamtwirtschaftliche Nachfrage, Zins-niveau, Lage der Weltwirtschaft u. dergl. (Hardes u.a. 1995, insbes. Kap. 4). Politische Einflussgrößen wie zum Beispiel Maßnahmen der Konjunktur- und Wachstumspolitik, wirtschaftsrelevante Regelungen der Gesetzgebung insbesondere auch im Bereich der Sozialpolitik, der Arbeitsmarktpolitik etc. (Obinger 2004). Gesellschaftliche Einflussgrößen wie zum Beispiel demographische und soziale Struktur, Tarifregelungen, wohlfahrtsstaatliches Verständnis u. ä. (Jochem/Siegel 2003).

Die Beziehungen zwischen diesen und ähnlichen Einflussgrößen einerseits und dem wirtschaftlichen Wachstum andererseits werden aber ihrerseits beeinflusst, möglicherweise sogar entscheidend geprägt, durch überlagernde Strukturen, die gewissermaßen eine Hintergrundfolie abgeben, die dazu führt, dass es zu unter-schiedlichen Wachstumsverläufen kommt – selbst wenn sich wirtschaftliche, politische und gesellschaftsstrukturelle Einflussgrößen im Vergleich zwischen verschiedenen Gesellschaften nicht signifikant unterscheiden. Solche über-lagernden Strukturen können als theoretische Konstrukte erfasst und beschrieben werden, worauf im folgenden Abschnitt eingegangen wird.

Insoweit ist es also erforderlich, in die vergleichende Analyse Aspekte auf-zunehmen, welche diese Hintergrundfolie berücksichtigt. Erst dadurch wird die „komparative Perspektive“ komplettiert (Reif 1997: 187).

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214 Werner Voß

4 Theoretische Grundlagen

In gebotener Kürze und deshalb sicherlich vergröbernd sollen exemplarisch theo-retische Hintergründe benannt werden, die für den angestrebten Vergleich des Wirtschaftswachstums in OECD-Ländern und seiner Beeinflussungsgrößen maßgeblich sein könnten. Diese theoretischen Hintergründe gehen von der grundlegenden Überlegung aus, dass in modernen Industriegesellschaften starke politisch-ökonomische Interdependenzen existieren. „Unternehmen und die Wirtschaft insgesamt sind einerseits abhängig von einer Vielzahl staatlicher Infrastruktur-, Sozial-, Ordnungs- und Steuerungsleistungen und auf den Staat angewiesen in Bezug auf die Beibehaltung der Währungs- und Preisstabilität, die Verringerung unternehmerischer Risiken, die Beschaffung qualifizierten Perso-nals, den Schutz der Umwelt und der natürlichen Ressourcen, der Regulierung sozialer Konflikte und vieler anderer Faktoren. Andererseits bezieht der Staat seine wesentlichen finanziellen Ressourcen aus der Besteuerung privater wirt-schaftlicher Aktivitäten von Produzenten und Konsumenten.“ (Lehner/Widmaier 1995: 17).

Zunächst ist festzuhalten, dass die interessierende Variable, das Wirt-schaftswachstum, nicht nur von Größen beeinflusst wird, wie sie oben exempla-risch genannt wurden, sondern insbesondere auch vom wirtschaftlichen Aus-gangsniveau der jeweils betrachteten Volkswirtschaften. Dieser Blick auf das Ausgangsniveau hat sich bei entsprechenden empirischen Überprüfungen als besonders bedeutsam erwiesen (Obinger 2004).

Darüber hinaus – und dies ist unter politikwissenschaftlicher Perspektive von besonderem Interesse – spielen politische Variablen eine wichtige Rolle, so dass sich die „Verknüpfung von ökonomischen mit politischen Wachstums-determinanten“ (Obinger 2004: 27) anbietet, um die rein ökonomische Wachs-tumstheorie (Obinger 2001: 21 ff.) bzw. die Wachstumstheorien – die klassische Wachstumstheorie ausgehend von Harrod und Domar bzw. der bekannten Cobb-Douglas-Produktionsfunktion und die neoklassische Wachstumstheorie, die mit den Namen Solow verbunden ist, zu ergänzen. In diesem Zusammenhang inter-essiert insbesondere der Entwicklungsprozess demokratischer Gesellschaften, der sich unter anderem dadurch kennzeichnen lässt, dass im Zeitablauf neue Verteilungskoalitionen und Institutionen der Interessenvermittlung entstehen, welche die politischen Entscheidungsspielräume einengen und dadurch eine gemeinwohlorientierte Politik behindern können (Olson 1965 und Olson 1982). So gesehen ist die Frage berechtigt, ob demokratische Entwicklungen eher als „Wachstumsbremse“ (Obinger 2004: 40) oder als „Wachstumsmotor“ (Obinger 2004: 43) anzusehen sind.

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Deutschland im OECD-Vergleich 215

Ausgehend von solchen theoretischen Überlegungen lässt sich begründen, wa-rum Deutschland im aktuellen Wachstumsvergleich eher am Ende der Rangord-nung der OECD-Länder rangiert. In früheren Jahren – bis hin zu den 1980er Jahren – hingegen war die Position der deutschen Wirtschaft in der Abbildung 1 oben eine weitaus bessere.4

Ein anderer theoretischer Ansatz, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen könnte, ist das korporatismustheoretische Konzept. Dieses geht davon aus, „dass der Staat in modernen Industriegesellschaften nicht nur passiver Ad-ressat des Verbandseinflusses ist, sondern selbst eine aktive, steuernde und inter-venierende Rolle spielt. Von korporatistischer Interessenvermittlung spricht man, wenn zwischen gesellschaftlichen Großverbänden (insbesondere Gewerkschaften und Unternehmerverbände) und Staat ein enges wechselseitiges Beziehungs-geflecht existiert, in dessen Rahmen Probleme durch eine institutionalisierte, konsensorientierte Zusammenarbeit gelöst werden sollen.“ (Birle/Wagner 2001: 120). Es zeigt sich nämlich mit Blick auf die in Abbildung 1 vorgestellte Rang-ordnung der OECD-Staaten, dass die stark korporatistischen Staaten eher am Ende der Vergleichsskala rangieren.

Schließlich kann unter theoretischen Gesichtspunkten das Argument aufge-griffen werden, dass Deutschland deutlicher als viele andere OECD-Länder zu den wohlfahrtstaatlich ausgerichteten Gesellschaften zu zählen ist (Esping-An-dersen 1990). Daraus resultieren überdurchschnittliche Lasten zur Finanzierung sozialer Leistungen, die das wirtschaftliche Wachstum behindern, so dass sich auf diese Weise die Position Deutschlands im Vergleich, wie sie durch Abbil-dung 1 illustriert wird, erklären lässt.

Solche und vergleichbare theoretische Überlegungen führen zu Modellie-rungen, wie sie beispielhaft von Obinger für die OECD-Länder vorgestellt wer-den (Obinger 2003: 114-135). Er bietet zunächst einen Überblick über ökonomi-sche Wachstumstheorien, wendet sich dann den politisch-institutionellen Erklä-rungsansätzen des Wirtschaftswachstums zu, beleuchtet danach den Forschungs-stand und stellt schließlich die Ergebnisse eigener regressionsstatistischer Be-rechnungen vor. Die Ausführungen Obingers zeigen, dass er sich ausschließlich für politikwissenschaftliche Einflussvariablen interessiert (insbesondere erkenn-bar in den Tabellen auf Seite 136 bis 138).5

Es existieren also – wie diese absichtlich sehr knapp gehaltene Übersicht zeigt – verschiedene Ansätze, die es ermöglichen, zu Erklärungen über die im

4 Es darf bei diesem zeitlichen Vergleich aber nicht vergessen werden, dass Deutschland durch

die Kosten der Wiedervereinigung speziellen und nicht vergleichbaren Sonderlasten unterwor-fen war.

5 Ein ähnlicher Ansatz findet sich bei Obinger 2004: 172.

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216 Werner Voß

OECD-Ländervergleich unterschiedlichen Zuwächse des Wirtschaftswachstums zu gelangen.

In diesem Beitrag soll aber ein Weg beschritten werden, der sich von den oben genannten Ansätzen dadurch unterscheidet, dass insbesondere ökonomi-sche Größen herangezogen werden. Insoweit erfolgt also eine etwas einseitige Verengung der Betrachtungsweise, wobei aber anzufügen ist, dass die Darlegun-gen der folgenden Abschnitte auch Gültigkeit beanspruchen dürfen, wenn mit anderen Einflussgrößen als den im Folgenden betrachteten gearbeitet werden sollte.

Deshalb ist nun die Frage zu beantworten, wie die unterschiedlichen – mehrheitlich ökonomischen – Dimensionen, die als das Wirtschaftswachstum beeinflussend angesehen bzw. ausgewählt werden, operationalisiert werden kön-nen, sodass sie in ein empirisch überprüfbares Modell zur Erklärung der Position Deutschlands im OECD-Vergleich aufgenommen werden können. Der Blick auf die statistische Datenbasis der OECD im folgenden Abschnitt zeigt, dass nur mit Ersatzindikatoren gearbeitet werden kann – es sei denn, man könnte in einem groß angelegten Forschungsvorhaben geeignete Operationalisierungskonzepte erarbeiten, um dann durch Zugriff auf alle zur Verfügung stehenden Datenquel-len sekundär- aber auch ggf. primärstatistischer Art die oben genannten theoreti-schen Konzepte in empirisch fassbare Daten umzusetzen. Dies aber kann nicht in diesem Beitrag geleistet werden, der sich auf spezielle Dimensionen beschränkt, auf die im folgenden Abschnitt näher eingegangen wird.

5 Hypothesen

Die Dimensionen, von denen im Folgenden ausgegangen werden soll, werden in Abbildung 2 präsentiert. Die eventuellen Beziehungen zwischen diesen Dimen-sionen und dem Wirtschaftswachstum bilden die Hypothesen, die in diesem Beitrag empirisch überprüft werden sollen.

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Deutschland im OECD-Vergleich 217

Abbildung 2: Modell der Einflussdimensionen

Dimensionen

ökonomische Einflussgrößen

Situation auf dem Arbeitsmarkt

politische Einflussgrößen

Y = Zuwachs des BIP

sozialstrukturelle Einflussgrößen

Einflüsse des Bildungssystems

Mit Blick auf diese Skizze sind folgende Anmerkungen angezeigt:

Zwischen den einzelnen Positionen auf der linken Seite der Skizze gibt es vielfältige Beziehungen (Abhängigkeiten bzw. Beeinflussungen), die der Übersichtlichkeit halber nicht dargestellt wurden. Vergleichbares gilt für Wirkungen, die vom Wachstum des BIP auf die genannten Dimensionen ausgehen, denen also Pfeile von rechts nach links in der obigen Skizze entsprechen würden. Die interessierenden Beeinflussungen wirken zum Teil mit zeitlichen Ver-zögerungen, sodass bei konkreten Berechnungen zu prüfen ist, ob mit time-lags gearbeitet werden sollte (siehe dazu aber Fußnoten 6 und 7).

Es dürfte entbehrlich sein, die in dieser Skizze veranschaulichten Beziehungen zu verbalisieren, aber es soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie einige zentrale Überlegungen der vorangegangenen Abschnitte widerspiegeln:

In den Dimensionen „ökonomische Einflussgrößen“ und „Situation auf dem Arbeitsmarkt“ finden sich die kreislauftheoretischen Konzepte der Volks-

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218 Werner Voß

wirtschaftslehre basierend auf den klassischen und neoklassischen Ansätzen (siehe den vorangehenden Abschnitt 4 und Altmann 2003). In der Dimension „politische Einflussgrößen“ finden sich die Überlegungen zur Rolle und Bedeutung des Staates im Wirtschaftsgeschehen moderner Industriegesellschaften (siehe ebenfalls Abschnitt 4). Die Dimensionen „sozialstrukturelle Einflussgrößen“ und „Einflüsse des Bildungssystems“ wurden gesondert genannt, weil es hier zum einen darum geht, die wohlfahrtsstaatlichen Aktivitäten, die durch Veränderungen der Sozialstruktur der OECD-Länder bedingt sind, wegen der Bedeutsamkeit ihrer (hypothetisch eher wachstumsbremsenden) Auswirkungen besonders hervorzuheben; entsprechendes gilt für die (hypothetisch eher wachstums-fördernden) Auswirkungen von Investitionen im Bildungssystem.

Es geht nun darum, empirische Informationen bereitzustellen, um die genannten Dimensionen mit statistischen Daten zu belegen und ihren Einfluss auf das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu quantifizieren. Erleichtern wir uns diese Suche nach empirischen Informationen, indem auf die amtlichen Daten der OECD zurückgegriffen wird, um diejenigen – ausgehend von den Dimensio-nen der Abbildung 2 – zu benennen, die mit der interessierenden Zuwachsrate des BIP korrelieren?6 Falls ja, wäre der Weg zumindest zu einer statistischen Erklärung eröffnet.7

Deshalb müssen die in der obigen Abbildung 2 genannten Untersuchungs-dimensionen operationalisiert werden, d.h. es müssen Variablen benannt werden, die in der Lage sind, diese Untersuchungsdimensionen angemessen abzubilden. Greift man zu diesem Zweck auf die Angaben der amtlichen Daten der OECD-Statistik zurück (www.oecd.org/statsportal/ und Institut der deutschen Wirtschaft 2005), kann man aus dem angebotenen Variablenset die folgenden für die Zwe-cke der nun anstehenden Hypothesenüberprüfung entnehmen:

6 Außer Acht gelassen werden können beim vergleichenden Ansatz können die typischen zeitrei-

henstatistischen Probleme der Datenanalyse (Vortäuschen von Zusammenhängen durch die Einflüsse eventuell gemeinsamer Trends; Autokorrelationsprobleme), die dann auftreten wür-den, wollte man die interessierenden Untersuchungshypothesen mittels zeitreihenstatistischer Angaben überprüfen.

7 Schon an dieser Stelle soll auf ein besonderes Problem derartiger Zusammenhangsrechnungen aufmerksam gemacht werden: Es könnte sich herausstellen, dass eine beeinflussende Variable X dann besonders hoch mit der interessierenden Variablen Y (Zuwachs des BIP) korreliert, wenn X mit einem time-lag versehen wird (Beispiel: Erhöhte gesamtwirtschaftliche Investiti-onsausgaben bewirken – möglicherweise – ein höheres Wirtschaftswachstum erst in späteren Perioden). Mit diesem Spezialproblem beschäftigt sich dieser Beitrag jedoch nicht.

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Deutschland im OECD-Vergleich 219

Dimension 1: Ökonomische Einflussgrößen

langfristiger Zinssatz 2004 (in %) Exporte - Importe pro Kopf der Bevölkerung 2004 (in US-$) Produktivität 2004 (BIP/Erwerbstätige; in US-$) Veränderung der Verbraucherpreise 2004 gegenüber Vorjahr (in %)

Dimension 2: Situation auf dem Arbeitsmarkt

Arbeitslosenquote 2004 (in %) Erwerbsquote 2003 (in %) Jahresarbeitsstunden im Schnitt aller Beschäftigten 2003 Arbeitskosten 2003 (Deutschland = 100) Jahressollarbeitszeit 2004 (in Stunden)

Dimension 3: Politische Einflussgrößen

Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am BIP 2001 (in %) Zahl der Parlamentarier (je 1000 Einwohner) Verteidigungsausgaben in % des BSP 2001 Einkommensteuerspitzensatz 2004 (in %) Beschäftigte in der öff. Verwaltung 2003 (in % der Erwerbstätigen)

Dimension 4: Sozialstrukturelle Einflussgrößen

Anteil der über 64-Jährigen bezogen auf die 15- bis 64-Jährigen 2000 (in %) Anteil der Stadtbevölkerung 2001 (in %) Ärzte pro 1000 Einwohner 2000 Gesundheitsausgaben in % des BIP 2003 öffentliche Gesundheitsausgaben je Einwohner 2002

Dimension 5: Einflüsse des Bildungssystems

Bildungsausgaben 2001 (in % des BIP) FuE-Ausgaben 2003 (in % des BIP) Hochschulabsolventen 2002 (in % der Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren)

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220 Werner Voß

Zu diesen Variablen sind – über das hinaus, was bereits weiter oben zum Thema Variablenauswahl gesagt wurde – einige zusätzliche Anmerkungen erforderlich:

Nicht für alle Variablen liegen Daten für das Jahr 2004 vor, so dass teil-weise auf Vorjahre (bis 2000) zurückgegriffen werden musste. Es werden in den folgenden statistischen Auswertungen nur jene OECD-Länder berücksichtigt, für welche die OECD-Statistiken bei der Mehrheit der genannten Variablen auch Werte ausweisen. Bei den genannten Variablen handelt es sich um Pro-Kopf-Angaben oder um Prozentanteile, so dass ihre Vergleichbarkeit gewährleistet ist; die unter-schiedliche Größe der betrachteten Staaten (etwa feststellbar in der unter-schiedlichen Bevölkerungszahl) spielt mithin keine störende Rolle.

6 Univariate Auswertung

In einem ersten Auswertungsschritt soll nun in der nebenstehenden Abbildung 3 gezeigt werden, wie sich – im Hinblick auf die genannten Variablen – die deut-sche Position im OECD-Vergleich darstellt. Diese Abbildung braucht nicht im Einzelnen erläutert zu werden.

7 Statistische Zusammenhänge

Korrelationen mit dem Zuwachs des BIP

Es sollen zunächst – ausgehend von den erhobenen Variablen – Untersuchungs-hypothesen bivariater Art formuliert werden, die einen ersten Überblick über interessierende statistische Zusammenhänge erkennen lassen. Diese bivariaten Hypothesen werden in Tabelle 2 zusammengestellt, wobei auch angemerkt wird, wie die jeweilige Hypothesenentscheidung – basierend auf den Rechenergebnis-sen, die dann in der Tabelle 3 präsentiert werden – ausfällt.

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Deutschland im OECD-Vergleich 221

Abbildung 3: Deutschland im Vergleich mit dem OECD-Durchschnitt

Deutschland im OECD-Vergleich(OECD = 100)

0,0 20,0 40,0 60,0 80,0 100,0 120,0 140,0 160,0

Hochschulabsolventen in % der Bev.

FuE-Ausgaben in % des BIP

Bildungsausgaben in % des BIP

Öff. Gesundheitsausgaben je Einw.

Gesundheitsausgaben in % des BIP

Ärzte pro 1000 Einwohner

Stadtbevölkerung in %

Anteil der über 64-Jährigen in %

Beschäftigte in der öff. Verwaltung in %

Einkommensteuerspitzensatz

Verteidigungsausgaben in % des BSP

Parlamentarier je 1000 Einwohner

Anteil der öff. Sozialausgaben am BIP

Jahressollarbeitszeit in Stunden

Arbeitskosten 2003 (D = 100)

Arbeitsstunden im Schnitt aller Beschäftigten

Erwerbsquote in %

Arbeitslosenquote in %

Verbraucherpreisanstieg

Produktivität

Exporte - Importe pro Kopf

langfristiger Zinssatz

Dieser Balken istverkürzt; er reichtbis zum nicht darstell-baren Wert 942

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222 Werner Voß

Tabelle 2: Korrelationen der Einflussvariablen mit dem Zuwachs des BIP Pos. Item

8 Hypothese:

Korreliert mit dem BIP-Zu-wachs…

Theoretischer Hintergrund Hypothese ist zu…

Ökonomische Einflussgrößen

1 langfristiger Zinssatz

gegenläufig in der Finanzpolitik wird davon ausgegangen, dass mit stei-gende Zinsen Investitionen und Konsum verteuert werden können, so dass so die Kon-junktur gedrosselt werden kann

verwerfen

2 Veränderung der Verbraucherpreise

gleichgerichtet deutlich steigende Preise sind Anzeichen überhitzender Konjunktur bei überdurch-schnittlichem Wirtschafts-wachstum

bestätigen

Situation auf dem Arbeitsmarkt

3 Arbeitslosenquote gegenläufig je höher die Arbeitslosenquote, desto weniger Arbeitskraft steht für die Produktion zur Verfügung; die gesamtwirt-schaftliche Produktionsfunktion hat einen geringeren Input des Faktors Arbeit

verwerfen

4 Erwerbsquote gleichgerichtet gegenläufige Entwicklung zu Pos. 3

verwerfen

5 Jahresarbeitsstun-den

gleichgerichtet je intensiver der Einsatz des Faktors Arbeit, desto höher das Wachstum (gesamtwirtschaft-liche Produktionsfunktion)

bestätigen

6 Arbeitskosten gegenläufig je teurer der Arbeitseinsatz, desto geringer der Einsatz des Faktors Arbeit gemäß der klassischen Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Angebot und Nachfrage

bestätigen

7 Jahressollarbeits-zeit

gleichgerichtet wie Pos. 5 bestätigen

Politische Einflussgrößen

8 Anteil der öffentli-chen Sozialausga-ben

gegenläufig die in wohlfahrtsstaatlich orientierten Gesellschaften für erforderlich gehaltene Erhö-hung der Sozialausgaben im Verhältnis zu investiven Ausga-ben wirkt sich negativ auf das Wirtschaftswachstum aus

bestätigen

8 Die genaue Bezeichnung der einzelnen Items ist weiter oben bei der Beschreibung der einzel-

nen Dimensionen in Anschluss an Abbildung 2 zu finden. Grau unterlegt sind in dieser Über-sicht diejenigen Positionen, die zu bedeutsamen Korrelationskoeffizienten gehören (siehe auch Fußnote 10).

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Deutschland im OECD-Vergleich 223

Pos. Item9 Hypothese:

Korreliert mit dem BIP-Zuwachs…

Theoretischer Hinter-grund

Hypothese ist zu…

9 Zahl der Parlamentarier

gegenläufig nutzt man diese Größe als Indikator für Bürokratie wird angenommen, dass höhere Werte das Wachstum negativ beeinflussen

verwerfen

10 Verteidigungs-ausgaben

gleichgerichtet soweit investiv, wirken Ver-teidigungsausgaben wachs-tumsfördernd

bestätigen

11 Einkommensteuer-spitzensatz

gegenläufig Erhöhungen führen zu Kon-sumverzicht und zu Kapital-flucht; dies ist wachstums-hemmend

bestätigen

12 Beschäftigte in der öff. Verwaltung

gegenläufig siehe Pos. 9 verwerfen

Sozialstrukturelle Einflussgrößen

13 Anteil der über 64-Jährigen

gegenläufig Anstieg dieses Anteils wirkt wie Pos. 8

bestätigen

14 Anteil der Stadtbe-völkerung

gegenläufig Anstieg dieses Anteils geht einher mit einer Erhöhung der Sozialausgaben (siehe Pos. 8)

bestätigen

15 Ärzte pro 1000 Einwohner

gegenläufig entsprechend wie Pos. 8 bestätigen

16 Gesundheitsausga-ben in % des BIP

gegenläufig entsprechend wie Pos. 8 bestätigen

17 öffentliche Gesund-heitsausgaben je Einwohner

gegenläufig entsprechend wie Pos. 8 bestätigen

Einflüsse des Bildungssystems

18 Bildungsausgaben gleichgerichtet ausgehend von den Über-legungen der Humankapi-taltheorie sind Investitionen im Bildungsbereich wachs-tumsfördernd

bestätigen

19 FuE-Ausgaben gleichgerichtet entsprechend wie Pos. 18 verwerfen 20 Hochschulabsol-

venten gleichgerichtet entsprechend wie Pos. 18 verwerfen

Berechnet man den für metrische Daten geeigneten Korrelationskoeffizient von Bravais/ Pearson (r), so ergibt sich die folgende Übersicht, in der bedeutsame Korrelationen10 grau unterlegt sind.

9 Die genaue Bezeichnung der einzelnen Items ist weiter oben bei der Beschreibung der einzel-

nen Dimensionen in Anschluss an Abbildung 2 zu finden. Grau unterlegt sind in dieser Über-sicht diejenigen Positionen, die zu bedeutsamen Korrelationskoeffizienten gehören (siehe auch Fußnote 10)

10 Als „bedeutsam“ werden hier Korrelationskoeffizienten dann bezeichnet, wenn sie Werte aufweisen, die bei einer Signifikanzprüfung (Signifikanzniveau 5%) als statistisch signifikant

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224 Werner Voß

Tabelle 3: Korrelationen mit dem BIP-Zuwachs

Variable R

langfristiger Zinssatz 2004 (in %) 0,277

Exporte - Importe pro Kopf der Bevölkerung 2004 (in US-$) 0,043

Produktivität 2004 (BIP/Erwerbstätige in US-$) -0,370

Veränderung der Verbraucherpreise 2004 gegenüber Vorjahr (in %) 0,590

Arbeitslosenquote 2004 (in %) 0,144

Erwerbsquote 2003 (in %) -0,321

Jahresarbeitsstunden im Schnitt aller Beschäftigten 2003 0,567

Arbeitskosten 2003 (Deutschland = 100) -0,526

Jahressollarbeitszeit 2004 (in Stunden) 0,362

Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am BIP 2001 (in %) -0,596

Zahl der Parlamentarier (je 1000 Einwohner) 0,164

Verteidigungsausgaben in % des BSP 2001 0,315

Einkommensteuerspitzensatz 2004 (in %) -0,569

Beschäftigte in der öffentlichen Verwaltung 2003 (in % der Erwerbstätigen) 0,074

Anteil der über 64-Jährigen bezogen auf die 15- bis 64-Jährigen 2000 (in %) -0,502

Anteil der Stadtbevölkerung 2001 (in %) -0,292

Ärzte pro 1000 Einwohner 2000 -0,368

Gesundheitsausgaben in % des BIP 2003 -0,463

öffentliche Gesundheitsausgaben je Einwohner 2002 -0,132

Bildungsausgaben 2001 (in % des BIP) 0,545

FuE-Ausgaben 2003 (in % des BIP) -0,277

Hochschulabsolventen 2002 (in % der Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren) -0,041

Zwei dieser Korrelationen können nicht sinnvoll interpretiert werden. Dies gilt für die in der obigen Tabelle kursiv gesetzten Berechnungen. Im ersten Fall (Ex-porte – Importe) ist zu berücksichtigen, dass der Außenhandelssaldo Teil des BIP ist, sodass die Korrelation mit der Zuwachsrate des BIP zu einem Artefakt führt. Dies gilt entsprechend für die Produktivität, weil bei ihrer Berechnung das BIP selbst benutzt wird.

von null verschieden erkannt würden – im Wissen, dass Signifikanzprüfungen mit Grundge-samtheitsdaten (wie sie die verwendeten OECD-Daten ja darstellen) nicht sinnvoll sind. Als Abgrenzungskriterium zwischen bedeutsamen und nicht bedeutsamen Werten kann dieser ge-dankliche Ansatz gleichwohl eingesetzt werden.

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Deutschland im OECD-Vergleich 225

Beschränkt man sich bei der Interpretation dieser Ergebnisse auf die als bedeut-sam charakterisierten Befunde, so erkennt man:

Das Wirtschaftswachstum korreliert gleichgerichtet (positiv) mit den Jah-resarbeitsstunden (r = +0,567) und gegenläufig (negativ) mit den Arbeitskosten (r = -0,526). Je mehr gearbeitet wird, desto höher ist tendenziell das Wirt-schaftswachstum; je höher die Arbeitskosten sind, desto niedriger fällt tenden-ziell das Wirtschaftswachstum aus.

Weiterhin sind bedeutsame Korrelationen zwischen Wirtschaftswachstum und

dem Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am BIP (r = -0,596) dem Einkommensteuerspitzensatz (r = -0,569) dem Anteil der über 64-Jährigen (r = -0,502) den Gesundheitsausgaben in % des BIP (r = -0,463)

Dies bedeutet, dass eine Zunahme der Werte dieser vier genannten Variablen mit einer tendenziellen Reduzierung des Wirtschaftswachstums einhergeht.

Bei derartigen bivariaten Korrelationsrechnungen besteht allerdings grund-sätzlich die Gefahr von Scheinkorrelationen; dieser Gefahr kann man durch Auspartialisierung von Drittvariableneinflüssen begegnen.

7.1 Kontrolle von Drittvariableneinflüssen

Bei den im vorangegangenen Abschnitt berechneten bivariaten Korrelationen stellt sich die Frage, ob es andere Variablen gibt, deren Auspartialisierung zu einer Veränderung der beobachteten Zusammenhänge führen könnte.

Die folgenden Übersichten zeigen, welche Variablen zur Kontrolle der oben berechneten bivariaten Korrelationen eingesetzt wurden11. Bedeutsame partielle Korrelationskoeffizienten sind wieder grau unterlegt.

11 Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass die Auspartialisierung auch anderer Variablen zu

interpretationsfähigen Befunden führen könnte. Die Auswahl, die in den folgenden Tabellen vorgenommen wurde, ist deshalb exemplarisch zu verstehen.

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226 Werner Voß

Tabelle 4: Partialrechnungen; Teil 1 Wirtschaftswachstums und Jahresarbeitsstunden bivariat: r = +0,567

auspartialisierte Drittvariable partieller r-Koeffizient

Produktivität (BIP pro Erwerbstätigem) +0,544

Erwerbsquote +0,581

Anteil der Stadtbevölkerung +0,511

Öffentliche Gesundheitsausgaben pro Einwohner +0,535

Anteil der Bildungsausgaben am BIP +0,821

Es ist zu erkennen, dass die Auspartialisierung der genannten Drittvariablen nichts an der Bedeutsamkeit des ursprünglich berechneten bivariaten Zusam-menhangs verändert. Bemerkenswert ist, dass die Auspartialisierung der Vari-ablen „Anteil der Bildungsausgaben am BIP“ den bivariaten Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Jahresarbeitsstunden sogar noch deutlich verstärkt, d.h. die eigentliche Stärke des bivariaten Zusammenhangs war durch die Variable „Anteil der Bildungsausgaben am BIP“ teilweise „verdeckt“ wor-den.

Tabelle 5: Partialrechnungen; Teil 2 Wirtschaftswachstums und Arbeitskosten bivariat: r = -0,526

auspartialisierte Drittvariable partieller r-Koeffizient

Produktivität (BIP pro Erwerbstätigem) -0,503

Zuwachs der Verbraucherpreise - 0,176

Arbeitslosenquote -0,451

Erwerbsquote -0,441

Jahresarbeitsstunden -0,023

Anteil der Stadtbevölkerung -0,374

Hier zeigt sich, dass der gegenläufige Zusammenhang zwischen Wirtschafts-wachstum und Arbeitskosten quasi „verschwindet“, wenn man eine der folgen-den Variablen auspartialisiert:

Zuwachs der Verbraucherpreise JahresarbeitsstundenAnteil der Stadtbevölkerung

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Deutschland im OECD-Vergleich 227

Dies bedeutet, dass nicht mehr generell behauptet werden kann, dass mit zuneh-menden Arbeitskosten das Wirtschaftswachstum tendenziell negativ beeinflusst wird.

Tabelle 6: Partialrechnungen; Teil 3 Wirtschaftswachstums und Anteil der öffentlichen Sozialausgaben

bivariat: r = -0,596

auspartialisierte Drittvariable partieller r-Koeffizient

Arbeitslosenquote -0,641

Anteil der über 64-Jährigen -0,374

Gesundheitsausgaben pro Einwohner -0,585

Die Bedeutsamkeit des gegenläufigen Zusammenhangs zwischen Wirtschafts-wachstum und dem Anteil der öffentlichen Sozialausgaben verschwindet durch Auspartialisierung der drei genannten Drittvariablen nicht – auch wenn sich die Stärke des Zusammenhangs bei Berücksichtigung der zweiten genannten Vari-ablen (Anteil der über 64-Jährigen) erwartungsgemäß verringert.

Tabelle 7: Partialrechnungen; Teil 4 Wirtschaftswachstums und Einkommensteuer-spitzensatz

bivariat: r = -0,569

auspartialisierte Drittvariable partieller r-Koeffizient

Produktivität (BIP pro Erwerbstätigem) -0,477

Hochschulabsolventen in % der Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren

-0,608

Auch hier zeigen sich bei den Auspartialisierungen keine nennenswerten Verän-derungen der Bedeutsamkeit des ursprünglich beobachteten Zusammenhangs.

