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Energiestrategie 2050 Energie & Umwelt Magazin der Schweizerischen Energie-Stiftung SES – 3 / 2012 > Pseudoausstieg oder Einstieg in die Energiewende? > Viel Hoffnung statt griffige Massnahmen > Beznau 1: Freifeldversuch in Reaktoralterung!

Energie & Umwelt...Mit der neuen Energiestrategie 2050 des Bundes steht die Schweiz an der Wende zu einer sauberen Stromversorgung. Doch die bundesrätliche Vorlage macht nur eine

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Page 1: Energie & Umwelt...Mit der neuen Energiestrategie 2050 des Bundes steht die Schweiz an der Wende zu einer sauberen Stromversorgung. Doch die bundesrätliche Vorlage macht nur eine

Energiestrategie 2050

Energie & UmweltMagazin der Schweizerischen Energie-Stiftung SES – 3 /2012

> Pseudoausstieg oder Einstieg in die Energiewende?> Viel Hoffnung statt griffige Massnahmen> Beznau 1: Freifeldversuch in Reaktoralterung!

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2  Energie & Umwelt 3/2012

INHALTSVERZEICHNIS

Impressum

ENERGIE & UMWELT Nr. 3, September 2012

Herausgeberin:  Schweizerische Energie-Stiftung SES, Sihlquai 67, 8005 Zürich, Telefon 044 275 21 21, Fax 044 275 21 20 [email protected], www.energiestiftung.chSpenden-Konto: 80-3230-3

Redaktion & Layout: Rafael Brand, Scriptum,    Telefon 041 870 79 79, [email protected]

Redaktionsrat:  Jürg Buri, Rafael Brand, Dieter Kuhn, Felix Nipkow, Bernhard Piller, Linda Rosenkranz, Sabine von Stockar

Re-Design: fischerdesign, Würenlingen  Korrektorat: Vreny Gassmann, Altdorf

Druck: ropress, Zürich, Auflage: 9500, erscheint 4 x jährlich Klimaneutral und mit erneuerbarer Energie gedruckt.

Abdruck mit Einholung einer Genehmigung und  unter Quellenangabe und Zusendung eines Beleg-exemplares an die Redaktion erwünscht.

Abonnement (4 Nummern):Fr.   30.–  Inland-AboFr.   40.–  Ausland-AboFr.   50.–  Gönner-Abo

SES-Mitgliedschaft (inkl. E & U-Abonnement)Fr. 400.–  KollektivmitgliederFr. 100.–  Paare / FamilienFr.   75.–  VerdienendeFr.   30.–  Nichtverdienende

SCHWERPUNKTTHEMA: Energiestrategie 2050

4  Pseudoausstieg oder Einstieg in die Energiewende?Bundesrat und Parlament haben den Atomausstieg beschlossen. Unsere Ener­gieministerin hat daraus ein umfassendes erstes Massnahmenpaket für die Energiewende gemacht. Sie hat richtig erkannt: Raus aus dem Atom ist nur die halbe Wende. Wir müssen auch raus aus den Fossilen und rein in die Er­neuerbaren. Beim «rein» hapert es an griffigen Massnahmen, beim «weniger ist mehr» ebenso. Aber lieber ein mehrheitsfähiger Einstieg in die Energie­wende, statt weitere zehn Jahre energiepolitisches Treten an Ort.

8  Energieeffizienz&Erneuerbare: Nur Mut, Frau Bundesrätin!Mit der neuen Energiestrategie 2050 des Bundes steht die Schweiz an der Wende zu einer sauberen Stromversorgung. Doch die bundesrätliche Vorlage macht nur eine halbe Wende: Es fehlen verbindliche Abschaltdaten für die be­stehenden AKW. Zudem soll auf einen ungebremsten Zubau bei der Photovol­taik und die sofortige Einführung einer Lenkungsabgabe verzichtet werden.

10  Bereich «Mobilität»: Viel Hoffnung statt griffige MassnahmenEin Drittel der Energie verbrauchen wir für Mobilität. Dies spiegelt sich aber in keiner Weise in den vom Bundesrat vorgeschlagenen Massnahmen. Für die SES ist klar: Es braucht viel, viel mehr, um das Steuer bei der Mobilität herumzureisen.

12   Bereich «Gebäude»: Minergie&Co. alleine werden es nicht richten In der Schweiz gibt es 1,64 Mio. Gebäude. Sie verbrauchen 49% der fossilen Ener gie und 37% des Schweizer Stroms. Trotz gutem ersten Massnahmen­paket lassen sich die Ziele der Energiestrategie 2050 nur zu zwei Dritteln er­reichen. Es braucht integrale Ansätze, die Wohnen, Arbeiten, Mobilität sowie Freizeit und Konsum einander wieder näher bringen.

14   Photovolatik: Schweiz ist das Schlusslicht Die SES hat untersucht, wo die Schweiz im Vergleich mit umliegenden Län­dern bei der Produktion von neuen erneuerbaren Energien steht. Das Resultat ist klar: Die Schweiz liegt – weit abgeschlagen – auf dem letzten Platz.

16  Beznau 1: Freifeldversuch in Reaktoralterung!  In Beznau 1 steht der älteste Reaktor der Welt. Sein Reaktordruckbehälter ist aus un ausgereiftem Material hergestellt. Die Neutronenversprödung führt dazu, dass der Behälter immer brüchiger wird. Noch nie war ein so alter, so grosser Reaktordruckbehälter so lange so stark bestrahlt worden. Wir betrei­ben einen weltweit erst maligen Freifeldversuch in Reaktoralterung!

18  «ENSI und BFE tanzen nach den Vorgaben der Nagra»Per Ende Juni ist Marcos Buser aus der Eidgenössischen Kommission für nukleare Sicher heit (KNS) zurückgetreten. Sein Rücktritt sei eine Frage des Gewissens, die Vorwürfe sind happig. «Etwas stimmt nicht im Atomstaat Schweiz!» – Ein Interview über die Hinter gründe und Machenschaften bei der Standortsuche nach einem Atommüll­Tiefenlager.

20  l   News   l   Aktuelles  l   Kurzschlüsse   l 

22  Dezentrale WKK leistet wichtigen Beitrag zur EnergiewendeDie zukünftige Schweizer Stromversorgung wird gänzlich anders gestaltet sein als die heutige. Sie wird kleinräumiger, dezentraler und erneuerbar sein. Die dezentrale Wärme­Kraft­Kopplung (WKK) wird eine tragende Rolle spielen, da sie gleichzeitig Strom und Wärme produziert. Zentrale grosse Gaskraftwerke sind aus Ressourcen­ wie auch aus Effizienz gründen nicht zukunftsfähig.

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Energie & Umwelt 3/2012 3

EDITORIAL

Nicht auf halbem Weg stehen bleiben!

Aus der Perspektive der Energie­politik kann man der knapp zwei Jahre amtierenden Energiemi nis ­terin Doris Leuthard gratulieren: Angesichts des Desasters in Fuku ­

shima hat sie den Hebel hin zu einer langfris tigen Versorgung mit erneuerbarer Energie und in Richtung AKW­Ausstieg umgelegt.

Was ihr Vorgänger zwölf Jahre lang allzu gerne ge­tan hätte, wozu ihm aber das Parlament, die Strom­wirtschaft und die Wirtschaftsverbände nicht den Hauch einer Chance gegeben haben, ist jetzt in greif­bare Nähe gerückt. Wir warten nun gespannt auf die vollmundig angekündigten konkreten Vorschläge des Bundesrates und können nur festhalten: Die Chancen, dass auch das Parlament – endlich! – in diese Richtung gehen will, stehen nicht schlecht. Dazu braucht es aber konsistente Konzepte. Der Aus­stieg ist nicht ohne weiteres zu haben – da hat die economiesuisse Recht. Nicht Recht hat sie hingegen mit ihrem sturen Festhalten an veralteten Konzepten, wovon ja die Atomtechnologie nur eines ist. Zur Kon­sistenz der neuen Energiepolitik gehören vier Grund­prinzipien: n Kein halber Ausstieg ! Erstens darf der Ausstieg nicht nur einer aus der Nukleartechnologie sein, sondern auch aus allen anderen nicht erneuerbaren Ener gien. Die Substitution von nuklearer Technologie durch fossile – und umgekehrt – ist für die langfris­tige Energieversorgung ein Trugschluss, abgesehen von deren fatalen klimatischen und ökologischen Auswirkungen. Parallel zum Atomausstieg müssen also bei den Grossverbrauchern Gebäude und Verkehr die veralteten und ineffizienten Verbrennungstechno­logien rasant zurückgefahren werden.

n Maximale Effizienz ! Zweitens schreitet die Elek t­rifizierung der Gesellschaft voran: Künftige Generati­onen werden diese Energieform noch stärker nutzen. Die Herausforderung ist damit die erneuerbare Ver­sorgung mit viel Elektrizität bei maximaler Effizienz ihres Einsatzes.

n Investieren in die Zukunft ! Ener giepolitik bedeu­tet drittens nicht Verzicht, sondern ganz im Gegen­teil die massive Investition der Wirtschaft und des Staates in innovative Technologien. Wir Schweizer haben nur die Lehre aus unserer eigenen Geschichte – jene der Turbinen und der Wasserkraft vor 120 Jah­ren – zu ziehen. Damals, liebe economiesuisse­Oldies, hat man viel Geld in teure Innovationen investiert, in Techniken, die heute die goldenen Eier der Ener­giewirtschaft legen! Wenn es damals die kostspielige Wasserkraft und Stromleitungen waren, so ist heute die Solartechnologie die Zukunftstechnologie.

n Durchstarten ! Viertens müssen diese Prozesse so rasch als möglich in Gang kommen. Jedes Jahr, das wir verlieren, bedeutet Verlust an Versorgungssicherheit, an Energieautonomie und – insbesondere! – an inter­nationaler Wettbewerbsfähigkeit unserer innovativen Branchen. Wer hier jetzt nicht durchstartet, verliert den Anschluss an die Welt.

Genau an diesen vier Grundprinzipien werden wir die Vorschläge des Bundesrates und die Umsetzung durchs Parlament messen. Der Staat und die Gesetze können und sollen nicht alles. Aber sie setzen die Rahmenbedingungen und sie geben vor allem die Ge­schwindigkeit der Umsetzung vor.

Verzögern und verwässern wir sie, droht der Stillstand auf halbem Weg. Das wäre das Schlimmste. <

Von MICHAEL KAUFMANN*SES-Stiftungsrat

* Michael Kaufmann ist seit 1. März 2011 Direktor der Musikhochschule Luzern.  Der Ingenieur ETH war während sechseinhalb Jahren Vizedirektor des Bundesamtes für Energie (BFE) und leitete das Programm EnergieSchweiz.

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Von JÜRG BURISES-Geschäftsleiter

Die Schweiz ist das reichste Land der Welt, wenn auch der Reichtum extrem schief ver­teilt bleibt. Durchschnittlich verdient ein(e) SchweizerIn im Jahr 72’000 Franken und hat ein Vermögen von 176’000 Franken. In einem durchschnittlichen Unternehmen oder im

Haus haltsbudget einer Privatperson machen die Energie ­ kosten etwa 2–5% der gesamten Ausgaben aus.

Keine CH-RohstoffeAusser der Wasserkraft und etwas Biomasse hat die Schweiz keine eigenen Energieressourcen. Vier Fünf­tel der Energie wird in Form von Erdölprodukten, Erdgas und Uranbrennstäben importiert. Wir kaufen jährlich für etwa 10 Milliarden Franken Energie im Ausland ein. Dieses Geld fliesst nach Libyen, Nigeria, Algerien, Saudi­Arabien, Iran, Russland, Kasachstan, Norwegen – und oft wieder auf Schweizer Bankkon­ten zurück. Unser Reichtum fusst auf anderen Fak­toren: stabiler Hafen für schwarzes und weisses Geld, wenig Transparenz und tiefe Steuern, guter Bildungs­platz, hohe Innovation und viel frische Luft. Banken, Börsen, Chemie und KMU prägen die Landschaft. Energieintensive Betriebe gibt es nur noch wenige, obwohl die Energie in unserem Land billiger ist als anderswo in Europa.

Horrender EnergieverbrauchIm reichsten Land der Welt ist auch der Energiever­brauch rekordverdächtig. Seit 1970 hat er sich fast ver­doppelt. Wenn Energie billig ist, wird sie bedenkenlos konsumiert und verschwendet. Kein Wunder hat die Schweiz die spritfressendste Autoflotte Europas, ge­heizte Fussballfelder und mit rund 50 m2 am meisten (geheizte!) Wohnfläche pro Person. Wir können es uns leisten, ganze Städte, Dörfer, Strassen und Schau­fenster ohne Nutzen die ganze Nacht elektrisch zu beleuchten. Zählen wir den Energieverbrauch der im­

portierten Konsumgüter hinzu, so haben wir heute pro Person einen Energiebedarf von mindestens 8300 Watt (Dauerleistung). Das heisst, für jeden von uns brennen permanent über achtzig 100­Watt­Glühbir­nen! Das ergibt eine Energierechnung für unser Land von gut 30 Milliarden Franken jährlich.