Tabelle 8: Partialrechnungen; Teil 5 Wirtschaftswachstums und Anteil der über 64-Jährigen

bivariat: r = -0,502

auspartialisierte Drittvariable partieller r-Koeffizient

Erwerbsquote -0,424

Anteil der öffentlichen Sozialausgaben am BIP -0,047

Gesundheitsausgaben pro Einwohner -0,588

Hier zeigt sich, dass die Auspartialisierung der Variablen „Anteil der öffentli-chen Sozialausgaben am BIP“ den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachs-tum und dem Anteil der über 64-Jährigen zum Verschwinden bringt.

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228 Werner Voß

Zusammenfassend ist also festzustellen, dass einige der als bedeutsam erkannten bivariaten Zusammenhänge zwischen einzelnen Untersuchungsvariablen und dem Wirtschaftswachstum durch Drittvariableneinflüsse „vorgetäuscht“ wurden. Dieser Sachverhalt wird erneut aufgegriffen, wenn abschließend (Abschnitt 8) in einem aggregierten multiplen Regressionsmodell die Frage abschließend beant-wortet wird, welche Größen für die unterschiedlichen Raten des Wirtschafts-wachstums in den OECD-Ländern hauptsächlich verantwortlich sind.

7.2 Korrelationen zwischen den beeinflussenden Variablen

Zwischen den beeinflussenden Variablen selbst gibt es eine Reihe bedeutsamer statistischer Zusammenhänge. Es soll darauf verzichtet werden, sie alle zu prä-sentieren, denn dies würde hier zu weit führen und auch der generellen Frage-stellung dieses Beitrags (wodurch wird die Wachstumsrate des BIP beeinflusst?) nicht entsprechen. Einige dieser Korrelationen sollen aber zu Illustrations-zwecken beispielhaft genannt werden – insbesondere solche, die nicht durch Auspartialisierung anderer Variabeln ihre Bedeutsamkeit einbüßen. Solche Kor-relationen sind die folgenden:

Tabelle 9: Bivariate Korrelationen zwischen den beeinflussenden Variablen Pos. Variable 1 Variable 2 R

1 Saldo (Exporte – Importe) pro Kopf Produktivität +0,423

2 Produktivität Arbeitslosenquote -0,466

3 Produktivität Erwerbsquote +0,603

4 Jahresarbeitsstunden Arbeitskosten -0,804

5 Arbeitskosten Anteil Hochschulabsolventen +0,621

6 Anteil der öff. Sozialausgaben Anteil der über 64-Jährigen +0,804

7 Anteil der öff. Sozialausgaben Ärzte pro 1000 Einwohner +0,613

8 Anteil der über 64-Jährigen Ärzte pro 1000 Einwohner +0,659

9 Anteil Stadtbevölkerung Öff. Gesundheitsausgaben je Einw.

+0,518

10 Anteil FuE-Ausgaben Anteil Hochschulabsolventen +0,660

Man erkennt also zum Beispiel, dass der Außenhandelssaldo positiv mit der gesamtwirtschaftlichen Produktivität korreliert (Position 1), was nicht über-rascht, genauso wenig wie die gegenläufige Korrelation zwischen Produktivität und Arbeitslosenquote (Position 2) und die gleichgerichtete Korrelation zwi-schen Produktivität und Erwerbsquote (Position 3). Ebenso war zu erwarten,

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Deutschland im OECD-Vergleich 229

dass Jahresarbeitsstunden und Arbeitskosten gegenläufig korrelieren (Position 4).12 Des Weiteren ist einsichtig, dass mit zunehmendem Anteil der Hochschul-absolventen tendenziell die Arbeitskosten steigen (Position 5) – ausgehend von der nicht unplausiblen Hypothese, dass Hochschulabsolventen tendenziell besser bezahlte Beschäftigungsverhältnisse innehaben. Die nächsten gleichgerichteten Beziehungen (Positionen 6 bis 10) bedürfen keiner näheren Erklärung.

7.3 Faktorenanalyse

Berechnet man alle denkbaren bivariaten Korrelationen, so ergibt sich – auch nach Kontrolle auf Scheinkorrelationen – ein recht unübersichtliches Bild, wel-ches erst klarer wird, wenn die betrachteten Variablen einer Faktorenanalyse unterzogen werden.

Diese Faktorenanalyse extrahiert sechs Faktoren, die insgesamt 97,4% der Gesamtvarianz statistisch aufklären. Die Interpretation dieser Faktoren orientiert sich an der Matrix der Ladungskoeffizienten (diese können bekanntlich als Kor-relationskoeffizienten interpretiert werden), die in Tabelle 10 dargestellt ist.

12 Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass die Arbeitskosten als Index angegeben

waren, der für Deutschland auf den Basiswert 100 gesetzt wurde. Deshalb leuchtet es ein, dass bei Erhöhung der Variablen Jahresarbeitssunden tendenziell mit einem nach unten abweichen-den Wert dieser Kennziffer zu rechnen ist.

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230 Werner Voß

Tabelle 10: Ergebnisse der Faktorenanalyse Rotierte Komponentenmatrixa

,553 ,494 -,043 ,619 -,173 -,097

,606 ,128 ,314 -,482 ,006 -,526

-,222 -,069 ,126 ,921 ,084 ,267

,395 -,434 -,320 -,136 ,614 ,382

,849 -,107 ,368 ,157 ,313 ,043

-,859 -,108 -,440 ,061 -,115 -,182

,538 -,726 ,148 -,274 ,222 ,181

-,929 -,055 -,041 -,217 ,056 ,204

,404 -,375 ,111 ,700 ,342 -,268

,203 ,139 -,104 ,075 -,143 ,945

,398 ,265 ,836 -,006 ,102 -,188

,007 ,887 -,366 ,209 -,126 ,046

-,095 ,644 ,394 ,598 ,076 -,075

-,316 ,880 ,247 -,147 -,086 ,063

,378 -,134 ,858 ,265 -,010 -,003

-,941 ,198 -,171 ,136 -,040 -,141

,174 ,888 ,067 -,155 -,368 ,065

,309 -,207 ,571 ,017 ,592 -,062

,155 ,947 -,123 -,171 -,168 -,045

,026 ,796 ,343 ,013 ,108 ,483

-,227 -,259 ,147 ,209 ,828 -,225

-,922 -,004 -,106 ,166 ,245 -,215

Langfristiger Zinssatz in 2004 (in %)

Arbeitslosenquote 2004 (in %)

Erwerbsquote 2003 (in %)

Anteil der über 64-Jährigen bezogen auf 15-64Jahre (2000 in %)

Anteil der öff. Sozialausgaben am BIP 2001 (in %)

Jahresarbeitsstunden im Schnitt aller Beschäftigten2003

Exporte - Importe 2004 (in Mrd. US-$)

Produktivität: BIP/Erwerbstätige 2004 (in US-$)

Zahl der Parlamentarier je 1000 Einwohner

Stadtbevölkerung 2001 (in %)

Ärzte pro 1000 Einwohner 2000

Verteidigungsausgaben in % des BSP 2001

Bildungsausgaben in % des BIP (2001)

Gesundheitsausgaben in % des BIP (2003)

Arbeitskosten 2003 (D = 100)

Jahressollarbeitszeit (in Stunden) 2004

Verbraucherpreise (Veränderung 2004 gg. Vorjahr in%)

Einkommensteuerspitzensatz (2004)

Beschäftigte in der öff. Verwaltung 2003 (% derErwerbstätigen)

Öff. Gesundheitsausgaben je Einwohner 2002

FuE-Ausgaben 2003 (in % des BIP)

Hochschulabsolventen in % der Bevölkerung (25 bis64; 2002)

1 2 3 4 5 6

Komponente

Extraction Method: Principal Component Analysis. Rotation Method: Varimax with Kaiser Normalization.

Die Rotation ist in 8 Iterationen konvergiert.a.

Wählt man zur Kennzeichnung der Faktoren der Einfachheit halber diejenige Variable, mit denen sie am stärksten korrelieren, so ergibt sich die folgende Zu-sammenstellung:

Tabelle 11: Variablen mit jeweils höchsten Ladungskoeffizienten Faktor Variable r

1 Jahressollarbeitszeit -0,941

2 Anteil der Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung +0,947

3 Arbeitskosten +0,858

4 Erwerbsquote +0,921

5 Anteil der FuE-Ausgaben +0,828

6 Anteil der Stadtbevölkerung +0,945

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Deutschland im OECD-Vergleich 231

Es bietet sich deshalb an, die sechs extrahierten Faktoren wie folgt zu bezeich-nen:

Faktor 1: Arbeitsausfall: Je höher der Wert dieses Faktors, desto weniger wirk-sam wird der Produktionsfaktor Arbeit.

Faktor 2: Einfluss der öffentlichen Hand: Je höher der Wert dieses Faktors, desto größer ist der Einfluss der öffentlichen Hand (indiziert durch den Anteil der Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung).

Faktor 3: Kosten der Arbeit: Je höher der Wert dieses Faktors, desto höher sind tendenziell die Kosten für den Produktionsfaktor Arbeit.

Faktor 4: Erwerbstätigkeit: Je höher der Wert dieses Faktors, desto wirksamer wird der Produktionsfaktor Arbeit.

Faktor 5: Zukunftsinvestitionen: Je höher der Wert dieses Faktors, desto intensi-ver wirken Investitionen im FuE-Bereich.

Faktor 6: Urbanisierungsgrad: Je höher der Wert dieses Faktors, desto deutli-cher sind die Urbanisierungstendenzen.

8 Multiple Regression

Es bieten sich nun an, mit Hilfe einer multiplen Regressionsrechnung zu einer zusammenfassenden Antwort auf die Frage zu gelangen, von welchen Größen das Wirtschaftswachstum der OECD-Länder maßgeblich (statistisch) beeinflusst wird. Als abhängige Variable wird das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes im Zeitraum 2000 bis 2004 verwendet, als beeinflussende Variablen werden die sechs extrahierten Faktoren untersucht. Diese Vorgehensweise ist mit dem Vor-zug verbunden ist, dass diese beeinflussenden Variablen untereinander unkorre-liert sind – dies ist eine der wesentlichen Eigenschaften der mit der Faktoren-analyse bestimmten Faktoren –, sodass das Problem der Multikollinearität nicht auftauchen kann.

Eine solche multiple Regressionsrechnung weist zunächst einen multiplen Determinationskoeffizienten von r2 = 0,998 aus. Dieser Wert besagt, dass fast 99% der Varianz der Wachstumsraten des BIP über die multiple Regressions-funktion statistisch erklärt wird.

Die standardisierten Koeffizienten (beta) der Regressionsfunktion stellen sich so dar, wie es Tabelle 12 zeigt.

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232 Werner Voß

Tabelle 12: Partielle Regressionskoeffizienten Faktor Beta

Arbeitsausfall -0,447

Einfluss der öffentlichen Hand +0,139

Kosten der Arbeit -0,559

Erwerbstätigkeit +0,511

Zukunftsinvestitionen +0,001

Urbanisierungsgrad -0,452

Man erkennt: Die Faktoren „Einfluss der öffentlichen Hand“ und „Zukunfts-investitionen“ wirken nur unbedeutend auf die Zuwachsrate des BIP. Bedeutsa-mer sind die anderen in der obigen Tabelle genannten Faktoren.

Mit zunehmenden Werten des Faktors „Arbeitsausfall“ sinkt beispielsweise tendenziell die Wachstumsrate des BIP. Dies korrespondiert auch mit den ande-ren in Faktor 1 hoch ladenden Koeffizienten (siehe Tabelle 10), weil mit zuneh-menden Werten dieses Faktors eng verknüpft ist ein tendenzieller Rückgang der Jahresarbeitsstunden (r = -0,859) und beispielsweise ein tendenzieller Rückgang des Anteils der Hochschulabsolventen (r = -0,922).

Des Weiteren erkennt man einen sehr deutlichen gegenläufigen Einfluss des Faktors 3 „Kosten der Arbeit“ auf die Wachstumsrate des BIP: Je höher die Kos-ten der Arbeit, desto geringer ist tendenziell das Wirtschaftswachstum. Be-merkenswerterweise korreliert dieser Faktor auch hoch mit der Variablen „An-zahl der Ärzte pro 1000 Einwohner“ (r = +0,836). Insoweit war es etwas gewagt, ihn mit „Kosten der Arbeit“ zu bezeichnen. Es wurde aber schon in den bivaria-ten Berechnungen festgestellt (siehe Tabelle 3), dass diese Variable gegenläufig mit dem Zuwachs des BIP korreliert, so dass hier also die Hypothese gelten dürf-te, dass die Erhöhung der Zahl der Ärzte pro 1000 Einwohner indirekt eine Er-höhung der Kosten der Arbeit indiziert.

Beim Faktor 4 „Erwerbstätigkeit“ ist ein positiver Einfluss auf das Wirt-schaftswachstum zu verzeichnen. Ausweislich der Matrix der Ladungskoeffi-zienten (siehe Tabelle 10) ist die Variable „Erwerbsquote“ die vor allen anderen entscheidende Variable, das heißt mit zunehmender Erwerbsquote steigt tenden-ziell die Zuwachsrate des BIP. Wir stellen aber auch hohe Ladungskoeffizienten bei den Variablen „Zahl der Parlamentarier“ (r = +0,700) und „langfristiger Zins-satz“ (r = +0,619) fest. Da bei beiden Variablen in den bivariaten Korrelations-rechnungen aber keine bedeutsamen Zusammenhänge zum Wachstum des BIP festgestellt werden konnten (siehe Tabelle 3), sollte dieser Befund nicht irritie-ren.

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Deutschland im OECD-Vergleich 233

Der letzte deutlich beeinflussende Faktor 6 ist der „Urbanisierungsgrad“. Hier gibt es – wie der Blick auf Tabelle 10 zeigt – nur eine einzige Variable, die deut-lich höher lädt als alle anderen, nämlich der „Anteil der Stadtbevölkerung“ (r = +0,945). Allerdings erhält man hier einen negativen Regressionskoeffizienten (beta = -0,452), so dass man vor dem zunächst eher unerwarteten Befund steht, dass mit zunehmenden Grad der Urbanisierung die Wachstumsrate des BIP ten-denziell sinkt. Eine Erklärung für dieses empirische Phänomen könnte folgende sein: Zunehmende Urbanisierung dürfte ein Indikator für höher entwickelte Ge-sellschaften sein. Diese zeichnen sich u.a. durch erhöhte Anforderungen an die sozialen Sicherungssysteme aus, so dass tendenziell weniger Möglichkeiten blei-ben, das weitere Wachstum des BIP voranzutreiben. Zudem gilt, dass in Gesell-schaften, die bereits einen hohen Wert des BIP/Kopf erreicht haben, bestimmte Wachstumsraten des BIP schwerer zu erzielen sind, als dies in Gesellschaften der Fall ist, die noch einen niedrigeren Wert des BIP/Kopf aufweisen.13

Zusammenfassend ergibt sich also das folgende Bild zur Beantwortung der Ausgangsfrage (Wovon hängt die Wachstumsrate des BIP ab?):

Abbildung 4: Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und Einflussgrößen

Faktor

Arbeitsausfall

Kosten der Arbeit

Urbanisierunsgrad Wachstum des BIP

Erwerbstätigkeit

gegenläufig

gleichgerichtet

13 Entsprechende Korrelationsberechnungen bestätigen diese Hypothesen tendenziell.

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234 Werner Voß

9 Klassifikation

Wenn die im vorangegangenen Abschnitt benannten Beziehungen empirische Gültigkeit beanspruchen, dann müsste es möglich sein, die in die Berechnungen aufgenommenen OECD-Länder gemäß dieser Beziehungen zu klassifizieren, um zu einer Bestätigung der vorangegangenen Befunde zu gelangen. Das dafür ge-eignete Analyseinstrument ist die Clusterzentrenanalyse.

Beschränkt man sich angesichts der kleinen Fallzahl auf die Bildung von zwei Clustern – ausgehend von den Faktoren, welche die Faktorenanalyse er-zeugt hat (siehe Abschnitt 7.4)14 und unter Einbeziehung der Variablen „Wachs-tum des BIP im Zeitraum von 2000 bis 2004“ –, so erhält man den folgenden Befund:

Abbildung 5: Ergebnisse der Clusterzentrenanalyse

Clusterzentren der endgültigen Lösung

-,43465 ,72442

-,11936 ,19894

-,42262 ,70436

,24338 -,40563

,12132 -,20219

-,17634 ,29390

8,96 4,49

Arbeitsausfall

Einfluss der öff. Hand

Kosten der Arbeit

Erwerbstätigkeit

Zukunftsinvestitionen

Urbanisierungsgrad

Zuwachs BIP2000-2004 (in %)

1 2

Cluster

Im ersten Cluster sind die Länder mit einer durchschnittlichen Zuwachsrate des BIP von 8,96% (es handelt sich beispielsweise um die USA, Japan und Finn-land), im zweiten Cluster diejenigen mit einer durchschnittlichen Zuwachsrate

14 Die Nutzung dieser Faktoren ist mit dem Vorzug verbunden, dass diese einheitlich normiert

und in Einheiten der jeweiligen Standardabweichungen gemessen sind, was dazu beiträgt, Ver-zerrungseffekte durch unterschiedliche Maßeinheiten der Variablen, die in die Clusteranalyse eingehen, zu vermeiden. Zudem sind die Faktoren – wie an anderer Stelle schon erwähnt – un-tereinander unkorreliert, was ebenfalls Verzerrungseffekte ausschließt.

Page 230: Einzelinteressen und kollektives Handeln in modernen Demokratien ||

Deutschland im OECD-Vergleich 235

des BIP von 4,49% (darunter die korporatistischen Staaten15 Deutschland und Dänemark)16. Im ersten Cluster liegen die Werte des Faktors „Arbeitsausfall“ unter dem Durchschnitt (um 0,43 Standardabweichungen der Ausgangswerte), im zweiten Cluster deutlich darüber (um 0,72 Standardabweichungen).

In entsprechender Weise sind auch die anderen Befunde zu interpretieren, was insgesamt zu dem Ergebnis führt, dass die Ergebnisse, welche durch die multiple Regressionsrechnung gefunden wurden, durch die hier vorgestellte Clusterzentrenanalyse bestätigt werden.

10 Fazit

Es soll abschließend noch einmal auf die Beschränkungen eingegangen werden, die diesem statistischen Annäherungsversuch an eine komplexe Problemstellung zugrunde liegen:

Die wirtschaftliche Lage Deutschlands im Vergleich zu den anderen OECD-Ländern wurde durch die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts gekennzeichnet.Bei der Suche nach beeinflussenden Größen stützten wir uns ausschließlich auf amtliche Daten der OECD und dabei vornehmlich auf ökonomische Größen.Mit Hilfe regressionsstatistischer Ansätze wurden die Beziehungen zwi-schen ausgewählten beeinflussenden Variablen und der abhängigen Vari-able „Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts“ quantifiziert. Insgesamt wurde also eine stark vereinfachende und sicherlich in mehrerer Hinsicht ergänzungsfähige und verbesserungswürdige Betrachtungsweise gewählt.

Gleichwohl gelangt man auf diesem Weg zu dem interessanten und zweifellos diskussionswürdigen Befund, dass die Lage Deutschlands im Vergleich zu den übrigen OECD-Ländern maßgeblich bestimmt wird durch

zu hohen Arbeitsausfall, einen zu starken Einfluss der öffentlichen Hand, zu hohe Arbeitskosten, eine zu geringe Erwerbstätigkeit,

15 Siehe dazu auch Abschnitt 4. 16 Anzumerken ist an dieser Stelle, dass einige Länder in dieser Berechnung nicht berücksichtigt

werden konnten, weil für sie bei einzelnen Variablen keine Ausgangswerte vorlagen.

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236 Werner Voß

zu geringe Zukunftsinvestitionen, einen zu hohen Urbanisierungsgrad.17

Aus diesen Befunden lassen sich – bis auf den wohl kaum zu beeinflussenden Urbanisierungsgrad – politische Programme herleiten, die zu einer Verbesserung der Position Deutschlands im OECD-Vergleich beitragen könnten.

Literatur

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and Social Rigidities, New Haven.

17 Dass in der univariaten Auswertung (siehe Abbildung 3) bei einzelnen der die Faktoren konsti-

tuierenden Variablen für Deutschland Werte ausgewiesen werden, die günstiger liegen als es dem OECD-Durchschnitt entspricht, widerspricht diesen Befunden nicht. Beispielsweise weist Deutschland einen überdurchschnittlichen Wert der Produktivität auf; nichtsdestotrotz würde – ausweislich der Ergebnisse der multiplen Regressionsrechnung – ein noch höherer Produktivi-tätswert das deutlich unterdurchschnittliche Wachstum des deutschen BIP ansteigen lassen.

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Deutschland im OECD-Vergleich 237

Plümper, Thomas, 2003: Die positive Politische Ökonomie demokratisch verfasster Staa-ten. Eine Einführung in Mikrofundierung und Modelle, in: Obinger, Herbert/Wag-schal, Uwe/Kittel, Bernhard (Hrsg.): Politische Ökonomie. Opladen, 9-45.

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Page 233: Einzelinteressen und kollektives Handeln in modernen Demokratien ||

Gemeinwohl – a posteriori oder a priori? 239

Gemeinwohl – a posteriori oder a priori? Ein Blick in die politische Ideengeschichte in pluralistischer Absicht Gemeinwohl – a posteriori oder a priori? Lothar R. Waas1

Dass der Mensch zuerst an sich und erst dann – wenn überhaupt – an die Ge-meinschaft denken könnte, der er als Bürger angehört, ist seit jeher die Sorge politisch denkender Menschen gewesen. Um diese Sorge teilen zu können, muss man politisch allerdings nicht unbedingt so denken, wie man denkt, dass poli-tisch denkende Menschen denken würden. Die Sorge ist selbst dann berechtigt, wenn man unter „Politik“ nicht ein Denken und Handeln im „Interesse der Ge-meinschaft“ versteht, sondern damit ein Denken und Handeln verbindet, bei dem es um Fragen von „Macht“ und „Herrschaft“ geht. Wer politisch in diesem letz-teren Sinne denkt, geht nicht weniger, sondern erst recht davon aus, dass der Mensch zuerst an sich und seine Interessen denken könnte und erst dann – wenn überhaupt – an diejenigen der Gemeinschaft. Er zieht nur eine ganz andere Schlussfolgerung daraus. Statt zu versuchen, das Problem an seinen Wurzeln zu beheben und darauf zu bauen, dass aus Menschen durch Erziehung, durch Ver-nunft, Einsicht und Tugend Bürger werden könnten, die von vorneherein erst an die Gemeinschaft denken und erst dann an sich und ihre Interessen (in diesem Sinne hat Rousseau im ersten Buch seines Émile gemeint, dass Platons Staat kein „politisches Werk“ sei, „wie diejenigen denken, die Bücher nur nach ihren Titeln beurteilen“), hofft er darauf, das Problem allein im Hinblick auf seine Auswir-kungen in den Griff zu bekommen. Wer unter „Politik“ ein Denken und Handeln in den Kategorien von „Macht“ und „Herrschaft“ versteht, glaubt sozusagen, die rohen Kräfte des Menschen selbst zur Problemlösung nutzen zu können, indem er Interessen durch Interessen zu beherrschen sucht und insofern darauf setzt, dass sich Machtstreben am besten durch Machtstreben begegnen lässt. Nur, wie kann man sicher sein, dass der Kampf der Interessen um Einfluss und Macht an seinem Ende jeweils tatsächlich zu Ergebnissen führen wird, die im „Interesse der Gemeinschaft“ sind, ohne vorweg zu wissen, was man unter dem „Interesse der Gemeinschaft“ zu verstehen hat? Kann von einem Gemeinwohl a posteriori

1 Dieser Beitrag verdankt seine Entstehung einer Auseinandersetzung mit Textauszügen, die sich

in dem Bochumer Reader „Interesse und Gemeinwohl: Einführung in die Politikwissenschaft“ finden und die den Verfasser im Rahmen seiner Lehre an der Ruhr-Universität ebenso beschäf-tigt haben wie Ulrich Widmaier, der wesentlich zur Gestaltung und Umsetzung dieses Readers beigetragen hat.

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240 Lothar R. Waas

also die Rede sein, ohne a priori über einen Gemeinwohlbegriff zu verfügen, der sich wie ein Maßstab an die Wirklichkeit anlegen lässt?

In den 1960er Jahren hat Ernst Fraenkel diese Frage in pluralistischer Ab-sicht entschieden bejaht und sich damit vor allem gegen Rousseau gewandt, um auf diese Weise die moderne Demokratie vor dessen Verdikt zu schützen, keine „echte“ Demokratie zu sein. In seinem politiktheoretischen Hauptwerk Du Contract Social (Vom Gesellschaftsvertrag) hatte Rousseau nämlich nicht nur ein entschiedenes Plädoyer für die Demokratie als der einzig rechtmäßigen Staatsform abgegeben, sondern sich gleichzeitig auch gegen die Existenz von „Sonderinteressen“ und deren Organisation in „Teilvereinigungen“ ausgespro-chen (also gegen das, was man heute im weitesten Sinne intermediäre – zwi-schen Staat und Individuum stehende und vermittelnde – Organisationen nennt), da es, wie Fraenkel Rousseau zitiert, „nichts gibt, was gefährlicher ist, als der Einfluß privater Interessen auf die öffentlichen Angelegenheiten.“ Selbst „der Mißbrauch der Gesetze seitens der Regierung“ sei, wie Fraenkel Rousseau weiter wiedergibt, „ein geringeres Übel als die völlige Korrumpierung des Gesetz-gebers, die unvermeidlich ist, wenn Partikularansichten geltend gemacht werden können. Dies bedeutet eine Änderung des Staates in seiner Substanz, die die Möglichkeit einer Reform des Staates ausschließt“ (Fraenkel 1964b: 208; vgl. Rousseau 1762: 72).

1 Gedankliche Parallelen: Rousseau und die Federalist Papers

Natürlich könnte man Fraenkels Versuch, die pluralistische Struktur der moder-nen Demokratie gegen Rousseaus „Anti-Pluralismus“ zu verteidigen, aus mehr als einem Grund für müßig halten. Mit der Rousseau’schen Demokratie (für die Rousseau selbst den Begriff „Republik“ verwandte) ist die moderne Demokratie ja ohnedies schon allein deshalb nicht zu vergleichen, da sie als eine repräsenta-tive Demokratie über Vertretungskörperschaften im Bereich der Gesetzgebung verfügt und bereits damit gegen fast alles verstößt, wogegen man von Rousseaus Demokratietheorie aus nur verstoßen kann. Man muss diesbezüglich nur das 15. Kapitel des 3. Buches des Contract Social lesen, das „Von den Abgeordneten oder Volksvertretern“ handelt und demzufolge „jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst beschlossen hat“, „nichtig“ ist, ja „überhaupt kein Gesetz ist“, da die „Souveränität aus dem gleichen Grund, aus dem sie nicht veräußert werden kann, auch nicht vertreten werden (kann).“ In Rousseaus Augen täuscht sich das „eng-lische Volk“ daher auch, wenn es glaubt frei zu sein: „... es ist nur frei während der Wahl der Parlamentsmitglieder; sobald diese gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts“ (Rousseau 1762: 103). Und ein ähnliches Urteil hätte Rousseau si-

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Gemeinwohl – a posteriori oder a priori? 241

cherlich auch über die Rechtsstaatlichkeit der modernen Demokratie gefällt, hätte er deren Institutionen überhaupt schon gekannt, da die Bindung der staatli-chen Gewalt an die (freiheitlichen) „Menschenrechte“, die auch er für unver-zichtbar hielt (vgl. Rousseau 1762: 11), für ihn wiederum nur mit der konse-quenten Verwirklichung der Demokratie selbst gegeben war (vgl. Rousseau 1762: 22/23) und nicht mit einer davon zu unterscheidenden Berufung auf und Rechtsprechung durch Gerichte, deren Mitglieder ja ihrerseits nur als Repräsen-tanten des Volkes handeln können.

Warum sollte die moderne Demokratie es also nötig haben, sich dafür recht-fertigen zu müssen, dass es in ihr auf der Basis hochgradiger soziale Differenzie-rung eine Vielzahl von „Sonderinteressen“ gibt, die sich in „Teilvereinigungen“ (Vereinen, Verbänden und Parteien) organisiert haben, um Einfluss auf Gesell-schaft, Wirtschaft und Politik zu nehmen, wenn sie mit der Demokratie Rous-seaus nicht einmal in ihren Grundzügen zu vergleichen ist? Muss man die mo-derne Demokratie überhaupt an Rousseaus Demokratietheorie messen, um sie als Demokratie rechtfertigen zu können? Könnte dies nicht sehr viel leichter gesche-hen, indem man beispielsweise die Federalist Papers zu Rate zieht, in deren 9. und 10. Artikel die amerikanischen Verfassungsväter die Gefahren, die von Inte-ressengruppen („factions“) ausgehen können, zwar ebenfalls keineswegs ver-kannten, ja im „Geist der Faktionen“ sogar die „tödliche Krankheit“ sahen, an der in der Antike und frühen Neuzeit die demokratischen Regierungssysteme Griechenlands und Italiens zugrundegegangen seien (Madison 1787: 50), und die trotzdem Argumente dafür hatten, warum eine Demokratie (die sie ihrerseits „Republik“ nannten) geradezu „pluralistisch“ und „repräsentativ“ aufgebaut sein sollte, um ihrem Namen als einer freiheitlichen Verfassung alle Ehre machen zu können?

So naheliegend der Rückgriff auf die Federalist Papers auf den ersten Blick zu sein scheint, so angebracht ist er letztlich dann aber vielleicht doch wieder nicht. Was die moderne Demokratie von der Demokratie unterscheidet, die Ja-mes Madison im 10. Artikel rechtfertigen zu können glaubte, ist ja nicht mehr und nicht weniger, als dass sie mehr oder weniger stark ausgeprägt eine Partei-endemokratie ist und damit zwar „pluralistisch“ und „repräsentativ“, aber nicht so „pluralistisch“ und nicht so „repräsentativ“, wie Madison dies für nötig er-achtete, damit man sicher sein kann, dass es zu keiner Missachtung des „öffentli-chen Wohls und der individuellen Rechte“ durch die „größere Macht einer ei-gensüchtigen und arroganten Mehrheit“ kommen kann (Madison 1787: 51). Ja, man könnte sogar sagen, dass es letztlich gerade die beiden vermeintlichen Heilmittel „Pluralismus“ und „Repräsentation“ waren, mit denen Madison das Übel der Interessengruppen („factions“) in seinen „Auswirkungen“ beherrschen zu können glaubte, um es nicht (durch ein Verbot von Interessengruppen) in

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242 Lothar R. Waas

seinen „Ursachen“ bekämpfen zu müssen (Madison 1787: 51/52 und 54), die dazu führten, dass sich die repräsentative Demokratie über kurz oder lang vor dasselbe Problem gestellt sah, von dem Rousseau im Fall der direkten Demokra-tie ausgegangen war. Denn was sollten politische Parteien anderes als Interes-sengruppen sein, die sich von reinen Interessengruppen dadurch unterscheiden, dass sie nicht nur Einzelinteressen vertreten, sondern deren Einzel- bzw. Grup-peninteressen zu miteinander konkurrierenden Gesamtprogrammen bündeln, um möglichst viele Wähler anzusprechen? Und was sollte die Bildung solcher politi-scher Parteien umso wahrscheinlicher machen, wenn nicht die Tatsache, dass unter den freiheitlichen Vorzeichen des „Pluralismus“ prinzipiell die Möglich-keit dazu besteht?

In einer modernen Demokratie (die Verfasser der Federalist Papers würden sagen: einer „ausgedehnten Republik“) existiert genau jene große Vielfalt von Interessengruppen, die Madison für unerlässlich hielt, um sicherzugehen, dass keine Interessengruppe für sich allein die Mehrheit erlangen kann. Unter dem Vorzeichen der „Repräsentation“ ergibt sich dabei die Notwendigkeit zur Bil-dung von Parteien, die mehr als lose Wahlbündnisse sind, umso eher, wenn die Handlungsfähigkeit der Regierung von der Unterstützung einer stabilen Mehrheit im Parlament abhängt. Daher ist die Parteibindung der Abgeordneten in den modernen Demokratien vom gewaltenverschränkenden Typ des parlamentari-schen Regierungssystems auch sehr viel stärker ausgeprägt als in den gewalten-teilenden Typen des präsidentiellen Regierungssystems (beispielsweise in den USA), wo Parlament und Regierung über eine jeweils eigenständige Legitimie-rung durch den Wähler verfügen (vgl. Lehner/Widmaier 2002: 17, 83ff. und 115ff. Und insofern könnte es auch sein, dass sich insbesondere in den modernen Demokratien vom Typ des parlamentarischen Regierungssystems das Problem, das Interessengruppen für die direkte Demokratie darstellen können, auf die Parteien in dem Maße verschoben hat, wie diese auf Grund ihrer vergleichsweise geringen Zahl die Effekte gleichsam konterkarieren können, die sich Madison sowohl von einer möglichst großen Vielfalt von Interessengruppen („Pluralis-mus“) als auch vom Konzept der „Repräsentation“ versprach.