Fossiles wird teuerMittlerweile will sogar der amerikanische Präsident sein Land unabhängiger vom Erdöl machen und bis 2025 1700 Milliarden Dollar an Benzinkosten sparen. Ende August hat Barack Obama ein Gesetz vorgelegt, welches den Benzinverbrauch der Autos bis 2025 halbieren soll. Statt über 8 soll die amerikanische PW­Flotte nur noch 4 Liter auf 100 Kilometer brau­chen. Dieser Schritt Obamas ist verständlich. Denn die Kriege ums Öl kosten die USA jährlich mehrere Hundert Milliarden US­Dollar. Die Zeit des billigen Öls neigt sich dem Ende zu – das pfeifen mittlerweile auch saudische Spatzen von den Dächern. Die heu­tigen OECD­Länder werden das billige und knapper werdende Öl zunehmend mit China, Indien, Brasi­lien und Afrika teilen müssen. Denn auch dort wird je länger je mehr Auto gefahren, geheizt, gekühlt, gefertigt, geduscht, geglotzt und beleuchtet.

Erneuerbares wird billigerWährend die Preise für die knapper werdenden fossi­len Energierohstoffe steigen, fallen sie für Windräder und Sonnenenergie­Anlagen drastisch. Heute produ­ziert eine gute Solarstromanlage im Mittelland 1 Kilo ­ wattstunde für 20 Rappen. Vor fünf Jahren war sie mindestens drei Mal so teuer. Die Produktionskosten für Solarstrom sind heute fast so tief wie der Preis für 1 Kilowattstunde vom Elektrizitätswerk. Auch einhei­misches Holz war in den letzten Jahren immer billiger als Heizöl.

Fukushima als Trigger11­3­11 hat uns die fast vergessene Fratze einer un­beherrschbaren und zu gefährlichen Technologie vor

ENERGIESTRATEGIE 2050

Pseudoausstieg oder  Einstieg in die Energiewende?Fukushima und die Wahlen 2011 haben es möglich gemacht: Bundesrat und Parlament  haben vor eineinhalb Jahren den Atomausstieg beschlossen. Unsere Energieministerin hat daraus ein umfassendes erstes Massnahmenpaket für die Energiewende gemacht. Sie hat richtig erkannt: Raus aus dem Atom ist nur die halbe Wende. Wir müssen auch raus aus den Fossilen und rein in die Erneuerbaren. Beim «rein» hapert es an griffigen Massnahmen, beim «weniger ist mehr» ebenso. Aber lieber ein mehrheitsfähiger Einstieg in die Energie-wende, statt weitere zehn Jahre energiepolitisches Treten an Ort. 

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Augen geführt. Die Folgen sind für die japanische Bevölkerung, für die Umwelt und auch für den ehe­maligen AKW­Betreiber fatal. Auch wenn gewisse Kreise den Super­GAU bereits klein reden, so ist eine deutliche Mehrheit der Schweizer nach wie vor gegen den Neubau von AKW. Und das wird wohl noch eine Weile so bleiben.

Doris als Glücksfall?Doris Leuthard hat diesen Tatsachen in die Augen geschaut und sich zuerst für den Atomausstieg und dann für die Energiewende entschieden. Sie brauchte dafür keine ökologische Überzeugung, sie sah die politischen aber auch volkswirtschaftlichen Chan­cen. Unser aller Glück war ihre Parteizugehörigkeit. Bei ihrem SP­Vorgänger wäre dieser Richtungswech­sel wegen parteipolitischer Abwehrreflexe nie mehr­heits fähig gewesen. Und klar, Bundesrätin Leuthard hatte den nötigen Mut und den nötigen Charme, um die Fackel der Energiewende endlich durchs Bundes­haus zu tragen. Wer sie in der entscheidenden Stände­ratsdebatte gegen die demonstrativ Kreuzworträtsel lösenden Atomköpfe hat referieren sehen, weiss, dass ihre Überzeugung ehrlich ist. Nicht weil sie über Nacht zur Atomkritikerin geworden wäre. Nein, sie wusste einfach, dass AKW­Neubauten schlicht un­realistisch geworden waren und die erneuerbaren Energien, die effizienten Technologien und die Ge­

bäudesanierungen allesamt ein riesiges Potenzial an Arbeit und Wohlfahrt für hiesige KMU bedeuten. Lei­der haben das bis heute weder der Gewerbeverband geschweige denn die SVP begriffen. Sie haben noch immer das Gefühl, dass billige Energie für uns alle ein Segen ist.

Demokratie wendet nur langsamBisher ist noch gar nichts neu und noch gar nichts entschieden. Die SVP und die nuklearen Altherren­klubs fordern bereits wieder neue AKW. Wie und vor allem wie schnell der politische Prozess laufen wird, ist schwierig vorauszusagen. Momentan gehen die Gesetzesvorschläge von Doris Leuthard in die Ver­nehmlassung. Im Sommer 2013 gibt es den definitiven Vorschlag des Bundesrates und darauf folgt die Parla­mentsdebatte. Falls der «geordnete» Atomausstieg als eines der zentralen Elemente der Vorlage das Parlament überstehen wird, werden die Adlaten der Atomstrom­wirtschaft und die so genannten Wirtschaftsverbände wohl dagegen das Referendum ergreifen und es kommt in etwa 2015 zu einer Volksabstimmung. Bis dahin bleibt alles beim Alten und vor allem bleibt unklar, wohin die Reise geht.

Der «Plan Leuthard»Bundesrätin Leuthard und ihr Bundesamt haben wenig Neues erfunden. Mussten sie auch nicht. Die «Ener­

Der «Plan Leuthard» ist eine energiepolitische Schlaumeierei und dient der Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke – auf Kosten all unserer Sicherheit!

Der «Plan Leuthard» ist ein mehrheitsfähiger Einstieg in die Energiewende!

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gieperspektiven 2050», so heisst das neue Konzept, ähnelt den alten Perspektiven aus dem Jahre 2007. Schon damals hatte Energieminister Moritz Leuen­berger vorgerechnet, dass der Atomausstieg mit er­neuerbaren Energien und effizienterem Stromeinsatz möglich ist. Trotzdem überzeugt Doris Leuthard, insbesondere in einem Punkt: Sie kommuniziert besser und verkauft geschickter. Sie redet nicht nur vom Atomausstieg, sondern von der gesamten Energieversorgung, also auch von Mobilitätsreduktion, Gebäudesanierungen und Klimaschutz. Und sie stellt klar, dass die Wende ein langer Prozess sein wird, dass wir jetzt die Weichen stellen müssen und Zeit brauchen, dass ihr erstes Mass­nahmenpaket nur ein Anfang sein kann und später mehr nötig sein wird. Es braucht auf allen Seiten Kompromisse, und auch wir als KonsumentInnen müssen diesen Weg mitgehen. So weit so gut.

Ziele in weiter Ferne Bis im Jahr 2050 will Bundesrätin Leuthard den Ge­samtenergieverbrauch um einen Drittel senken und der Stromverbrauch soll ab 2020 stabil bleiben. Das ist aus 2000­Watt­Sicht zu wenig, aber pro Kopf und mit weiterem Bevölkerungs­ und Wirtschaftswachstum immerhin ein 4000­Watt­Ziel. Was dabei auf­ und missfällt, ist die Verschiebung der Zielerreichung nach hinten. So soll in den nächsten zehn Jahren, also während ihrer Amtszeit, quasi kaum etwas ge­schehen, ab 2030 bis 2050 jedoch fast die gesamte Wirkung erzielt werden. Lange politische Prozesse in Ehren: Fakt ist, dass die wirklich zielführenden Mass­nahmen auf die nächste PolitikerInnen­Generation verschoben werden. Langfristziele ohne verbindliche

Zwischenziele und vor allem ohne Massnahmen sind wertlos und politische Schlaumeierei.

Griffige Massnahmen fehlenDoris Leuthard gibt denn auch unumwunden zu, dass ihr Massnahmenpaket nicht genügt, um die Ziele zu erreichen. Dazu seien weitere Massnahmen ab 2020 nötig. Was sie für die nächsten zehn Jahre vorschlägt, ist demzufolge leidlich wenig: Die Verstärkung des Bisherigen und die Einführung dessen, was wir aus EU­Kompatibilität sowieso tun müssen. Auf neue wirk ­same und effizientere Massnahmen, wie zum Beispiel eine Energielenkungsabgabe, sollen wir weitere zehn wohl eher zwanzig Jahre warten. Eine weitere Tat­sache ist, dass es keine verbindlichen Abschaltdaten für die fünf Atomkraftwerke geben soll. Womit es auch unwahrscheinlich bleibt, dass die einheimischen Potenziale an Erneuerbaren konsequent und rasch erschlossen werden. Die grossen Staatsstromer jeden­falls machen bisher gute Mine zum bösen Spiel. Sie wollen weder mithelfen, die dezentrale Versorgung mit erneuerbaren Energien voranzubringen, noch sind sie bereit, ernsthafte Stromsparmassnahmen mitzu­tragen. Was sie interessiert, ist der möglichst lange Betrieb ihrer Uralt­AKW – auf Kosten all unserer Sicherheit – sowie der Ausbau der Stromdrehscheibe Schweiz und die Auslandsinvestitionen.

Am Ende gehts ums GeldWie immer wird es in der politischen Ausmarchung am Ende ums Geld gehen. Die GegnerInnen der Ener­giewende werden der Bevölkerung mit hohen Kosten Angst einflössen. Dabei werden sie geflissentlich die Erblasten des nuklearen Vermächtnisses verschwei­gen und nur von teuren Erneuerbaren reden. Einfach ist die Kostenabschätzung für die Energiewende in der Tat nicht. Verschiedene haben es trotzdem getan. Die Zahlen liegen bei 35 bis 100 Franken pro Person und Jahr. Gemessen am durchschnittlichen Jahreseinkom­men ein Pappenstiel. Denn dafür gibt es mittelfristig eine zukunftsfähige, sichere und umweltfreundliche Energieversorgung ohne Restrisiko. Je früher wir da­mit beginnen, desto eher werden wir als Exportnation und Innovationsplatz auch volkswirtschaftlich profi­tieren und neue Arbeitsplätze schaffen.

Vom GlasDer Plan Leuthard ist aus heutiger Sicht vor allem ein gut verkaufter Einstieg in die Energiewende. Die langfristige Zielsetzung ist einigermassen richtig, was fehlt sind die wirksamen Massnahmen mit An­reizumkehr. Als definitives Signal zum Hebel umle­gen, reicht der Vorschlag noch nicht. Trotzdem, es gibt mehr Argumente für diesen dosierten, hoffent­lich mehrheitsfähigen Einstieg in den Ausstieg als dagegen. Am Geld kann es im reichsten Land der Welt nicht liegen und die Zeit arbeitet zweifelsohne für die Wende. Denn diese kommt – so oder so. <

Zusammensetzung des Energieverbrauchsauf der Basis des Massnahmenpakets des UVEK

250

200

150

100

50

0

900

800

700

600

500

400

300

200

100

0

n   Wasserstoff

n   Biogas als Treibstoff

n   Flüssige Biotreibstoffe

n   Flugtreibstoffe

n   Diesel

n   Benzin

n   Biogas, Klärgas

n   Umgebungswärme

n   Solarwärme

n   (Industrie-)Abfälle

n   Holz

n   Fernwärme*

n   Kohle

n   Erdgas 

n   Heizölprodukte o. Treibstoffe

n   Elektrizität*

1960     1970   2000   2010   2020   2035   2050

Quelle: Prognos 2012

PJ TWh

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Energie & Umwelt 3/2012 77

Thorsten Staake, Dozent an der ETH Zürich & Leiter des Bits to Energy Labs

Thorsten Staake  ist Dozent  an der  ETH Zürich und  Leiter  des Bits  to  Energy Labs, einer Gemeinschaftsinitiative von ETH Zürich und Universität St. Gallen. Er beschäftigt sich  insbesondere mit  Informationssystemen zur Erfassung und Beeinflussung von Energieverbräuchen. Derzeitige Schwerpunkte bilden Smart-Grid- und Smart-Metering-Systeme und deren Kombination mit Konzepten aus dem Bereich Behavioral Economics. Infos unter www.bitstoenergy.ch.

INTERVIEW MIT DR. THORSTEN STAAKE, RESEARCH DIRECTOR BITS TO ENERGY LAB

«Energie muss kein langweiliges Produkt bleiben»

E&U: Dr. Thorsten Staake, die Schweizer Energiever-sorgung wird sich massiv verändern. Wo wird sich am meisten tun?

« Den grössten Anteil am Energieverbrauch machen mit zirka 2/3 die fossilen Erdölbrennstoffe, Gas und sonstige Treibstoffe aus. Ich bremse die Euphorie des Wandels ungerne, aber an dieser Dominanz wird sich in den nächsten zwei Jahrzehnten wenig ändern. Da­für wird sich beim Strom vieles verändern, zum Bei­spiel bei der Einbindung von Windstrom, Photovol­taik, Wärme­Kraft­Kopplungsanlagen etc. Am meisten bewegen wird sich der Energieeffizienz­Bereich, und das nicht nur bei der Elektrizität, sondern auch bei der Wärmenutzung. »

Welche Technologien haben das grösste Potenzial?

« Ein übergreifender Trend ist unverkennbar: Die Informations­ und Kommunikationstechnologie wird sowohl auf der Erzeuger­ als auch auf der Verbrau­cherseite ein grosses Effizienzpotenzial heben. Dabei denke ich an Lösungen, die die Endverbraucher zu einem bewussten und effizienten Einsatz von Energie motivieren. Solche Lösungen integrieren den Nutzer und «nehmen ihn mit». Energie muss kein langwei­liges Produkt bleiben. »

Was ist die Rolle der Energieeffizienz?

« Der Energieeffizienz kommt die grösste Bedeutung zu. Dies ist auch der Energiestrategie des Bundes zu entnehmen. Eine eingesparte Kilowattstunde ist ohne Frage die umweltfreundlichste und häufig auch eine kostengünstige. Versorgungsunternehmen spielen eine wichtige Rolle. Sie kennen ihre Kundschaft und

stehen in Kontakt mit ihnen. Allerdings muss ein re­gulatorischer Rahmen entstehen, damit sich Effizienz­bemühungen – also der Verzicht auf Umsatz im ehe­maligen Kerngeschäft – auch finanziell auszahlen. »Sie arbeiten als Direktor des «Bits to Energy Lab» an der Forschung zu «smart meters», die auch Bun-desrätin Leuthard einführen will. Wie profitieren Kundschaft und Stromverkäufer?

« Die Zähler motivieren zum Energiesparen und hel­fen, Strom dann zu nutzen, wenn er kostengünstig und umweltfreundlich zur Verfügung steht. So kann der Verbrauch um durchschnittlich 3 bis 4% gesenkt werden. Engagierte Nutzer können aber deutlich mehr sparen. Auf der anderen Seite müssen die Ver­sorger auf einen Teil ihres Ertrags verzichten, da sie ja weniger Strom verkaufen. Hier sollte ein Mechanis­mus geschaffen werden, sodass sich Energieeffizienz für alle Beteiligten lohnt. »

Wie sehen Sie das Potenzial der Energiewende für KMU oder für neue Arbeitsplätze in der Schweiz?

« Hier sehe ich erhebliches Potenzial. Die Nachfrage an energieeffizienten Anlagen für die Energiewand­lung und ­verteilung ebenso wie für die Produktion physischer Güter wird auch im Ausland steigen. Da­von wird die exportorientierte Wirtschaft profitieren. Weiter rechne ich damit, dass sich der Markt für neue Energiedienstleistungen sehr positiv entwickeln wird. Die Rahmenbedingungen für Startups und junge Un­ternehmen sind in der Schweiz ja bekanntlich sehr gut. Die neue Energiestrategie motiviert also auch zur Innovation. »

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8  Energie & Umwelt 3/2012

Nur Mut, Frau Bundesrätin!

ERSTES MASSNAHMENPAKET ENERGIESTRATEGIE 2050 – ENERGIEEFFIZIENZ & ERNEUERBARE

Von SABINE VON STOCKARProjektleiterin Atom&Strom

Die Entscheidung ist historisch: Im Mai 2011 verkündete Bundesrätin Doris Leuthard den Schweizer Atomausstieg. Die neue, bundes­rätliche Energiestrategie 2050 befindet sich bis Ende Januar 2013 in der Vernehmlas­

sung. Endlich werden die Segel in Richtung saubere Stromversorgung gesetzt. Bei der konkreten Umset­zung hapert es allerdings: Es braucht verbindliche Abschaltdaten und einen überzeugten Einstieg in die saubere Stromproduktion.1

Bitte ganz aussteigen Abschaltdaten für die bestehenden Schweizer AKW sind für den geordneten, schrittweisen Ausstieg und die Energiewende unerlässlich. AKW werden mit zu­nehmendem Alter immer unsicherer, denn sie wur­den ja ursprünglich für den Betrieb von 40 Jahren konzipiert. Das letzte Schweizer AKW sollte dement­sprechend 2034 vom Netz. Der Bundesrat entschied zwar, keine neue AKW zu bauen, doch die bestehen­den sollen trotzdem «so lange sie sicher sind» am Netz bleiben. Die AKW­Betreiber wollen allerdings auf Teufel komm raus ihre alten schon längst amor­tisierten Goldesel möglichst lange am Netz behalten

– Sicherheit hin oder her. Abschaltdaten setzen die­sem gefährlichen Spiel ein Ende.

Für die Energiewende braucht die Branche auch Pla­nungssicherheit. Mit Abschaltdaten weiss der AKW­Betreiber, wie lange sein Kraftwerk am Netz bleiben darf – davon ausgehend, dass es die Atomaufsicht bis dahin als sicher einstuft. Der Betreiber kann so die Unternehmensstrategie frühzeitig anpassen: Gibt es Abschaltdaten, können die Rückstellungen für den strapazierten Weiterbetrieb der Atomkraftwerke in eine neue Strategie fliessen und der Produktionspark kann auf erneuerbare Energien umgestellt werden. Die Politik ist also gefordert, einen klaren zeitlichen Rahmen zu setzen. Diese Signale aus der Politik sind auch für Industrie und Dienstleister wichtig: Sie kön­nen sich so frühzeitig auf neue Rahmenbedingungen einstellen und etwa Massnahmen zur Erhöhung der Effizienz oder die Produktion von Erneuerbaren im eigenen Betrieb einleiten. Der beschlossene Ausstieg ähnelt im Moment also eher einem fahrlässigen Aus­laufen lassen – und dies auf Kosten der Sicherheit und der Planungssicherheit der Akteure.

Bitte ganz in Erneuerbare einsteigen Damit Energiewende und Atomausstieg nicht auf halbem Weg stecken bleiben, braucht es einen kon­sequenten Einstieg in die saubere Stromproduktion. Ziel ist, die Schweiz 100% mit erneuerbarem Strom zu versorgen. Zwar wurde schon 2007 die kostende­ckende Einspeisevergütung (KEV) eingeführt. Damit erhalten Wind­, Sonnen­, Biomasse­, Wasserkraft­ und Geothermieanlagen eine Investitionsgarantie. Mit Er­folg: Wenige Tage nach Anmeldungsbeginn gab es schon viel mehr angemeldete Anlagen, als Geld vor­gesehen war. Würden heute alle Anlagen bewilligt, die auf der KEV­Warteliste sind, so könnten die AKW Mühleberg und Beznau 1 abgeschaltet werden.

Am meisten Anlagen auf der KEV­Warteliste hat die Photovoltaik. Ausgerechnet Solarstrom soll nun wei­terhin mit angezogener Handbremse gefördert wer­den. Könnten alle Investitionswilligen ihre Anlagen realisieren, so wäre die Energiewende schon längst im Gange. Denn Dächer gibt es in der Schweiz genug: 52m2 pro EinwohnerIn nämlich, wovon sich 25 m2 für die solare Nutzung besonders eignen. 12m2 reichen,

Mit der neuen Energiestrategie 2050 des Bundes steht die Schweiz an der Wende zu einer sauberen Stromversorgung. Doch die bundesrätliche Vorlage macht nur eine halbe Wende: Es fehlen verbindliche Abschaltdaten für die bestehenden AKW.  Zudem soll auf einen  ungebremsten Zubau bei der Photovoltaik und die sofortige Einführung einer Lenkungs-abgabe verzichtet werden. 

12m2 Dachfläche pro SchweizerIn reichen, um 25% des Stromverbrauchs mit Solarstrom zu decken. Heute haben wir 52m2  Dachfläche pro Person. 

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um 25% der heutigen Stromversorgung mit Sonne zu decken (heute sind es 0,01%). Obwohl die Gestehungspreise von Solarstrom in den letzten Jahren stark gesunken sind, ist die Schweiz im Vergleich zu den umliegenden Ländern das Schluss­licht. Projekte dümpeln auf der Warteliste, anstatt umgesetzt zu werden (siehe auch S. 14/15).

Das Effizienzpotenzial ausschöpfenDas Effizienzpotenzial ist riesig und noch lange nicht ausgeschöpft: Jede dritte Kilowattstunde geht in der Schweiz in wartenden Kaffeemaschinen, ineffizien­ter Beleuchtung oder anderem Betrieb ohne Nut­ zen verloren. Mit freiwilligen Massnahmen alleine – das sollte mittlerweile klar sein – geschieht nicht viel. Aber mit einem Belohnungssystem, etwa einer Lenkungsabgabe, wird Otto Normalverbraucher sein Verhalten ändern. Er wird sich effiziente Geräte an­schaffen, LED­Beleuchtung installieren und den Com­puter ausschalten, wenn er aus dem Haus geht. Indem er seinen Stromkonsum tief hält, wird seine Strom­rechnung tief ausfallen. Jedenfalls tiefer als diejenige von Werner Vielverbraucher, der weiterhin seine drei Computer laufen lässt, mit einer Elektroheizung sein Haus auf 22 Grad Celsius heizt und immer den Tumb­ler braucht. Da beide Ende Jahr gleich viel von der Lenkungsabgabe rückvergütet bekommen, wird Otto Normalbürger von der Stromlenkungsabgabe profi­tieren, während Werner Vielverbraucher tief in die Tasche greifen muss. Die Lenkungsabgabe ist keine Steuer, da das ganze Geld rückvergütet wird (fiskalquotenneutral) und gibt einen preislichen Anreiz für jede Konsumentin und jeden Konsumenten, keine unnötige Kilowattstunden

aus der Steckdose zu beziehen. Eine Lenkungsabgabe ist das Instrument, um den Stromverbrauch in der Schweiz zu stabilisieren, respektive zu senken. Des­halb sollte sie sofort eingeführt werden.

Es braucht mehr, Frau LeuthardDen Schweizer Atomausstieg schaffen wir. Problem­los. Und er ist eine Chance. Denn wenn die Weichen neu gestellt werden, kann die Schweiz mit 100% er­neuerbarem Strom versorgt werden. Die Volkswirt­schaft wird dadurch nachhaltig angekurbelt und Zehntausende neuer Arbeitsplätze werden geschaffen. Die Umweltministerin Doris Leuthard hat die Chance erkannt. Nebst viel Mut und Rückgrat braucht es nun entsprechend griffige Massnahmen, damit die Ener­giewende kein frommer Wunsch bleibt. <

Die neue 100PRO-Broschüre

Geschätzte E&U-Leserinnen und -Leser,  wir freuen  uns  sehr,  Ihnen  in  dieser  Ausga-be unseres Magazins die neue Broschüre der Umweltverbände beilegen zu dürfen. «100PRO  erneuerbar»  ist  machbar.  Wir können uns vollständig mit Strom aus ein-heimischen und erneuerbaren Quellen ver-sorgen, auch dank der Effizienz. Wenn wir wollen. Wie das funktioniert, sehen Sie in der beigelegten Broschüre. Zusätzliche Broschüren können Sie unter www.energiestiftung.ch  oder  telefonisch unter 044 275 21 21 bestellen.

1  Bis zum Redaktionsschluss lag die definitive Vernehmlassungsvorlage nicht vor. Die Eckwerte waren allerdings schon bekannt.

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Die Energiestrategie 2050 hat den Anspruch, eine umfassende Strategie zu sein und be-inhaltet auch unsere Mobilität, die einen Drittel des Energieverbrauchs ausmacht. Diese Wichtigkeit spiegelt sich aber in keiner Weise in den vom Bundesrat vorgeschlagenen Massnahmen. Für die SES ist klar: Es braucht mehr, viel mehr, um das Steuer im Mobi-litätssektor herumzureisen.

Viel Hoffnung statt griffige Massnahmen

ERSTES MASSNAHMENPAKET ENERGIESTRATEGIE 2050 – BEREICH MOBILITÄT

Von BERNHARD PILLERSES-Projektleiter

Die Energiestrategie 2050 des Bundesrats ist eine Gesamtenergiestrategie, auch wenn oft nur über den Stromsektor, respektive den Atomausstieg diskutiert wird. Es sei einmal mehr erwähnt, dass sich der Gesamtenergie­verbrauch aus drei Sektoren zusammensetzt:

Mobilität, Wärme (Heizen/Warmwasser), Strom. Da­bei ist der Verbrauch im Mobilitätssektor höher als im Stromsektor.