Um der modernen Demokratie das nachsagen zu können, was Fraenkel de-ren „Strukturdefekte“ nennt und wobei er vor allem an das Phänomen der „Par-teien-“ bzw. der „Kanzlerdemokratie“ im Falle der Bundesrepublik Deutschland oder Großbritanniens denkt (Fraenkel 1964a: 52/53), muss man daher nicht un-bedingt ein Anhänger der Rousseau’schen Demokratietheorie sein. Man kann zu einem solchen Urteil auch vom Standpunkt der Federalist Papers aus gelangen. Das Bild, das sich Madison im 10. Artikel vom Abgeordneten macht, ist jeden-falls vollkommen frei von dem, was die Stellung des Abgeordneten in der mo-dernen (parlamentarischen) Demokratie gänzlich verändert hat und ihn in letzter

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Gemeinwohl – a posteriori oder a priori? 243

Konsequenz zu einem Exponenten einer bzw. seiner Partei werden ließ. Madison geht noch nicht davon aus, dass der einzelne Abgeordnete sein Mandat allein deshalb erhalten könne, weil er einer Partei angehört, von der sich der einzelne Wähler erhofft, dass sie die Wahlen gewinnen möge, weil er sich von ihr, an ihrem Programm gemessen, im Hinblick auf seine Interessen am meisten ver-spricht. Madison spricht vielmehr davon, dass es sich beim einzelnen Abgeord-neten um „eine offene und allseits anerkannte Persönlichkeit“ handeln sollte, die sich „durch herausragende Verdienste“ hervorgetan hat, da „die Delegierung der Herrschaftsgewalt an eine kleine Zahl von den Übrigen gewählter Bürger“ nur in diesem Fall „eine Erweiterung des Horizonts und Differenzierung der öffentli-chen Meinung“ bewirke, die dazu führe, „dass die öffentliche Meinung aus dem Munde der Volksvertreter eher dem öffentlichen Wohl entspricht als aus dem Munde des Volkes, sollte es selbst zu diesem Zweck zusammentreten“ (Madison 1787: 55).

Parlamentswahlen sollten also nach Madisons Ansicht Wahlen von Perso-nen im Sinne eines „freien“ und nicht im Sinne eines „imperativen Mandats“ sein: eines Mandats, bei dem sich der Abgeordnete als ein „Vertreter (der Inter-essen) des ganzen Volkes“ und nicht nur der Interessen seiner Wähler zu verste-hen hat, und der Grund dafür ist, wie gesagt, allein der, dass „die öffentliche Meinung“ nur auf diese Weise „das Medium eines gewählten Gremiums von Bürgern durchläuft, die aufgrund ihrer Kenntnisse und Erfahrungen das wahre Interesse des Landes am besten erkennen können, und deren Patriotismus und Gerechtigkeitsliebe kaum erwarten lassen, dass sie sie momentanen oder parteili-chen Überlegungen opfern werden“ (Madison 1787: 55). Handelt es sich bei Wahlen hingegen nur vordergründig um die Wahl von Personen, tatsächlich aber um Abstimmungen über Parteien bzw. deren Programme, so kommen die ge-wählten Personen im Parlament gerade nicht als Individuen zusammen, die ein-ander stets auf Neue von der sachlichen Richtigkeit ihrer gesetzgeberischen Vor-haben überzeugen müssen, um dafür die jeweils erforderliche parlamentarische Mehrheit zu finden. Ihrer Parteizugehörigkeit gemäß treten die gewählten Perso-nen dann vielmehr in mehr oder weniger geschlossenen Gruppen auf, die sich den Mehrheitsverhältnissen entsprechend von vorneherein als Regierungs- oder als Oppositionspartei(en) verstehen können und im Parlament selbst insofern nur noch in Stimmblöcken offiziell zu beschließen brauchen, was von ihnen anders-wo (in Parteigremien, Fraktionen und Ausschüssen, in der Regierung) beraten und entschieden wurde (vgl. ausführlich dazu auch Schuett-Wetschky 2005). Damit ist im Rahmen einer repräsentativen Demokratie aber genau das nicht mehr ausgeschlossen, was Madison in gleicher Weise wie Rousseau als die Ge-fahr von Interessengruppen („factions“) in einer „reinen (direkten) Demokratie“ ansah: „Wenn eine Faktion zahlenmäßig kleiner als die Mehrheit ist, dann

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schafft das republikanische Prinzip Abhilfe, da es die Mehrheit in Stand setzt, böse Absichten per Abstimmung zu Fall zu bringen. (...) Wenn die Mehrheit jedoch Teil einer Faktion ist, dann ermöglicht die Form eines demokratischen Regierungssystems es dieser Faktion, das öffentliche Wohl und die Rechte ande-rer Bürger ihrer Leidenschaft oder ihrem Interesse zu opfern“ (Madison 1787: 54).

Wollte man das bislang Gesagte noch einmal mit Rousseaus Worten zu-sammenfassen, so könnte man daher jetzt auf eine Passage zurückgreifen, die sich im 3. Kapitel des 2. Buches des Contract Social findet. Die gedankliche Parallele, die hier zum 10. Artikel der Federalist Papers besteht, ließe sich dabei dadurch zum Ausdruck bringen, dass man dem Zitat in Klammern diejenigen Begriffe hinzufügt, die in der Passage stehen müssten, wenn es in ihr nicht um die direkte Demokratie ginge, sondern um die repräsentative Demokratie, die Madison im Auge hatte. Die Passage lautet bzw. müsste lauten: „Wenn die Bür-ger (Abgeordneten) keinerlei Verbindung untereinander hätten, würde, wenn das Volk (Parlament) wohlunterrichtet entscheidet, aus der großen Zahl der kleinen Unterschiede immer der Gemeinwille (das öffentliche Wohl) hervorgehen, und die Entscheidung wäre immer gut. Aber wenn Parteiungen (Parteien) entstehen, Teilvereinigungen auf Kosten der großen, wird der Wille jeder dieser Vereini-gungen (Parteien) ein allgemeiner hinsichtlich seiner Glieder und ein besonderer hinsichtlich des Staates; man kann dann sagen, daß es nicht mehr so viele Stim-men gibt, wie Menschen (Abgeordnete), sondern nur noch so viele wie Vereini-gungen (Parteien bzw. Fraktionen). Die Unterschiede werden weniger zahlreich und bringen ein weniger allgemeines Ergebnis. Wenn schließlich eine dieser Vereinigungen (Parteien bzw. Fraktionen) so groß ist, daß sie stärker ist als alle anderen, erhält man als Ergebnis nicht mehr die Summe der kleinen Unter-schiede, sondern einen einzigen Unterschied; jetzt gibt es keinen Gemeinwillen (das öffentliche Wohl bzw. wahre Interesse des Landes) mehr, und die Ansicht, die siegt, ist nur eine Sonderanschauung (diejenige der Mehrheitsfraktion bzw. Regierungspartei)“ (Rousseau 1762: 31).

Spätestens an dieser Stelle ist es dann aber auch angebracht, darauf hinzu-weisen, dass Rousseau mit Fraenkel nicht nur als ein „Anti-Pluralist“ – ein Geg-ner von „Sonderinteressen“ und ihrer Organisation in „Teilvereinigungen“ – verstanden werden kann, sondern sich ebenso gut auch für den „Pluralismus“ in Anspruch nehmen lässt. Unmittelbar im Anschluss an die soeben zitierte Passage fährt Rousseau nämlich nicht nur fort: „Um wirklich die Aussage des Gemein-willens zu bekommen, ist es deshalb wichtig, daß es im Staat keine Teilgesell-schaften gibt und daß jeder Bürger seine eigene Meinung vertritt ...“, sondern fügt dem noch hinzu: „Wenn es aber Teilgesellschaften gibt, ist es wichtig, ihre Zahl zu vervielfachen und ihrer Ungleichheit vorzubeugen, ... Diese Vorsichts-

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maßregeln sind die einzig richtigen, damit der Gemeinwille immer aufgeklärt sei und das Volk sich nicht täusche“ (Rousseau 1762: 31/32).

2 Fraenkels alternative Begründung moderner Demokratie

Ernst Fraenkel hat bekanntlich gemeint, dass sich dem Problem, dass die mo-derne Demokratie als eine Parteiendemokratie keine „echte“ Demokratie sein könnte, dadurch entkommen ließe, dass man sich nicht nur dessen vergewissert, welche Demokratietheorie hinter dieser Ansicht steht, sondern zugleich bewusst macht, dass man diesbezüglich auch einen ganz anderen demokratietheoretischen Standpunkt einnehmen könnte. Der „Klassischen Theorie der Demokratie“, die er vor allem mit dem Namen Rousseau verbindet, hat er daher die „Konkurrenz-theorie der Demokratie“ gegenübergestellt, als deren Vertreter er Joseph A. Schumpeter nennt, dessen Position er in der Tradition des „englischen Verfas-sungswesens“ aber generell ebenso verkörpert findet wie Rousseaus Theorie seiner Meinung nach seit der Französischen Revolution für die „französische Verfassungsideologie“ bestimmend wurde (Fraenkel 1964a: 58-59). Vom „kon-kurrenztheoretischen“ Standpunkt aus ist unter einer Demokratie jedenfalls nichts anderes als diejenige „Ordnung der Institutionen zu Erreichung politischer Entscheidungen“ zu verstehen, „bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erwerben“, während es sich bei der Demokratie vom „klassischen“ Standpunkt aus um „eine institutionelle Ordnung zur Erreichung politischer Entscheidungen“ handelt, „die das Gemeinwohl dadurch verwirklicht, dass sie das Volk selbst die Streitfragen entscheiden läßt, und zwar durch die Wahl von Personen, die zusammenzutreten haben, um seinen Willen auszuführen“ (Fraenkel 1964a: 58; vgl. Schumpeter 1950: 397 und 428).

Was die eine Theorie von der anderen unterscheidet, hat also auch in die-sem Fall nicht unbedingt etwas mit dem Unterschied zwischen einer repräsenta-tiven und einer direkten Demokratie zu tun. Beide Definitionen gehen eindeutig sogar davon aus, dass die Gesetzgebung (das Recht zur „politischen Entschei-dung“) nicht beim Volk selbst liegt, sondern durch „Einzelne“ bzw. „Personen“ erfolgt, die die Befugnis dazu „durch Konkurrenzkampf um die Stimmen des Volkes“ erworben haben bzw. aufgrund ihrer „Wahl“ durch das Volk. Der ein-zige Unterschied ist der, dass es im Falle der „Klassischen Theorie“ heißt, die gewählten „Personen“ hätten zusammenzutreten, um den „Willen des Volkes“ auszuführen (dadurch würde das „Gemeinwohl“ verwirklicht), während im Hin-blick auf die „Konkurrenztheorie“ davon keine Rede ist. Geht es im letzteren

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Fall also gar nicht mehr darum, das „Gemeinwohl“ zu verwirklichen, indem man danach trachtet, den „Willen des Volkes“ auszuführen?

Fraenkel hat diesen Schluss nicht gezogen, obwohl er gar nicht so fern ge-legen hätte, wenn man bedenkt, dass für Schumpeter die Bedeutung der „Kon-kurrenztheorie der Demokratie“ gerade in der Preisgabe der Begriffe „Gemein-wohl“ und „Wille des Volkes“ lag (Schumpeter 1950: 397). Fraenkel hat es stattdessen vorgezogen, zwischen einem „Volkswillen“ zu unterscheiden, den es im einen Fall als einen „vorgegebenen“ ausfindig zu machen gelte, und einem „Volkswillen“, der im anderen Fall „nachträglich“ zu bilden sei (Fraenkel 1964a: 57), und er hat beides kurze Zeit später auf die Formel vom „Gemein-wohl a priori“ und „Gemeinwohl a posteriori“ gebracht (Fraenkel 1964b: 197, 200 und 220), mit der er geradezu in die politische Ideengeschichte eingegangen ist, auch wenn diese Begrifflichkeit keineswegs so leicht verständlich ist, wie dies ihr nahezu zur Selbstverständlichkeit gewordener Gebrauch nahelegt (Schultze 1995: 137; Buchstein/Göhler 2005: 160).

Es ist ja nicht so, dass im Falle einer Demokratie, die den Maßstäben der „Klassischen Theorie“ genügen würde, von einem „Gemeinwohl a priori“ in dem Sinne die Rede sein könnte, dass es hier erst gar keines politischen Willens-bildungs- und Entscheidungsfindungsprozesses bedürfte, um das „Gemeinwohl“ als ein solches zu erkennen. Wenn das „Gemeinwohl“ in der Verwirklichung des „Volkswillens“ besteht, wie es in der oben zitierten Definition heißt, dann folgt schon allein aus dieser Definition, dass man immer erst dann wissen kann, wor-um es sich beim „Gemeinwohl“ handelt, wenn man in Erfahrung gebracht hat, was der „Wille des Volkes“ ist. Um zu wissen, was der „Wille des Volkes“ ist, kommt man in Rousseaus direkter Demokratie aber ebenso wenig wie in der repräsentativen Demokratie der Federalist Papers umhin, erst einmal das Ergeb-nis jener (parlamentarischen) Beratungen und Diskussionen abzuwarten, zu de-nen entweder das Volk zusammenkommt, um selbst über Sachfragen abzustim-men, oder zu denen diejenigen Personen (Abgeordneten) zusammenkommen, die das Volk zu diesem Zweck gewählt hat. Wäre der Begriff des „Gemeinwohls a priori“ hingegen so zu verstehen, dass es sich dabei um ein „a priori vorgegebe-nes Gemeinwohl“ (Fraenkel 1964b: 220) handeln würde – eine „vorgegebene Größe“ (Schultze 1995: 139) also, die einem Wissen gleichkommt, das „vorge-geben, absolut gültig und objektiv erkennbar“ ist (Fraenkel 1991: 330) –, dann benötigte man gar kein Gesetzgebungsverfahren und keine Legitimation dazu, da es auf diese Weise dann nichts in Erfahrung zu bringen gäbe, das man nicht schon vor aller Erfahrung (also ohne jeden Willensbildungs- und Entscheidungs-findungsprozess) wissen könnte.

Rousseau hat im Contract Social zwar in der Tat nicht ausgeschlossen, dass es einen „Zustand“ geben könnte, in dem sich die Menschen so einig sind, dass

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„das Gemeinwohl (bien public) immer offenbar (ist), und man nur gesunden Menschenverstand (braucht), um es wahrzunehmen“ (Rousseau 1762: 112). Aber er hätte auf das 1. Kapitel des 4. Buches, in dem davon die Rede ist, weder das Kapitel folgen lassen müssen, das „Von den Abstimmungen“ handelt, noch hätte er im 3. Kapitel des 2. Buches zwischen zwei Arten von „Volkswillen“ unterscheiden dürfen: dem wahren „Volkswillen“, den er „Gemeinwillen“ (vo-lonté générale) nennt, und dem falschen „Volkswillen“, den er „Gesamtwillen“ (volonté de tous) nennt, wenn er nicht überzeugt davon gewesen wäre, dass „Einstimmigkeit“ nicht unbedingt ein Indiz dafür ist, dass der „Gemeinwille“ vorherrscht, ja dass der „Gemeinwille“ sehr wohl auch in der „Stimme der Mehrzahl“ (im Mehrheitswillen) zum Ausdruck kommen kann (Rousseau 1762: 114 und 116). Wie sich im Falle der „Einstimmigkeit“ der „Gesamtwille“ vom „Gemeinwillen“ dadurch unterscheidet, dass nur „dieser auf das Gemeininteresse (sieht), jener (aber) auf das Privatinteresse und (insofern) nichts anderes als eine Summe von Sonderwillen (ist)“ (Rousseau 1762: 31), so setzt Rousseau zufolge allerdings auch die Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip voraus, dass „alle Kennzeichen des Gemeinwillens noch bei der Mehrheit“ in dem Sinne sind, wie er dies – und hier verweist er selbst nach „oben“ (Rousseau 1762: 117) – bereits in der zuletzt zitierten Passage aus dem 3. Kapitel des 2. Buches dargelegt hat (s. Rousseau 1762: 31/32 und oben das Ende von Abschnitt I).

Was Rousseau zufolge immer offenbar ist, ist also nicht das „Gemeinwohl“ und nicht der „Gemeinwille“, sondern einzig und allein die Richtigkeit der An-nahme, dass es sich beim „Gesamtwillen“ wie beim „Mehrheitswillen“ nur dann um den wahren „Volkswillen“ („Gemeinwillen“) handeln kann, wenn eine der folgenden beiden Voraussetzungen erfüllt ist: Es darf im Staat entweder keine „Teilvereinigungen“ geben oder es muss ihrer möglichst viele geben – man muss sie gegebenenfalls zu „vervielfachen“ suchen –, um ihrer „Ungleichheit“ vor-beugen zu können.

Genau dieses Apriori ist in der modernen Demokratie in dem Maße, wie sie eine Parteiendemokratie ist, nun aber ganz offensichtlich weder in der einen noch in der anderen Hinsicht erfüllt, und seine Erfüllung scheint auch nicht nur unrea-listisch zu sein (wie sollte eine moderne Demokratie ohne Parteien funktionie-ren?), sondern auch kaum wünschenswert, wenn man bedenkt, wie weit verbrei-tet politische Instabilität überall dort war und ist (Stichwort: Weimarer Republik, Italien), wo es zumindest „möglichst viele“ Parteien gab oder gibt. Um die Par-teiendemokratie gleichwohl als eine „echte“ Demokratie erweisen zu können, muss man daher entweder tatsächlich nach einer Alternative zur „Klassischen Theorie der Demokratie“ suchen oder aber man muss versuchen, in der moder-nen Demokratie eine moderne Erscheinungsform der „Klassischen Theorie der Demokratie“ zu sehen. Es könnte ja beispielsweise sein, dass die Logik des

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Rousseau’schen Aprioris auf die Parteien umso weniger anwendbar ist, wie es von ihnen in einem Staat ganz wenige gibt, da sog. „Volksparteien“ eine mög-lichst große Vielzahl von Einzel- bzw. Gruppeninteressen zu miteinander kon-kurrierenden Gesamtprogrammen bündeln müssen, um möglichst viele Wähler (im Idealfall alle!?) ansprechen zu können.

Gerhard Leibholz ist mit seiner Lehre vom Parteienstaat diesen letzteren Weg gegangen, indem er unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Rousseau von der modernen Demokratie als einer „rationalisierten Erscheinungsform der ple-biszitären Demokratie“ sprach: einem „Surrogat der direkten Demokratie im modernen Flächenstaat“ (Leibholz 1952: 93/94). Die Tatsache, dass sich der Abgeordnete in der Parteiendemokratie nur noch de jure als ein „Vertreter (der Interessen) des ganzen Volkes“ verstehen kann, de facto aber an „Aufträge und Weisungen“ insofern gebunden ist, als er „einer Fülle von parteimäßigen Bin-dungen unterworfen ist, die entscheidend seine Rede und Abstimmung bei der Beratung und Beschlußfassung im Parlament beeinflussen“ (Leibholz 1952: 97), stellte für Leibholz keinen Hinderungsgrund dar, den „Willen der jeweiligen Parteienmehrheit in Regierung und Parlament mit der ‚volonté générale‘“ (Leib-holz 1952: 94) zu identifizieren. Als die notwendige Voraussetzung dafür sah er allerdings die Gewährleistung des Rousseau’schen Aprioris in dem Sinne an, dass der Abgeordnete seinen individuellen Willen als Parteimitglied in der in-nerparteilichen Willensbildung geltend machen kann, da sich nur auf diese Wei-se verhindern lasse, dass „die Parteien in der Demokratie zum Selbstzweck und damit zu Fremdkörpern mit eigenen selbständigen Zielen und Interessen inner-halb des Volksganzen und so zu einem Staat im Staate werden.“ Ohne eine Stär-kung der innerparteilichen Demokratie sei nämlich nicht „zu vermeiden, dass die zahlenmäßig kleinen, innerparteilich-oligarchischen Führungsgremien mit Hilfe des Parteiapparates und der Parteibürokratie unter Verwendung der modernen Organisationstechnik ihren Willen dem Willen der Parteibürger entgegensetzen und ihn den letzteren und schließlich dem ganzen Volke auferlegen“ (Leibholz 1952: 124).

Fraenkel vermochte sich dieser „Version“ der „Klassischen Theorie der Demokratie“ allerdings nicht anzuschließen, da er es für „unrealistisch“ hielt, dass „innerhalb der Parteien ein einheitlicher Wille der Parteimitgliedschaften existiere und daß es daher möglich sei, zur Herrschaft der volonté générale da-durch zu gelangen, dass man den Willen der Mitglieder der Mehrheitspartei mit dem Volkswillen identifiziert“ (Fraenkel 1964a: 63). Und obwohl eigentlich un-klar bleibt, wie stichhaltig dieses Argument letztlich tatsächlich ist (auch Leib-holz war sich dessen bewusst, dass „das geschlossene Handeln einer politischen Partei nur erzielt werden (kann), wenn es dort verbürgt ist, wo es in Erscheinung zu treten hat: im Parlament“) (Fraenkel 1964a: 64), hat die Tatsache, dass Fraen-

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kel die Leibholz’sche „Lehre vom ‚Parteienstaat‘“ für ungeeignet hielt, „zur Fällung der Entscheidung beizutragen“, ob die moderne Demokratie „den An-sprüchen einer echten Demokratie entspricht“ (Fraenkel 1964a: 63), sicherlich erst recht dazu geführt, dass er die Lösung des Problems nur in einer Alternative zur „Klassischen Theorie der Demokratie“ zu finden können glaubte. Worin der Beweis der „Echtheit“ in diesem Fall besteht, ist hier aber nach wie vor schon allein deshalb unklar, da immer noch nicht klar ist, was den Begriff des „Ge-meinwohls a posteriori“ vom Begriff des „Gemeinwohls a priori“ unterscheidet, wenn es sich, wie dargelegt, auch im letzteren Fall um keine Größe handeln kann, von der man bereits vor jedem Gesetzgebungsverfahren weiß. Fraenkel selbst spricht davon, dass es den „vorgegebenen Volkswillen“ immer erst noch „in parlamentarischen Diskussionen“ „ausfindig zu machen“ gelte, „um ihn als-dann in Gesetzesform festzulegen und der sogenannten Exekutive zur Vollzie-hung zu überantworten“ (Fraenkel 1964a: 57). In Wahrheit ist also nicht der „Volkswille“ vorgegeben (auch von einem „vorgegebenen Volkswillen“ zu spre-chen, ist so gesehen irreführend), sondern die Bedingung – das Apriori eben –, unter der man davon ausgehen kann, dass der „Volkswille“ (sei es der Wille der Mehrheit, sei es der Wille aller) der „Gemeinwille“ ist. Dann und nur dann stellt die Verwirklichung dieses Willens nämlich das „Gemeinwohl“ dar, anderenfalls handelt es sich lediglich um das Wohl der Mehrheit oder um das, was Rousseau in diesem Fall zur „Einstimmigkeit“ sagt und Fraenkel im Hinblick auf die mo-nopolistischen Staatsparteien der sog. (sozialistischen) „Volksdemokratien“ als totalitäre Herrschaft gebrandmarkt hat (Fraenkel 1964b: 198/199). Rousseau schreibt: „... wenn die in Knechtschaft geratenen Bürger keine Freiheit und kei-nen Willen mehr haben, dann verwandeln Furcht und Schmeichelei die Abstim-mungen in Beifallskundgebungen; man entscheidet nicht mehr, man betet an oder verflucht“ (Rousseau 1762: 115). In Rousseau wegen seines Aprioris einen Vordenker des Totalitarismus zu vermuten (auch in dieser Hinsicht hat Fraenkel aus seiner Abneigung gegen Rousseau ja kein Hehl gemacht), dürfte daher nicht weniger eine Folge mangelnder begrifflicher Differenzierung sein, wie die vor-schnelle Neigung, im Begriff vom „Gemeinwohl a posteriori“ das Zauberwort zu sehen, das aus der modernen Demokratie trotz ihrer „Strukturdefekte“ gleich-sam im Handumdrehen eine „echte“ Demokratie machen kann.

So missverständlich wie der Begriff des „Gemeinwohls a priori“ ist, so we-nig hilfreich ist schließlich auch die nicht minder gern zitierte Fraenkel’sche Definition vom „Gemeinwohl a posteriori“ als der „Resultante (...), die sich jeweils aus dem Parallelogramm der ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Kräfte einer Nation dann ergibt, wenn ein Ausgleich angestrebt und erreicht wird, der objektiv den Mindestanforderungen einer gerechten Sozi-alordnung entspricht und subjektiv von keiner maßgeblichen Gruppe als Verge-

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waltigung empfunden wird“ (Fraenkel 1991: 34 und 273; vgl. auch Schultze 1995: 139 und Fraenkel 1964b: 200 und 220). Diese Definition legt im Umkehr-schluss nämlich nicht nur ihrerseits nahe, dass es sich beim „Gemeinwohl a priori“ keinesfalls um eine „Resultante“ (d. h. das Ergebnis von verschieden gerichteten „Kräften“) handeln kann, die erst durch Beratung und Abstimmung zu ermitteln wäre, sondern geht unter der Hand sogar selbst von einem Aprioriaus, indem sie davon spricht, dass von der „Resultante“ als einem „Gemeinwohl a posteriori“ nur dann die Rede sein könne, wenn sie einem „Ausgleich“ der „Kräfte“ gleichkäme, der „objektiv den Mindestanforderungen einer gerechten Sozialordnung entspricht und subjektiv von keiner maßgeblichen Gruppe als Vergewaltigung empfunden wird.“

Zweifellos ist mit diesem Apriori alles das gemeint, was die moderne De-mokratie zu einem Rechtsstaat macht und den Schutz der Minderheit vor der Mehrheit dadurch garantieren soll, dass die staatliche Gewalt (Legislative, Exe-kutive und Judikative) an die Grund- bzw. Menschenrechte als „unmittelbar geltendes Recht gebunden“ ist, wie es beispielsweise in Art. 1 Abs. 3 des Grund-gesetzes der Bundesrepublik Deutschland heißt. Fraenkel selbst hat dies dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er von einem „consensus omnium“ (einem „gene-rell als gültig akzeptierten Wertkodex“) spricht, der zur modernen Demokratie in Gestalt des „Prinzips der Gleichheit vor dem Gesetz“, der „Geltung der traditio-nellen fundamentalen Freiheitsrechte“ und der „Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Unparteilichkeit der Justiz“ genauso gehört wie die „Unterwerfung unter das Prinzip der Mehrheitsentscheidung“ (Fraenkel 1964a: 49). Was durch diese rechtsstaatlichen Elemente der modernen Demokratie ga-rantiert werden soll, ist gleichwohl nicht anderes als das, was durch die „Unter-werfung unter das Prinzip der Mehrheitsentscheidung“ nur dann gefährdet ist, wenn der Mehrheitswille für sich nicht in Anspruch nehmen kann, im Sinne des Rousseau’schen Aprioris der wahre „Volkswille“ („Gemeinwille“) zu sein, und es insofern – um mit Madison zu sprechen – durch die „größere Macht einer eigensüchtigen und arroganten Mehrheit“ zur Missachtung des „öffentlichen Wohls und der individuellen Rechte“ kommt (Madison 1787: 51). Mit anderen Worten: Die rechtsstaatlichen Elemente der modernen Demokratie sind dazu da, die Gefahren zu kompensieren, die von der modernen Demokratie als einer Par-teiendemokratie in dem Maße ausgehen können, wie diese im Rahmen der ge-setzgebenden Macht nicht den Anforderungen des Rousseau’schen Apriorisgenügt, und dieser „Ausgleich“ – und das ist nun bemerkenswert – kann letztlich wiederum nur dadurch geschehen, dass man in der modernen Demokratie zu-mindest im Bereich der Rechtsprechung auf die Unverbrüchlichkeit des Rous-seau’schen Aprioris in besonderer Weise achtet. Denn wie anders kann die Un- bzw. Überparteilichkeit der Justiz sichergestellt werden, wenn nicht dadurch,

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dass der parteipolitische Einfluss, der sich über die Legislative und Exekutive gerade bei der Berufung der Richter zu den höchsten Gerichten geltend machen kann, so gut wie möglich unterbunden oder aber durch Auswahlverfahren so geregelt wird, dass es unter den Richtern von vorneherein zu einer Zusammen-setzung kommt, die parteipolitisch wie weltanschaulich ausgewogenen ist? Und was heißt das anderes, als dafür Sorge zu tragen, dass es in einem Richter-gremium entweder keine „Teilvereinigungen“ gibt oder ihrer „möglichst viele“ geben muss, damit sich keine „Teilvereinigung“ allein deshalb durchsetzen kann und durchsetzen wird, weil sie sich im Vergleich mit den anderen rein zahlen-mäßig von vorneherein in der vorteilhafteren Position (d. h. in der Mehrheit) befindet?

Um in dem sog. „letzten Wort“, das die höchsten Gerichte (Bundesverfas-sungsgericht, Supreme Court) in einer modernen Demokratie haben und das sie „Im Namen des Volkes“ verkünden, den wahren „Volkswillen“ („Gemeinwil-len“) erkennen zu können, bedarf es also gar keines anderen Aprioris als des Rousseau’schen, und insofern könnte es gut sein, dass zwischen den Begriffen des „Gemeinwohls a posteriori“ und des „Gemeinwohls a priori“ ein Unter-schied allenfalls in der Hinsicht besteht, dass sich der wahre „Volkswille“ („Ge-meinwille“) im Falle der direkten und der repräsentativen Demokratie bereitsdann in Erfahrung bringen lässt, wenn das Rousseau’sche Apriori auf die Legis-lative (die Rousseau’schen „Bürger“ bzw. die Abgeordneten im Sinne Madisons) zutrifft, während man bei der modernen Demokratie vom wahren „Volkswillen“ („Gemeinwillen“) erst dann wissen kann, wenn die Gesetze, die die Legislative beschlossen hat, nachträglich nicht noch einmal zurückgenommen werden müs-sen, weil sie als „verfassungswidrig“ unter Bedingungen eingeschätzt werden, die von einer Erfüllung des Rousseau’schen Aprioris zumindest im Bereich der Judikative sprechen lassen.

Diese Vermutung, die die Fraenkel’sche Definition vom „Gemeinwohl a posteriori“ im Hinblick auf die rechtsstaatliche Dimension der modernen Demo-kratie nahelegt, scheint sich vollends auch in anderer Hinsicht zu bestätigen, wenn man jetzt noch einmal auf die bereits erwähnte Formulierung zurück-kommt, in der Fraenkel dem „Volkswillen“, den es als einen „vorgegebenen“ausfindig zu machen gilt, einen „Volkswillen“ entgegensetzt, der „nachträglich“zu bilden sei (Fraenkel 1964a: 57). Diese Unterscheidung trifft Fraenkel nämlich im Kontext einer Passage, in der er davon spricht, dass in einer Parteiendemo-kratie die Parlamentsdebatten zwar Debatten wären, „bei denen die Argumente der Diskussionsredner vorher bekannt und die Ergebnisse der Abstimmung nicht zweifelhaft sind“, dass diese Debatten aber trotzdem eine „bedeutsame politische Funktion“ hätten, da die Aufgabe der Abgeordneten in einer Parteiendemokratie gar nicht die sei, durch Beratung und Abstimmung einen „vorgegebenen Volks-

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willen ausfindig zu machen“, sondern vielmehr allein die, dem Volk durch „die Gegenüberstellung der von der Regierung beschlossenen Lösungen mit den von der Opposition angeregten Alternativlösungen“ die Gelegenheit zur „nachträgli-chen Bildung eines Volkswillens“ zu geben. Da es für ein Volk als Ganzes leich-ter wäre, „erfolgte Lösungen politischer Probleme zu billigen oder zu verwerfen“ als Lösungen selber zu entwerfen („zu konzipieren“ und „zu einem politischen Gesamtprogramm zu koordinieren“), könne das Volk sozusagen erst „bei der nächsten Wahl“ mit Kompetenz darüber entscheiden, ob es „bereit ist, entweder durch Wahl der Kandidaten der Mehrheitspartei dem Begehren des Regierungs-chefs zur Approbation oder durch Wahl der Kandidaten der Minderheitspartei dem Begehren des Oppositionschefs zur Reprobation der bisher verfolgten Poli-tik Folge zu leisten“ (Fraenkel 1964a: 57).

Wenn sich auf diese Weise nun vollends zu bestätigen scheint, dass mit dem, was den Begriff des „Gemeinwohls a priori“ vom Begriff des „Gemein-wohls a posteriori“ unterscheidet, nichts anderes gemeint sein kann als der Un-terschied, der zwischen einer Bildung des „Volkswillens“ durch die Legislative und einer Bildung des „Volkswillens“ im Nachgang zur Legislative besteht, dann fragt sich allerdings, ob bei dem gleichsam plebiszitären Wahlakt, mit dem das Volk am Ende jeder Legislaturperiode über die „bisher verfolgte Politik“ der Parteien abstimmt, von einem Rousseau’schen Apriori nicht ebenso ausgegangen werden muss, wie dies bei der rechtsstaatlichen Dimension der modernen Demo-kratie in Gestalt der Un- bzw. Überparteilichkeit der Justiz vorausgesetzt wird. Denn eines ist klar: Sollte dies nicht der Fall sein, dann kann es sich beim Mehr-heitswillen der Wähler nicht um den „Volkswillen“ im Sinne des „Gemeinwil-lens“ handeln und bei der Exekution oder Revision der „bisher verfolgten Poli-tik“ infolgedessen auch nicht um das „nachträglich“ festgestellte „Gemein-wohl“, sondern allenfalls um das Mehrheitswohl.

Das Problem, auf das jetzt angespielt wird, ist natürlich jetzt erst recht kein anderes mehr als das, vor dem Rousseau stand, da es sich auch bei dem, was Fraenkel unter der „nachträglichen Bildung eines Volkswillens“ versteht, letzt-lich um nichts anderes als den Versuch handeln kann, in der modernen Demo-kratie ähnlich wie Leibholz eine „rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitä-ren Demokratie“ zu sehen: „ein Surrogat der direkten Demokratie im modernen Flächenstaat“. Fraenkel selbst schreibt, dass „eine Parlamentswahl, die nicht zugleich eine Fortsetzung einer Parlamentsdebatte ‚mit anderen Mitteln‘“ sei, ihren Zweck verfehle, „die Repräsentativverfassung mit jenem guten Schuß plebiszitären Öls zu salben, ohne die sie rostig wird“ (Fraenkel 1964a: 65/66). So wie Rousseau in der direkten Demokratie das „Gemeinwohl“ durch „Sonderin-teressen“ immer dann gefährdet sah, wenn es zu ihrer Organisation in „Teilver-einigungen“ kommt oder derer nicht „möglichst viele“ sind, um eine von vorne-

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herein bestehende (zahlenmäßige) Dominanz an „Sonderinteressen“ auszuschlie-ßen – wenn Mehrheiten sozusagen nicht gebildet werden müssen, sondern ohne-dies bestehen –, so kann in einer modernen Demokratie von einem „Gemein-wohl“ im Zuge der „nachträglichen Bildung eines Volkswillens“ also nur dann die Rede sein, wenn es entweder „keine“ oder „möglichst viele“ Interessengrup-pen (Verbände) gibt, die auf den Wähler und dessen Wahlentscheidung Einfluss nehmen. Genau das letztere aber ist die Forderung, die Fraenkel zu einem der entschiedensten Fürsprecher des Pluralismus gemacht hat und die ihn davon sprechen lässt, dass es zu „echten politischen Entscheidungen anläßlich der poli-tischen Wahlen“ nur dann kommen kann, wenn die „Lösung und Alternativ-lösungen akuter ökonomischer, sozialer und politischer Probleme von tunlichst vielen Gruppen konzipiert, diskutiert und propagiert, von den Parteien zu ein-heitlichen Programmen kombiniert und von den Fraktionen so zugespitzt worden sind, dass sie bei der Wahl maßgeblich mit berücksichtigt werden können.“ Alles andere wäre, so Fraenkel, die Folge einer nicht „richtig verstandenen Konkur-renztheorie der Demokratie“ – eine Folge dessen, dass Wahlen zu einer Art „beauty contest“ unter ihren Spitzenkandidaten verkommen, bei denen es zu keinen „echten politischen Entscheidungen“ deshalb kommen kann, weil die „Frontstellungen der Fraktionen nicht genügend profiliert sind“ und „in den Parlamentsdebatten die zwischen Regierung und Opposition bestehenden Kon-troversen nicht ausreichend klar hervortreten ...“ (Fraenkel 1964a: 66/67).

Wenn dem so ist, um was anderes sollte es sich bei der „recht verstandenen Konkurrenztheorie der Demokratie“ aber dann handeln, wenn nicht um Rous-seaus „Klassische Theorie der Demokratie“ in einem abermals neuem Gewand – einer Version dieser Theorie, die dem Strukturwandel von der repräsentativen Demokratie zur Parteiendemokratie ebenso gerecht zu werden versucht, wie Madison im 10. Artikel der Federalist Papers den Wandel von der direkten De-mokratie zur repräsentativen Demokratie zu rechtfertigen suchte?

3 Vom eigentlichen Unterschied zweier Theorien der Demokratie

Bedenkt man es recht, dann hat Ernst Fraenkels Versuch, die moderne Demo-kratie trotz ihrer „Strukturdefekte“ als eine „echte“ Demokratie zu erweisen, weitaus mehr mit der „Klassischen Theorie der Demokratie“ zu tun, als ihm selbst bewusst gewesen ist. Nicht im Gegensatz zwischen einem „Gemeinwohl a posteriori“ und einem „Gemeinwohl a priori“ dürfte der Unterschied zwischen der „Konkurrenztheorie“ und der „Klassischen Theorie“ in Wahrheit dann beste-hen, sondern in dem, was man unter einer formalen und einer substantiellenBegründung des Mehrheitswillens als des „Volkswillens“ verstehen kann.

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In einem rein formalen Sinne ist der Mehrheitswille immer dann der „Volkswil-le“, wenn das Volk (d. h. jeder Einzelne) Abstimmungen nach dem Mehrheits-prinzip als für sich verbindlich anerkennt. In diesem Sinne, so sagt auch Rous-seau, „(beruht) das Gesetz der Stimmenmehrheit selbst auf Übereinkunft und setzt zumindest einmal Einstimmigkeit voraus“ (Rousseau 1762: 16). In einem substantiellen Sinne hingegen ist der Mehrheitswille nur dann der „Volkswille“, wenn die Mehrheit auch inhaltlich für sich in Anspruch zu nehmen vermag, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. In diesem Sinne heißt es bei Rous-seau: „Wenn also die meiner Meinung entgegengesetzte siegt, beweist dies nichts anderes, als dass ich mich getäuscht habe und dass das, was ich für den Gemeinwillen hielt, es nicht war. Wenn mein Sonderwille gesiegt hätte, hätte ich gegen meinen eigenen Willen gehandelt und wäre deshalb nicht frei gewesen“ (Rousseau 1762: 117). Mit dieser Begründung des Mehrheitswillens als des wahren „Volkswillens“ (des „Gemeinwillens“) steht Rousseau in der politischen Ideengeschichte allerdings nicht nur weitgehend allein (einige vorsichtig abwä-gende Überlegungen dazu, dass die Wahrheit bei der Mehrheit liegen könnte, finden sich zum Beispiel noch im 11. Kapitel des 3. Buches der Politik des Aris-toteles); diese Begründung hat einzig und allein auch damit zu tun, dass es Rous-seau damit um die Lösung des Problems ging, wie „Andersdenkende zugleich frei und Gesetzen unterworfen sein (können), denen sie nicht zugestimmt haben“ (Rousseau 1762: 116). Erst die Lösung dieses Problems macht für ihn ja die Demokratie (die „Republik“, wie er sie nennt) zu dem, was sie seines Erachtens sein muss, um eine echte Demokratie zu sein: eine „Form des Zusammenschlus-ses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor“ (Rousseau 1762: 17).

Eine solche „Form des Zusammenschlusses“ zu finden, hatte sich Rousseau in seinem Contract Social zur Aufgabe gemacht, und eine solche „Form des Zusammenschlusses“ glaubte er auch dann vorfinden zu können, wenn entweder der Wille aller der „Gemeinwille“ (nicht aber der „Gesamtwille“) ist oder „alle Kennzeichen des Gemeinwillens noch bei der Mehrheit“ insofern sind, als es im Staat entweder keine „Teilvereinigungen“ gibt oder es ihrer „möglichst viele“ sind. Nur unter dieser Voraussetzung (diesem Apriori), um es noch einmal zu wiederholen, kann man – das ist Rousseaus Überzeugung im 3. Kapitel des 2. Buches des Contract Social ebenso wie diejenige von James Madison im 10. Artikel der Federalist Papers – sichergehen, dass sich kein Einzel- bzw. Grup-peninteresse politisch allein deshalb durchsetzen kann und durchsetzen wird, weil es sich im Vergleich mit den anderen rein zahlenmäßig von vorneherein in der vorteilhafteren Position (d. h. in der Mehrheit) befindet.

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Diese Begründung des Mehrheitswillens als des wahren „Volkswillens“ („Ge-meinwillens“) hat Joseph A. Schumpeter nun ganz offensichtlich im Auge ge-habt, als er vom Standpunkt der „Konkurrenztheorie der Demokratie“ aus schrieb, diese „andere Theorie der Demokratie“ erhelle einen „alten Streitpunkt“, indem sie sich von der „klassischen Lehre der Demokratie“ nicht zuletzt dadurch unterscheide, dass ihr zufolge „der Wille der Mehrheit augenscheinlich der Wille der Mehrheit (ist) und nicht der Wille ‚des Volkes‘. Letzterer ist ein Mosaik, das durchaus nicht vom ersteren ‚repräsentiert‘ wird“ (Schumpeter 1950: 432). Ja, man muss sagen, Schumpeter kann dabei nur an Rousseaus Begründung des Mehrheitswillens als des wahren „Volkswillens“ („Gemeinwillens“) gedacht haben, da die „Konkurrenztheorie der Demokratie“ ohnedies nur auf diese sub-stantielle Begründung die Mehrheitsprinzip zu verzichten vermag, ohne aufzuhö-ren, eine Theorie der Demokratie zu sein, keinesfalls aber auf die formale Be-gründung des Mehrheitswillens als des „Volkswillens“. Hätte Schumpeter nur die formale Begründung des Mehrheitswillens als des „Volkswillens“ im Auge gehabt, so hätte er für die „Konkurrenztheorie der Demokratie“ nämlich unter der Hand zugleich den Anspruch aufgegeben, überhaupt eine Theorie der Demo-kratie zu sein. Ohne dass alle übereinkommen, den Willen der Mehrheit als ihren Willen zu akzeptieren, auch wenn sie inhaltlich nicht mit ihm übereinstimmen, könnte von einer Demokratie jedenfalls gar keine Rede sein. Bedürfte es der Zustimmung jedes Einzelnen, bis etwas zum Beschluss aller würde, dann würde der besagte „Zusammenschluss“ nicht einmal ein „Zusammenschluss“ sein, da jeder Einzelne an Beschlüsse dann nur so weit gebunden wäre, wie er selbst es für angebracht hielte und er ihnen tatsächlich zugestimmt hat.

Dieses schöne, weil rein logische Argument, das sich so bereits im achten Kapitel des Second Treatise of Government von John Locke findet (§ 97), leuch-tete, wie gesagt, auch Rousseau ein, indem er seinerseits im Sinne der formalenBegründung davon sprach, dass „die Stimme der Mehrzahl immer alle anderen“ verpflichten würde, da „gerade das eine Folge des Vertrages“ (des „Zusammen-schlusses“) sei (Rousseau 1762: 116). Wenn er sich damit trotzdem nicht zufrie-den gegeben hat, dann allein deshalb, weil ihm klar war, dass der Einzelne wei-terhin dann gerade nicht „genauso frei bleibt wie zuvor“ – es sei denn, jedes einzelne Mitglied des „Zusammenschlusses“ (d. h. des Staates) vermag die Inte-ressen der anderen als die eigenen Interessen anzuerkennen, weil sie entweder mit den eigenen Interessen identisch sind oder weil er sich mit ihnen insofern identifizieren kann, als sie (beispielsweise im Rahmen eines Kompromisses) Teil eines Interessenausgleichs sind. Mit anderen Worten: Damit jeder genauso frei bleiben kann wie zuvor, darf es keine „Sonderinteressen“ geben, weil „Sonderin-teressen“ per definitionem nichts anderes als Interessen sind, die andere nicht als eigene Interessen anerkennen können. Und es werden sich auch gar keine „Son-

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derinteressen“ durchsetzen können, wenn ausgeschlossen ist, dass sie sich allein auf Grund der Mehrheitsverhältnisse deshalb durchzusetzen vermögen, weil die, die in der Mehrheit sind, dann nicht gezwungen wären, einen Interessenausgleich (beispielsweise im Rahmen eines Kompromisses) zu suchen. Das aber wiederum heißt nichts anderes, als dass „Teilvereinigungen“ von vorneherein entweder im Interesse aller zu verbieten sind oder dass ihre Zahl, „wenn es Teilgesellschaften gibt“, im Interesse aller „zu vervielfachen“ ist, um „ihrer Ungleichheit vorzu-beugen“. „Diese Vorsichtsmaßregeln“, schreibt Rousseau, um es noch einmal zu wiederholen, „sind die einzig richtigen, damit der Gemeinwille immer aufgeklärt sei und das Volk sich nicht täusche“ (Rousseau 1762: 31/32).

Dem Rousseau’schen Apriori (den besagten „Vorsichtsmaßregeln“) und der substantiellen Begründung des Mehrheitswillens als des wahren „Volkswillens“ („Gemeinwillens“) liegt also ein und dieselbe Logik zugrunde, und insofern kann auch nur eine Demokratie, die das Rousseau’sche Apriori erfüllt, eine „echte“ Demokratie im wahrhaft emphatischen Sinne des Wortes sein, dass hier und nur hier jeder „genauso frei bleibt wie zuvor“. Wo dieser Anspruch aufgegeben wird, wie dies bei der „Konkurrenztheorie der Demokratie“ deshalb der Fall ist, weil man sich hier allein mit der formalen Begründung des Mehrheitswillens als des „Volkswillens“ begnügt, tut man sich dann zwar sehr viel leichter damit, plura-listische Strukturen (die Existenz von „Sonderinteressen“ und deren Organisa-tion in „Teilvereinigungen“) zu rechtfertigen, aber es geschieht eben auch um den Preis, dass man mit dem Begriff des „Gemeinwohls“ und dem des „Ge-meinwillens“ (volonté générale) nichts Rechtes mehr anzufangen weiß. Man verwirft beide dann entweder, wie dies Schumpeter tat, als eine „Fiktion“ (Schumpeter 1950: 397-401; vgl. Widmaier 2005: 144) oder definiert den Beg-riff des „Gemeinwohls“, wie dies Fraenkel unternahm, in den Begriff des „Ge-meinwohls a posteriori“ um, weil man sich von ihm im Fall der „Klassischen Theorie der Demokratie“ die völlig falsche Vorstellung eines „Gemeinwohls a priori“ gemacht hat – einer Größe, die „vorgegeben, absolut gültig und objektiv erkennbar“ sei (Fraenkel 1969: 330). Es ist jedoch nicht so, wie dies vor Fraen-kel bereits Schumpeter behauptet hatte, dass der Begriff des wahren „Volkswil-lens“ („Gemeinwillens“) „die „Existenz eines eindeutig bestimmten Gemein-wohles, das von allen erkannt werden kann“, voraussetzen würde (Schumpeter 1950: 400). Es ist vielmehr so, dass der Begriff vom wahren „Volkswillen“ („Gemeinwillen“) die Voraussetzung für den Begriff vom „Gemeinwohl“ in dem Sinne ist, dass man dann und nur dann von der Verwirklichung eines Gemein-wohls sprechen kann, wenn es sich dabei um den (exekutiven) Vollzug des (le-gislativ ermittelten) „Volkswillens“ handelt, der der Bedingung der substantiel-len Begründung des Mehrheitswillens im Sinne des Rousseau’schen Apriorisgenügt. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, weil es im Staat nicht so viele „Teil-

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gesellschaften“ gibt, dass sie zahlreich genug wären, um „ihrer Ungleichheit vorbeugen“ zu können, dann kann man im Sinne der formalen Begründung des Mehrheitswillens zwar immer noch im Mehrheitswillen den „Volkswillen“ se-hen; der (exekutive) Vollzug dieses (legislativ ermittelten) „Volkswillens“ hat mit der Verwirklichung eines Gemeinwohls dann aber nur noch so viel zu tun, dass für diejenigen, derer Wille nicht zum Zuge kommt, weil sie in der Minder-heit sind, die Unterwerfung unter den Mehrheitswillen nur so lange akzeptabel ist und akzeptabel bleiben wird, wie die Herrschaft der Mehrheit über die Min-derheit als das geringere Übel im Vergleich zur Auflösung des „Zusammen-schlusses“ angesehen wird. Wo auch das nicht mehr der Fall ist, werden aus einem Staat (infolge von Bürgerkrieg und Revolution) unweigerlich zwei neue Staaten entstehen, weil die Geltendmachung von „Sonderinteressen“ dann erst recht „eine Änderung des Staates in seiner Substanz“ bedeutet, die, wie es im Rousseau-Zitat von Fraenkel heißt, „die Möglichkeit einer Reform des Staates ausschließt“ (Fraenkel 1964b: 208; vgl. Rousseau 1762: 72).

Kehrt man mit diesem Rousseau-Zitat von Fraenkel noch einmal an den An-fang dieses Aufsatzes mit seinen beiden „Politik“-Begriffen zurück und stellt sich nun noch einmal die Frage, wie man sicher sein kann, dass im Falle eines Kampfes der Interessen um Einfluss und Macht dessen Ergebnis jeweils tatsäch-lich im „Interesse der Gemeinschaft“ sein wird, ohne vorweg zu wissen, was man unter dem „Interesse der Gemeinschaft“ zu verstehen hat, so kann die Ant-wort auf diese Frage jetzt nur lauten: Es kann im Nachhinein – a posteriori – von keinem „Gemeinwohl“ die Rede sein kann, ohne von vorneherein – a priori – über einen Maßstab dafür in dem Sinne zu verfügen, dass man sich über die Spielregeln einig sein muss, nach denen dieser Kampf zu führen und zu ent-scheiden ist. Und da man es im Falle eines Kampfes der Interessen um Einfluss und Macht in jedem Fall mit einer pluralistisch strukturierten Gesellschaft zu tun hat, kann es sich dabei um eine Demokratie auch nur dann handeln, wenn zu diesen Spielregeln die allgemeine Geltung des Mehrheitsprinzips zumindest im Sinne seiner formalen, besser aber noch im Sinne seiner substantiellen Begrün-dung gehört. Im letzteren Fall führt dann aber auch kein Weg mehr am Rous-seau’schen Apriori in dem Sinne vorbei, dass es sich bei der „recht verstandenen Konkurrenztheorie der Demokratie“ (E. Fraenkel) in Wirklichkeit nur um die „Klassische Theorie der Demokratie“ in einem abermals neuen Gewand handeln kann – um eine moderne („rationalisierte“) Erscheinungsform der Rous-seau’schen Theorie gleichsam, die vor allem in der Wahrung rechtsstaatlicher Verfahren die conditio sine qua non dafür sieht, dass sich die moderne Demo-kratie aller vermeintlichen „Strukturdefekte“ zum Trotz als eine „echte“ Demo-kratie rechtfertigen lässt.

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Literatur

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Jenseits von Webers Bürokratietheorie: Einzelinteressen und parteipolitisches Handeln Jenseits von Webers Bürokratietheorie Erich Weede

1 Einleitung

Im vorliegenden Aufsatz soll Max Webers Bürokratietheorie nach falsifizierba-ren Hypothesen abgesucht werden. Bei dieser Suche ergeben sich drei Hypothe-sen, die die Notwendigkeit der Bürokratie und Rechtstaatlichkeit in kapitalisti-schen Gesellschaften, die Effizienz der Bürokratie und die Unzerstörbarkeit der Bürokratie, sobald es sie mal gibt, behaupten. Während bei der Notwendigkeits-hypothese vielleicht nur eine Modifikation erforderlich ist, müssen die Effizienz- und Unsterblichkeitsthesen zurückgewiesen werden. Wenn Webers Bürokratie-theorie in weiten Teilen deshalb unbefriedigend ist, weil sie das Anreizproblem vernachlässigt, dann bietet sich der Vergleich von Webers Theorie mit ökonomi-schen Bürokratietheorien an, wobei hier neben Smith’ vor allem Mises’ und Hayeks Einsichten Webers Gedanken gegenübergestellt werden sollen. Was die Affinität von Bürokratie und Sozialismus angeht, sollen Ähnlichkeiten und Kon-traste zwischen Weber und Mises herausgearbeitet werden. Schließlich soll noch gezeigt werden, dass sich die Probleme der Wissensmobilisierung, der Innovati-on und des Zusammenhangs von Bürokratie und Wachstum in demokratischen Industriegesellschaften am besten ‚jenseits von Weber’ und mit Hilfe ökonomi-scher Ansätze analysieren lassen.

2 Webers drei Thesen: Notwendigkeit, Effizienz und Unsterblichkeit

Nach Max Weber sollte man Typen der Herrschaft vor allem nach dem Legiti-mitätsglauben, also den Gründen des Gehorchenwollens, und der Rekrutierung des Verwaltungsstabs unterscheiden. Bei der rationalen oder legalen Herrschaft beruht die Legitimität auf der Legalität. In Webers (1922/1964: 702) Worten: "Befehlsgewalt ist...soweit legitim, als sie jenen Regeln entsprechend ausgeübt wird. Der Gehorsam wird den Regeln und nicht der Person geleistet." Zur lega-len Herrschaft gehört ein bürokratischer Verwaltungsstab, der sinngemäß durch folgende Merkmale charakterisiert wird (Weber 1922/1964: 162-163): 1. Unter-ordnung unter sachliche Amtspflichten und aktenmäßiger Betrieb, 2. feste Hie-rarchie, 3. Kompetenzen, 4. Einstellung durch Kontrakt, 5. Einstellung nach

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260 Erich Weede

Qualifikation, 6. Entgelt durch Gehalt, 7. Amt als Hauptberuf, 8. Laufbahn, 9. keine private Aneignung von Verwaltungsmitteln, 10. Disziplin und Kontrolle.

Für den an Poppers (1935/1969) Methodologie orientierten Sozialwissen-schaftler wird Weber aber erst jenseits seiner Definitionen und Typologien wirk-lich interessant. In Webers Werk kann man an drei Stellen nomologische Hypo-thesen über die Bürokratie entdecken. Erstens behauptet Weber (1923/1981) in seiner Wirtschaftsgeschichte – jedenfalls nach Collins' (1980) überzeugender Explikation – eine Kausalkette von der Bürokratisierung über den Rechtsstaat hin zu Kapitalismus und Wirtschaftswachstum. Hier soll weder bestritten wer-den, dass vorhersehbare Rechtsprechung Voraussetzung für einen funktionieren-den Kapitalismus ist, noch dass ein gewisses Ausmaß an Bürokratisierung Vor-aussetzung für Rechtsstaatlichkeit ist. Diese weberianischen Hypothesen sollen ausdrücklich anerkannt werden (vgl. Weede 2000: Kap. IIIa), wenn man auch hinzufügen sollte, dass das Recht und die Rechtsprechung nicht nur – wie von Weber betont – vorhersehbar sein müssen, was an sich schon Grenzen der Kom-plexität rechtlicher Regelungen erfordert, sondern auch dass gewisse materielle Merkmale des Rechts dieses erst für den Kapitalismus tauglich machen, wozu Privateigentum als Arbeitsanreiz und Privateigentum an Produktionskapital als Voraussetzung von Knappheitspreisen für Produktionsmittel gehören, worauf unten zurückkommen ist. Aber Webers Bürokratieanalyse enthält auch noch andere Ideen.

Weber (1922/1964: 716) stellt nämlich auch eine Behauptung über die Effi-zienz von Bürokratien auf, die umstritten und bestreitbar ist – nämlich folgende: "Der entscheidende Grund für das Vordringen der bürokratischen Organisation war von jeher ihre rein technische Überlegenheit über jede andere Form. Ein voll entwickelter bürokratischer Mechanismus verhält sich zu diesen genau wie eine Maschine zu den nicht-mechanischen Arten der Gütererzeugung. Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Diskretion, Einheitlichkeit, Kon-tinuierlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnis an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten sind bei streng bürokratischer, speziell: monokratischer Verwaltung durch geschulte Einzelbeamte gegenüber allen kollegialen oder ehren- und nebenamtlichen Formen auf das Optimum gesteigert."

Weber (1922/1964: 166) deutet an anderer Stelle allerdings auch an, dass die Bürokratie doch nicht der Gipfel der Effizienz sein muss, denn er schreibt auch: "Überlegen ist der Bürokratie an Wissen: Fachwissen und Tatsachen-kenntnis, innerhalb seines Interessenbereichs, regelmäßig nur: der private Er-werbsinteressent. Also: der kapitalistische Unternehmer. Er ist die einzige wirk-lich gegen die Unentrinnbarkeit der bürokratischen rationalen Wissens-Herr-schaft (mindestens: relativ) immune Instanz." Die von Weber selbst hier wenigs-

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tens angedeutete Möglichkeit der Bürokratiekritik durch Vergleich mit kapitalis-tischen Alternativen1 wird später noch weiter zu verfolgen sein.

Weil Weber (1922/1964: 726/727) trotz des eben erwähnten Zugeständnis-ses Bürokratien für effizient hält, ist es nicht verwunderlich, dass er den Büro-kratisierungsprozess für ein irreversibles Schicksal hält, wie folgende Stelle zeigt: "Eine einmal voll durchgeführte Bürokratie gehört zu den am schwersten zu zertrümmernden sozialen Gebilden...Wo die Bürokratisierung der Verwaltung einmal restlos durchgeführt ist, da ist eine praktisch so gut wie unzerbrechliche Form der Herrschaftsbeziehung geschaffen." Nach Weber (1922/1964: 165) kann auch der Sozialismus nicht ohne Bürokratie auskommen. Wenn auch leicht rela-tiviert ('praktisch so gut wir unzerbrechlich'), wird hier eine nomologische Hypo-these aufgestellt, nämlich die der Unsterblichkeit von bürokratischer Herrschaft. Lenin und seine Nachfolger haben das auch geglaubt, natürlich ohne sich auf den 'bürgerlichen' Theoretiker Weber zu berufen.

Aber die Ausweitung der bürokratischen Herrschaft auf ganze Volkswirt-schaften war nicht nur empirisch mit dem Hungertod oder der Ermordung von vielleicht einhundert Millionen Menschen weltweit verbunden (Courtois et al. 1998; Rummel 1994), sondern hat mit der weitgehenden Abschaffung der wirt-schaftlichen Freiheit auch zur Verlangsamung des Wirtschaftswachstum beige-tragen (Gwartney and Lawson 2004; oder auch Vergleiche von Europa und A-sien, Korea und Russland oder China und Japan: Weede 2000, 2001, 2004). Weber hat nicht nur den Preis der Ausweitung bürokratischer Herrschaft nicht mal erahnt, sondern er hat auch deren Dauerhaftigkeit überschätzt. Denn die bürokratischen Regime oder Zentralverwaltungswirtschaften sind, von wenigen erbärmlichen Ausnahmen (wie Nordkorea) abgesehen, entweder bis zur Un-kenntlichkeit reformiert worden – im Wesentlichen durch Rückzug der Bürokra-tie aus dem Alltagsleben von Produzenten, Händlern und Konsumenten wie in China – oder durch den Kollaps wie in der Sowjet-Union. Mit seiner Unsterb-lichkeitsthese zur Bürokratie hat Weber sich einfach geirrt!

3 Ökonomische Einsichten: Interessen und Anreize

Man kann der hier vertretenen Kritik vorwerfen, 'unfair' mit Weber umgegangen zu sein.2 Was manche für 'unfair' halten, kann man mit Popper (1935/1969) auch

1 Man findet bei Weber (1922/1964: 728-729) auch noch andere Stellen, die ein Ausgangspunkt

für die Relativierung der These der Effizienz der Bürokratie jedenfalls in der Wirtschaft sein könnten. Weber verfolgt das Thema allerdings nicht systematisch.

2 Es geht hier nicht darum, Webers Gesamtwerk zu kritisieren. In einem meiner Bücher (Weede 2000) werden Webers Fragestellung und wichtige Gedanken aus seiner Wirtschaftsgeschichte,

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für die Pflicht des Wissenschaftlers halten. Weber war – auch nach seinem eige-nen Verständnis – kein Kirchenvater und kein Notar einer göttlichen Verkündi-gung. Er war ein Mensch, der sich – wie andere auch – irren konnte. Weil er vor Poppers 'Logik der Forschung' gelebt und gearbeitet hat, hat er zu wenig über die Falsifizierbarkeit seiner Theorie nachgedacht. Aber die 'Spätergeborenen' müs-sen das nachholen. Dabei hat der Leser und Interpret Webers die Wahl zwischen zwei grundsätzlichen Strategien: Entweder kann man jede Lücke oder Unklarheit bei Weber zum Anlass nehmen, daraus zu schließen, dass Webers Aussagen deshalb nicht mit der Realität in Widerspruch geraten können. Dann wird We-bers Denken um den Preis der Irrelevanz für alle, die sich für die Wirklichkeit interessieren, vielleicht 'gerettet'. Oder man expliziert Weber so, dass man zu gehaltvollen und damit falsifizierbaren Aussagen kommt. Dann bleibt Weber interessant. Aber dann gilt für seine wie für alle wissenschaftlichen Texte: Hauptaufgabe ist die Suche nach und Elimination von Irrtümern.

Man kann der hier vorgetragenen Kritik noch in anderer Beziehung einen Mangel an Fairness gegenüber Weber vorwerfen und sagen, dass er ein Kind seiner Zeit gewesen sei und deshalb Missbrauch und Auswüchse bürokratischer Herrschaft im Sozialismus nicht vorhersehen konnte. Aber es gab Sozialwissen-schaftler, die vor oder gleichzeitig mit Weber lebten, und ein wesentlich besseres Gespür für die Grenzen der Leistungsfähigkeit von Bürokratien hatten als We-ber. Einer davon ist Adam Smith (1776/1990: 319), der Folgendes erkannte: "Jemand, der kein Eigentum erwerben kann, kann auch kein anderes Interesse haben, als möglichst viel zu essen und so wenig wie möglich zu arbeiten." Lange vor Weber war Smith schon klar, dass die Frage der Arbeitsanreize eine zentrale Frage jeder Gesellschaftsordnung ist. In seiner Hymne auf die Bürokratie fehlt bei Weber jede systematische Diskussion der Frage, was denn den Beamten dazu motiviert, seine Pflicht zu tun, was denn die Nicht-Beamten dazu veranlassen kann, den Anordnungen der Beamten Folge zu leisten. 'Weberianer' würden hier sicher auf Legitimität verweisen. Aber die trägt im Alltag nicht weit: Weder die Legitimität unserer Demokratie noch die der Straßenverkehrsordnung setzt in deutschen Städten Halteverbote durch. Weil das Anreizproblem die Achillesferse der Bürokratietheorie Webers ist,3 wird darauf unten noch zurückzukommen sein.

seiner Herrschaftssoziologie (vor allem in Bezug auf die Analyse traditionaler Herrschaftsver-hältnisse) und seiner Religionssoziologie (vor allem auf Indien, den Hinduismus und Buddhis-mus bezogen) aufgegriffen. Aber seine Bürokratieanalyse ist wohl einer der schwächeren Teile seines Werkes.