Ein Drittel Energie für die MobilitätDer Verkehr ist heute in der Schweiz die grösste En­ergieverbrauchsgruppe. 311’090 TJ Energie wurde 2011 in der Schweiz im Verkehrssektor verbraucht. Das entspricht 86,4 TWh oder 36,5% des Endenergie­verbrauchs. Knapp 96% des Energiebedarfs im Mobi­litätssektor wird mit Erdölprodukten gedeckt. Dieser Anteil liegt seit 1970 konstant zwischen 95% und 97%. Die Mobilität ist für 60% des Erdölverbrauchs verantwortlich. Rechnet man noch die graue Energie mit ein, ist die für die Mobilität eingesetzte Energie noch viel höher.

Unangetasteter MobilitätssektorAngesichts der hohen Relevanz des Mobilitätssektors am Gesamtenergieverbrauch sind die vom Bundesrat vorgeschlagenen Massnahmen eindeutig zu schwach. Ihre Wirkung bewegt sich im kaum messbaren Be­reich, zudem sind sie sehr oft auf der freiwilligen und auf der Informationsebene – sprich, sie setzen auf individuelle, freiwillige Verhaltensänderung und weniger auf harte, wirksame politische Massnahmen.Ein Teil der Massnahmen, welche unter dem Bereich Mobilität aufgeführt sind, gehört gar nicht dorthin, und es sind Massnahmen, deren Wirkung sich im Promille­bereich bewegen. Massnahmen wie zum Beispiel Effizi­enzvorgaben für die Strassenbeleuchtung sind gut und auch richtig, haben aber mit der ungebremst wachsen­den Mobilität wenig bis nichts zu tun. Sinn macht es auch, geeignete Flächen (Lärmschutzwände, Dächer) von Strassen für die Solarstromproduktion zu nutzen. Aber auch hier: Solche Massnahmen tragen nichts zur Problemlösung im Bereich Mobilität bei.

Griffige Massnahmen fehlenWirklich griffige Massnahmen und Instrumente, wie eine CO2­Lenkungsabgabe, ein umfassendes Mobility­Pricing oder etwa Massnahmen im Luftverkehrs­sektor, wie eine massive Ticketsteuer, sind nirgends zu finden.

Klar wurde eine CO2­Abgabe auf Treibstoffe im Parla­ment schon mehr als einmal abgelehnt. Wird aber so wie jetzt eine neue Energiestrategie in Angriff genom­men, ist es aus SES­Sicht zwingend notwendig, wirk­same Massnahmen, auch wenn sie umstritten sind, wieder ins Massnahmenpaket aufzunehmen.

Der richtige WegDas Ziel muss eine massive Reduktion des Energie­verbrauchs im Mobilitätssektor sein. Dazu sind sechs Tugenden notwendig:

Verbrauchsanteile 2011 in ProzentenEin Drittel der Energie wird vom Mobilitätssektor verbraucht.

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Tugend 1: VerkehrsvermeidungWeniger Verkehr muss erste Priorität haben, sowohl im Personen­ wie auch im Güterverkehr. Hierfür ist eine gezielte Strukturpolitik elementar. In einer Stadt in der westlichen Zivilisation verursacht eine Person pro Jahr gut 1200 Zielbewegungen. Diese Anzahl ist seit Jahren relativ konstant. Was sich änderte, sind die Entfernungen. Längere Distanzen bei gleichbleibender Anzahl Wegstrecken hat mit der Zerstörung räumlicher Strukturen zu tun, sprich der Zersiedlung in der Fläche und mit einer im Verhältnis unglaublichen Verbilligung der moto­risierten Mobilität. Die Strassenkapazitäten dürfen deshalb nicht weiter ausgebaut werden.

Tugend 2: Förderung nichtmotorisierter VerkehrHierfür braucht es eine Raumpolitik der kurzen Wege. Nur so kann der Anteil der zu Fuss und mit dem Fahr­rad zurückgelegten Wege deutlich erhöht werden.

Tugend 3: Ausbau des öV, vor allem lokalIn den Städten muss der öffentliche Verkehr (öV) aus­gebaut werden, vor allem Trams, die eine mehr als doppelt so hohe Beförderungskapazität wie die Busse haben. Ein isolierter öV­Ausbau ohne den motorisier­ten Individualverkehr (MIV) massiv zu reduzieren, ist dabei nicht zielführend. Dies führt lediglich zu mehr Gesamtmobilität.

Tugend 4: autofreie Orte und StädteSpeziell verdichtete Orte, Städte und Stadtteile sind

prädestiniert für autofreie Zonen. Autos sind nicht für die Städte gemacht und Städte nicht für Autos gebaut.

Tugend 5: Viel weniger FlugverkehrDer Flugverkehr muss teurer und deutlich weniger werden. Die Einführung einer Kerosinsteuer ist längst überfällig. Ausserdem braucht es eine Sondersteuer auf Kurzstreckenflüge unter 1000 km Distanz.

Tugend 6: Reduktion des GüterverkehrsDer Güterverkehr muss massiv reduziert werden. Hierbei können hohe Energiesteuern und / oder eine ökologische Steuerreform hilfreich sein. Die LSVA muss massiv erhöht werden!

SES-ForderungenAus diesen Tugenden ergeben sich für die SES fol­gende politische Forderungen:

n Mobilität muss – mittels einer hohen Treibstoff­lenkungsabgabe – teurer werden: sowohl auf der Strasse, als auch auf der Schiene und in der Luft.

n Der Ausbau des lokalen und überregionalen öV ist an einen gleichzeitigen Abbau der MIV­Kapazitäten zu koppeln.

n Forcierter Ausbau der Infrastruktur für den Lang­samverkehr.

n Keine Subventionierung des MIV, ergo: auch keine Subventionierung von Elektrofahrzeugen. <

Bleibt der motorisierte Individualverkehr (MIV) so unangetastet wie in der Energiestrategie 2050 vorgesehen, werden wir weiterhin über Jahrzehnte solche Bilder von vor allem autogerecht gebauter Verkehrsinfrastruktur haben.

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12  Energie & Umwelt 3/2012

Von RAFAEL BRANDE&U-Redaktor

Wir SchweizerInnen decken unseren Energie­bedarf zu drei Vierteln mit fossilen, endlichen Energien. Weniger Heizöl, Benzin, Diesel und Gas zu verbrauchen, ist fürs Klima und eine lebenswerte Zukunft unserer Kinder von im­menser Bedeutung. Was wir heute betreiben,

ist ein «heisses Spiel mit der Erde». Reto Knutti, Pro­fessor am Institut für Atmo sphäre und Klima der ETH Zürich, spricht Klartext: «Die Erwärmung der Erde um höchstens 2 Grad ist das Beste, was wir erreichen, und das Schlimmste, was wir tolerieren können.»1 Dass es – angesichts Klimaerwärmung und Ressourcen­verschwendung – ernster, irgendwann sehr ernst wird, begreifen allmählich immer mehr Politike rInnen, allen voran Doris Leuthard. Unsere Bundesrätin hat mit der Atom­Katastrophe in Fuku shima erkannt, dass wir aus der Hochrisikotechnologie Atom energie aussteigen müssen. Sie betont, dass der Atomausstieg nur gelingt, wenn dieser auch ein Einstieg in die Energiewende ist. Die Bundesrätin weiss auch, dass sich der Schweiz wirtschafliche Chancen und Innovationen eröffnen.

Wer sich die Anteile am fossilen Energieverbrauch vor Augen führt (48% Verkehr, 27% Haushalte, 12% Dienstleistungen, 11% Industrie, 2% Rest) weiss, wo ansetzen: Grösster Handlungsbedarf, sprich ein im­menses Effizienzpotenzial besteht beim Verkehr und im Gebäudebereich (Haushalte/Industrie).2 Der Bundesrat gibt der Politik nun seine Energieziele vor: Gemäss Energiestrategie 20503 soll der Gesamt­energieverbrauch (inkl. Strom) im Bereich «Gebäude» gegenüber der Trendentwicklung um rund 35 TWh sinken. Mit dem nun vorliegenden, ersten Massnah­menpaket – so die Berechnungen – sinkt der Gesamt­energieverbrauch aller Schweizer Gebäude bis 2050 aber nur um 23,4 TWh (= 67% Zielerreichung), beim Strom um 9,5 TWh (= 69% Zielerreichung).

Massnahmen gut, alles gut?Die vorgeschlagenen Massnahmen im Bereich «Ge­bäude» sind insgesamt gut und werden Wirkung zeigen. Im Mittelpunkt steht dabei mehr Geld fürs nationale Gebäudeprogramm. Wer in Energieeffizienz und Erneuerbare investiert, soll mit Förderbeiträgen entsprechend unterstützt werden. Als weitere zentra­le Massnahmen sind die Anpassung des Steuer rechts für energetische Sanierungen und die Revision der so genannten MuKEn (Mustervorschriften der Kantone im Energiebereich) geplant. Hierfür sind die Kantone zuständig, respektive die Konferenz Kantonaler Ener­giedirektoren (EnDK). Die EnDK unterstützt die neue Energiestragie 2050 und hat kürzlich folgende Stoss­richtung definiert:4

n Neubauten sollen sich ab 2020 ganzjährig mög­lichst selbst mit Wärmeenergie versorgen und zur eigenen Stromversorgung beitragen.

n Die Sanierung von bestehenden Gebäuden soll for­ciert und die Verwendung von Strom für Elektro­heizungen und für die Warmwasseraufbereitung ab 2020 gar verboten werden.

n Die Wärmeversorgung kantonseigener Bauten soll bis 2050 zu 100% ohne fossile Brennstoffe aus­kommen, und der Stromverbrauch soll um 20% gesenkt werden.

Die Instrumente liegen auf dem Tisch. Die Gebäu­de­ und Haustechnik ist erprobt und gereift. Und nicht nur die Massnahmen, sondern auch steigende Energie kosten für Heizöl und Strom werden dafür sorgen, dass sich der Energiebedarf im Gebäudebe­reich bis 2050 reduzieren wird. Die Ziele lassen sich aber nur teilweise erreichen. Das stellt der Bundesrat ja selber fest. – Es braucht also mehr...

In die Zukunft mit 2000-Watt-QuartierenDer Gebäudebereich lässt sich nicht isoliert betrach­ten: Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Konsum sind eng miteinander verknüpft. Was nützt ein Minergie­Haus im Grünen, wenn dafür umso mehr Autokilome­ter gefahren werden? Drei Beispiele von nachhaltig geplanten Quartieren zeigen, wie der Weg hin zur 2000­Watt­Gesellschaft weitergehen muss.

In der Schweiz gibt es 1,64 Mio. Gebäude. Sie verbrauchen 49% der fossilen Energie und 37% des Schweizer Stroms. Trotz gutem ersten Massnahmenpaket lassen sich die Ziele der Energiestrategie 2050 nur zu zwei Dritteln erreichen. Minergie&Co.  alleine werden es also nicht richten: Es braucht integrale Ansätze, die Wohnen, Arbeiten, Mobilität sowie Freizeit und Konsum einander wieder näher bringen. Drei Beispiele von nachhaltig geplanten Quartieren weisen den Weg zur 2000-Watt-Gesellschaft. 

Minergie&Co. alleine werden es nicht richten

ERSTES MASSNAHMENPAKET ENERGIESTRATEGIE 2050 – BEREICH «GEBÄUDE»

1  NZZ am Sonntag, 29.11.2009.2  Energiepolitik der EnDK, Eckwerte und Aktionsplan, www.endk.ch.3  Faktenblatt 1, Erste Massnahmen Energiestrategie 2050, 18.4.20124  www.2000watt.ch/data/downloads/2kW-Bilanzierungskonzept2012.pdf5  www.2000watt.ch/data/downloads/Zertifikat_2000-Watt-Areale_120903.pdf

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GreenCity.ZürichMit GreenCity.Zürich (ehemals Industriegebiet Sihl­Ma negg) ist auf rund 82’200m2 ein Quartier ge plant, das nach 2000­Watt­Zielen er richtet werden soll. Das Areal wird von der Losinger­Marazzi AG in Zusam­menarbeit mit der Nüesch Development AG und dem Hochbaudepartement der Stadt Zürich entwickelt. Als erstes Quartier schweizweit hat es von Energie­Schweiz für Gemeinden das Zertifikat «2000­Watt­Areal – Pilotphase» erhalten (s. Textbox). Ab 2013 soll gebaut werden. Geplant sind 13 Neubauten im Mi­nergie­P­Eco­Standard, was garantiert, dass die graue Energie auf ein Minimum reduziert wird. Die Nutzfläche von insgesamt 161’500m2 soll zu je einem Drittel für Wohnungen und Büros, der Rest für sonstiges Gewerbe, Schulen und Parkplätze genutzt werden. Das Areal wird dereinst zu 100% mit erneu­erbarer Energie für Heizung und Kühlung versorgt. Die Stromerzeugung ist ebenfalls zu 100% erneuer ­bar (90% Wasserkraft, 10% Photovoltaik). Das Quar­tier hat mit S­Bahn und Bushaltestelle gute Anbin­dung an den öffentlichen Verkehr (öV).