3 Die Vernachlässigung von Anreizen, Interessen und daraus folgenden Motiven ist natürlich auch anderen Autoren aufgefallen. Maurer (1999: 103-104) weist darauf hin, dass 'Werte' und 'Legitimität' bei Weber die Analyse von Interessen und daraus resultierenden Trittbrettfahrnei-gungen verdrängen.

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Ein Zeitgenosse Max Webers, nämlich Ludwig von Mises (1920), erkannte schon frühzeitig, warum der Sozialismus nicht funktionieren kann, nämlich weil er das Privateigentum an Produktionskapital abgeschafft hat. Ohne eine Vielzahl von unabhängigen und konkurrierenden Fabrikbesitzern kann es auf Inputmärk-ten keine aus Angebot und Nachfrage resultierenden Knappheitspreise geben. Ohne solche Knappheitspreise ist eine rationale Ressourcenallokation unmög-lich, weshalb es in Planwirtschaften durchaus zur wertmindernden Produktionen kommen kann, beispielsweise der Verarbeitung wertvoller Rohstoffe zu unver-käuflichen Produkten. Webers oben angeführte Bürokratiemerkmale, wie sachli-che Amtspflichten und aktenmäßiger Betrieb oder Hierarchien, tragen gar nichtszur Vermeidung derartiger Fehlproduktion bei.

Neben der Vernachlässigung des Anreizproblems ist eine andere Eigenart von Webers Bürokratietheorie, dass sie in eine Herrschaftssoziologie eingebettet ist, die sich eher für weltgeschichtliche Analysen über sehr lange Zeiträume eignet als für die Analyse von modernen Industriegesellschaften. Auch hier hilft Mises (1944/2004) uns weiter. Er hebt den Kontrast zwischen an Gewinn orien-tiertem Handeln und bürokratischen Handeln hervor. Von der Unvermeidbarkeit der Bürokratie ist Mises genauso überzeugt wie Weber. Weder ein Polizeirevier, noch das Militär, noch das Finanzamt lassen sich unter denselben Gesichtspunk-ten leiten wie eine Schuhfabrik oder eine Bäckerei. Übereinstimmung mit Geset-zen, Verordnungen und dem Haushaltsplan muss das entscheidende Orientie-rungsprinzip für den Beamten sein. Genau diese normative Bindung des Beam-ten an Vorschriften und Vorgesetzte hat allerdings einen Preis, den Mises (1944/2004: 77-78) so analysiert: „Er hat nicht das Recht, sich auf Neuerungen einzulassen, wenn seine Vorgesetzten sie nicht billigen. Seine Pflicht und seine Tugend ist es, gehorsam zu sein… Fortschritt ist genau das, was Regeln und Vorschriften nicht vorsehen.“ Die Starrheit bürokratischer Herrschaft ist zwar in der Wirtschaft, aber nicht in jedem Lebensbereich ein Nachteil. Die bürokratisch strukturierte katholische Kirche ist als „Wächter eines ewigen Schatzes von Grundsätzen“ (Mises 1944/2004: 107) durchaus geeignet.

Während Weber nur die Kompatibilität von Bürokratie und Sozialismus hervorhob, geht Mises einen Schritt weiter. Für ihn bedeutet der Sozialismus die Allgegenwart von bürokratischer Wirtschaftsweise und damit notwendigerweise eine systematische Behinderung von Innovation. Mises (1944/2004: 105) schreibt dazu: „Im Sozialismus dagegen muss der Anfänger jenen gefallen, die sich in ihren Stellungen bereits eingerichtet haben. Sie mögen keine effizienten Neulinge. Nicht Errungenschaften ebnen in der bürokratischen Maschinerie des Sozialismus den Weg zum Aufstieg, sondern das Wohlwollen des Vorgesetzten.“ Den Gegensatz zur bürokratischen Wirtschaftsweise bezeichnet Mises als Kapi-talismus oder Marktwirtschaft, was für ihn Synonyme sind. Dort dominiert un-

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abhängig von der Größe des Unternehmens das Gewinnstreben. Wenn Filialen oder Zweigwerke dauerhaft Verlust machen, dann werden sie geschlossen. Ab-teilungsleiter, Filialleiter oder Werksleiter können auch in riesigen Konzernen das Gewinnmotiv nie aus den Augen verlieren, wenn sie nicht ihre Position ge-fährden oder verlieren wollen. Das Gewinnmotiv in der Privatwirtschaft er-zwingt eine grundsätzlich andere Einstellung zur Innovation als die bürokrati-sche Orientierung an Rechtsnormen. In Mises’ (1944/2004: 44) Worten: „Wer Gewinn machen möchte, muss immer nach neuen Gelegenheiten Ausschau hal-ten.“

In Anbetracht der modischen Gewinnskepsis in kontinentaleuropäischen Gesellschaften ist es wichtig hervorzuheben, dass gerade die Gewinnorientierung nach Mises – ähnlich wie früher schon nach Smith – den Unternehmer in die Dienstbarkeit gegenüber seinen Mitmenschen, den kaufkräftigen Konsumenten, zwingt. Mises (1944/2004: 38-39) hebt in diesem Zusammenhang hervor: „Wäre der Unternehmer nicht gezwungen, sich an das Gewinnmotiv zu halten, so könn-te er mehr von A herstellen, obwohl der Verbraucher lieber etwas anderes erhal-ten möchte... Der Wegweiser wirtschaftlicher Planung ist der Marktpreis. Allein die Marktpreise können die Frage beantworten, ob die Durchführung eines Pro-jekts P mehr einbringen wird als sie kostet.“

Gewinnmotiv, Marktpreise und Wirtschaftsrechnung vermitteln der Privat-wirtschaft im Kapitalismus klare Maßstäbe, nach denen sich Erfolg und Misser-folg ermitteln lässt. Gewinn ermutigt den Erfolg. Verluste und Bankrott entmuti-gen das entschlossene Voranschreiten auf dem Weg des Misserfolgs. Dass ein derartiger Maßstab im Bereich der staatlichen Verwaltung fehlt und fehlen muss, ist zwar kein Grund, die staatliche Verwaltung für entbehrlich zu halten, aber schon ein Hinweis darauf, dass Staat und Verwaltung die Wirtschaft nicht immer weiter penetrieren und kolonisieren sollten, also ein Argument gegen vermeid-bare Ausweitung der Staatstätigkeit. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür, wohin die Übernahme ökonomischer Lenkungsaufgaben durch den Staat und seine Bürokratie führt, ist die Tatsache, dass fast alle ‚sozialistisch’ orien-tierten Länder komparative Kostenvorteile systematisch missachtet und unren-table oder gar Werte vernichtende Industrien aufgebaut haben (Lin 2005). In Entwicklungsländern sind das oft kapitalintensive Schwerindustrien. Die aus der Unmöglichkeit der Wirtschaftsrechnung resultierende bürokratische Maßstabslo-sigkeit ist eben keine Tugend, sondern ein Defizit.

Bis jetzt mag es so aussehen, als ob sich Webers Bürokratietheorie retten ließe, wenn man an seinem Zugeständnis der Überlegenheit privater Erwerbsin-teressenten und kapitalistischer Unternehmer ansetzt und die Effizienzthese der Bürokratie einschränkt. Das ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Au-ßerdem könnte man an Webers Verknüpfung von bürokratischen Verwaltungs-

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stäben mit legaler Herrschaft, also mit Rechtsstaatlichkeit, erinnern und auf die massiven rechtsstaatlichen Defizite des real existierenden Sozialismus verwei-sen. Das ist zwar richtig, aber m.E. dennoch eine problematische Verteidigungs-strategie für Webers Behauptung der Effizienz der Bürokratie. Denn sozialisti-sche Staaten waren zwar nie Rechtsstaaten, aber zu verschiedenen Zeiten unter-schiedlich weit weg vom Rechtsstaatsideal. Unter Stalins Terrorherrschaft waren die sowjetischen Zustände sicher noch weniger rechtsstaatlich als unter seinen Nachfolgern. Dennoch hat die Abnahme der Willkürherrschaft nach Stalin und die Zunahme der Vorhersehbarkeit administrativer Entscheidungen unter Stalins Nachfolgern nicht zu einer Besserung der wirtschaftlichen Wachstumsraten ge-führt, sondern eine Verschlechterung zugelassen (Murrell and Olson 1991).

Webers These der Effizienz von Bürokratien lässt sich nicht nur im Kon-trast von staatlichen Bürokratien und privaten Unternehmen kritisieren, sondern auch im Vergleich von Religionsgemeinschaften. Innerhalb des Christentums muss die katholische Kirche als bürokratisch organisiert gelten, während der angelsächsische Sektenprotestantismus am wenigsten bürokratisch organisiert ist. Mit Iannaccone (1991) kann man die Frage nach den Effekten von Gebiets-monopolen oder Wettbewerb auf Variablen wie Kirchgangshäufigkeit oder Glaubensbekundungen aufwerfen. Wie auch sonst in der ökonomischen Theorie kann man postulieren, dass Monopolisten zur Ineffizienz neigen, dass Wettbe-werb unter Religionsgemeinschaften zu einer üppigeren Versorgung der Bevöl-kerung mit Heilsgütern oder Glaubensüberzeugungen führt. Damit lässt sich beispielsweise die Tatsache erklären, dass in den USA mit ihrem scharfen Wett-bewerb unter christlichen Religionsgemeinschaften Gebet, Kirchgang und die Akzeptanz christlicher Glaubensinhalte soviel ausgeprägter sind als im monopo-listisch-lutherischen Skandinavien oder im monopolistisch-katholischen Latein-europa.

Bei der Diskussion von Webers Bürokratietheorie sollte kein Weg an einer Diskussion des Anreizproblems vorbeiführen, das bei Weber im Gegensatz zu Smith und Mises etwas stiefmütterlich behandelt wird. Ausgangspunkt dabei ist ein auch von Weber hervorgehobenes Merkmal von Bürokratien, nämlich die Hierarchie. Vorgesetzte vergeben Aufträge an ihre Untergebenen. Ökonomen und von diesen inspirierte Soziologen (wie Coleman 1990: 146-174) analysieren das als Prinzipal-Agent-Beziehung, wobei Ersterer einen Auftrag erteilt, den Letzterer durchführen soll. Die Beauftragten – das gilt natürlich nicht nur für Beamte, aber auch für Beamte – erhalten einen Auftrag, aber sie behalten den-noch eigene Interessen, die von denen des Auftraggebers abweichen können – beispielsweise das Interesse, die Mühe und die Arbeit den anderen zu überlassen. Auch die Einstellung durch Kontrakt ändert nichts daran. Die Gefahr der Drü-ckebergerei ist allgegenwärtig. Wenn zur Drückebergerei neigende Beauftragte

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oder Beamte nicht kontrolliert und sanktioniert werden, dann sind nicht Arbeits-fleiß und Effizienz, sondern eher ein gemütlicher Schlendrian und Leerlauf zu erwarten.

Das Kontrollproblem dürfte in staatlichen Bürokratien viel schlechter als in dem Wettbewerb unterworfenen Betrieben, beispielsweise Handwerksbetrieben, gelöst werden. Der Meister, der seine Gesellen und Arbeiter nicht beaufsichtigt und zur Arbeit anhält, sondern Bier trinken und schwatzen lässt, wird erst Ver-luste machen und dann Bankrott gehen. Den Wettbewerb überleben nur die Be-triebe, die das Kontrollproblem mindestens halbwegs zufriedenstellend lösen. In der staatlichen Bürokratie ist das anders. Die hat ein Monopol. Niemand konkur-riert mit ihr. Das örtliche Finanzamt muss nicht mit der Polizei oder der Schul-behörde konkurrieren. Die Behörden müssen auch nicht mit Ämtern derselben Art im Nachbarbezirk konkurrieren. Bankrott ist praktisch ausgeschlossen. Au-ßerdem haben die Vorgesetzten im Gegensatz zum selbständigen Handwerks-meister gar keinen Anreiz, ihre Untergebenen zu kontrollieren, ihnen ausge-dehnte Privatgespräche im Dienst und ein gemächliches Arbeitstempo abzuge-wöhnen. Der Vorgesetzte, der das versucht, macht sich nur unbeliebt und trägt damit persönlich (nicht-monetäre) Kosten. Im Gegensatz zum selbständigen Handwerksmeister verdient der Leiter einer Behörde auch nicht mehr, wenn seine Leute besser arbeiten. Im Gegensatz zur Wettbewerbswirtschaft und vor allem zu Kleinbetrieben ist bei staatlichen Bürokratien folglich zu erwarten, dass die Drückebergerei nicht nur die Beauftragten oder kleinen Beamten, sondern auch viele Vorgesetzte erfasst und damit die Kontrolle der Untergebenen weitge-hend unterbleibt. Aus der Perspektive einer ökonomisch inspirierten Soziologie, des 'rational choice' - Denkens, ist nicht etwa besondere Effizienz von Bürokra-tien, sondern das Gegenteil zu erwarten. Jeder sozialwissenschaftliche Laie, der auf die Bürokratie schimpft, verweist implizit auch auf die Inkompatibilität sei-ner persönlichen Lebenserfahrung mit der Effizienzthese der weberianischen Bürokratietheorie.4

In der Demokratie wäre es zumindest denkbar, dass die gewählten Politiker die Kontrollaufgaben wahrnehmen und für Effizienz in den Ämtern sorgen. Man sollte nicht bestreiten, dass sie das in ordentlich regierten Ländern auch bis zu einem gewissen Grad tun. Aber der Anreiz für Politiker, Effizienz und Leistung in den Ämtern durchzusetzen – was nicht dasselbe ist, wie mal auf 'faule Säcke' zu schimpfen – ist dennoch nicht mit dem Anreiz vergleichbar, den jeder selb-ständige Handwerksmeister verspürt. Faule Gesellen mindern dessen Einkom-men. Faule Beamte mindern nicht das Einkommen der Politiker, sondern erhö-hen die Last für die Steuerzahler. Ein Politiker, der gegen gemütlichen Schlend- 4 Im Gegensatz zu Weber war Mises (1944/2004: 19) die Verwendung des Bürokratiebegriffs als

Schmähung immer geläufig.

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rian im Amt kämpft, kann die Stimmen der dort beschäftigten Beamten verges-sen, darf aber nicht auf die Dankbarkeit der Steuerzahler rechnen. Während die zur intensiven Arbeit gedrängten Beamten das zumindest bemerken und bei der nächsten Wahl berücksichtigen können, wird die Masse der Steuerzahler das nicht bemerken und nicht berücksichtigen können. Politische Kontrolle der Äm-ter ist vielleicht das Beste, was wir haben können, aber sie wird nie so wirksam wie die Kontrolle durch den Wettbewerb sein können - vor allem, aber nicht nur für Kleinbetriebe.

Weber (1922/1964: 164) betont den monokratischen Charakter der Büro-kratie und scheint darin einen Grund der behaupteten Effizienz von Bürokratien zu sehen. Auch das ist eine problematische These, wenn man sich Hayeks (1960/10971) Auffassungen zum Wissen und dessen Verteilung auf unzählige Köpfe zu eigen macht. Nach Hayek umfasst Wissen nicht nur akademisches Buchwissen, sondern auch Fertigkeiten des Handwerkers oder Erfahrungen von Kaufleuten oder schreibunkundigen Bauern. Derartiges Wissen ist oft an be-stimmte Zeiten und Räume gebunden und nicht unbedingt explizit formuliert. Es ist auf Millionen von Köpfen verteilt und nicht zentralisierbar. Daraus leitet Hayek (2002: 63) nicht nur die Unmöglichkeit funktionierender Zentralverwal-tungswirtschaft ab, sondern auch "dass die Forderung nach individueller Freiheit in letzter Linie auf der Einsicht in die unvermeidliche Begrenztheit unseres Wis-sens beruht… Der Zweck der Freiheit ist daher, Gelegenheit für etwas seiner Natur nach Unvoraussehbares zu bieten...". Weil bürokratische Verwaltung mo-nokratisch ist und die Masse der Beamten zu bloß ausführenden Organen macht und den Rest der 'verwalteten' Bevölkerung Anordnungen unterwirft, schafft die Bürokratie ausgesprochen schlechte Bedingungen für die Nutzung des zerstreu-ten Wissens, weil sie allzu vielen die Befugnis zur Verwendung des eigenen Wissens bestreitet. Erst recht behindert die Bürokratie die Innovation, weil diese zum Privileg der Politik bzw. des Prinzipals der Verwaltung gemacht wird.

4 Bürokratisierung verdrängt Kapitalismus und Wachstum

Auch wenn Weber sich in Bezug auf die Effizienz von Bürokratien wegen der Vernachlässigung der Anreizproblematik und wegen des bürokratischen Wett-bewerbsdefizits geirrt hat, bleibt denkbar, dass er mit seiner Unsterblichkeits-these Recht hat. Man kann die sozialstaatliche Entwicklung in den westlichen Demokratien ja auch als Expansion von Bürokratien begreifen. Wenn Transfer-empfänger nicht mehr milde Gaben erbetteln (oder verhungern oder arbeiten) müssen, sondern einen Rechtsanspruch auf amtliche Hilfe in gesetzlich definier-ten Notlagen haben, dann ist eine Ausweitung von Bürokratisierung wohl un-

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vermeidlich. Ein Nobelpreisträger, Friedrich August (von) Hayek (1945/1976), hat schon vor Jahrzehnten davor gewarnt, dass der Sozialstaat ein 'Weg zur Knechtschaft' sein könne. Das impliziert auch eine Warnung vor der damit ver-bundenen Bürokratisierung und Staatsgläubigkeit.

Während bei Weber Staat und Legitimität eine zentrale Rolle spielen, sind es bei Hayek (1960/1971: vor allem Kap. 5) Freiheit und Wettbewerb. Kehrseite der Freiheit ist die Verantwortlichkeit. Verantwortlich ist derjenige, der für die Folgen seines Handelns, auch für seine Fehler, verantwortlich gemacht wird, der die Handlungsfolgen tragen oder ertragen muss. Wettbewerbswirtschaft erlaubt das Neben- und Miteinander vieler freier Verantwortungsträger. Bürokratisie-rung muss die meisten Menschen zu bloßen Weisungsempfängern machen, die von Verantwortung weitgehend entlastet sind, die zu Agenten von Prinzipalen, zu Auftragnehmern, werden. Das weberianische Versprechen der Effizienz löst die Bürokratie nicht ein. Wenn sie das andere weberianische Versprechen, das der Unsterblichkeit der Ämter und ihrer Betriebsamkeit jedenfalls solange ein-löst, wie die Bürokratie nicht nach dem Modell der sowjetischen Nomenklatura die gesamte Gesellschaft mit in den Abgrund reißt, dann vielleicht deshalb, weil allzu viele Menschen Verantwortung gern auf andere übertragen.5 Wenn Weber recht haben sollte und Bürokratie unser Schicksal ist, dann nicht wegen der Stär-ke der Bürokratie, sondern wegen weit verbreiteter menschlicher Schwächen, die sie allerdings nicht überwindet, sondern eher verstärkt.

Bürokratisierung ist genau wie steigende Steuerlastquoten, Sozialtransfer-quoten und Staatsquoten (Tanzi und Schuknecht 2000) ein Aspekt der Auswei-tung der Staatstätigkeit. Treibende Kraft der Ausweitung der Staatstätigkeit in westlichen Demokratien ist der Versuch der jeweils herrschenden Politiker, Zu-stimmung zu ihrer Politik zu erkaufen (de Jasay 1985). Das Standardrezept zum Erkaufen von Zustimmung besteht darin, dass man eine kleine Gruppe von Wäh-lern, die es bemerken, stark begünstigt zu Lasten einer großen Gruppe von Wäh-lern, die es nicht bemerken. Beispiele für solche kleine Gruppen sind die Bauern in den meisten Industrieländern, die durch Subventionen und Schutz vor auslän-discher Konkurrenz begünstigt werden, oder auch Studenten, die gebührenfrei eine Universität besuchen dürfen. Zu den belasteten Gruppen gehören in beiden Fällen die riesige Gruppe der Steuerzahler und bei den Bauern noch die riesige Gruppe der Konsumenten von Nahrungsmitteln. Weil fast nur Bauern gerade von der Agrarpolitik ihr Wahlverhalten abhängig machen, weil fast nur Studenten gerade von der Gebührenfreiheit der Universitäten ihr Wahlverhalten abhängig machen, können Wahlkämpfer die Mehrheitsinteressen ruhig vernachlässigen. Generell besteht der parteipolitische Wettbewerb im Wesentlichen darin, mit 5 Die Verflüchtigung der Verantwortung im Kollektiv lässt sich sogar experimentell belegen

(vgl. Latane and Rodin 1969, sekundär: Weede 1992).

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Hilfe der Bedienung von Sonderinteressen eine bei Wahlen siegreiche Mehrheit zu bilden. Nach Hayek (2002: 181) sollte man das Ergebnis der Bedienung von Sonderinteressen, einschließlich der daraus resultierenden Regulierungs- und Bürokratisierungsflut, allerdings nicht unbedingt auf den unverfälschten Willen der Mehrheit zurückführen, denn er schreibt: "Die Wurzel des Übels ist also die unbeschränkte Macht der Legislativen in der modernen Demokratie, eine Macht, die die Mehrheit ständig in einer Weise zu gebrauchen gezwungen ist, die die meisten ihrer Mitglieder vielleicht gar nicht wollen. Das, was wir den Willen der Mehrheit nennen, ist somit in Wirklichkeit ein Artefakt der bestehenden Institu-tionen..."

Olson (1982/1985) nannte die aus der Bedienung von Sonderinteressen re-sultierenden Zustände 'institutionelle Sklerose'. Weil in der Demokratie Assozia-tionsfreiheit herrscht und die Sonderinteressen Zeit brauchen, sich zu organisie-ren und politisch durchzusetzen, hat er die Hypothese aufgestellt, dass die insti-tutionelle Sklerose und damit Preisverzerrungen mit zunehmendem Alter der Demokratie zunehmen und das Wirtschaftswachstum entsprechend abnimmt. Bei Olson finden wir zwar keine explizite Behandlung des Bürokratieproblems, aber man kann und sollte seine institutionelle Sklerose zumindest als Korrelat der Bürokratie auffassen.

Sogar unter Politikern gibt es immer wieder die Einsicht in die negativen Folgen der Bürokratisierung. Ende der 90er Jahre schrieb Helmut Schmidt (1997) einen Aufsatz mit folgendem dreiteiligen Titel: „Die Lust, alles bis ins kleinste Detail zu regeln, behindert den wirtschaftlichen Aufschwung. Wer die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen will, muss den Dschungel der Gesetze und Verordnungen lichten. Der Paragraphenwust tötet den Unternehmergeist. Ob Handwerksmeister, Mittelständler oder Konzernchef: Keiner kann mehr alle Vorschriften durchschauen, die er kennen muss, wenn er Arbeitsplätze schaffen will.“ Sein von 1998 bis 2005 im Kanzleramt sitzender Parteifreund Gerhard Schröder hat wenig zur Lichtung des Paragraphenwustes beigetragen, sondern stattdessen ein weiteres Ansteigen der Arbeitslosigkeit hingenommen. Dass die Einsicht in die Schädlichkeit bürokratischer Reglementierung parteiübergreifend ist, kann man mit dem christdemokratischen Wirtschaftspolitiker Merz (2004: 48) belegen, der Folgendes beklagt hat: „ein unüberschaubares Dickicht von Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften…das jede private Initia-tive zu erwürgen und Neues im Keim zu ersticken droht.“ Es ist allerdings zu befürchten, dass die Christdemokraten genauso wenig gegen den Bürokratismus wie die Sozialdemokraten unternehmen werden. Denn das Ziel der Entbürokrati-sierung ist in Deutschland wohl nicht konsensfähig – und schon gar nicht in einer sog. „großen Koalition“. Es müsste lauten: „Rettet den Kapitalismus!“ (Keese 2004).

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International vergleichende Studien, die Bürokratisierung als Determinante ab-nehmenden Wirtschaftswachstums aufzeigen, sind nicht aufzufinden. Aber drei in empirischen Studien aufgezeigte Determinanten verlangsamten Wirtschafts-wachstums können als Korrelate und Indikatoren der Bürokratisierung gelten: Defizite an wirtschaftlicher Freiheit (Gwartney and Lawson 2004), Alter der Demokratie und Staatsquoten (vgl. dazu Weede 2000: Kap. VIIc). Weil end-gültige Beweise in den empirischen Wissenschaften grundsätzlich unmöglich sind, gilt das natürlich auch für folgende nomologische Aussage. Aber vorläufig vertretbar und durch ökonometrische Studien indirekt gestützt ist die Hypothese: Je mehr eine Volkswirtschaft in die Bürokratisierung getrieben wird, desto lang-samer wächst sie.6 Max Weber hat diese Hypothese allerdings nicht vertreten. Solange sie an der Macht waren, scheinen deutsche Politiker diese Hypothese auch nie vertreten zu haben.

5 Schlussfolgerung

In Webers Soziologie galten Rechtsstaat und Bürokratie als Voraussetzung für kapitalistisches Wirtschaften. Dabei wurde allerdings das Problem der inhaltli-chen Gestaltung des Rechts bzw. die Notwendigkeit, Leistungsanreize zu schaf-fen, vernachlässigt. Nur dieser blinde Fleck in Webers Theorie konnte ihn dazu verführen, ausgerechnet Bürokratie für besonders effizient und deshalb auch für unzerstörbar zu halten. Es ist zwar nicht auszuschließen, dass Bürokratien nur schwer bzw. unter sehr hohen Kosten überwindbar sind, aber das dürfte weniger aus den Stärken als aus den Schwächen der Bürokratie resultieren. Nur ‚jenseits von Weber’, d.h. mit Hilfe von Anleihen bei der sog. Österreichischen Ökono-mik oder ‚Public Choice’, kann man die Gefährdungen von Wissenseinsatz, Innovation, Kapitalismus und Wirtschaftswachstum durch eine ausufernde Staatstätigkeit und Bürokratisierung erkennen, die von Parteipolitikern mit Blick auf die nächste Wahl und im Dienste von Sonderinteressengruppen vorangetrie-ben werden. Obwohl Werte eine wichtige Rolle in Webers Soziologie spielen, kann man die klareren Analysen des Wertes der Freiheit für Produktivität und Wachstum von Volkswirtschaften bei Mises oder Hayek und nicht bei Weber finden.

6 Nur um dem Argument Plausibilität zu verleihen, kann man auf Folgendes hinweisen: Nach

einer Studie des Instituts für Mittelstandsforschung betrugen die Bürokratiekosten für Klein- und Mittelbetriebe schon 1993 ca. 62000 DM im Jahr (FAZ 2003: 11).

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Literatur

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Wissenschaft als soziales Ereignis Hauptmanns, Niggemann, Ostendorf und Rogalski Peter Hauptmanns, Hiltrud Niggemann, Barbara Ostendorf und Wolfgang Rogalski

Auf Ulrich Widmaier wartete bei der Berufung auf den Lehrstuhl für Politikwis-senschaft an der Ruhr-Universität Bochum nicht nur ein Lehrstuhl, der neugierig auf den neuen Chef war. Die "Panel-Studie zu den technischen, organisatori-schen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Einsatzes flexibler Arbeits-systeme" (NIFA-Panel) wurde bereits 1989 im Rahmen des Sonderforschungs-bereichs "Neue Informationstechnologien und flexible Arbeitssysteme" an der Ruhr-Universität Bochum ins Leben gerufen. Lehrstuhl und Projektleitung waren miteinander verbunden. Als Ulrich Widmaier diese Herausforderung annahm, hatte er ein mehr als zehnköpfiges Team aus Sekretärin, wissenschaftlichen Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Hilfskräften hinter sich – und stand dabei natürlich vor der im Wissenschaftsbetrieb eher ungewöhnlichen Situation, dass in dieser Konstellation weder der Chef sich seine Mitarbeiter aussuchen konnte noch die Mitarbeiter die Auswahl des Chefs beeinflusst hätten.

Die tägliche Arbeit im NIFA-Panel drehte sich um die standardisierte, schriftliche Befragung von Maschinenbaubetrieben. Anhand der erhobenen Da-ten wurden die Folgen des Einsatzes flexibler Arbeitssysteme auf betrieblicher Ebene empirisch untersucht. Vorbereitung und Durchführung dieser Befragung prägten den Projektalltag. Die Beschäftigung mit flexiblen Arbeitssystemen blieb nicht ohne Folgen für das Projektteam, das gelegentlich das Attribut ‚flexibel’ stärker in den Vordergrund zu rücken verstand als das eigene ‚Arbeitssystem’. Über die technischen, organisatorischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieses Projektalltags, wie ihn Ulrich Widmaier und das Forschungsteam erlebten, und die Art und Weise, mit welchen konventionellen und manchmal auch un-konventionellen Mitteln er diese bunte Truppe führte, wollen wir berichten – manchmal, dies sei zur Warnung vorangestellt, auch unter Umgehung der sonst von ihm geforderten wissenschaftlichen Präzision und Ernsthaftigkeit.

Wer je selbst als wissenschaftlicher Novize in universitären Forschungs-projekten gearbeitet hat, kennt die Qualen, die zu erleiden sind, wenn die Be-schäftigung des Forschers mit Fragen und Problemen, deren Beantwortung und Lösung wenn nicht die Menschheit, dann doch wenigstens den Maschinenbau voranbringen sollen, in ein enges Korsett von Antragsfristen, Projektlaufzeiten, Beiratssitzungen und Urlaubsplanungen eingebunden ist. Diese Doppelbelastung aus Forschung und Freizeit wird gerne unterschätzt. Welcher Geist kann da frei

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274 Hauptmanns, Niggemann, Ostendorf und Rogalski

denken? Oder anders gefragt, was muss der gepeinigte Jung-Forscher tun, um seiner Berufung zu folgen?

Bösartige Zungen antworten schlicht: „Werde doch Projektleiter!“ oder bes-ser noch: „Professor!“ und übersehen dabei, dass es genau der Weg dorthin ist, der die höchste aller Hürden darstellt. Erst nach ihrer mühsamen Überwindung lockt das Paradies. So jedenfalls die Auffassung derer, die sich noch auf diesem verschlungenen Pfad befinden. Und es gibt nicht wenige, die vorzeitig abbiegen.

So gehören auch wir zur Gruppe derjenigen, die nun auf Ledersesseln hinter den verspiegelten Scheiben der Glaspaläste von Versicherungen, Verwaltungen und Unternehmensberatungen sitzen und sich einreden, dass die Aussicht aus dem Elfenbeinturm auch nicht schöner sein kann, als die Aussicht auf ihn. Wir waren damals, als wir noch selbst aus einer seiner unteren Etagen (GC 04) her-ausgeschaut haben1, beauftragt, den deutschen Maschinenbau voranzubringen. Und wir nehmen mit dem uns immer schon zu eigenen Selbstbewusstsein in Anspruch, es geschafft zu haben! Zwar geriet nur wenige Jahre nach Abschluss des Projekts der Maschinenbau in eine seiner schärfsten ökonomischen Krisen, aber wie dramatisch wäre die Entwicklung ausgefallen, wenn es das NIFA-Panel nicht gegeben hätte? Dennoch: mit CAD, CAM, CIM und Co. haben manche Unternehmen Millionen in den Sand gesetzt, doch gleichzeitig auch eine ganze Schar von Forschern über Jahre hinweg ernährt. Einige von ihnen tragen noch heute jene aus diesen Mitteln finanzierten magischen zwei Buchstaben vor ihrem Namen, die quasi die Legitimation für noch verwegenere Projekte bedeuten.

Mit der gebotenen Ironie, die dem Blick in die Vergangenheit ein wenig die Sentimentalität nehmen soll, wollen wir nach langen Jahren des Schweigens auch einige Rituale des Projektlebens der Öffentlichkeit preisgeben.

Da wäre zunächst die wöchentliche Projektsitzung zu nennen. Wir wissen heute und aus anderen Zusammenhängen, dass Projektsitzungen (im Neudeutsch: Meetings) zu den wichtigsten Ereignissen im Berufsleben gehören. Wo sonst ließe sich die im Vorfeld der Sitzung nicht erledigte Arbeit so eindrucksvoll als Erfolg des eigenen Engagements verkaufen? Wo sonst werden Kollegen mit eleganten Worten an die Wand genagelt? Wo sonst könnten die nächsten Ar-beitsschritte mit größerer Unverbindlichkeit vereinbart werden? Die Antwort lautet: In der Projektsitzung. Oder spätestens in der nächsten Projektsitzung.

Ganz ohne Ironie jedoch dürfen wir heute feststellen, dass solche Muster in der so genannten Z2-Sitzung nicht zum Tragen gekommen sind. Man mag diesen Umstand in Teilen vielleicht dem geschützten Raum eines universitären For-schungsprojektes zuschreiben. Wesentlich für das NIFA-Panel war aber die

1 Für alle, die sich in der wunderbaren Architektur der Ruhr-Universität nicht auskennen, sei

erwähnt, dass sowohl Lehrstuhl als auch Mitarbeiterbüros im Untergeschoss lagen. Fenster wa-ren vorhanden.

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gleichzeitig mit Sachverstand und Humor geprägte Leitung des Projektes und somit auch der Projektsitzungen durch Ulrich Widmaier. Auf diese Eigenschaft kommen wir später noch in anderen Zusammenhängen zu sprechen.

Bildhaft in Erinnerung geblieben ist auf jeden Fall der rituelle Auftakt jeder Sitzung. Ungefähr fünf Minuten vor Beginn raffen die Mitarbeiter ihre Unterla-gen zusammen, versorgen sich mit frischem Kaffee (woran übrigens dank der ausgeprägten Fähigkeit zur Selbstorganisation niemals Mangel herrschte) und begeben sich in den für die Besprechung vorgesehenen Raum. Wie überall hatte sich in kürzester Zeit eine unausgesprochene Sitzordnung herausgebildet, die niemals in Frage gestellt wurde. Wie es sich gehört, war der Platz an der Stirn-seite des Tisches natürlich dem Projektleiter vorbehalten. Bewaffnet mit ausge-druckten Frequencies und Crosstabs, einige hatten sogar Odds und Logits dabei, dem bereits erwähnten Heißgetränk sowie Stift und Alibiblock erwarten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den „Boss“. Er kommt herein (meist ohne Kaf-fee), nimmt Platz und eröffnet die Sitzung mit einem charmanten Wortspiel, das da lautet: „Begrüßung!“. Man kann sich leicht vorstellen, dass damit das Eis sofort gebrochen ist, man ohne Umschweife den wissenschaftlichen Diskurs beginnen und zu einem produktiven Abschluss führen kann. Spätere Erkennt-nisse und Lebenserfahrung der Autoren dieses Beitrags haben übrigens ergeben, dass in anderen Bereichen des Berufslebens durchaus wesentlich ausschweifen-dere Begrüßungsrituale anzutreffen sind, die in der Regel dann aber mit ebenso langen wie inhaltsleeren Sitzungen einhergehen.

Nicht rituell, sondern eher virtuell gestaltete sich die Nutzung der eigens für die Befragungsdaten eingerichteten Datenbank. „Eine Oracle-Datenbank2 muss her“, so lautete der Rat während der SFB-Begutachtung. Gelder für ebendiese und einen entsprechenden Server wurden zur Freude der stets an technischen Neuerungen interessierten Projektmitarbeiter überaus großzügig bewilligt. Aus einem bis heute geheim gehaltenen Manuskript eines Mitarbeiters stammt das Zitat:

„Seit 1992 werden die Befragungsdaten des NIFA-Panels in einer Oracle-Daten-bank abgespeichert ... und zur weiteren statistischen Bearbeitung zur Verfügung ge-stellt. Die Verwendung eines komplexen relationalen Datenbanksystems im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschung darf durchaus als außergewöhnlich bezeichnet werden.“

2 Die Nutzung einer komplexen relationalen Datenhaltung war damals außerhalb der Informatik

nicht gerade verbreitet. Datensätze in den Sozialwissenschaften lagen i.d.R. als ASCII-Datenfriedhof vor, allenfalls Literaturverzeichnisse u.ä. wurden schon mit so modernen Werk-zeugen wie dBase II erstellt.

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Durch eine Indiskretion ist inzwischen publik geworden, dass die Verwendung des Systems nicht nur ungewöhnlich, sondern den Projektmitarbeitern sogar weitgehend unbekannt war. Statt der geplanten zentralen Verwaltung des stetig zunehmenden Datenbestandes setzte sich daher recht bald ein Prinzip durch, das mit ‚föderalistisch’ noch recht wohlwollend umschrieben war. Nun wird Geis-teswissenschaftlern gelegentlich eine gewisse Technikfeindlichkeit unterstellt. Davon allerdings konnte bei den Mitarbeitern des NIFA-Panels nicht die Rede sein. Im Gegenteil. Wie sonst wären die Begeisterung und das Engagement für eine ständige Aufrüstung der gesamten PC-Ausstattung zu verstehen? Vielleicht muss man dem Maus-Betreiber des 21. Jahrhunderts jedoch verdeutlichen, dass die damalige Datenbank frei war von solchem Ungeziefer und es für die Mitar-beiter sicher eine Herausforderung war, neben der zentralen Forschungsfrage (oder waren es zwei?) auch die kryptischen Bezeichnungen einiger Tausend Variablen im Kopf zu behalten.

Man erinnere sich: damals durfte ein Variablenname aus maximal 8 Zeichen bestehen. Abkürzungen wie hIII13, w1b10, hi29b7, c29_1, e13_3 bargen die Geheimnisse des deutschen Maschinenbaus. Sicherlich auch ein nicht zu unter-schätzender Beitrag zum Datenschutz. Die damalige Praxis der Namensvergabe trägt auch heute noch zur Unterhaltung bei: der eine oder andere kann noch im-mer problemlos die Variablen des prozentualen Anteils von Unikat-/Einmalfertigung in den Jahren 1991-1998 rezitieren und begeistert mit dieser Fähigkeit die ehemaligen Kollegen.

Dennoch, so müssen wir heute feststellen, ist der Sozialwissenschaftler of-fenbar ein Gewohnheitstier. Alles, was weder aussieht noch die Mängel hat wie SPSS, wird ignoriert. Glücklicherweise waren die seinerzeitigen Administratoren der Datenbank in der Lage, den nach Chi-Quadrat und Beta-Werten schreienden Wissenschaftlern jederzeit ein komplettes Systemfile zum Import in die bevor-zugte Umgebung zur Verfügung zu stellen. Dank der durch den Projektleiter unterstützen PC-Erweiterungen waren stets genügend Ressourcen zur x-fachen Speicherung der Befragungsdaten vorhanden. Damit war gleichzeitig das Prinzip des anarchischen Backups3 erfunden, das in heutigen EDV-Umgebungen genau-so oft anzutreffen ist, wie es verleugnet wird.

Dass das NIFA-Panel nicht nur in technischer Hinsicht zur vordersten Front sozialwissenschaftlicher Forschung gehörte, war nicht zuletzt der viel beachteten Arbeit des so genannten „Panel-Beirates“ zu verdanken. Diese Institution, beste-hend aus etwa 15 hochkarätigen Wissenschaftlern unterschiedlichster Prove-nienz, stellte wissenschaftlichen Sachverstand für jeden nur denkbaren Aspekt des zu bearbeitenden Forschungsfeldes zur Verfügung – und generierte zugleich 3 Historisch betrachtet handelt es sich hierbei jedoch lediglich um die Weiterentwicklung des

o. g. föderalistischen Systems der Datenverwaltung.

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handfeste praktische Anforderungen für das Arbeitssystem NIFA-Panel. Sprich: die Beirats-Sitzung wurde vom Projekt-Team als technische, organisatorische, wirtschaftliche und soziale Herausforderung angenommen. Die in ca. halbjährli-chem Abstand stattfindenden Zusammenkünfte des Gremiums können dabei als zyklisches 3-Phasen-Modell dargestellt werden. Während Phase 1 der Vorberei-tung der nächsten Zusammenkunft diente, stand im Mittelpunkt von Phase 2 die Durchführung der Beiratssitzung. In Phase 3 widmete sich das Projekt-Team der Aufarbeitung und Umsetzung des wissenschaftlichen Inputs der Beiratsmitglie-der. In manchen Jahren kam es, bedingt durch geringen zeitlichen Abstand der einzelnen Sitzungen, zu deutlichen Phasenüberlagerungen.

Auch wenn das Projekt-Team im Sinne von Olson eine mehr oder weniger optimale Größe für eine „handelnde“ Gruppe hatte, ist im Rückblick festzuhal-ten, dass die Vielzahl von komplexen Entscheidungen, die im Zusammenhang mit dem Beirat zu treffen waren, die Problemverarbeitungskapazitäten der Grup-pe nahezu sprengten. Exemplarisch sind hier, nach Phasen getrennt, zu nennen:

Phase 1: Welches Thema, das wir schon länger nicht mehr besprochen ha-ben (Panel heißt ja: Längsschnittanalyse!), könnte welcher Freiwillige dem Publikum unter Berücksichtung welcher neuen (oder zumindest nicht er-kennbar bereits beleuchteter) Aspekte bei möglichst sparsamer Verwendung der zeitlichen und personellen Ressourcen darstellen? (Im Jargon der Pro-jektgruppe auch als ‚Ressourcen-Minimierungs-Problem’ bezeichnet.) Phase 2: Wer bzw. wie viele Damen und Herren kommen wann und werden wie viele Brötchen essen wollen, die wir – gegeben ein festes Budget – wo und wann am besten beschaffen? Es handelt sich hierbei um das ‚Versor-gungsoptimierungsproblem unter Nebenbedingungen’. Phase 3: Hat irgend jemand auch nur den Hauch einer Idee, was die Exper-tengruppe uns mit der Anmerkung „grmpf“ überhaupt sagen wollte4 und in welchem Zusammenhang dies irgendwie mit unseren Forschungsfragen ste-hen könnte? Insbesondere in Phase 3 erwies es sich als besonders nützlich, dass das Team auch philosophischen Sachverstand aufwies, und Scylla und Charybdis der Deutungsmusteranalyse somit elegant zu umschiffen in der Lage war.

4 Hier muss erläuternd angemerkt werden, dass die Diskussionen im Panel-Beirat, wie in jeder

Diskussionsrunde, nicht immer von optimaler Stringenz und Themenzentriertheit geprägt wa-ren. Das machte es für den Protokollführer mitunter enorm schwierig, Tage nach der Sitzung seinen nicht gerade in Schönschrift angefertigten Notizen einen inhaltlichen Sinn zu geben. Im gemeinsamen Brainstorming über die Frage „Was wird uns der Beitragende damit wohl gesagt haben wollen“ wurde aber letztlich immer eine für alle Beteiligten befriedigende Lösung ge-funden.

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Doch wenden wir uns nach diesen schon beinahe wissenschaftstheoretischen Betrachtungen, die durch die organisatorischen und wirtschaftlichen Aspekte des Projektalltags inspiriert wurden, nun dem Sozialen zu.

Die Arbeit mit Ulrich Widmaier war nicht nur einfach wissenschaftliches Alltagswerk, sondern immer auch geprägt durch soziale Ereignisse. Das Wort „sozial“ ist nicht nur elementarer Bestandteil der Fakultätsbezeichnung, an der Ulrich Widmaier lehrte und forschte, sondern in besonderem Maße auch Gegen-stand des von ihm bearbeiteten Forschungsfeldes. Dabei ging es ja nicht nur generell um die „sozialen Entwicklungen beim Einsatz flexibler Arbeitssysteme im Maschinenbau“, sondern auch speziell um die Sozialkompetenz als eine der wesentlichen Kernkompetenzen für den Arbeitnehmer der Zukunft, der ja nach den Worten eines etwas aus der Mode gekommenen Polit-Poeten der 70er Jahre wieder ein Nomade sein sollte.

Soziales wurde daher auch im Umfeld der Arbeit von Ulrich Widmaier groß geschrieben. Im beliebten Neudeutsch wäre wohl Teambuilding ein passender Begriff für das, was Ulrich Widmaier bei seinen Mitarbeitern förderte. Eine bunte Schar von Individualisten (für die sich Wissenschaftler, insbesondere Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler nun mal gerne halten) mit zum Teil noch wechselnder Besetzung sollte über die Jahre als homogenes Forschungs-team konstituiert werden.

Um es vorweg zu nehmen: Ulrich Widmaier hat auch dieses Ziel erreicht. Ein gar nicht einmal kleiner Kern des Forschungsteams um Ulrich Widmaier hat über die Jahre und über die Universitätszeit hinaus den engen Kontakt gehalten. Es ist ein Netzwerk entstanden und geblieben, auch als die Arbeitsgegenstände der Beteiligten schon längst keine Affinitäten mehr zueinander hatten.5 Mit et-was Pathos könnte man auch sagen: Aus Kollegen sind Freunde geworden.

Um die Ziele des Teambuilding zu erreichen, hat Ulrich Widmaier in der Betreuung und Leitung des Forschungsprojekts verschiedene ausdifferenzierte Mittel und Methoden eingesetzt. Selektive Anreize zur Realisierung eines kol-lektiven Ziels spielten dabei eine große Rolle – nicht nur als Gegenstand seiner Forschung, sondern auch als praktiziertes Handeln. Aus den eingesetzten Mitteln und Maßnahmen zur Zielerreichung sind einige als besonders prägnant und nachhaltig Wirkung zeigend hervorzuheben.

5 Ein kleines Indiz dafür ist auch dieser Beitrag. Obwohl alle vier Autoren dem Wissenschaftsbe-

trieb schon lange den Rücken gekehrt haben und nun in sehr unterschiedlichen Arbeitsfeldern aktiv sind, haben sie sich gerne noch einmal zusammengefunden, um einen Beitrag für diesen Band zu schaffen. Eine Wochenend-Klausurtagung im Niemandsland östlich von Berlin sowie eine Abschlusskonferenz in der Germania zu Frankfurt-Sachsenhausen haben, ganz in der Tra-dition der Arbeitstagungen des NIFA-Forschungsteams, die Grundlagen dafür gelegt.

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Der Jour Fixe des Lehrstuhls war ein regelmäßiger, wöchentlich im Semester stattfindender Termin, an dem die Teilnahme für alle wissenschaftlichen Be-schäftigten von Lehrstuhl und Projekt – von der studentischen Hilfskraft bis zum Professor – freiwillig obligatorisch war. An anderen Lehrstühlen wurde diese Einrichtung (die Ulrich Widmaier noch von seinem Amtsvorgänger Franz Leh-ner übernommen hatte) profan als „Forschungskolloquium“ bezeichnet. Gerne wird unterstellt, dass eine solche Veranstaltung nur dazu diene, die Lehr-Pflicht-stundenzahl des jeweiligen Lehrstuhlinhabers aufzufüllen und i.d.R. nur auf dem Papier (oder in der Kneipe) stattfand.

Anders bei Ulrich Widmaier. Hier war der Jour Fixe die Feuertaufe für den harten Wissenschaftsalltag, in den wir irgendwann einmal alle entlassen werden sollten. Die Veranstaltung war geprägt durch einige ungeschriebene Gesetze: Teilnehmer, die sich in einer Qualifizierungsphase befanden (Diplom, Promo-tion, Habilitation) waren im Prinzip verpflichtet, ihren Arbeitsfortschritt regel-mäßig zur Diskussion zu stellen. Dadurch waren die Probanden nicht nur ge-zwungen, sich überhaupt erst einmal für ein Forschungsproblem zu entscheiden, sondern auch in weniger produktiven Phasen die zwangsläufig spärlichen Fort-schritte zumindest rhetorisch zu vermarkten. So wurden sie „gestählt“ für den harten wissenschaftlichen Diskurs.

Denn Gesetz Nr. 2 war: „Es gibt keine Freunde!“. Insbesondere die wissen-schaftlichen Angestellten bemühten sich – ungeachtet der persönlichen oder fachlichen Beziehungen zum Vortragenden – dessen Arbeit nach Strich und Faden zu zerreißen. Hielt der Vortrag oder der Vortragende dieser brutalen, da-bei aber (zumindest in den Augen der Kritiker selbst) immer sachlich begründe-ten und methodisch basierten Kritik nicht stand, war die wissenschaftliche Zu-kunft der Arbeit und des Vortragenden gleichermaßen in Frage gestellt, jeden-falls für diese 90 Minuten. Dieses Vorgehen machte fit für den Alltag auch au-ßerhalb der Universität, und es ist daher kein Wunder, dass die Mitarbeiter des NIFA-Forschungsprojekts auch heute noch in der Lage sind, aus nichts einen gehaltvollen Beitrag zu einem beliebigen (wissenschaftlichen) Problem zu leis-ten und diesen auch in der härtesten Diskussion mit Kunden oder Vorgesetzten als innovativ und zukunftsweisend zu behaupten.

Nun sollte man nicht etwa zu der falschen Auffassung gelangen, solch ein radikales Vorgehen6 hätte nicht zum Teambuilding beigetragen. Im Gegenteil. Es trainierte nicht nur den eigenen Geist, sondern förderte beim i.d.R. anschlie-ßenden Umtrunk oder Restaurantbesuch auch die Kohäsion der Gruppe. Es soll allerdings auch Veranstaltungen gegeben haben, die samt und sonders nicht den

6 Im Alltag des einstmals „real-existierenden Sozialismus“ wohl als Fach „Kritik und Selbstkri-

tik“ bezeichnet.

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Geist des Wissenschaftlers, sondern den des Weines im Zentrum hatten. Wir kommen noch darauf zurück.

Gruppenkohäsion ist ein gutes Stichwort, um zum nächsten Punkt überzu-leiten. Wie schon an anderer Stelle erwähnt, erfreut sich auch der Wissenschafts-betrieb an Sitzungen. So begab es sich des Öfteren, dass innerhalb des Projekt- oder Forschungszusammenhangs eine Besprechung die nächste jagte. Solange es sich dabei um Diskussionen innerhalb des SFB 187, also an der Ruhr-Universität handelte, musste niemand alleine blieben. Es fand sich immer ein Kollege, der meist mit Fachkompetenz, immer jedoch mit moralischer Unterstützung zur Begleitung bereit war. Doch kaum verließ man die Hallen der Universität, muss-te jeder mit sich selbst zurechtkommen. Sei es bei der Heimarbeit, auf Kon-ferenzen oder Tagungen. Wieder bildete die Arbeitsweise von Ulrich Widmaier eine Ausnahme vom Gewöhnlichen.

Im NIFA-Projekt fanden regelmäßige Arbeitstagungen statt. Völlig ohne externe Beteiligung, die Gruppe ganz mit sich selbst. Wochenenden in den ver-borgensten Tälern der Eifel, an denen man durch nichts und niemanden abge-lenkt werden konnte, wurden dazu genutzt, komplexe Forschungsprogramme zu entwickeln und strategische Planungen aufzustellen. Zwar wären Fluchtversuche angesichts der Abgeschiedenheit der Lokalitäten und der gemeinsamen Anreise7

sowieso zwecklos gewesen, aber Ulrich Widmaier ist es selbst unter solch un-wirklichen Bedingungen gelungen, besagte Gruppenkohäsion weiter zu fördern. So kann es nicht verwundern, dass trotz der für solche Klausurtagungen typi-schen konzentrierten Arbeitsatmosphäre das soziale Element nie zu kurz kam. Im Gegenteil, es nahm – sowohl organisiert als auch durch persönliche Initiative einzelner – den Raum ein, der beim besten Willen nicht mehr mit Arbeit zu fül-len war. Das war durchaus nicht wenig, denn wie jeder Forscher weiß, ist mit konzentrierter Arbeit in kurzer Zeit sehr viel zu erreichen. Da man dies spätes-tens nach der ersten Tagung dieser Art wusste, wurden allein dadurch schon Anreize zur weiteren konstruktiven Teilnahme an Follow-up-Events gesetzt. Es wäre müßig zu erklären, dass mit einer derartigen Motivation der Arbeitserfolg natürlich spielend leicht zu erreichen war und Ulrich Widmaier auf diese Weise geschickt die Zielerreichung forciert hat.

Zum Teil wurden bei ähnlichen Meetings temporär externe Experten in den Ablauf der Tagung einbezogen. Meist für den eher weniger wissenschaftlichen Teil. Und – man möge uns diese Offenbarung verzeihen – natürlich erfüllte es jeden Mitarbeiter mit einer gewissen inneren Freude, wenn jener Experte die ansonsten eher unwiderlegbaren Erkenntnisse des Projektleiters und Lehrstuhl-inhabers locker zerpflückte. Allen Beteiligten im Gedächtnis geblieben ist in

7 Dadurch bedingt war die Ressource „Transportmittel“ i.d.R. ein extrem knappes Gut.

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diesem Zusammenhang wohl der Besuch eines Weinguts, bei dem der unbe-streitbare Weinexperte Ulrich Widmaier im Disput mit dem lokalen Winzer eindeutig zweiter Sieger war. Gerade solche Momente waren es, die neben dem Wissenschaftler und Lehrer Ulrich Widmaier auch den Menschen zeigten. Was wiederum auch die Momente waren, in denen man als Mitarbeiter besonders zufrieden darüber war, zum Team zu gehören.

Apropos Menschen: Eine der vordringlichsten Aufgaben, der sich Ulrich Widmaier von Anfang an gestellt hat, war die Förderung der individuellen Quali-fikation, also die Förderung von Diplomarbeiten, Promotionsvorhaben und Habi-litationen. Oder, wie er es ausdrückte: aus einfachen Studenten werden Viertel- (Diplomierte) oder Halbmenschen (Doktoren) gemacht. In Einzelfällen sogar Vollmenschen. Auch in diesem Feld arbeitete Ulrich Widmaier sehr filigran mit einem ausgefeilten Anreizsystem. Indem er den Kandidaten alle erdenklichen Freiheiten gab und es weitgehend der Eigenverantwortung eines jeden überließ, ob und wie er mit seiner Arbeit vorankam, forcierte er die Selbstdisziplinierung und intrinsische Motivation. Und war es dann geschafft, wenn der begehrte Titel des Doktors der Sozialwissenschaften verbrieft war, schmolz die autoritäre Dis-tanz des Projektleiters und akademischen Lehrers und wurde durch ein kollegia-les „Du“ ersetzt. War dies für jeden Beteiligten zum Zeitpunkt des Geschehens auch noch schwer verständlich und nachvollziehbar, erweist sich diese Vorge-hensweise im Rückblick betrachtet als sehr erfolgreich und effektiv. Ein distan-ziertes Verhältnis zwischen Führungskraft und Mitarbeiter, das dann aufgelöst wird, wenn ein großes Ziel erreicht ist, entspricht in vielerlei Hinsicht den Prin-zipien der modernen Personalführung in der so genannten freien Wirtschaft. Allerdings gibt es in der freien Wirtschaft auch viele Prinzipien, die sich Ulrich Widmaier glücklicherweise nicht zu Eigen gemacht hat. Das Grundprinzip des „Förderns und Forderns“ jedenfalls, das Ulrich Widmaier vor Jahren schon er-folgreich praktizierte, wird aktuell in der Politik als bahnbrechend neues Leitmo-tiv verkauft.

Weitere Elemente für soziales Teambuilding, die von Ulrich Widmaier kon-tinuierlich und verlässlich gefördert wurden, waren die interdisziplinär besetzten wissenschaftlichen Events, die zur Community-Konstituierung beitrugen. Re-gelmäßig lud Ulrich Widmaier zu Meetings ein, die den Fortgang der wissen-schaftlichen Analyse auf besonders geschickte Weise zum Gegenstand hatten. Herausragend war dabei das private Sommerfest des Lehrstuhlinhabers, i.d.R. im eigenen Garten veranstaltet und charakterisiert durch gute Weine und kulinari-sche Kostbarkeiten.8 Im Rahmen dieser Lehrgänge, bei denen Ulrich Widmaier seine Mitarbeiter (altertümlich: Schüler) stets so komplett wie möglich um sich

8 Unbelehrbaren standen auch Bier und Grillwürstchen zur Verfügung.

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versammelte, entstand eine community, die noch lange über den unmittelbaren Arbeitskontext hinaus Bestand hat(te). Immer wieder gaben sich Gäste die Ehre, die längst schon durch die Wirren der Bürokratie und die Zwänge der universitä-ren Verwaltung dem Lehrstuhl oder den Projekten den Rücken hatten kehren müssen. Dem durchaus variabel terminierten Sommerfest folgt bis heute das zeitlich etwas stärker eingegrenzte Weihnachtsessen, bei dem sich aktuelle und ehemalige Mitarbeiter gegenseitig die jahreszeitüblichen Wünsche übermitteln. Bei beiden Veranstaltungen zeigt Ulrich Widmaier die Bedeutung des Sozialen in seinem Wirken nicht zuletzt dadurch, dass er mit seinen verdienten C4-Bezügen die an pekuniären Ressourcen zwar meist knappen (aber dennoch an der Teilnahme interessierten) Studenten signifikant unterstützte und damit die in der Sozialwissenschaft allgemein anerkannte Theorie der besonderen Wertschät-zung knapper Ressourcen durch pragmatisches Handeln praktisch falsifizierte.

Eine schöne Tradition am Lehrstuhl Widmaier war es auch, nach dem oben bereits beschriebenen Jour Fixe seine Mitarbeiter noch auf ein, zwei Gläser Wein in sein Büro einzuladen, um das gerade gehörte und diskutierte noch einmal in einem etwas gelockerten Rahmen Revue passieren zu lassen. In dieser für krea-tive Ideen und offene Atmosphäre bekannten Runde wurde dann auch so manche hoffnungsvolle Karriere auf den Weg gebracht – und auch so mancher Versuch eines Karrierebeginns gestoppt. Hier zeigte sich oftmals der zielorientierte Cha-rakter des Ulrich Widmaier. So wurde in einer dieser Runden der ihn bis heute auszeichnende Satz geprägt, mit dem er den Vortrag eines der hier vertretenen Autoren charakterisierte:

„Ich habe den Eindruck, Sie nehmen Wissenschaft nicht richtig ernst. Wissen-schaft ist aber eine todernste Angelegenheit.“

Der Adressat dieser Zeilen akzeptierte diese Kritik (in Teilen) und fuhr gut da-mit. Nun heißt dies aber nicht, dass Ulrich Widmaier in seiner wissenschaftli-chen Arbeit immer nur ernst war. Unvergessen sein gemeinsam mit Josef Schmid verfasster Aufsatz über den Fußball – ein Meisterstück der wissen-schaftlichen Analyse, die locker und sachkundig zugleich war.9 Aber nicht nur darin, auch in der praktischen Arbeit kam das weniger Ernste – jedenfalls wurde es von uns als Publikum weniger ernst genommen – immer mal wieder durch. Als ein Beispiel sei der bereits mehrfach angesprochene Jour Fixe genannt, der von Zeit zu Zeit das bis heute aktuelle Problemfeld „Wein“ zum Thema hatte. Neben umfangreichen theoretischen Analysen und Modellen, die üblicherweise zum Wesen des Jour Fixe gehörten, hatte diese Sonderreihe immer auch einen

9 Und das, obwohl die Fußballfans unter den Mitarbeitern und Kollegen zunächst befürchteten,

hier würden in fußballerischer Hinsicht Not und Elend in einer Mannschaft spielen.

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sehr praktischen Teil. Kein Wunder, dass diese Veranstaltungen zu den belieb-testen der Reihe gehörten.10

All diese Beispiele machen mehr als deutlich, dass es Ulrich Widmaier in hervorragender Weise verstand, selektive Anreize im Bereich des Sozialen zu setzen, um damit kollektive Zielerreichung zu realisieren. Dass dies manchmal, ganz im Sinne der Thesen von R. K. Merton, zu nicht-intendierten Folgen ab-sichtsvollen Handeln führte, dürfte Ulrich Widmaier nicht zuletzt aufgrund sei-ner doch eher kritisch-rationalistischen Grundeinstellung bewusst in Kauf ge-nommen haben. Doch bevor uns nun womöglich noch weitere, längst verschüttet geglaubte Reste sozialwissenschaftlicher Theorie aus der elektronischen Feder quellen, räumen wir das Feld und sagen einfach nur: Danke.

10 Und von einem der Autoren dieses Rückblicks im Rahmen einer Malt-Whisky-Degustation zur

Feier des Ausscheidens aus der universitären Laufbahn brutal plagiiert wurde.

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Einzelinteressen und kollektives Handeln in unterschiedlichen politischen, historischen und kulturellen Kontexten

Nils C. Bandelow und Wilhelm Bleek

Das Spannungsverhältnis zwischen Einzelinteressen und kollektivem Handeln, das haben die vielfältigen Beiträge dieses Ulrich Widmaier gewidmeten Sam-melbandes gezeigt, ist weder politisch auf moderne Demokratien beschränkt noch ist seine politikwissenschaftliche Analyse auf bestimmte Ansätze wie die neue politische Ökonomie oder die Rational-Choice-Überlegungen begrenzt. Es handelt sich vielmehr um ein klassisches Phänomen der Politik, das in unter-schiedlichsten politischen, historischen und kulturellen Kontexten von grundle-gender Bedeutung ist und aus verschiedenartigsten theoretischen und methodo-logischen Perspektiven ausgeleuchtet werden kann. Der wissenschaftlichen Dis-kussion zu diesem Thema nicht nur in der Politikwissenschaft, sondern in den Sozialwissenschaften in ihrer Gesamtheit stellt sich aber die Aufgabe, diese einzelnen Sichtweisen zusammenzuführen, zu einer gemeinsamen Sicht eines universalen Problems zu kommen.

1 Einzelinteressen und kollektives Handeln im europäischen Mehrebenensystem

Der Band enthält zunächst Beiträge zum Regieren und zur Interessenvermittlung im europäischen Mehrebenensystem – einem, aber keineswegs dem ersten Bei-spiel von Politik in zusammengesetzten Politien (vgl. Widmaier 2005b). Diese vier Artikel verdeutlichen, wie ähnliche Fragestellungen aus unterschiedlichen Perspektiven mit verschiedenen Vorgehensweisen behandelt werden können. Abromeit nimmt die Kategorien der traditionellen vergleichenden Regierungs-lehre auf und verbindet diese mit ideengeschichtlichen und historischen Erkennt-nissen. Sie kommt dabei zu Erklärungen für die Schwierigkeiten einer Demokra-tisierung der EU, die sich im Rahmen herkömmlicher Modelle so nicht verstehen lassen. Üblicherweise geht der politikwissenschaftliche Vergleich von unter-schiedlichen Regierungsinstitutionen aus. Der Beitrag ergänzt dieses Perspektive durch den Hinweis auf die unterschiedlichen demokratietheoretischen Traditio-nen. Vor den jeweiligen historischen und ideengeschichtlichen Hintergründen verstehen die verschiedenen europäischen Nationen jeweils Unterschiedliches unter Demokratie. In Deutschland wird üblicherweise Demokratie mit der Ver-

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hinderung von Tyrannei gleichgesetzt. Das deutsche Demokratieverständnis basiert demnach ideengeschichtlich unter anderem auf Montesquieu – gestärkt durch die Erfahrungen mit den deutschen Diktaturen. In Frankreich spielt dage-gen die Rousseausche Idee einer Volonté Générale eine zentrale Rolle. In Frank-reich besteht daher keinerlei Misstrauen gegenüber einer Konzentration von Macht – solange diese die Einheit der Nation verkörpert. Das britische Demokra-tieverständnis hat seinerseits weniger eine ideengeschichtliche als eine realhisto-rische Prägung. Demokratie im britischen Verständnis meint vor allem Herr-schaft des Bürgertums, wodurch das Parlament als entscheidende Institution des Bürgertums zum Souverän wird. Das Bürgertum sichert seine Macht durch die parlamentarische Demokratie sowohl gegenüber Krone und Adel als auch ge-genüber dem einfachen Volk. Die unterschiedlichen Demokratieverständnisse können als Begründung für ein europäisches Demokratiedilemma dienen. Heid-run Abromeit fordert daher, an den Beginn der Demokratiedebatte eine Verstän-digung über einen gesamteuropäischen Demokratiebegriff zu stellen.