Richti-Areal WallisellenAuf 2000­Watt­Kurs ist auch das Zürcher Richti­Areal auf dem ehemaligen Industriegelände zwischen Bahnhof Wallisellen und Einkaufszentrum Glatt. Die Allreal Generalunternehmung AG realisiert dort seit März 2010 auf 72’000m2 ein Quartier mit Wohnraum für rund 1200 BewohnerInnen und über 3000 Arbeits­plätzen. Sämtliche Gebäude erfüllen den Minergie­Standard. Das Richti­Areal ist ebenfalls bes tens per öV erschlossen. Zwar werden im Bereich «Erstellung» die Zielwerte überschritten. Wird aber – wie beabsichtigt – der Strombedarf zu 100% erneuerbar abgedeckt, werden die Richtwerte im Bereich «Betrieb» deut­lich unterschritten. Insgesamt ist das Richti­Areal 2000­Watt­fähig und kann die Ziele gemäss SIA­Effi­zienzpfad und 2000­Watt­Gesellschaft erreichen.

Ecofoubourgs, SchlierenDerzeit entsteht in Schlieren (ZH) das ers te Schweizer Ecofaubourgs­Quartier. Ab 2013 sollen die 98 Wohn­einheiten in Minergie­P­Eco bezugsbereit sein. Das Pilot projekt will mit Dienst leis tungen wie Kinder hort, Quartierladen mit Regio­Produkten, e­Bike­ und Car­

sharing, Familiengärten und Gemeinschaftsräumen eine neue Form des Zusammenwohnens schaffen. Für Heizung und Warmwasser werden ausschliesslich Er­neuerbare genutzt. Investor und Bauherr ist die Next Immobilier SA. Die Grundidee stammt von der franzö­sisch­schweizerischen Gesellschaft HKA, welche sich vorwiegend im sozialen Wohnungsbau engagiert. Die Mietpreise sollen durchschnittlich sein.

Mobilität und Konsum als KnackpunkteSolche Quartiere weisen den weiteren Weg und zeigen, dass Inves toren, Stadtbehörden und die EinwohnerIn­nen zur Energiewende beitragen wollen. Die Ge bäude erreichen vorbildliche Zielwerte. Es gibt An sätze, da­mit Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Konsum wieder näher rücken. Als Knackpunkte bleiben Mobilität und Konsum, wo bis 2050 (gemäss Bilanzierungkon­zept) aufs 3­Liter­Auto, gleichbleibende Dis tanzen und weniger graue Energie gehofft wird. Mehr Ver­kehr, mehr Wohn fläche, mehr Elektro geräte etc. könnten die Einsparungen im Gebäudebereich mehr als zunichte machen. Solche «Rebound­Effekte» gilt es im Auge zu behalten. <

Zertifikat «2000-Watt-Areal»EnergieSchweiz für Gemeinden und die Fachstelle 2000-Watt-Gesellschaft hat mit einer Projektgruppe ein Zertifikat «2000-Watt-Areal» entwickelt, das auf  dem SIA-Effizienzpfad (Merkblatt 2040) und dem Absenkpfad der 2000-Watt-Gesell-schaft basiert. Das Zertifikat wird vorerst für zwei Jahre als Pilotprojekt geführt. Die Quartiere werden von ArealberaterInnen begleitet und geprüft. Für Erstellung, Betrieb und Mobilität sind in den drei Bereichen «Primärenergie nicht erneuer-bar»,  «Treibhausgasemissionen»  und  «Primärenergie  gesamt»  entsprechende 2000-Watt-Zielwerte zu erfüllen.4

GreenCity.Zürich: Eine Vision soll Wirklichkeit werden (www.greencity.ch).

Richtistrasse

Konradstrasse

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Richtiarkade

Einkaufszentrum Glatt

Bahnhof Wallisellen

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Escherweg

Richtiring

Industriestrasse

Richti-Areal: nachhaltiges Quartier mit vielerei Qualitäten (www.richti.ch).

Ecofoubourgs: nachhaltiges, soziales Wohnen (www.ecofaubourgs.com).

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Von FELIX NIPKOWSES-Projektleiter Strom&Erneuerbare

Schweizerinnen und Schweizer sehen sich gerne als innovatives und fortschrittliches Volk. Nicht ganz zu Unrecht: Immerhin können wir mit Stolz auf ein im interna­tionalen Vergleich gut ausgebautes öffent­

liches Verkehrssystem oder auf eine der höchsten Alu­Recyclingquoten blicken. Auch der Strommix ist nicht ohne: Dank der Pionierleistung einiger Schwei­zerInnen besteht er zu 55% aus Wasserkraft. Seither hat sich wenig getan: Weniger als 1% des Stroms be­steht heute aus neuen erneuerbaren Energien.

Schweiz im Abseits?Es stellt sich die Frage, wo der Pioniergeist von da­mals geblieben ist. In den letzten Jahren hat sich die Schweiz schwer ins Abseits manövriert. Bei den neuen erneuerbaren Energien wie Photovoltaik und Wind­kraft markiert sie das Schlusslicht im europäischen Vergleich. Belgien, ein Land, das in letzter Zeit nicht mit politischer Stabilität glänzte, liegt nach Deutsch­land und Italien auf Platz drei im Gesamtranking. So­gar das einige Breitengrade nördlicher als die Schweiz gelegene Tschechien produziert pro EinwohnerIn 10 Mal mehr Strom aus Photovoltaik als die Schweiz. Und auch Luxemburg lässt uns links liegen: Trotz ähnlich hoher Bevölkerungsdichte produziert das Land rund 12 Mal mehr Windstrom pro Kopf.

Verpassen wir den Anschluss in einem so wichtigen Wirtschaftssektor wie der erneuerbaren Stromproduk­tion? Werden wir am Ende auf Gas­ oder sogar neue Atomkraftwerke setzen müssen, weil wir nicht recht­zeitig vorsorgen? In einer Umfrage der Boston Con­

sulting Group im Auftrag des Stromfirmenverbandes VSE gaben nur 17% der befragten Energiefirmen an, den Ausbau von erneuerbaren Energien mit konkreten Projekten voranzutreiben.1 Die Schweizer Stromer, vor allem die grossen Konzerne, setzen auf Dreckstrom im Ausland statt auf einheimische Erneuerbare.2

Aufholen ist möglich!Solarenergie ist die Technologie mit dem grössten Zubaupotenzial in der Schweiz. Neben der Wasser­kraft wird sie das zentrale Standbein einer sicheren und sauberen Stromversorgung sein. In der Schweiz stehen rund 25 Quadratmeter (m2) Dachfläche pro EinwohnerIn zur Verfügung, die sich für eine solare Nutzung eignen. Würden 12m2 davon genutzt, so liesse sich ein Viertel des Schweizer Strombedarfs mit Photovoltaik decken. Bis 2035 müssten hierfür jährlich 0,6m2 pro EinwohnerIn auf die Dächer ge­schraubt werden.3 Das ist ambitioniert, aber mög­lich! Deutschland hat von 2006 bis 2011 im Schnitt 1m2 pro EinwohnerIn und Jahr und das Bundesland Bayern im selben Zeitraum sogar knapp 2,5m2 pro EinwohnerIn und Jahr installiert. Der Schweizer Vor­teil: Dank der Alpen, die Strahlungsverhältnisse wie in Spanien bieten, sowie der südlicheren Lage verfü­gen wir über erheblich bessere Voraussetzungen als unser Nachbarland.

Apropos Bayern: Der dortige Umweltminister Marcel Huber stellt in Aussicht, dass bis 2021 bayernweit 1500 Windkraftanlagen erstellt werden.4 Bayern ist von der Grösse und Bevölkerungsdichte her mit der Schweiz vergleichbar. In der Schweiz stehen heute gerade mal 30 Windanlagen. 400 Anlagen könnten rund 1,5 TWh Strom produzieren – so viel wie die Umweltverbände und die SES in ihren Szenarien für 2035 vorschlagen.

DIE PRODUKTION VON WIND- UND SONNENSTROM IM VERGLEICH

Schweiz ist das SchlusslichtDie Schweizerische Energie-Stiftung SES hat untersucht, wo die Schweiz im Vergleich mit umliegenden Ländern bei der Produktion von neuen erneuerbaren Energien steht. Das Resultat ist klar: Die Schweiz liegt – weit abgeschlagen – auf dem letzten Platz.  Exemplarisch wurde die Stromproduktion aus Photovoltaik- und Windkraftwerken pro EinwohnerIn für das Jahr 2011 untersucht.

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Politik muss umdenkenDas Rezept ist denkbar einfach: Um den Stromver­brauch der Schweiz decken zu können, muss die Pro­duktion des Atomstroms mit Energieeffizienz und mit erneuerbaren Energien ersetzt werden. Doch der Zubau der neuen Erneuerbaren wird durch die Poli­tik künstlich blockiert: Käme es zur «Entdeckelung» der kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV), so könnte die Warteliste abgebaut und in reale Strom­produktion umgewandelt werden. Mitte September waren es bereits 18’906 Photovoltaik­ und 509 Wind­projekte mit einem Produktionspotenzial von knapp 3 Milliarden Kilowattstunden pro Jahr.5 Das entspricht der Jahresproduktion des AKW Mühleberg.

Bis zum Redaktionsschluss war anzunehmen, dass der Bund in seiner Energiestrategie 2050 den KEV­Deckel nur teilweise aufheben will. Ausgerechnet für Photo­voltaik, der Technologie mit dem grössten Potenzial in der Schweiz, soll weiterhin eine Begrenzung des

Zubaus gelten – und zwar auf sehr tiefem Niveau. Da­mit wird das riesige Potenzial ignoriert und der Zubau ohne Grund verzögert.

Die SES fordert die Schweizer Politiker und die Strom­wirtschaft auf, beim Zubau erneuerbarer Energien endlich vorwärts zu machen. Die Schweiz soll nicht das Schlusslicht bleiben! <

Zu dieser Kampagne hat die SES ein kurzweiliges Video produziert. Es ist ab  Anfang Oktober auf www.energiestiftung.ch verfügbar.

Der Einfach- und Übersichtlichkeit halber sowie aufgrund der verfügbaren Daten wur-den die Nachbarländer sowie einige weitere umliegende Länder gewählt. Der Einbezug aller europäischen Länder würde das Ergebnis nicht verändern: Die Schweiz könnte höchstens einzelne Länder wie Rumänien oder Malta knapp schlagen. Alle anderen sind weiter als wir. So produziert z.B. Slowenien mit 29 kWh pro Kopf rund anderthalb Mal so viel Strom aus Photovoltaik wie die Schweiz.

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700600500400300200100Stromproduktion pro Einwohner 2011 800 kWh

1 Deutschland

2 Italien

3 Belgien

4 Niederlande

5 Österreich

6 Tschechien

7 Frankreich

8 Luxemburg

9 Schweiz

1  Schweizer Stromwirtschaft zwischen Abwarten und Aktivismus. Standortbe-stimmung der Schweizer Energieversorgungsunternehmen. The Boston Consulting Group und Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE, Juni 2012.

2  Siehe dazu auch SES-Medienmitteilung vom 19.7.2012: «Axpo produziert den dreckigsten Strom» auf www.energiestiftung.ch.

3  Ausgehend von heutiger Technologie und heutigen Einwohnerzahlen.4  ENERCON, Magazin für Windenergie Nr. 2/12.5  Gemäss swissgrid, Stand 12. September 2012.

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16  Energie & Umwelt 3/2012

Von MARKUS KÜHNIInformatik-Ingenieur ETH

Schon in den Anfangsjahren war Atomkraft viel zu teuer. Im Wettbewerb mit Kohle und Öl hatte sie trotz horrender staatlicher Subventionen keinen ökono­mischen Vorteil [1].

Gross, grösser, billigerDie Hersteller versuchten zwar, mit einer rasanten Vergrösserung (Skalierung) der Anlagen mehr Wett­bewerbsfähigkeit herzustellen. Dabei verloren sie je doch grundlegende Sicherheitsprinzipien aus den Augen. Wenn man die Reaktorleistung veracht­facht, dann wird auch das Volumen des Kerns, des Kühlmittels etc. ungefähr verachtfacht. Bei acht­fachen Volumen (Kubik) steigen die Oberf lächen nur vierfach (Quadrat), die Distanzen nur zweifach (linear). Dies hat Auswirkungen auf die Sicherheit, weil bei der Kühlung oft die Oberf lächen und bei mechanischen Einwirkungen die Distanzen eine wichtige Rolle spielen.

Ultimatives Beispiel ist eine fortgeschrittene Kern­schmelze. Sie sammelt sich halbkugelförmig an und frisst sich nach unten. Bei achtfacher Leistung ist auch die Nachzerfallswärme achtfach. Diese muss aber über eine nur vierfache Oberfläche abgeführt werden, die Temperaturen steigen enorm an. Die Schmelze eines grossen Reaktors frisst sich deshalb durch alle Materialien, auch durch Beton. Das Con­tainment wird durchbrochen und radioaktive Stoffe werden freigesetzt [2].