Meyer und Schubert diskutieren für das Konzept eines europäischen Sozial-staats ein Problem, das weitgehende Analogien zur Problematik eines europäi-schen Demokratiekonzeptes aufweist. Auch bei der Einigung der Mitgliedstaaten der EU auf ein gemeinsames Sozialmodell stehen nicht allein rationale Interes-sen, sondern vor allem auch unterschiedliche historische Erfahrungen und Erwar-tungen der Mitgliedstaaten einem kollektiven europäischen Handeln entgegen. Um dies zu zeigen, geht der Beitrag von der verbreiteten Typologie Esping-Andersens (1990) aus, wonach sich grundlegend nur drei Formen europäischer Sozialstaaten unterscheiden lassen. Diese Typologie ist aber nicht nur metho-disch problematisch. Sie wird auch der wachsenden Vielfalt europäischer Sozi-almodelle nach der Erweiterung auf inzwischen 25 Mitgliedstaaten nicht gerecht. In ihren Schlussfolgerungen zum europäischen Sozialstaat sind Meyer/Schubert pessimistischer als Abromeit im Hinblick auf eine gesamteuropäische Demokra-tie. Da es sich hier um materielle Einzelinteressen der Staaten und nicht primär um kulturelle Unterschiede begrifflicher Prägungen handelt, scheint kaum be-rechtigte Hoffnung auf die Verwirklichung eines europäischen Sozialmodells zu bestehen.

Auch Josef Schmid weist auf die Vielfalt europäischer Interessen hin. Dabei geht er nicht von den Wohlfahrtsstaatsformen, sondern von den Typen interme-diärer Interessenvermittlung im Europäischen Mehrebenensystem aus. Neben pluralistischen und korporatistischen Verbändesystemen spielt hier auch insbe-sondere das „Networking“ (Bandelow/Schubert 1994) eine zentrale Rolle. Schmid nennt diesen Typus im Anschluss an die organisationssoziologische Terminologie eine „organisierte Anarchie“, die sich dadurch auszeichnet, dass staatliche Akteure (bzw. im EU-Mehrebenensystem auch suprastaatliche Akteure

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wie die Europäische Kommission) eigene Netzwerke mit gesellschaftlichen Ak-teuren konstruieren. Interessenvermittlung stellt sich damit nicht allein als Prob-lem einer „bottom up“ ausgerichteten Koordination konkurrierender gesellschaft-licher Interessen dar. Vielmehr findet sich daneben auch die umgekehrte „top down“ orientierte Logik der Interessenvermittlung. Die verschiedenen Typen des Lobbyismus und Korporatismus sowie der „organisierten Anarchie“ finden sich zwar in unterschiedlichem Ausmaß in verschiedenen Politikfeldern. Sie sind aber oft eng miteinander verknüpft. Daraus ergibt sich methodisch, dass eine quantita-tive Erfassung und Typologisierung von Interessenverbänden auf Grundlage übereinstimmender Kriterien zu irreführenden Ergebnissen führt. Notwendig ist vielmehr eine Forschung, die historische Entstehungszusammenhänge und Funk-tionen der jeweiligen Verbände berücksichtigt.

Auch bei König steht die Entscheidungsfindung der Europäischen Union im Mittelpunkt. Der Beitrag zielt auf die Erklärung eines konkreten empirisches Paradoxes: Aus Sicht rationalistischer Modelle ist die Übertragung von national-staatlichen Kompetenzen auf das Europäische Parlament überraschend: Rational agierende Nationalstaaten müssten eigentlich die Stärkung eigener Kompetenzen anstreben. König erklärt dieses Paradox, indem er ein Modell entwickelt, das nicht von institutionellen sondern von Policy-bezogenen Interessen der National-staaten ausgeht. Das Europäische Parlament stellt dann nicht mehr grundsätzlich einen Konkurrenten um Kompetenz dar, sondern kann je nach inhaltlicher Präfe-renz auch ein Partner bei der Erreichung eigener Ziele sein. König zeigt, dass die üblicherweise radikalen Ziele des Parlaments dieses zu einem willkommenen Partner bei der Durchsetzung nationaler Interessen machen können.

Die vier Beiträge von Abromeit, Meyer/Schubert, Schmid und König ma-chen deutlich, dass alle in der Einleitung dieser Festschrift genannten institutio-nalistischen Perspektiven geeignet sind, Probleme kollektiven Handelns im eu-ropäischen Mehrsystem zu analysieren: So steht die Argumentation von Abro-meit in der Tradition eines soziologischen Institutionalismus, Meyer/Schubert argumentieren eher aus einer historischen Perspektive und König repräsentiert den modernen Rational-Choice-Institutionalismus.

2 Einzelinteressen und kollektives Handeln in unterschiedlichen nationalen Kontexten

In den folgenden Beiträgen setzen Schumann und Bleek explizit die methodolo-gischen Möglichkeiten des paarweisen qualitativen Vergleichs als eines zentralen politikwissenschaftlichen Erkenntnisinstrumentariums ein (vgl. Lehner/Wid-maier 2002, insbes. 21-79). Diana Schumann stellt wesentliche Ergebnisse des

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von Ulrich Widmaier federführend geleiteten DFG-Projekts zur Vermittlung der Interessen deutscher und französischer Elektrizitätsunternehmen im europäischen Mehrebenensystem vor. Dazu gehört vor allem die Erkenntnis, dass der Gegen-satz zwischen der zentralistischen administrativen Interessenvermittlung in Frankreich einerseits und der föderalistischen verbändedominierten Interessen-vermittlung in Deutschland sich auf die jeweiligen Fähigkeiten zur Vermittlung zwischen Einzelinteressen und kollektivem Handeln auf EU-Ebene auswirkt. In Frankreich wird die Elektrizitätspolitik wesentlich von dem eng mit dem Staat verbundenen Monopolisten EDF dominiert. In Deutschland konkurrieren vier große privatwirtschaftliche Verbundunternehmen um politischen Einfluss. In Deutschland hat daher die verbandliche Ebene zur Aggregation der einzelnen Unternehmensinteressen eine vergleichsweise große Bedeutung, während in Frankreich der nationale Branchenverband UFE im Vergleich zur direkten politi-schen Einflussnahme der EDF keine Rolle spielt. Neben dem Verbandssystem dienen den deutschen Energieunternehmen auch die Regierungen der Bundes-länder als Adressaten politischer Ziele. Vor diesem Hintergrund unterscheiden sich die Auswirkungen der Europäisierung auf die jeweiligen nationalen Interes-senvermittlungssysteme. Die französische Interessenvermittlung ist nur wenig von der Europäisierung betroffen. Auch im europäischen Mehrebenensystem nutzt die EDF fast ausschließlich ihre engen Klientelbeziehungen zur französi-schen Regierung. Die deutschen Unternehmen gewinnen dagegen durch die Europäisierung zusätzliche Handlungsoptionen. So können sie etwa Niederlagen in der nationalen Arena durch Bündnisse auf EU-Ebene ausgleichen.

Wilhelm Bleek nutzt die Ähnlichkeit der Rahmenbedingungen kanadischer und US-amerikanischer Politik, um die Auswirkungen von Präsidentialismus einerseits und Parlamentarismus andererseits die zwischenstaatlichen Beziehun-gen herauszuarbeiten. Die direkte Folge des präsidentiellen Regierungssystems in den USA besteht darin, dass Parteien kaum eine Rolle spielen. Die Interessen-aggregation erfolgt insbesondere in kontroversen Politikfeldern vor allem durch Bargaining zwischen singulären Interessengruppen. Das parlamentarische Regie-rungssystem in Kanada bewirkt hingegen, dass der Parteienkonkurrenz eine zentrale Bedeutung bei der Kontrolle politischer Macht zukommt. Dies hat zur Folge, dass die politischen Parteien auch zur zentralen Arena bei der Aggregati-on von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen werden. Im Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen bewirkt dieser Unterschied eine Inkommensu-rabilität der Interessenvermittlungsstrukturen. So erwartet die US-amerikanische Seite in Kanada offene Märkte für ihre wirtschaftlichen und politischen Aktivitä-ten. Die kanadische Eigenart erwartet dagegen von den US-Amerikanern die Benennung von Spitzenvertretern als autorisierten Ansprechpartnern für quasi-korporatistische Verhandlungen auf transnationaler Ebene.

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Beiden Beiträgen ist gemeinsam, dass jeweils auf Grundlage einer modernen Va-riante der Konkordanzmethode (Mill 1843, vgl. Przeworski/Teune 1970, Leh-ner/Widmaier 2002: 71-79) möglichst unterschiedliche politische Systeme mit-einander kontrastiert werden. In Weiterführung des klassischen Vergleichs liegt dabei das Augenmerk auf der Analyse der Interaktion zwischen Akteuren aus den unterschiedlichen Systemen. Schumann nutzt hierzu ein theoretisches Mo-dell, das in der Tradition des Rational-Choice-Institutionalismus steht, während Bleek aus Perspektive des historischen Institutionalismus argumentiert. Bei bei-den Beiträgen wird aber gleichermaßen deutlich, dass unterschiedliche Formen nationaler Interessenvermittlung nicht nur die Innenpolitik prägen, sondern auch die transnationalen Beziehungen beeinflussen.

3 Neue Formen der Erbringung öffentlicher Güter durch Verwaltungen

Politikwissenschaftliche Analysen haben lange Zeit die öffentliche Verwaltung als Teil des politischen Systems vernachlässigt und sich auf die Institutionen und Prozesse der „großen Politik“ beschränkt. Es ist insbesondere dem seit den 1970er Jahren immer stärker werdenden Interesse an dem Output der Politik in den verschiedensten Politikfeldern zu danken, dass die Verwaltung und ihre Produktion öffentlicher Güter wieder die ihnen gebührende wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden haben. So hat Ulrich Widmaier 1996 auf die Konse-quenzen hingewiesen, die sich aus der Bedeutung öffentlicher Güterproduktion für die Modernisierung der Verwaltung ergeben (Widmaier/Freriks 1996).

In diesem Sinne untersucht Jörg Bogumil die Verwaltungspolitik im Bun-desländervergleich. Hintergrund sind die aktuellen Verwaltungssstrukturrefor-men in allen deutschen Bundesländern in Folge der Finanzknappheit und unter den Vorzeichen eines „Bürokratieabbaus“. Bogumil zeigt, dass nach einer langen Phase ausschließlich inkrementeller Veränderungen inzwischen grundlegende Verwaltungsreformen durchgesetzt werden können. Dies kann als Folge eines Lernprozesses der Politik gedeutet werden. Zum einen erwiesen sich inkremen-talistische Reformansätze als sehr zeitaufwändig und aufgrund ihrer Kompro-missorientierung zudem oft als inhaltlich unbefriedigend. Zum anderen würdigen die Bürger als „Kunden“ der Politik inkrementalistische Reformansätze nur sehr bedingt. Die Politik der „Großen Würfe“ stellt eine Reaktion auf diese Schwie-rigkeiten des klassischen inkrementalistischen Reformprozesses dar. So können durch einen Totalumbau der Landesverwaltung Vetopositionen „im Handstreich“ zerstört und Machtverhältnisse verändert werden. Damit entfällt der Zwang, die Vorschläge einer echten, fachlich und nicht ausschließlich politisch begründeten Aufgabenkritik berücksichtigen und Kompromisslösungen einzugehen zu müs-

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sen. Dieser Prozess ist aber nicht unbedingt positiv zu werten, führt doch die politische Dominanz bei Verwaltungsstrukturreformen teilweise zu erheblichen Problemlagen, wie dies kurz am Beispiel der Umweltverwaltung ausgeführt wird.

Während Bogumil sich dem Feld der Verwaltungsreform von einer institu-tionellen und prozessualen Seite nähert, geht der Beitrag von Heiderose Kilper von einer inhaltlichen Aufgabe der Kommunen aus. Sie zeigt dabei, dass die Wasserversorgung in vielfacher Hinsicht ein spezielles öffentliches Gut ist. Dies liegt zunächst an der Begründung für die Behandlung der Wasserversorgung als staatliche Aufgabe: Hier sind es nicht primär transaktionskostentheoretische Begründungen (vgl. dazu Widmaier/Freriks 1996), die heute zur Legitimation öffentlicher Wasserversorgung herangezogen werden. Vielmehr wird Wasser als elementares Lebensgut gesehen, das im Rahmen der staatlichen Aufgabe der „Daseinsvorsorge“ von der Verwaltung gewährleistet werden muss. Dieser spe-zielle Hintergrund des Wasserversorgungsmarktes hat sowohl zu besonderen Zielen als auch zu eigentümlichen Formen der Interessenvermittlung geführt. Die Reform der Wasserversorgung orientiert sich nicht allein an ökonomischen, sondern insbesondere auch an – vor allem auf EU-Ebene verfochtenen – ökolo-gischen Zielen. Vor diesem Hintergrund hat sich ein einzigartiges Netzwerk intermediärer Organisationen gebildet, die zwischen privaten und öffentlichen Akteuren stehend zur Gewährleistung des Kollektivgutes „ökologische Wasser-versorgung“ beitragen.

Beide Beiträge verbinden Perspektiven verschiedener Institutionalismus. In erster Linie argumentieren sie aus einer ökonomischen Perspektive. Dabei wer-den klassische Probleme der Interessenvermittlung zwischen Akteuren mit sta-bilen Zielen in gegebenen institutionellen Kontexten verdeutlicht. Vor allem Kilper erweitert diese Perspektive um ein Argument, dass in der Tradition des soziologischen Institutionalismus steht.

4 Wissen und kollektives Handeln

Nils Bandelow und Uwe Wilkesmann greifen aus unterschiedlichen fachlichen und theoretischen Perspektiven Probleme des Wissens und des Nichtwissens auf. Dabei steht der Beitrag des Politikwissenschaftlers Bandelow in der Tradition des soziologischen Institutionalismus, während der Soziologe Wilkesmann aus der Perspektive eines Rational-Choice-Institutionalismus argumentiert. Auch die empirischen Gegenstände beider Beiträge unterscheiden sich. Bandelow behan-delt mit der Verkehrspolitik ein besonders staatsnahes Politikfeld, das mit beson-deren Gemeinwohlanforderungen konfrontiert ist. Wilkesmann untersucht dage-

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gen profitorientierte Unternehmen. Trotz dieser verschiedenen Perspektiven lassen sich aus beiden Analysen vergleichbare Schlüsse ziehen. Sie zeigen je-weils die Grenzen hierarchischer Steuerung und die besondere Bedeutung einer beteiligungsorientierten Organisation von Lernprozessen für kollektives Han-deln.

Das von Bandelow behandelte Thema der Verkehrspolitik berührt einen Be-reich, der in den letzten Jahren zunehmend auch zum Gegenstand einer speziel-len Form der Modellbildung durch Uli Widmaier geworden ist. Bandelow ver-mittelt nicht nur einen Überblick über die Akteure und Inhalte dieses Politikfel-des, sondern identifiziert auch das Problem des Un-Wissens als die eigentliche Herausforderung bei der politischen Steuerung in der Verkehrspolitik. Zu sol-chem Nicht-Wissen zählt er nicht nur ingenieur- und sozialwissenschaftliche Forschungsdefizite im Hinblick auf Feststellung und Prognose der Auswirkun-gen und Kosten der verschiedenen Verkehrsträger, sondern mehr noch die Wis-sens-Illusionen, die aufgrund der segmentierten Kommunikationsstrukturen in diesem Politikfeld bestehen. So sind die Anbieter und Benutzer von Straßenver-kehr, Bahnverkehr und Luftverkehr mit ihren gesellschaftlichen Organisationen zu engen separaten Netzwerken verknüpft, die innerhalb des jeweiligen Netz-werkes starke Überzeugungen entwickeln, welche aber von den anderen Akteu-ren nicht geteilt werden. Die Einzelinteressen in der Verkehrspolitik mit ihren auch wissenschaftlich begründeten Überzeugungen sind also so stark versäult, dass es kaum zu einem an Gemeinwohlzielen orientierten kollektivem Handeln aller Beteiligten kommt. Das betrifft nicht zuletzt die Aufteilung des Verkehrs zwischen den Verkehrsträgern (Modal Split), der zentralen Frage in der Ver-kehrspolitik. Bandelow folgert daher abschließend aus seiner Analyse der ver-kehrspolitischen Akteurs- und Interessenskonstellationen, dass zukünftige Ver-kehrspolitik vor allem einer engeren Vernetzung der Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren und Perspektiven bedarf. Nur auf der Grundlage eines verbesserten Diskurses kann in der Verkehrspolitik das Spannungsverhält-nis zwischen Einzelinteressen und kollektivem Handeln bewältigt werden.

Uwe Wilkesmann liefert eine mögliche Mikrofundierung für theoretische Weiterentwicklungen politikwissenschaftlicher Theorien zum Spannungsfeld zwischen Einzelinteressen und kollektivem Handeln. Er greift das spezielle Problem der Sicherstellung kollektiven Handelns bei wissensintensiver Arbeit auf. Dabei handelt es sich um ein Problem, das nicht nur profitorientierte Unter-nehmen betrifft. Wissensintensive Arbeit ist auch typisch für politische Organi-sationen. Ähnlich wie etwa Unternehmensberatungsgesellschaften ist es auch in modernen ausdifferenzierten Demokratien nur selten möglich, kollektives Han-deln hierarchisch durch Sanktionen zu erzwingen. In modernen Demokratien wird dieses Problem etwa unter Schlagworten wie „kooperativer Staat“, „neues

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Steuerungsmodell“ oder allgemein im Rahmen der aktuellen Governancediskus-sion behandelt. Wilkesmann zeigt, mit welchen Schwierigkeiten Steuerung in komplexen Umwelten ohne klare Ziele rechnen muss und wie diese möglicher-weise überwunden werden können. Ähnlich wie Widmaier geht er dabei ur-sprünglich von einer Problemdefinition aus, die im Rahmen des ökonomischen Modells nutzenmaximierender Individuen entwickelt wird. Zur Lösung des Prob-lems zieht er dann entsprechend der modernen Politikwissenschaft neben öko-nomischen auch andere Koordinationsformen heran. Das Beispiel der unter-schiedlichen Selbstdarstellungen von McKinsey in den USA und in Deutschland zeigt die Bedeutung der kulturellen Einbettung dieser Organisation. Offenbar sind die kulturellen Unterschiede in modernen Demokratien so groß, dass sie gleichermaßen die Handlungsoptionen politischer und wirtschaftlicher Organisa-tionen prägen. Was also ließe sich aus dieser wissenstheoretischen Analyse für die Politik lernen? In komplexen Organisationen und bei wissensbasierten Ge-genständen ist eine hierarchische Durchsetzung kollektiven Handelns kaum möglich. Dies heißt aber nicht – wie häufig in der Politikwissenschaft ange-nommen – dass politische Steuerung unbedingt scheitern muss. Vielmehr sind moderne Organisationen darauf angewiesen, die Fähigkeiten zur Selbststeuerung individueller Akteure zu nutzen.

5 Empirische und methodische Perspektiven

Ursula Hoffmann-Lange und Trygve Gulbrandsen untersuchen ein spezielles Phänomen bei der Aggregation von Einzelinteressen in modernen Demokratien. Sie zeigen, dass die Vermutung flexibler Koalitionen zwischen Parteien und Interessengruppen mit übereinstimmenden Zielen falsch sein kann. Derartige Koalitionen werden vielmehr wesentlich durch langfristige Cleavage-Strukturen geprägt. Vor allem die andauernde Bedeutung der sozio-ökonomischen Konflikt-linie wird oft unterschätzt. So zeigen die von den Autoren präsentierten Daten verschiedener Elitestudien, dass die grundsätzliche Nähe zwischen Wirtschafts-verbänden, Union und FDP einerseits sowie Gewerkschaften, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linkspartei andererseits immer noch groß ist. Neben dieser andauernden Bedeutung der politischen Blöcke anhand der sozio-ökonomischen Konfliktlinie weisen Hoffmann-Lange und Gulbrandsen aber auch auf Entwick-lungen hin, die für die Koordination politischer Strategien innerhalb der Blöcke von Bedeutung sind: Innerhalb des linken Blocks sind Bündnis 90/Die Grünen zu einer wachsenden parteipolitischen Alternative für die Gewerkschaftseliten geworden. Die Linkspartei ist dagegen (bisher) weder personell noch inhaltlich in das gewerkschaftliche Lager integriert. Während die Eliten der Linkspartei

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Einzelinteressen und kollektives Handeln 293

deutlich linkere Positionen vertreten als die Vertreter aller anderen Parteien und auch der Gewerkschaften, weichen die Gewerkschaftsvertreter in Großunter-nehmen deutlich nach rechts von den übrigen Eliten des linken Blocks ab. Trotz der tradierten personellen Bindung zwischen SPD und Gewerkschaften ist daher die zunehmende Fragmentierung des linken Lagers ein wachsendes Problem für die parteipolitische Aggregation gewerkschaftlicher Ziele. Kollektives Eintreten für gemeinsame Ziele wird somit für bei der politischen Linken in Deutschland immer weniger wahrscheinlich.

Das bürgerliche politische Lager ist dagegen zwar einerseits institutionell weniger eng verbunden – was sich vor allem am geringen Anteil der Parteimit-gliedschaften bei den Wirtschaftseliten zeigt. Auf der anderen Seite ist die ge-genseitige inhaltliche Nähe und politische Akzeptanz hier aber größer. Die Wirt-schaftseliten sind daher weniger von der nachlassenden Bindungskraft von Ver-bänden und Parteien betroffen als die Gewerkschaftseliten. Auch die Gefahr inhaltlicher Konflikte ist hier geringer: Die öffentliche Wahrnehmung einer marktliberalen Radikalisierung der FDP wird durch die präsentierten Ergebnisse nicht bestätigt. Die parteiinterne Stärkung des Wirtschaftsflügels innerhalb der FDP dürfte daher eher zu einer Annäherung innerhalb des bürgerlichen Blocks beigetragen haben. Somit ist die Wahrscheinlichkeit kollektiver politischer Stra-tegien von Wirtschaftseliten, Union und FDP eher gestiegen.

Auch Werner Voß präsentiert eine empirische Studie, deren Beitrag in die-sem Band auch methodisch orientiert ist. Ziel des Beitrags ist es, im Länderver-gleich einen Beitrag zur Erklärung des unterschiedlichen Grads bei der Errei-chung des Kollektivguts „Wirtschaftswachstum“ (zwischen 2000 und 2004) zu leisten. Ein Schwerpunkt des Artikels liegt in der Präsentation des Spektrums verschiedener Methoden der Aggregatdatenanalyse. Grundlage der Analyse sind OECD-Daten, die für Deutschland ein vergleichsweise auffällig geringes Wirt-schaftswachstum aufweisen. Dieser Befund lässt sich unter Grundlegung unter-schiedlicher Variablen erklären. Dabei sind vor allem politische, wirtschaftliche und sozialstrukturelle Einflussgrößen zu unterscheiden. Der Beitrag prüft den Einfluss der theoretisch hergeleiteten Erklärungen auf Grundlage eines multiplen Regressionsmodells und einer anschließenden Clusterzentrenanalyse. Dabei kommt das Modell zu Befunden, die indirekt auf Probleme kollektiven Handelns im deutschen politischen System verweisen. Voß thematisiert hier unter anderem den zu hohen Arbeitsausfall und einen zu starken Einfluss der öffentlichen Hand. Die in dem Beitrag gewählte Perspektive ist somit geeignet, die politischen For-derungen etwa nach einer Reform der deutschen Bürokratie zu fundieren. Inso-fern kommt Voß – wenn auch aus vollkommen anderer Perspektive und mit anderen Methoden – zu einem Ergebnis, das inhaltlich (und politisch) dem fol-genden theoretischen Beitrag von Erich Weede nahe steht.

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6 Ideengeschichtliche Perspektiven des Verhältnisses von Einzelinteressen und kollektivem Handeln

Das Spannungsverhältnis von Einzelinteressen und kollektivem Handeln steht zwar, wie in der Einleitung dieses Bandes nachgewiesen, im Mittelpunkt moder-ner Theorieentwicklungen in den Sozialwissenschaften und insbesondere der Politikwissenschaft. Doch spielt es auch bei fast allen ideengeschichtlichen Klas-sikern des Faches eine zentrale Rolle und ist klassischen Ursprungs, geht auf das politische Denken der griechischen und römischen Antike zurück. So neuartig, wenn nicht revolutionär sich die zeitgenössischen Theorien der Gegenwart ge-ben, so knüpfen sie doch immer wieder bewusst oder unbewusst an die einschlä-gigen klassischen Ausführungen und Theoreme an (vgl. Bleek/Lietzmann 2005). Schlagwortartig postuliert: Wer die „Neue Politische Ökonomie“ verstehen will, kommt ohne die Kenntnis der „alten Politischen Ökonomie“ nicht aus.

Diesen Wert des ideengeschichtlichen Rekurses belegen explizit die zwei Beiträge von Waas und Weede. Lothar Waas arbeitet in subtiler Textinterpretati-on die Unterschiede in den klassischen Aussagen von Rousseau und Madison zum Verhältnis von Sonderinteressen und Gemeinwohl heraus. Während die Rousseausche Lehre vom Contrat Social mit ihrer Warnung vor Partikularinte-ressen und das Plädoyer Madisons für eine Vermehrung der Faktionen als Siche-rung gegen den schädlichen Einfluss von Sonderinteressen gemeinhin als Gegen-satz gesehen werden, kann Waas aufzeigen, dass diese beiden Denker des 18. Jahrhunderts mit ihren Demokratie- und Gemeinwohlkonzeptionen durchaus gedankliche Parallelen aufweisen. So plädieren beide Klassiker im Gefolge der klassischen Markttheorie von Adam Smith dafür, dass es im Staat entweder kei-ne „Teilvereinigungen“ geben dürfe oder es ihrer möglichst viele geben müsse, um ihrer „Ungleichheit“ vorbeugen zu können. Mit dieser Einsicht wendet sich Waas auch gegen die einflussreiche Entgegensetzung nicht nur der beiden Klas-siker, sondern insgesamt der französischen und der angelsächsischen Verfas-sungstheorie durch Ernst Fraenkel. Er nimmt Rousseau gegen den Totalitaris-musverdacht Fraenkels in Schutz, indem er auf die von Rousseau postulierte Anerkennung des demokratischen Mehrheitsprinzips und der Rechtsstaatlichkeit als jenes „Apriori“ verweist, das Fraenkel für eine freiheitlich-demokratische Ordnung fordert.

Damit wird auch der fundamentale Gegensatz angeglichen, welchen Fraenkel im Anschluss an Joseph Schumpeter zwischen der klassischen und der modernen Demokratie macht. Es kann im nachhinein – a posteriori – von keinem „Ge-meinwohl“ die Rede sein, ohne von vorneherein – a priori – über einen Maßstab dafür in dem Sinne zu verfügen, dass man sich über die Spielregeln einig ist, nach denen dieser Kampf zu führen und zu entscheiden ist. Die ideengeschichtli-

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Einzelinteressen und kollektives Handeln 295

che Perspektive führt Lothar Waas dazu, auch im politischen Denken über das Verhältnis von Einzelinteressen und Gemeinwohl mehr Kontinuitäten und gra-duellen Wandel als Dichotomien und revolutionäre Brüche, zu denen die abs-trakte politische Theorie neigt, zu sehen.

Erich Weede konfrontiert die Bürokratietheorie Max Webers mit einer indi-vidualistischen Perspektive. Weber beschreibt und kategorisiert das Phänomen der industriegesellschaftlichen Bürokratie unter Verwendung von Begriffen, die kollektives Handeln voraussetzen. Weede weist in Anlehnung an Hayek darauf hin, dass unter der Annahme individuell nutzenmaximierender Akteure die The-sen Webers zur Bürokratie nicht zutreffen. Weber vernachlässige die Bedeutung von Anreizstrukturen für Bürokraten. Im Gegensatz zu Weber sieht Weede Bü-rokratie nicht als Schicksal an, sondern als eine mögliche Ordnungsform moder-ner Demokratien. Bürokratie ist aber aus Weedes Sicht weniger effizient als marktbasierte Lösungen. Ähnlich wie Hayek ordnet Weede den Markt als wirt-schaftlich erfolgreichere und normativ wünschenswertere weil freiheitlichere Governanceform ein.

7 Politische, historische und kulturelle Rahmenbedingungen kollektiven Handeln

Eine besondere Mikrofundierung der kulturellen Perspektive auf das Spannungs-verhältnis von Einzelinteressen und kollektivem Handeln präsentiert der Beitrag von Peter Hauptmanns, Hiltrud Niggemann, Barbara Ostendorf und Wolfgang Rogalski. Das ehemalige Team der Panel-Studie „Neue Informationssysteme und flexible Arbeitssysteme“ (NIFA-Panel) analysiert die Rahmenbedingungen der Entscheidungsfindung einer Wissenschaftlergruppe. Diese Rahmenbedingen wurden in besonderer Weise von der Person des Projektleiters geprägt. Offen-sichtlich zeigte der Chef eine Mischung aus autoritärem Fordern und Verwen-dung positiver sozialer und materieller Anreize. So ist es ihm gelungen, eine sehr heterogene Gruppe nicht nur zu kurzfristigem kollektiven Handeln zu motivie-ren, sondern auch die langfristigen Einzelinteressen der beteiligten Akteure zu unterstützen. Daher kann Uli Widmaier nicht nur Theoretikern und Empirikern, sondern auch Praktikern als Vorbild bei der Bearbeitung von Kollektivgutprob-lemen dienen.

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296 Nils C. Bandelow und Wilhelm Bleek

Literatur

Abromeit, Heidrun/Stoiber, Michael, 2006: Demokratien im Vergleich. Wiesbaden. Bandelow, Nils C./Schubert, Klaus, 1994: Neue Netze und fremde Gewässer – „Networ-

king“ für eine europäische Kulturpolitik, in: Eichener, Volker/Voelzkow, Helmut (Hrsg.): Europäische Integration und verbandliche Interessenvermittlung. Marburg, 597-616.

Bleek, Wilhelm/Lietzmann, Hans J. (Hrsg.), 2005: Klassiker der Politikwissenschaft. Von Aristoteles bis David Easton. München.

Downs, Anthony, 1957: An Economic Theory of Democracy. New York. Esping-Andersen, Gøsta, 1990: The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton/New

York.Hall, Peter A./Taylor, Rosemary CR, 1996: Political Science and the Three New Institu-

tionalisms, in: Political Studies 44/5, 936–95. Lehner, Franz/Widmaier, Ulrich, 2002: Vergleichende Regierungslehre. Opladen. Mill, John Stuart, 1843: A System of Logic: Ratiocinative and Inductive. Toronto. Olson, Mancur, 1965: The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of

Groups. Cambridge/Mass. Olson, Mancur, 1982: Rise and Decline of Nations. New Haven/London. Przeworski, Adam/Teune, Henry, 1970: The Logic of Comparative Social Inquiry. New

York.Schumann, Diana/Bandelow, Nils/Widmaier, Ulrich, 2005: Administrative Interessen-

vermittlung durch Koppelgeschäfte: Der Fall der europäischen Elektrizitätspolitik, in: Eising, Rainer/Kohler-Koch, Beate (Hrsg.): Interessenpolitik in Europa, Baden-Baden, 227-250.

Widmaier, Ulrich, 1978: Politische Gewaltanwendung als Problem der Organisation von Interessen. Eine Querschnittsstudie der soziopolitischen Ursachen gewaltsamer Kon-fliktaustragung innerhalb von Nationalstaaten. Meisenheim a. Glan.

Widmaier, Ulrich, 2005a: Joseph A. Schumpeter (1883-1950), in: Bleek, Wil-helm/Lietzmann, Hans J. (Hrsg.): Klassiker der Politikwissenschaft. Von Aristoteles bis David Easton. München, 137-150.

Widmaier, Ulrich, 2005b: Politik in zusammengesetzten Politien - eine vergleichende organisationstheoretische Perspektive, in: Andrea Gawrich/Hans J. Lietzmann (Hrsg.), Politik und Geschichte. "Gute Politik" und ihre Zeit. Wilhelm Bleek zum 65. Geburtstag, Münster, 364-382.

Widmaier, Ulrich/Freriks, Rainer, 1996: Die Modernisierung öffentlicher Verwaltung: Zum Verhältnis öffentlicher und privater Güterproduktion. Diskussionspapier 96-8 der Fakultät für Sozialwissenschaft. Bochum.

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Lebenslauf von Ulrich Widmaier

22. Jan. 1944 Geburt in Stuttgart, Eltern: Margarete und Willi Widmaier 1950-1964 Besuch der Volksschule und des Hegel-Gymnasiums in Stuttgart 1964-1965 Wehrdienst 1965-1970 Studium der Soziologie (Sozialpsychologie, Wissenschaftstheo-

rie, Methoden der empirischen Sozialforschung) und der Politi-schen Wissenschaft an der Universität Mannheim

1967-1970 Studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Politische Wissen-schaft I (Prof. Dr. R. Wildenmann) bzw. Lehrstuhl für Soziolo-gie I (Prof. Dr. R. M. Lepsius)

1970 Diplom-Soziologe, Universität Mannheim 1970 Heirat mit Brigitta Ulrike Widmaier, geb. Eschler 1970-1971 Forschungs- und Studienaufenthalt an der Princeton University,

finanziert durch ein Stipendium des DAAD WS 1971/72- SS 1977

Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Politische Wis-senschaft I (Prof. Dr. R. Wildenmann) der Universität Mannheim

Sommer 1972 u. 1973

Teilnehmer und Dozent an der ECPR-Sommerschule (University of Essex) über Methoden und Datenanalyse

1977 Promotion zum Dr. phil. an der Universität Mannheim. Thema der Dissertation: „Politische Gewaltanwendung als Problem der Organisation von Interessen. Eine Quer- schnittsstudie der sozio-politischen Ursachen gewaltsamer Konfliktaustragung innerhalb von Nationalstaaten“

1977-1987 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Institut für Vergleichende Gesellschaftsforschung des Wis-senschafts-zentrums Berlin, Direktor: Prof. Dr. K. W. Deutsch)

1978-1986 Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin, Fachbereich 15 (Politische Wissenschaft)

1987 Habilitation für das Fach Politische Wissenschaft an der Univer-sität Mannheim. Thema der Habilitationsschrift: „Endogene Grenzen des Wachstums. Eine politisch-ökonomische Makroana-lyse der möglichen Folgen von Verteilungskonflikten in den kapitalistischen Wettbewerbsdemokratien (OECD-Staaten)“

1987-1989 Stellv. Leiter der „Forschungsstelle für gesellschaftliche Ent-wicklungen“ (FGE) der Universität Mannheim

SS 1989 Vertretung des Lehrstuhls für Politische Wissenschaft I an der Universität Mannheim

Okt. 1989-Jan. 1996

Langfristige Vertretung des Lehrstuhls für Politische Wissen-schaft II an der Ruhr-Universität Bochum

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298 Lebenslauf von Ulrich Widmaier

Okt. 1990- Dez. 1995

Geschäftsführender Projektleiter des Teilprojekts Z-2 (Panelstu-die zur technischen, betrieblichen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung beim Einsatz flexibler Arbeitssysteme in der ge-werblichen Wirtschaft) im Sonderforschungsbereich 187 an der Ruhr-Universität Bochum

SS 1991 Gastdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin Okt. 1991-Okt. 1997

Sprecher der Sektion „Politik und Ökonomie“ der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft

Okt. 1991-Okt. 1997

Mitglied im Beirat der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft

Okt. 1991-Dez. 1995

Stellv. Sprecher des Sonderforschungsbereichs 187 an der Ruhr-Universität Bochum „Neue Informationstechnologien und flexib-le Arbeitssysteme: Entwicklung und Bewertung von CIM-Systemen auf der Basis teilautonomer flexibler Fertigungsstruk-turen“

1993-2003 Mitglied im Beirat für das Betriebspanel des Instituts für Ar-beitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit

Mai 1994- März 1997

Mitglied im Executive Committee des European Consortium for Political Research (ECPR)

Feb. 1995 Verleihung des Titels „außerplanmäßiger Professor“ durch die Universität Mannheim

Jan. 1996- Dez. 1999

Projektleiter des DFG-Projekts „Panelstudie zur technischen, betrieblichen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung beim Einsatz flexibler Arbeitssysteme im Maschinenbau (NIFA-Panel)“

Seit Feb. 1996

C4-Professor für Politikwissenschaft (Vergleichende Regie-rungslehre und Politikfeldanalyse) an der Ruhr-Universität Bo-chum

WS 1997/98-WS 2000/01

Vorsitzender des Prüfungsamts der Fakultät für Sozialwissen-schaft der Ruhr-Universität Bochum

Seit Mai 1998

Mitglied im Beirat des Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) an der Ruhr-Universität Bo-chum

Jan. 2000- Dez. 2003

Projektleiter des DFG-Projekts „Koppelgeschäfte zwischen EU-Kommission und großen Unternehmen: Interessenstrukturen, Entwicklung, Legitimität“ (zus. mit N. Bandelow)

Jan. 2001- Okt. 2002

Dekan der Fakultät für Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum

Seit Juli 2005 Vorsitzender von SOPRA e.V. (Absolventen- und Absolventin-nenverein der Fakultät für Sozialwissenschaft an der RUB)

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Schriftenverzeichnis von Ulrich Widmaier Schriftenverzeichnis von Ulrich Widmaier 1 Bücher

1. Politische Gewaltanwendung als Problem der Organisation von Interessen (Mannheimer sozialwissenschaftliche Studien, Bd. 15), Königstein/Ts.: An-ton Hain Verlag 1978.

2. Weltmodellstudien: Wachstumsprobleme und Lösungsmöglichkeiten (zus. mit Stuart A. Bremer, Rolf Kappel, Peter Otto, Hannelore Weck), König-stein/Ts.: Anton Hain Verlag 1980.

3. Endogene Grenzen des Wachstums (Schriftenreihe zur gesellschaftlichen Entwicklung), Baden-Baden: Nomos Verlag 1989.

4. The Political Economy of the People's Welfare (hrsg. zus. mit Francis G. Castles), Special Issue of the „European Journal of Political Research“, Vol. 17, No. 4, 1989.

5. Technische Perspektiven und gesellschaftliche Entwicklungen. Trends und Schwerpunkte der Forschung in der Bundesrepublik Deutschland (hrsg. zus. mit Thomas König), Baden-Baden: Nomos Verlag 1990.

6. Eine Schule für eine moderne Industriegesellschaft. Strukturwandel und Entwicklung der Schullandschaft in Nordrhein-Westfalen (zus. mit Franz Lehner), Essen: Neue Deutsche Schule Verlagsgesellschaft 1992.

7. Flexible Arbeitssysteme im Maschinenbau. Ergebnisse aus dem Betriebspa-nel des Sonderforschungsbereichs 187 (hrsg. zus. mit Josef Schmid), Opla-den: Leske + Budrich 1992.

8. Vergleichende Regierungslehre (zus. mit Franz Lehner), Opladen: Leske + Budrich 3. Aufl. 1995.

9. Betriebliche Rationalisierung und ökonomische Rationalität (Hrsg.), Opla-den: Leske + Budrich 1996.

10. Regierungssysteme Zentral- und Osteuropas. Ein einführendes Lehrbuch (zusammen mit Andrea Gawrich und Ute Becker) (Reihe Lehrtexte Politik), Opladen: Leske + Budrich 1999.

11. Der deutsche Maschinenbau in den neunziger Jahren. Kontinuität und Wan-del einer Branche (Hrsg.), Frankfurt/M. : Campus Verlag 2000.

12. Symposium on Changing Patterns of European Governance (hrsg. zus. mit Nils C. Bandelow). Special Issue of „German Policy Studies/Politikfeld-analyse”, Bd. 1, Nr. 1. (http://spaef.com/GPS_PUB/v1n1.html), 2000.

13. Vergleichende Regierungslehre (zus. mit Franz Lehner), Opladen: Leske + Budrich 4. Aufl. 2002.

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300 Schriftenverzeichnis von Ulrich Widmaier

2 Artikel

1. Dimensionen studentischer Realitätsdefinition (zus. mit Dietmar Schössler), in: Sozialwissenschaftliches Jahrbuch für Politik, Bd. 3 (1972), S. 393-411.

2. The Domestic-International Conflict Nexus: New Evidence and Old Hy-potheses (zus. mit Michael D. Ward), in: International Interactions, Vol. 9, No. 1 (1982). S. 75-101.

3. Market Failure and Growth of Government: A Sociological Explanation (zus. mit Franz Lehner), in: Charles L. Taylor (ed.), Why Governments Grow, Beverly Hills: Sage 1983. S. 240-260.

4. Innerstaatliche Konflikts- und Gewaltereignisse: Daten und Hypothesen (zus. mit Michael Peltzer), in: PVS Sonderheft Nr. 14 „Politische Stabilität und Konflikt“, hrsg. von W.-D. Eberwein, Opladen 1983. S. 44-65.

5. Politische Leistungen, politische Unterstützung und politische Stabilität, in: PVS Sonderheft Nr. 14 „Politische Stabilität und Konflikt“, hrsg. von W.-D. Eberwein, Opladen 1983, S. 202-239.

6. Projecting Domestic Conflict (zus. mit Richard C. Eichenberg und Brigitta Widmaier), in: J. D. Singer und Richard Stoll (eds.), Quantitative Indicators in World Politics. New York: Praeger 1984, S. 11-33.

7. Linking Islands of Theory and Technique in Political Economy (zus. mit Grant H. Kirkpatrick), in: Michael D. Ward (ed.), Theories, Models, and Simulations in International Relations, Boulder: Westview Press 1985, S. 133-179.

8. Verteilungskonflikte, wirtschaftspolitische Strategien und politische Unter-stützung. Eine vergleichende Simulationsstudie für die BRD, England und die USA, in: Max Kaase (Hrsg.), Politische Wissenschaft und politische Ordnung. Analysen zu Theorie und Empirie demokratischer Regierungs-weise [Festschrift für Rudolf Wildenmann], Opladen: Westdeutscher Verlag 1986, S.123-145.

9. Vergleichende Aggregatdatenanalyse: Probleme und Perspektiven, in: Dirk Berg-Schlosser und Ferdinand Müller-Rommel (Hrsg)., Vergleichende Poli-tikwissenschaft (UTB Bd. 1391) Opladen: Leske + Budrich 3. Aufl. 1987, S. 87-103.

10. Organizational Power and Distributional Conflict Within OECD-Nations, in: European Journal of Political Research, Vol. 15. (1987), S. 203-221.

11. Tendencies Toward an Erosion of Legitimacy in Five Western Democra-cies, in: Mattei Dogan (ed.), Comparing Pluralist Democracies: Strains on Legitimacy, Boulder: Westview Press 1988, S. 143-167.

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Schriftenverzeichnis von Ulrich Widmaier 301

12. Gewaltpotentiale in der Situation von Minderheiten, in: Gewalt als Phäno-men in der modernen Gesellschaft. Ein Symposiumsbericht, Düsseldorf: Econ-Verlag 1988

13. Sozio-ökonomische Rahmenbedingungen der zukünftigen Stadtentwick-lung, in: Rudolf Wildenmann (Hrsg.), Stadt, Kultur, Natur, Baden-Baden: Nomos 1989, S.447-465.

14. Demographic Change, Labour Force Dynamics and Employment: New Problems and Old Politics?, in: F. G. Castles, U. Widmaier (eds.), European Journal of Political Research, Special Issue: The Political Economy of the People's Welfare, Vol. 17, No. 4, (1989), S.501-531.

15. Political Stability in OECD-Nations, in: International Political Science Review, Vol. 11, No. 2 (1990), S. 219-242.

16. Segmentierung und Arbeitsteilung. Die Arbeitsmarktpolitik der Bundesre-publik Deutschland in der Diskussion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 34-35/1991, S. 14-25.

17. Neue Informationstechnologien und Flexible Arbeitssysteme – Die Pa-nelstudie zur technischen, betrieblichen, wirtschaftlichen und sozialen Ent-wicklung beim Einsatz flexibler Arbeitssysteme in der gewerblichen Wirt-schaft des SFB 187 (NIFA-Panel) (zus. mit den Mitarbeitern des Teilpro-jekts Z-2), in: MittAB 4/91, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg.1991, S. 714-724.

18. Politische Grenzen des Wachstums, in: Heidrun Abromeit und Ulrich Jür-gens (Hrsg.), Die politische Logik wirtschaftlichen Handelns, Berlin: Editi-on Sigma 1992, S. 293-313.

19. Strukturierte Vielfalt – Determinanten von Arbeitsorganisation (zus. mit Rainer Freriks), in: Josef Schmid/Ulrich Widmaier (Hrsg.), Flexible Ar-beitssysteme im Maschinenbau, Opladen: Leske + Budrich 1992.

20. Qualifizierung zwischen Determinismus und Voluntarismus? Strategien und Determinanten betrieblicher Qualifizierungsmaßnahmen (zus. mit Peter Hauptmanns und Beate Seitz), in: Josef Schmid/Ulrich Widmaier (Hrsg.), Flexible Arbeitssysteme im Maschinenbau. Opladen: Leske + Budrich 1992, S. 159-176.

21. Beschäftigungswirkungen des Einsatzes von Informations- und Kommuni-kationstechnologien in der Fertigung (zus. mit Louise Dye), in: Josef Schmid/Ulrich Widmaier (Hrsg.), Flexible Arbeitssysteme im Maschinen-bau. Opladen: Leske + Budrich 1992, S. 177-193.

22. Zum Management von Heterogenität – arbeits- und tarifpolitische Schluß-folgerungen (zus. mit Josef Schmid), in: Josef Schmid/Ulrich Widmaier (Hrsg.), Flexible Arbeitssysteme im Maschinenbau. Opladen: Leske + Budrich 1992, S. 239-252.

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302 Schriftenverzeichnis von Ulrich Widmaier

23. Restrukturierung des Schulsystems durch autonome Gestaltungsfreiräume: Eine industriesoziologische Perspektive (zus. mit Beate Seitz), in: Hans-Peter de Lorent/Gudrun Zimdahl (Hrsg.), Autonomie der Schulen, Ham-burg: Curio 1993.

24. Arbeits- und tarifpolitische Konsequenzen und Perspektiven flexibler Ferti-gung, in: IG Metall-Vorstand/Ruhr-Universität Bochum (Hrsg.), Flexible Arbeitssysteme und neue Informationstechnologien: Veränderung der Pro-duktionsarbeit. Ringvorlesung Ruhr-Universität Bochum/IG Metall 1992/93, Bochum 1993

25. Warum ist der Ball nicht überall rund? Der Homo ludens in vergleichender Perspektive (zus. mit Josef Schmid), in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 24/1994, S. 16-22.

26. Strukturen und Typen der Fertigung im Umbruch (zus. mit Josef Schmid), in: Arbeit. Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeits-politik, Dortmund 1995, S. 271-288.

27. „Warum es nicht wie geschmiert läuft“: Zum Problem der Diffusion von Gruppenarbeit im Maschinenbau (zus. mit Rainer G. Saurwein), in: Bern-hard Zimolong (Hrsg.), Kooperationsnetze, flexible Fertigungsstrukturen und Gruppenarbeit. Ein interdisziplinärer Ansatz, Opladen: Leske + Budrich 1996, S. 30-54.

28. Chapter 2: Germany (zus. mit Susanne Blancke), in: Hugh Compston (Hrsg.), The New Politics of Unemployment. Radical Policy Initiatives in Western Europe. London: Routledge 1996, S. 21-46.

29. Das NIFA-Panel im deutschen Maschinenbau – ein Überblick (zus. mit Peter Hauptmanns), in: Reinhard Hujer/Ulrich Rendtel/Gert Wagner (Hrsg.), Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Panel-Studien, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1997, S. 229-241.

30. 30. Kontrolle und Koordination – Technische Unterstützung betrieblicher Planungsprozesse am Beispiel der Betriebe des deutschen Maschinenbaus. Vortrag im Rahmen des Workshops „Technologiebedarf im 21. Jahrhun-dert“ am Institut Arbeit und Technik, veröffentlicht in: Peter Brödner/Ileana Hamburg/Thomas Schmidtke (Hrsg.), Informationstechnik für die integrier-te, verteilte Produktentwicklung im 21. Jahrhundert, Gelsenkirchen 1997.

31. Der deutsche Maschinenbau im Umbruch? In: WSI-Mitteilungen, 2/1998, S. 92-101.

32. European Employment Policy and the Maastricht Process, in: Per Kongshøj Madsen (ed.), Work and Welfare. Proceedings from the Workshop of the COST A7 Final Conference, London December 12-13, 1997, Brüssel 1998, S. 129-153.

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Schriftenverzeichnis von Ulrich Widmaier 303

33. Die Veränderung der Strategie ökonomischer Akteure im Prozess der Ent-stehung eines europäischen Binnenmarktes (zus. mit Rainer Freriks), in: Roland Czada/Susanne Lütz (Hrsg.), Die politische Konstitution von Märk-ten, Opladen: Westdeutscher Verlag 2000, S. 107-123.

34. Das Erbe der Einheit: Eine andere Republik? In: Christina Oehrl/Sandra Sophia Schmidt/Thomas Terbeck (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland – Eine Erfolgsgeschichte? Münster: Lit Verlag 2000, S. 25-32.

35. „Game over“ oder das Ende der Japan-Euphorie. Interkulturelle Missver-ständnisse am Beispiel der Diskussion um die Produktionsmodernisierung in Deutschland, in: A. Pigulla/C. Moll-Murata/I. Hasselberg (Hrsg.), Ost-asien verstehen. Peter Weber-Schäfer zu Ehren. Festschrift zum Anlaß sei-ner Emeritierung (Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung. Bd. 23), München: Iudicium 2000, S. 403-416.

36. Ungenutzte Optionen – Perspektiven aktiver Politikgestaltung für deutsche Akteure (zus. mit Nils C. Bandelow), in: Michèle Knodt/Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Deutschland zwischen Europäisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt/M.: Campus 2000, S. 411-436.

37. Das NIFA-Panel und der deutsche Maschinen- und Anlagenbau, in: Ulrich Widmaier (Hrsg.), Der deutsche Maschinenbau in den neunziger Jahren. Kontinuität und Wandel einer Branche, Frankfurt/M.: Campus 2000, S. 23-41.

38. Kontinuität und Wandel der Betriebsorganisation im deutschen Maschinen-bau, in: Ulrich Widmaier (Hrsg.), Der deutsche Maschinenbau in den neun-ziger Jahren. Kontinuität und Wandel einer Branche. Frankfurt/M.: Campus 2000, S. 279-305.

39. European Governance by the Emergence of a New Type of Package Deals (zus. mit Nils C. Bandelow und Diana Schumann), in: German Policy Stud-ies/Politikfeldanalyse, Bd. 1, Nr. 1. (http://spaef.com/GPS_PUB/ v1n1.html). 2000.

40. The German Mechanical Engineering Industry and the NIFA-Panel, in: Schmollers Jahrbuch, Jg. 121, Heft 2 (2001), S. 275-284.

41. Unternehmens-und Betriebsorganisation des deutschen Maschinenbaus im Umbruch? In: Lutz Bellmann/Heiner Minssen/Petra Wagner (Hrsg.), Perso-nalwirtschaft und Organisationskonzepte moderner Betriebe. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (BeitrAB 252), Nürnberg: Bundesan-stalt für Arbeit 2001 S. 33-49.

42. Neue Informationstechnologien und flexible Arbeitssysteme. Das NIFA-Panel im deutschen Maschinen- und Anlagenbau (zus. mit Diana Schu-mann), in: ZA-Informationen, Heft 48, Köln: Zentralarchiv der Universität zu Köln 2001, S. 112-127.

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304 Schriftenverzeichnis von Ulrich Widmaier

43. Political strategies of large companies and their significance for the imple-mentation of the European single electricity market. The examples of France and Germany (zus. mit Diana Schumann), in: Journal of Public Af-fairs Vol. 3, No. 3 (August 2003), S. 260-272.

44. Quantitativ vergleichende Methoden (zus. mit Oskar Niedermayer), in: Dirk Berg-Schlosser/Ferdinand Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politik-wissenschaft., Opladen: Leske + Budrich 4. überarb. und erw. Aufl. 2003, S. 77-101.

45. Administrative Interessenvermittlung durch Koppelgeschäfte: Der Fall der europäischen Elektrizitätspolitik (zus. mit Nils C. Bandelow und Diana Schumann), in: Rainer Eising/Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Interessenpolitik in Europa, Baden-Baden: Nomos 2005, S. 227-250.

46. Joseph A. Schumpeter (1883-1950), in: Wilhelm Bleek/Hans J. Lietzmann (Hrsg.), Klassiker der Politikwissenschaft (Becksche Reihe, Bd. 1624), München: Verlag C. H. Beck 2005, S. 137-150.

47. Politik in zusammengesetzten Politien – eine vergleichende organisations-theoretische Perspektive, in: Andrea Gawrich/Hans J. Lietzmann (Hrsg.), Politik und Geschichte. „Gute Politik“ und ihre Zeit. Wilhelm Bleek zum 65. Geburtstag, Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2005, S. 364-382.

48. Wer regiert Europa? (zus. mit Nils Bandelow), in: RUBIN, Wissenschafts-magazin der Ruhr-Universität Bochum, Heft 1/06. Bochum, Pressestelle der RUB, 2006, S. 21-26.

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3 Konferenz- und Diskussionspapiere

1. Globale Sicherheitsprobleme in den nächsten Jahrzehnten (zus. mit Stuart A. Bremer), IIVG-preprint, PV/78-18.

2. Mögliche Entwicklungen der Weltbevölkerung bis zum Jahre 2040. Die Hypothesen und Prognosen eines Weltmodells, IIVG-Arbeitspapier, 1978.

3. Modeling Political Systems: Towards an Empirically Based National Politi-cal Submodel for SIPER. Paper delivered at the XIth World Congress of the International Political Science Association, Moscow 1979.

4. Cumulative Efforts in Sociopolitical Global Modeling: Results from a New Look at SIPER (zus. mit Stuart A. Bremer, Thomas R. Cusack, Brian M. Pollins). IIVG-dp 79-3.

5. Economic Development, Government Resource Allocation and Political Stability: Introducing Politics into Global Models. Paper prepared for the First World Peace Science Congress at Harvard University, Cam-bridge/Mass., June 6-16, 1980.

6. Markets, Hierarchies and Polyarchy: Interlocked Pluralism and Interest Aggregation in the Modern Industrial State. IIVG-dp 80-111, Wissen-schaftszentrum Berlin 1980.

7. Markt und/oder Hierarchie? Zur Problematik des verflochtenen Pluralismus und der Interessenaggregation im modernen Industriestaat. IIVG-dp 80-125, Wissenschaftszentrum Berlin 1980.

8. A Simulation of Political Support and Opposition (zus. mit Ingo Schwarz). IIVG-dp 80-126, Wissenschaftszentrum Berlin 1980.

9. Economic Development, Government Resource Allocation and Political Conflict. IIVG-dp 81-119, Wissenschaftszentrum Berlin 1981.

10. Political Performance, Political Support and Political Stability: The GLOBUS Framework. IIVG-dp 82-108. Paper presented at the IPSA-World Congress, Rio de Janeiro, 1982, Wissenschaftszentrum Berlin 1982.

11. Konstruktion, Simulation und Schätzung kontinuierlicher dynamischer Modelle – dargestellt am Beispiel eines polit-ökonomischen Makromodells. IIVG-dp 84-105, Wissenschaftszentrum Berlin 1984.

12. Cycles of Growth and Redistribution. IIVG-dp 85-107, Wissenschaftszent-rum Berlin 1985.

13. Cyclical Economic Growth and Distributional Conflicts: A Simulation Study of the Political Consequences, APSA-Paper, New Orleans 1985.

14. Distributional Conflicts, Economic Growth and Political Support. A Simu-lation Study of OECD-Countries, IPSA-Paper, Paris 1985.

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306 Schriftenverzeichnis von Ulrich Widmaier

15. Levels and Trends of Political Legitimacy: Similarities and Differences Among Five Western Democracies. P/86-4, Wissenschaftszentrum Berlin 1986.

16. Organizational Power and Distributional Conflict Within OECD-Nations, APSA-Paper, Washington/D.C. 1986.

17. The People's Welfare and the Governments' Policies: The Case of Employ-ment and Unemployment. Mannheim, „Forschungsstelle für gesellschaftli-che Entwicklungen“ (FGE), No. 4/1987.

18. Trends und Schwerpunkte in der Zukunftsforschung unter besonderer Be-rücksichtigung der Entwicklungsoptionen für die Bundesrepublik Deutsch-land (zus. mit Thomas König). Mannheim, „Forschungsstelle für gesell-schaftliche Entwicklungen“ (FGE), Mai 1988.

19. Segmentierung und Arbeitsteilung: Fakten und Überlegungen zur Arbeits-marktpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. „Forschungsstelle für ge-sellschaftliche Enwicklungen“ (FGE), Arbeitspapier 17/89, Universität Mannheim.

20. The SYSL-MINUIT Interface. SYSLMIN Version 2.0 (zus. mit Mohan Penubarti und Michael D. Ward). Research Program on Political and Eco-nomic Change, Institute of Behavioral Science, University of Colorado, Boulder. Working Paper 25, 1990.

21. Politische Grenzen ökonomischen Wachstums. Bochum, „Forschungsstelle für Sozialwissenschaftliche Innovations- und Technologieforschung“ (SIT), Working Paper 3/1990.

22. Institutionelle Diskriminierungen: Erwerbsbeteiligung und Arbeitslosigkeit von Frauen im internationalen Vergleich. Theoretische Ansätze und empiri-sche Befunde (zus. mit Doris Beer). Bochum, „Forschungsstelle für Sozial-wissenschaftliche Innovations- und Technologieforschung“ (SIT), Working Paper 6/1990.

23. Die Nutzungsmöglichkeiten des NIFA-Panels im SFB 187. Vorschläge und Angebote des Teilprojekts Z-2 (zus. mit Carl Flimm, Rainer Freriks und Barbara Ostendorf). Bochum, Sonderforschungsbereich 187, Dokumentati-ons- und Informationspapier 1992.

24. Strukturen und Typen der Fertigung im Umbruch (zus. mit Josef Schmid). Bochum, Sonderforschungsbereich 187, Teilprojekt Z-2, Arbeitspapier 1993.

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Schriftenverzeichnis von Ulrich Widmaier 307

25. What makes the Difference between Unsuccessful and Successful Firms in the German Mechanical Engineering Industry? A Microsimulation Ap-proach Using Data from the NIFA-Panel (zus. mit Hiltrud Niggemann und Joachim Merz). Paper presented at the XIIIth World Congress of Sociology, 18.-23. July 1994, University of Bielefeld. Forschungsinstitut Freie Berufe, Universität Lüneburg, Discussion Paper 11, 1994.

26. The Politics of Radical Unemployment Policies in Germany (zus. mit Su-sanne Blancke). Paper prepared for the Workshop „The Politics of Radical Unemployment Policies in Western Europe“ at the ECPR Joint Sessions of Workshops, Bordeaux 1995.

27. Die Modernisierung öffentlicher Verwaltung – Zum Verhältnis öffentlicher und privater Güterproduktion (zus. mit Rainer Freriks), Diskussionspapier 96-8 aus der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, 1996.

28. Institutionelle Effizienz bei der Regulierung von Politikfeldern: Regie-rungssysteme im Vergleich. Papier für die Veranstaltung „Politische Öko-nomie regulativer Politik – Zwischen nationalstaatlicher Demokratie und globalisierten Märkten?“ der Sektion „Politik und Ökonomie“ der DVPW im Rahmen des 20. DVPW-Kongresses, Bamberg 1997.

29. Innovative Arbeitszeitmodelle – Bausteine der betrieblichen Umstrukturie-rung. Vortrag und Papier im Rahmen der Veranstaltungsreihe der Ruhr-Universität Bochum/Fachhochschule Bochum/Industrie- und Handelskam-mer zu Bochum „Technologie für die Region“, 1997.

30. European Governance by Package Deals between the European Commis-sion and Large Firms – Preconditions, Strategies, Welfare Effects. (zus. mit Nils C. Bandelow und Diana Schumann), Diskussionspapier 99-3 aus der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, 1999.

31. Interessenvermittlung großer Unternehmen und politikfeldübergreifende Koppelgeschäfte am Beispiel der europäischen Elektrizitätspolitik (zus. mit Nils C. Bandelow und Diana Schumann), Tagung „Interessendurchsetzung im Mehrebenensystem“, 4.-5. Juli 2002 in Mannheim/Ludwigshafen.

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Autorenverzeichnis Autorenverzeichnis Abromeit, Heidrun, Prof. Dr., Professorin für Politikwissenschaft an der TU

Darmstadt, Arbeitsbereich „Vergleichende Analyse politischer Systeme und Demokratieforschung“. E-Mail: [email protected]

Bandelow, Nils C., Priv.-Doz. Dr., Vertretungsprofessur am Institut für Sozial-wissenschaften der TU Braunschweig. E-Mail: [email protected], Homepage: www.nilsbandelow.de

Bleek, Wilhelm, Prof. Dr., lebt im Ruhestand in Toronto/Kanada, bis 2005 Pro-fessor für Politikwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. E-Mail: [email protected]

Bogumil, Jörg, Prof. Dr., seit 2005 Professur für Vergleichende Stadt- und Regi-onalpolitik an der Ruhr-Universität Bochum, vorher Universität Kon-stanz, Humboldt-Universität zu Berlin und FernUniversität Hagen. E-Mail: [email protected]

Gulbrandsen, Trygve, Ph.D., Soziologe, Projektleiter am Institute for Social Research in Oslo und Professor am Department of Sociology and Hu-man Geography der Universität Oslo. E-Mail: [email protected], Homepage: www.socialresearch.no

Hauptmanns, Peter, Dr., IT-Leiter der gkd-el (Gelsenkirchener Kommunale Da-tenzentrale), von 1989-99 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum (NIFA-Panel). E-Mail: [email protected]

Hoffmann-Lange, Ursula, Prof. für Politikwissenschaft an der Universität Bam-berg; Forschungsschwerpunkte: Eliten, politische Kultur, Vergleichende Politikwissenschaft. E-mail: [email protected]

Kilper, Heiderose, Prof. Dr., Leiterin des IRS – Leibniz-Institut für Regional-entwicklung und Strukturplanung. E-Mail: [email protected], Homepa-ge: www.irs-net.de

König, Thomas, Prof. Dr., Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. E-Mail: [email protected], Homepage: http://www.dhv-speyer.de/tkoenig/

Meyer, Hendrik, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwis-senschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität. E-Mail: [email protected], Homepage: http://politikfeldanalyse.uni-muenster.de/ Meyer.htm

Niggemann, Hiltrud, Dipl. Stat., von 1992-1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ruhr-Universität Bochum (NIFA-Panel), seit 2001 freiberuflich tätig. E-Mail: [email protected], Homepage: www.p-wert.de

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310 Autorenverzeichnis

Ostendorf, Barbara, Dr., ehemalige studentische Hilfskraft und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ruhr-Universität Bochum (NIFA-PANEL, Lehr-stuhl für Vergleichende Regierungslehre und Politikfeldanalyse). E-Mail: [email protected]

Rogalski, Wolfgang, Dipl.-Sozialwissenschaftler, Abteilungsleiter GKV-Struk-turdaten und Finanzanalysen beim Bundesverband der Betriebskranken-kassen in Essen, von 1992 bis 1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum (NIFA-Panel). E-Mail: [email protected]

Schmid, Josef, Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen. E-Mail: [email protected], Homepage: www.wip-online.org

Schubert, Klaus, Prof. Dr., Direktor des Instituts für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität. E-Mail: [email protected], Homepage: http://politikfeldanalyse.uni-muenster.de/ schubert.htm

Schumann, Diana, Dr., von 1997 bis Mitte 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Vergleichende Regierungslehre und Politikfeldanalyse der Fakultät für Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum; seit Mitte 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Gesellschaft für inno-vative Beschäftigungsförderung (G.I.B.) mbH, Bottrop. E-Mail: [email protected], Homepage: www.gib.nrw.de

Voß, Werner, Prof. Dr., seit 1973 Hochschullehrer für Statistik an der Ruhr-Universität Bochum. E-mail: [email protected]

Waas, Lothar R., Priv-Doz. Dr., Privatdozent an der Ruhr-Universität Bochum. E-Mail: [email protected], Homepage: http://www.rub.de/pw1/ personen/waas/waas.htm

Weede, Erich, Prof. Dr., lebt im Ruhestand in Königswinter, bis Herbst 2004 Professor für Soziologie an der Universität Bonn. E-Mail: [email protected]

Wilkesmann, Uwe, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Weiterbildungs-, Sozial- und Organisationsmanagement am Zentrum für Weiterbildung der Uni-versität Dortmund. Begann seine wissenschaftliche Laufbahn als stu-dentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Politikwissenschaft/Vergleichende Regierungslehre der Ruhr-Uni-Bochum. E-Mail: [email protected], Homepage: www.zfw.uni-dortmund.de/wilkesmann