Redefinition der SicherheitsprinzipienDieses und andere Probleme der Skalierung von Re­aktoren hat man spätestens 1965 (Brookhaven WASH­740 Reevaluation) erkannt, zuerst zu vertuschen versucht und schliesslich grundlegende Sicherheits­prinzipien «redefiniert», um sie dem Unwiderleg­baren anzupassen. Während vorher behauptet wurde, das Containment würde die Bevölkerung schützen,

was auch immer im Innern passiere, wurde nun fest­gehalten, dass eine ausreichende Kühlung des Kerns immer sichergestellt sei. Als dies in Zweifel gezogen wurde, hat man diverse Notkühlungs­Experimente an einem (man kann es schon fast erraten) kleinen Mo­dell­Reaktor (LOFT) von gerade einmal 50 Megawatt durchgeführt (zum Vergleich: Beznau hat 1130 MW, Leibstadt 3600 MW) [2]. Unfehlbarkeitsdogma beim ReaktordruckbehälterAls Konsequenz der «Redefinition» der Sicherheits­prinzipien musste logischerweise auch der Reaktor­druckbehälter als «unfehlbar» eingestuft werden. Wenn dieser grossflächig bricht, kann keine Kernküh­lung mehr durchgeführt werden. Das Material des Druckbehälters aber reagiert je nach seiner Tempera­tur unterschiedlich auf Belastungen. Bei hoher Tem­peratur ist der Stahl zäh und kann plastische Verfor­mungen aufnehmen. Bei tiefer Temperatur hingegen ist er spröd und brüchig. In der Nuklearindustrie geht man davon aus, dass nur bei einem so genannten «Sprödbruch» ein gross­flächiges, abruptes Versagen des Druckbehälters mög­lich ist. Bei hoher Temperatur werden hingegen nur begrenzte Leckgrössen erwartet, die von den Sicher­heitssystemen verkraftet werden (ausreichende Nach­speisung von Kühlwasser).

Neutronenversprödung: Druckbehälter wird ständig brüchigerDie Sicherheit von Druckbehältern ist ein altes The­ma. Nach schlimmen Unfällen vor allem im 19. Jahr­hundert hat man viel dazugelernt. Dieses «Sicher­heitsgefühl» darf aber keineswegs unüberlegt auf die nukleare Anwendung übertragen werden. Denn es kommt ein gravierendes technologiespezifisches Problem hinzu: die so genannte «Neutronenversprö­dung». Durch das Strahlen­Bombardement wird der Druckbehälter ständig brüchiger.

Bis ans LimitBeim Reaktordruckbehälter von Beznau 1 lag die so genannte justierte Sprödbruch­Referenztemperatur im Neuzustand (1969) noch bei ­1°C, heute liegt sie bei zirka 88°C. Der ganze Reaktordruckbehälter muss also ohne Unterbruch mindestens 88°C heiss sein

DROHT EIN SPRÖDBRUCH IM DRUCKBEHÄLTER?

In Beznau 1 steht der älteste Reaktor der Welt. Sein Reaktordruckbehälter ist aus un-ausgereiftem Material hergestellt. Die Neutronenversprödung führt dazu, dass der Be-hälter immer brüchiger wird. Noch nie war ein so alter, so grosser Reaktordruckbehälter  so  lange so stark bestrahlt worden. Wir betreiben in der Schweiz einen weltweit erst-maligen Freifeldversuch in Reaktoralterung!

Beznau 1: Freifeldversuch in Reaktoralterung! 

Zur Person: Markus Kühni (1969) ist dipl. Informatik-Ing. ETH, Unternehmer (nicht im Energiebereich) und Arbeitgeber, Vater zweier Töchter (2004/2008), lebt mit der Familie im Eigenheim in der Stadt Bern (Alarmzone 2 des AKW Mühleberg).

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und bleiben, solange er druckbelastet wird. Der Druckbehälter von Beznau 2 hatte schon ein wesentlich weiterent­wickeltes Material. Seine Sprödbruch­Referenztemperatur entwickelte sich von ­10°C auf heute schätzungsweise 62°C [3].Gemäss Schweizer Gesetzgebung muss ein Reaktor unverzüglich ausser Be­trieb genommen werden, wenn seine Sprödbruch­Referenztemperatur 93°C erreicht [4]. Bei Beznau 1 wird dieser Wert nach Angaben des ENSI bei 60 Jahren Betriebszeit erreicht werden [3]. Die Axpo hat inzwischen bekräftigt, man strebe 60 Jahre Betriebszeit an. Man will also kaltblütig bis ans gesetz­liche Limit gehen, und der Axpo­Chef spricht derweil ungeniert von «absolu­ter Sicherheit» [5].

Nur im Computer simuliertDas Gegenstück zum obenstehenden Grenzwert ist die Annahme, dass die se Sprödbruch­Referenztemperatur nie­mals unterschritten wird (solange der Behälter unter Druck steht). Im Nor­malbetrieb ist dies kein Problem, bei Störfällen hingegen – wenn notfallmäs­sig kaltes Wasser eingeschossen wird – wird es kritisch. Mittels Computermodellen versuchen die Betreiber, sämtliche Szenarien vo­rauszuberechnen. Das Problem ist auch hier, dass man solche Störfälle niemals unter wirklich realistischen Bedin­gungen testen kann. Deshalb basieren

die Computerprogramme auf Annah­men und Modellversuchen und sagen wild unterschiedliche Ergebnisse vo­raus, wie eine OECD­Studie aufzeigte. Die Resultate für die Versagenswahr­scheinlichkeit des Druckbehälters, ab­hängig von der Sprödbruch­Referenz­temperatur, variierten um einen Faktor 20 bis 50, die Voraussagen der Wärme­flüsse sind ein einziger Simulations­Salat [6]!

Auch das ENSI spricht in seiner Beur­teilung von «Skalierungsproblemen», «grosser Streuung», etc. Trotzdem wird am Schluss versichert, dass die Mo­dellierung «geeignet ist, ausreichend konservative Ergebnisse zu erzielen». Bleibt noch zu erwähnen, dass die Be­rechnungen durch die Firma AREVA, dem Weltmarktführer in Nukleartech­nologie, durchgeführt wurden. Nicht gerade die Definition eines unabhän­gigen Instituts [3].

Sprödbruch nicht ausgeschlossen«Für die Behälterwand wird die Spröd­bruch­Ausschlussbedingung nicht er­füllt», schreibt das ENSI dann fast noch im Nachsatz. Die Berechnungen zeigen eine zu starke Abkühlung der versprö­deten Behälterwand. Das ENSI stellt es so dar, als gelte diese Aussage erst bei 60 Betriebsjahren. Wenn man aber die vorausgesagte Versprödung im sel­ben ENSI­Bericht vergleichend hinzu­zieht, scheint die Limite bereits heute erreicht [3]. Dadurch wird nicht nur die Sicherheit von Beznau 1 arg in Frage gestellt, sondern auch das ge setzliche Ausserbetriebnahmekrite rium mit sei­nem offenbar zu hohen Grenzwert.

Wir betreiben in der Schweiz einen weltweit erstmaligen Freifeldversuch in Reaktoralterung. An einem der am welt ­ weit bevölkerungsreichsten Reaktorstand­orten. Wollen wir das wirklich? <

Literatur[1] Steven Mark Cohn, 1997, Too Cheap to Meter[2] David Okrent, 1981, Nuclear Reactor Safety, On the History of the Regulatory Process[3] ENSI, Sicherheitstechnische Stellungnahme zum Langzeitbetrieb des Kernkraftwerks Beznau, 

Block 1 und 2, 2010[4] Verordnung des UVEK über die Methodik und die Randbedingungen zur Überprüfung der Krite-

rien für die vorläufige Ausserbetriebnahme von Kernkraftwerken (SR 732.114.5)[5] Tagesanzeiger «Beznau ist Weltklasse», 11.3.2012 (online)[6] NEA-Report NEA/CSNI/R(99)3, Comparison report of RPV Pressurized Thermal Shock – In-

ternational Comparative, Assessment Study (PTS ICAS), Committee on the Safety of Nuclear Installations, Nuclear Energy Agency, 1999

Beznau 1: Die Betreiberin Axpo ist sich sicher, dass das älteste AKW der Welt noch lange am Netz bleiben wird! Zwei interessante Sendungen sind zu finden unter: www.videoportal.sf.tv/video?id=94d3ba76-16f5-4f9a-85a7-ef0364937b8c (Tagesschau vom 12.12.1969) und www.videoportal.sf.tv/video?id=0c689e9b-520f-46f2-a392-c2954a6f4763 (10vor10, im Innersten des ältesten AKW).

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Per Ende Juni ist Marcos Buser aus der Eidgenössischen Kommission für  nukleare Sicher-heit (KNS) zurückgetreten. Sein Rücktritt sei eine Frage des Gewissens, die Vorwürfe sind happig. «Etwas stimmt nicht im Atomstaat Schweiz!» – Ein Interview über die Hinter-gründe und Machenschaften bei der Standortsuche nach einem Atommüll-Tiefenlager.  

ZUM RÜCKTRITT VON MARCOS BUSER, GEOLOGE UND NUKLEAREXPERTE

Interview von RAFAEL BRANDE&U-Redaktor

E&U: Warum sind Sie aus der Eidg. Kommission für nukleare Sicherheit (KNS) zurückgetreten?

« Im Verlauf der letzten Jahre musste ich feststellen, dass die Rollen, die den verschiedenen Institutionen im Bereich der atomaren Endlagerung zugewiesen sind, nicht sauber wahrgenommen werden. Dies gilt in erster Linie für die Überwachungsbehörde ENSI und das Bundesamt für Energie (BFE), das für den Sachplan geologische Tiefenlager zuständig ist. Beide Institutionen tanzen nach den Vorgaben der Nagra. Dies führt dazu, dass eine sachbezogene unabhängige Beurteilung von Endlager­Projekten auch seitens der Behörden nicht erwünscht ist. Die KNS ist mit ihrer unabhängigen Meinung immer öfters aufgefahren. So kann man auf die Dauer nicht arbeiten. »

E&U: «Etwas stimmt nicht im Atomstaat Schweiz», schreiben Sie auf sonntagonline.ch. Herrschen bei unserer Atomaufsicht japanische Verhältnisse?

« Zumindest sind wie in Japan Abhängigkeiten vorhanden, welche unabhängige staatliche Prüfin­stanzen behindern oder verunmöglichen. Vor allem im Bereich der Abfallentsorgung. Schwer wiegt in diesem Zusammenhang der Mangel an fachlicher Kompetenz, der vor allem beim BFE dramatisch ist. Aber auch beim ENSI fehlt es den für die Endlagerung zuständigen Wissenschaftlern an praktischer Erfah­rung. Der wissenschaftliche Markt im Bereich der ato­maren Entsorgung wird von der Nagra monopolisiert und ist bei den unabhängigen Experten total ausge­trocknet. Vor allem der Bund hat in diesem Bereich die Entwicklung verschlafen. Es herrscht diesbezüg­lich ein massiver Nachholbedarf. »E&U: BFE und ENSI seien von der Nagra abhängig. Sie sprechen sogar von Filz. Was muss sich ändern?

« Institutionelle Abhängigkeiten lassen sich über den Prozess der ‹Kaperung der Behörden›, auf englisch ‹regulatory capture›, treffend beschreiben. Fehlende Kompetenz aber auch Bequemlichkeit führen bei den Behörden dazu, dass sie das Feld der Industrie über­lassen, die sie eigentlich kontrollieren müssten. Diese lässt sich nicht zweimal bitten und reisst die Planung der Endlagersuche an sich. So erstaunt es nicht, dass in der Schweiz die Nagra die Drehbücher schreibt, nach denen die Standortsuche ablaufen soll. Und die Behörden nicken die eingebrachten Vorschläge dann

«ENSI und BFE tanzen nach den Vorgaben der Nagra»

Marcos Buser, Geologe und Spezialist für nukleare Abfälle

Der 63-jährige Geologe und Sozialwissenschaftler Marcos Buser beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit dem Thema Endlager. Buser ist Autor des Buchs «Mythos Gewähr», Mitglied diverser Fachkommissionen und ist der Verfasser der vom Bund in Auf-trag gegebenen «Literaturstudie zum Stand der Markierung von geologischen  Tiefenlagern».  Marcos  Buser  war  Mitglied  der Eidgenössischen Kommission für nukleare Sicherheit (KNS), die als neutrale Stelle Zweitgutachten zur Atomsicherheit und der Tiefenlagersuche abgibt. Erst noch  im Dezember 2011 wurde Marcos Buser für vier weitere Jahre in der KNS bestätigt. Per Ende Juni 2012 gab er seinen Rücktritt aus der KNS bekannt. 

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brav ab. Ein solcher Prozess ist inakzep­tabel und für die Glaubwürdigkeit des Prozesses Gift. »E&U: Bei der Standortsuche für ein Atommüll-Tiefenlager herrscht gros ses Misstrauen: Was läuft alles schief?

« Seit vierzig Jahren erleben wir, wie der Standortwahlprozess aus dem Hin­tergrund manipuliert wird, und jedes Mal wieder abstürzt. Auch das Sachplan­verfahren hat diesen Teufelskreis nicht durchbrechen können. Die Nagra steu­ert weiterhin das Verfahren. Gravierend ist, dass der Öffentlichkeit vorgemacht wird, das Verfahren sei fair, transpa­rent und ergebnisoffen. Dies lässt sich durch Fakten widerlegen. Damit scha­den Nagra und zuständige Behörden der Glaubwürdigkeit des Prozesses massiv. Einmal mehr kommen die alten Struk­turdefizite zum Vorschein. Die Nagra ist Teil der Atomwirtschaft und handelt in deren Auftrag und im Auftrag kurzfris­tiger Interessen. Es ist zentral, dass die Standortwahl explizit unter dem Primat der Sicherheit und der Glaubwürdigkeit steht. Daher sollte ernsthaft geprüft werden, ob die heute gewählte Struktur im Bereich der atomaren Entsorgung diesen Anforderungen genügt. »

E&U: Sie verstehen Ihren Rücktritt nicht als Protest, sondern als Frage des Gewissens: Welches sind Ihre For-derungen, was muss nun geschehen?

« Mein Rücktritt aus der KNS erfolgte aus ethischen Gründen. Ich bin seit letz­tem Jahr in der Lage, das ‹System› zu lesen. Ähnlich wie bei elektronischem Verkehr entstehen auch beim Planspiel ‹Sachplan geologische Tiefenlager› Spu­ren, die sich sehr wohl deuten lassen. Es geht einfach nicht an, die Leute hin­ters Licht zu führen. Was kann man nun aber machen? Zunächst sollten die Untersuchungen

bei der Triade Nagra­ENSI­BFE in aller Breite und Tiefe erfolgen. Nicht nur anhören tut hier Not, auch das Über­prüfen des Schriftverkehrs, namentlich über E­Mail.

Grundsätzlich zu überprüfen ist die Struktur des Entsorgungsprogramms, die zu einer Loslösung der Nagra von swissnuclear führen sollte, damit end­lich eine korrekte Bearbeitung des Ent­sorgungsprogramms möglich wird. Zu­gleich muss die Rolle des Prozessführers, des BFE, grundsätzlich neu überdacht werden. Weiter sind die Forschung und Entwicklung aus den Klauen der Nagra zu befreien: Regulatorische und unabhängige Forschung muss zwin­gend möglich werden, also Forschung, die nicht von der Nagra kontrolliert wird, wie dies derzeit der Fall ist. Dann gehören junge Fachleute aus­gebildet, mit Praxiserfahrung, damit auch eine kompetente Kontrolle und Überwachung sichergestellt werden kann. Und schliesslich braucht es Glaubwürdigkeit im Prozess und bei den Leuten, die darin involviert sind. Ohne kompetente, integre und glaub­würdige Personen an der Spitze wird sich dieser Prozess nie erfolgreich rea­lisieren lassen. »

Händetrocknen in Unschuld

2009 – Im Schulhaus war man nervös, denn die  Schweinegrippe  war  im Anzug.  Darum mussten  eiligst  die  Stoffhandtücher  und Stückseifen  entfernt  und  durch  Dispenser mit Papier-Towels und Flüssigseife-Spender ersetzt  werden.  Im  Übereifer  wurden  auch die Endlos-Stoffrollen in den Toiletten durch Papier-Spender ersetzt. Die Schweinegrippe kam und ging wieder. Die Papier-Towels blie-ben. Jeden Abend schleifte der Hauswart aus jeder Toilette einen grossen Plastiksack mit blütenweissem, leicht feuchtem Papier.2010 – Das «Handelsblatt» zitiert eine deut-sche  Studie:  «Es  wurden Warmluft-Hände-trockner, Stoffhandtuchrollen, Zellstoff-Papier-handtücher und Recycling-Papierhandtücher betrachtet. Das System Zellstoff-Papierhand-tücher  hat  sich  als  vergleichsweise  ökolo-gisch nachteilig ergeben.  [..]  Für den nicht öffentlichen Bereich empfehlen wir die Aus-stattung mit Stoffhandtuchsystemen.»2011 – Eine MIT-Studie «Ökobilanz von Hän-detrocknungs-Systemen»1  ergab,  dass  das Stoffhandtuch  dem  Papierdispenser  (egal, ob  mit  Neu-  oder  Recycling-Papier  gefüllt) in  jeglicher  Hinsicht  überlegen  ist.  Die  fol-genden Zahlen aus dieser Studie gelten für einmal zwei Hände trocknen:

2012 – Die Buchhaltung zeigt, dass das Fül-len  der  Dispenser  mit  Papier  teurer  ist  als früher das Auswechseln der Stoffrollen. Eine Rückkehr  zum  alten  System  wäre  dreifach angezeigt: Die Händetrocknenden hatten die Stoffrollen viel lieber. Sie sind günstiger und die Ökobilanz ist ebenfalls besser.Der Schulleiter wird gebeten, wenigstens in den  Toiletten  wieder  Stoffrollen  montieren zu  lassen.  Seine  Antwort  ist  ernüchternd: Baulich hat er im Schulhaus keine Befehlsge-walt. Der Ersatz der Stoffrollen-Halter durch Papier-Dispenser war von Vorgesetzten an-geordnet worden. Der Schulleiter mag wegen einer solchen Lappalie nicht mit den Vorge-setzten diskutieren.Lappalie? Wenn  1000  Personen  während 40  Schulwochen  täglich  einmal  die  Hände waschen, so würde der Wechsel vom Papier-Dispenser  auf  die  Stoffrolle  jährlich  46  GJ Energie  oder  900m3  Wasser  sparen!  Allein die eingesparte Energie entspricht bei 20 Rp./kWh einem Betrag von Fr. 2600.–. Na also: «Kleinvieh macht auch Mist!»

1  http://msl.mit.edu/publications/  MIT_ExecutiveSummary_German.pdf

ENERGIE- IDIOTISCHWalter Wildi ist aus dem Beirat Entsorgung zurückgetreten

Nach Marcos Buser hat Mitte August ein weiterer hochkarätiger AKW- und Atommüllentsorgungs-kenner ein Gremium der Nuklearsicherheit verlassen: Walter Wildi, 1999–2001 im Vorsitz der Ex-pertenkommission Entsorgungskonzepte EKRA und 1997–2007 Mitglied der Kommission Sicherheit Kernanlagen KSA (2002–2007: Präsident) trat aus dem Beirat Entsorgung aus, dem er seit 2009 an-gehörte. In seinem Brief an Bundesrätin Leuthard begründet er den Rücktritt mit der «unverantwort-lichen Sicherheitskultur». Der Sachplan Nukleare Entsorgung werde heute in einer Art geführt, in welcher Grundanliegen der nuklearen Sicherheit nicht gebührend berücksichtigt werden. Er betont, dass solche Projektschwächen zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr korrigiert werden können. «Damit gehen wir einem Entsorgungsprojekt mit klaren Abstrichen bzgl. nuklearer Sicherheit ent-gegen», warnt Wildi in seinem Brief. Zum vollständigen Rücktrittsschreiben: 

www.klar-schweiz.com/cms/images/stories/aktuell/Wildi-Demission-Beirat.pdf

Der Pegasos-Skandal

Die  so  genannte  Pegasos-Studie  wurde 2004  fertiggestellt  und  kam  zum  Schluss, dass die Erdbebengefahr an den Schweizer AKW-Standorten massiv unterschätzt werde. Susan Boos hat nun in der WOZ vom 12. Juli 2012 unter dem Titel «Der Pegasos-Skandal» brisante Details veröffentlicht und aufgezeigt, wie die Erdbebengefährdung der Schweizer AKW massiv kleingerechnet wurde. Der Be-richt soll bald öffentlich zugänglich sein. 

Stoff-Rolle Papier neu Recycling-Papier

Energieverbrauch   220 kJ   450 kJ  290 kJ 

Wasserverbrauch  17 Liter    40 Liter  40 Liter

CO2 äquivalent   11 g   15,5 g  15,8 g

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20  Energie & Umwelt 3/2012

l   News   l   Aktuelles   l   Kurzschlüsse   l

Abbau der KEV-Warteliste  – energieintensive Betriebe bleiben verschont

Die UREK­N will über eine Erhöhung der KEV die Warteliste abbauen. Allerdings sollen die en­ergieintensiven Betriebe voll ständig von der KEV befreit werden. Würden alle auf der Warte liste

stehenden Projekte (Stand 12.9.12) realisiert, könnten rund 5 Milliarden Kilowattstunden Strom produziert werden – fast so viel wie zwei Atomkraftwerke liefern. Allein die 509 Wind­ und 18’906 Photovoltaik­Projekte könnten so viel Strom wie ein AKW bringen. Die SES begrüsst die Absicht, die Warteliste abzubauen, kritisiert aber die Befreiung der stromintensiven Betriebe.

Zur Mitteilung der UREK­N: www.parlament.ch/D/mm/2012/Seiten/mm­urek­n­2012­08­21.aspx

Atomenergie ist weltweit rückgängig

Die Atomstrompro­duktion hatte ihren Höhepunkt in der 90er­Jahren. Ihr An­teil lag bei 17%. 2011 sind es gerade noch

11%. Mycle Schneider porträtiert zwanzig Jahre nach seinem ersten Report eine Atomindustrie, die unter den Einflüssen der Weltwirtschaftskrise, den Folgen von Fukushima, starken Konkurrenten sowie unter ihren eigenen Planungs­ und Ma­nagementproblemen leidet. Der Report wurde von der SES unterstützt. Mehr dazu finden Sie unter:

www.energiestiftung.ch/aktuell/archive/2012/07/10/ world­nuclear­energy­status­report­2012.html

Obama: Amerikaner sollen Sprit sparen

Ab 2025 sollen amerikanische Neuwagen nur noch halb so viel Sprit verbrauchen als heute. Das heisst, dass sie bis dann mit durchschnittlich 4,3 Litern pro 100 Kilometer auskom­men müssten. Zum Vergleich: 2011 lag der Verbrauch bei 8,6 Litern. Ziel dieses doch sehr ehrgeizigen Plans ist es, unab­hängiger von ausländischem Öl zu werden. Mit diesen neuen Verbrauchsvorgaben könnten insgesamt rund 1,7 Billionen Dollar gespart werden, wie das Weisse Haus vorrechnete. Der Haken: Ausgerechnet für benzinfressende Offroader (SUV) gelten Ausnahmen. Während PW jährlich 5% sparen sollen, müssen die SUV gerade mal um 3,5% herunterfahren.

Grösstes Super-GAU-Risiko in Westeuropa  

Bisher hatten wir Glück! Denn nukleare Unfälle wie in Tscher­nobyl oder Fukushima sind weit häufiger zu erwarten als bislang angenommen, wie Wissenschaftler des Max­Planck­Instituts errechnet haben. Mit dem aktuellen Kraftwerks ­ bestand könnte ein solcher GAU etwa einmal in 10 bis 20 Jahren auftreten und ist damit rund 200 Mal häufiger als in der Vergangenheit geschätzt. Die Forscher fordern aufgrund ihrer Erkenntnisse eine tiefgehende Analyse und Neubetrach­tung der Risiken, die von Atomkraftwerken ausgehen.

Mehr dazu: www.mpich.de/index.php?id=34298&type=0

SES-Filmtipp: «No Man’s Zone – Mujin chitai»

Fukushima – Kaum jemand kannte den Ort vor dem 11. März 2011. Inzwischen steht der Ort als weiteres Mahnmal für den Irrsinn der Atomtechnologie. Der Regisseur Toshi Fujiware hat sich eingehend damit beschäftigt, wie eine solche Katas­trophe überhaupt filmisch eingefangen werden kann. Die Szenerie ist irreal: Ein Mann wandert durch die 20­Kilometer­Zone um das havarierte AKW von Fukushima. Kirschbäume blühen, die Natur zeigt sich idyllisch. Die radioaktive Strah­lung ist unsichtbar. Der Film schafft es, uns die Katastrophe von Fukushima noch einmal nahe zu bringen.

» seit 6. September in ausgewählten Schweizer Kinos» ab 4. Januar 2013 bestellbar unter: www.trigon­film.org

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Energie & Umwelt 3/2012 21

SES am ENSI-Forum in Brugg

Am 4. September lud das ENSI zu einem «öffentlichen Forum» ein. Die SES, Greenpeace, WWF, NWA und sortir du nucléaire wehrten sich gegen die Form des Anlasses, weil

eine ernsthafte Diskussion so nicht möglich war. SES und Greenpeace forderten vergeblich umfangreiche Experten­Hearings. Die Forderungen an ENSI, UVEK und ans Parlament sind klar: Schärfere gesetzliche Vorgaben für die Aufsichts­behörden (Abschalten bis geflickt!), eine fundierte Zweitmei­nung (4­Augen­Prinzip), den Ausbau der KNS und eine neue Sicherheitskultur beim ENSI. Lesen Sie mehr dazu auf:

www.energiestiftung.ch/aktuell/archive/2012/09/04/akw­sicherheit­ist­kein­small­talk­thema.html

Kim Kerkhof ist neuer SES-Praktikant 

Am 17. September hat Kim Kerkhof sein Jahrespraktikum bei der SES be­gonnen. Kerkhof stammt ursprüng­lich aus Freiburg im Breisgau und lebt seit 2007 in Zürich, wo er auch seinen Bachelor in Politikwissen­schaften und Geographie gemacht hat. Als erster Praktikant wird er ein Jahr

bei der SES bleiben und 100% angestellt sein: 80% davon als Strom­&Atom­Praktikant und 20% als Projektverantwort­licher Koordination im Atommüllbereich.

SES-Stellungnahme zum Atommüll-Entsorgungs-programm

Ende September 2012 geht die Anhörung über diverse Atom­müll­Berichte zu Ende. Grund­sätzlich ist die SES der Meinung, dass das heutige Konzept der Tie­fenlagerung unausgereift ist: Die offenen technischen Fragen müs­sen sofort gelöst und die Langzeit­fragen berücksichtigt werden. Die konkreten Forderungen der SES finden Sie unter:

www.energiestiftung.ch/atommuell/

Mustervortrag «Der Schweizer Atomausstieg»

Die Energiewende ist nicht aufzuhalten. Die Endlichkeit fossiler Rohstoffe, der Klimawandel und die Atomrisiken machen sie unvermeidlich. Da die SES des Öftern angefragt wurde, was denn nun die nächsten Schritte sind und wie eine saubere und sichere Stromversorgung aussehen soll, steht neu ein Mustervortrag zum Thema auf der SES­Website zum Download bereit. Download des Vortrags unter:

www.energiestiftung.ch/energiethemen/energiepolitik/energiewende

Die Ansprüche an ein Unterrichtsthema sind hoch: Spannend soll es sein, fordernd und aktuell. Die Fragestellungen sollen aus der Lebensrealität der Schülerinnen und Schüler gegriffen sein und zudem zukunftsrelevant, sowohl für die Lernenden selbst als auch für die Gesellschaft. Das Thema Energie erfüllt diese Anforderungen allesamt und bietet darüber hinaus auch Gelegenheit zur Bildung für nachhaltige Entwicklung. Denn kaum ein anderes Thema verschränkt die drei Dimensionen der nachhaltigen 

Entwicklung (Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft) derart stark und kom-plex ineinander wie das Thema Energie. Die Wechselwirkungen zwischen den drei Bereichen sind zahlreich, und die Bedürfnisse widersprechen sich oft. So werden die Lernenden mit Fragen konfrontiert, auf welche es keine einfachen Antworten gibt. Plötzlich sind sie aufgefordert, vernetzt und vorausschauend zu denken und selbst aktiv zu werden. Denn es gilt, Kompetenzen für eine nachhaltige Zukunft aufzubauen. Damit es Lehrpersonen, aber auch Schulbetrieben als Ganzes,  leichter fällt,  Energie  zum Thema  zu  machen,  hat  die  Stiftung  Umweltbildung Schweiz in Zusammenarbeit mit der SES ein entsprechendes Themen-dossier veröffentlicht. Dort finden Interessierte alles von fixfertigen Un-terrichtseinheiten, über Lehrmittel und Fachliteratur bis hin zu ausser-schulischen Lernorten und Beispielen von gelungenen Energieprojekten. Das Themendossier Energie gibt es online unter www.umweltbildung.ch/themendossiers, ausserdem Broschüren  für Lehrpersonen unter www.umweltbildung.ch/service/download/ («Umweltbildung für die Schule – Lernen für Gegenwart und Zukunft» und «Umweltbildung für die Schule – Tipps und Links für den Unterricht»).

Philip Herdeg, Stiftung Umweltbildung Schweiz

NEUES THEMENDOSSIER ENERGIE FÜR LEHRPERSONEN

Lernen voller EnergieFoto: Katrin Cryer

SES-INTERN

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GROSSE GASKRAFTWERKE SIND FOSSILE RELIKTE AUS DER VERGANGENHEIT

Von BERNHARD PILLER und LINDA ROSENKRANZ

Wärme­Kraft­Kopplungsanlagen – kurz WKK1 – sind kleine Wundermaschinen. Mit Gas betrieben, pro­duzieren sie gleichzeitig Strom und Wärme. Werden solche kleinen Anlagen dezentral genutzt und mit Biogas, am besten mit Gas aus organischen Abfällen, betrieben, so machen sie ökologisch durchaus Sinn. Doch die Technologie fristet in der Schweiz – ganz im Gegensatz zu Deutschland – noch ein Mauer­blümchen­Dasein.

Photovoltaik und WKK – das ideale PaarDoch das könnte sich ändern, sobald der Schweizer Strom dezentral und erneuerbar produziert wird.

Denn dann machen viele kleine dezentrale WKK­Anlagen grossen Sinn, sorgen für Netzentlastung und bieten Versorgungssicherheit. Wenn die Photovoltaik bis zu einem Drittel der Stromproduktion ausmacht, braucht es für das Winterhalbjahr entsprechende Aus­gleichsmassnahmen.

Der Solarstromanteil in Deutschland liegt heute schon bei 5 Prozent. An Spitzentagen zur Mittags­zeit produziert die Sonne gar mit einer Leistung von 20’000 MW – das ist ein Drittel der Stromnachfrage in Deutschland. Die Solarstromproduktion ist im Winter natürlich einiges kleiner. Genau dann helfen dezentrale WKK­Anlagen: Sie produzieren mit einem Wirkungsgrad von 95 Prozent Strom und Wärme zu­gleich. Das Gas treibt den Generator an, der Strom produziert. Dabei fällt Abwärme an, die z.B. fürs Be­heizen einer Siedlung genutzt werden kann. In einem

Dezentrale WKK leistet wichtigen Beitrag  zur EnergiewendeDie zukünftige Schweizer Stromversorgung wird gänzlich anders gestaltet sein als die heutige. Sie wird kleinräumiger, dezentraler und erneuerbar sein. Die dezentrale Wärme-Kraft-Kopplung (WKK) wird eine tragende Rolle spielen, da sie gleichzeitig Strom und Wärme für Gebäude produziert. Zentrale grosse Gaskraftwerke hingegen erscheinen wie  Dinosaurier aus einer vergangenen Zeit: Sie sind aus Ressourcen- wie auch aus Effizienz-gründen nicht zukunftsfähig. 

Jüngstes Beispiel  für die  ideale Kombination von Photovoltaik und Wärme-Kraft-Kopplung  ist die Umweltarena  in Spreitenbach von Kompogas-Erfinder Walter Schmid: Das Block-Heiz-Kraftwerk (BHKW) der Umweltarena nützt das Biogas der eigenen Kompogasanlage zur Strom- und Wärmeversorgung.

Fotos: www.umweltarena.ch

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dezentralen System sind Photovoltaik und dezentrale WKK über den Jahres­verlauf als ideales Paar für die Strom­produktion zu sehen.

Das Gasnetz als SpeicherSowohl die Stromproduktion aus Wind­kraft­ und Solaranlagen soll und wird in naher Zukunft nicht nur in der Schweiz massiv zunehmen. Bei sehr hohen Pro­duktionsspitzen muss dieser Strom zwi­schengespeichert werden.2 Mittels Elektrolyse lässt sich dereinst mit Wind­ und Solarstrom Wasserstoff herstellen und anschliessend durch die Zugabe von Kohlendioxid in Methan umwandeln und als erneuerbare Ener­gie ins Gasnetz einspeisen.

WKK für dicht bebaute StrukturenEine hohe Relevanz beim Entscheid pro oder contra WKK­Anlagen haben die Besiedlungsdichte und Baustruk­tur: WKK­Anlagen sollten ausschliess­lich dort stehen, wo sich die Abwär­me nutzen lässt, d.h. dort, wo dichte Siedlungen oder alte und historische Bauten stehen. Vor allem in Altstädten und Siedlungen machen WKK­Anlagen also viel Sinn. Werden WKK­Anlagen mit Sonnenkollektoren auf dem Dach kombiniert, ergibt sich ein perfektes System. Während ein Gebäude aus dem

Jahre 1975 noch 22 Liter Heizöl­Äquiva­lente pro Quadratmeter benötigt, sind es bei einem Minergie­Neubau noch 3,8 Liter. Das heisst, WKK­Anlagen machen in modernen Einfamilien­Neubauten keinen Sinn, weil diese zu wenig Wär­me benötigen.

GUD sind ineffizientEin wesentlicher Grund, der für dezen­trale WKK­Anlagen und gegen grosse zentrale Gaskraftwerke (GUD)3 spricht, ist die vollständige Wärmenutzung von WKK­Anlagen. Seit einiger Zeit wird in der Schweiz mit dem Bau von grossen GUD­Kraftwerken geliebäugelt. In aller Regel ist dabei von 400 Megawatt­Anla­gen die Rede. Solche Kraftwerke haben einen elektrischen Wirkungsgrad von etwa 60 Prozent. Die immense Menge an Abwärme kann in der näheren Um­gebung nicht oder nur minim genutzt werden. Der Wärmetransport über lange Distanzen macht aus Effizienz­gründen keinen Sinn. Grosse zentrale Gaskraftwerke stehen auch im Wider­spruch zu der von Bundesrätin Doris Leuthard angedachten erneuerbaren und dezentralen Energiezukunft.

Sie sind nichts anderes als fossile Relik­te, die verhindert werden müssen. <

Die Trans Adriatic Pipeline

Die AXPO-Tochter  EGL AG  plant  zusammen mit  europäischen  Partnerfirmen  eine  Erd-gaspipeline für Gas aus Aserbaidschan durch Griechenland und Albanien, unter der Adria hindurch, nach Süditalien zu bauen. Die EGL ist an der Trans Adriatic Pipeline (TAP) AG mit 42,5% beteiligt und begründet  ihr Pipeline-Engagement mit  der Versorgungssicherheit für Europa. Aber man muss wissen: Die EGL besitzt Gas-Kombikraftwerke  beziehungsweise  Anteile an solchen in Italien. Ausserdem sind die In-vestitionen der EGL in die Gastransportinfra-struktur  sowie  in  Gaskraftwerke  in  Italien im Kontext der AXPO-Stromstrategie  in der Schweiz zu sehen. Sprich: möglichst wenig Investitionen  in  erneuerbare  Energien  und möglichst viel in konventionelle nicht erneu-erbare Stromerzeugung. 

Da  die AXPO-AKW-Schiene  in  der  Schweiz nun glücklicherweise gescheitert ist, macht es aus AXPO-Logik umso mehr Sinn, fossilen Strom in Italien zu erzeugen und diesen zu-künftig in die Schweiz zu importieren. Diese Strategie ist weder nachhaltig noch zukunfts-fähig.  Sie  ist  höchst  durchsichtig  und  aus SES-Sicht unverantwortlich.

Auch  in Süditalien  ist die geplante Pipeline höchst  umstritten.  Es  ist  geplant,  dass  die Pipeline in San Foca, unweit von Lecce, an der Küste ankommt. An dieser Stelle hat es vor-gelagerte Seegraswiesen. San Foca ist einer der schönsten Orte Apuliens mit etwa 3000 TouristInnen in der Hochsaison. Das Projekt könnte  zu  einem  Präzedenzfall  für  die An-siedlung von in der Region geplanten Kohle-kraftwerken und Industriekomplexen in einer ursprünglichen und von der Landwirtschaft geprägten Region werden. Erstmals weltweit kommt eine Gasleitung direkt in einem Erho-lungsgebiet an. 1,5 km entfernt befindet sich das WWF-Naturreservat Cesine. 

AKTUELL

1  Unter Wärme-Kraft-Kopplung (WKK) versteht man die kombinierte Produktion von Wärme und Strom. Mittels eines Generators wird Strom produziert, und die Abwärme dieser Anlage wird zum Heizen und zur Warmwasserproduktion genutzt. Solche Anlagen gibt es von ganz klein (Ein- oder Zweifamilienhaus) bis zu mittelgross, zum Beispiel für eine Genossenschaftssiedlung, oder ein dicht bebautes Quartier.

2  Natürlich macht es keinen Sinn, überschüssigen Windstrom von der Nordsee in die Schweiz zu leiten, um damit Pumpspeicherwerke in Alpentälern zu befüllen –  weder aus Effizienz- noch aus Naturschutzüberlegungen.

3  GUD = Gas-und-Dampfturbinen-Kraftwerk

Erneuerbares Gas im Erdgasnetz

Heute werden WKK-Anlagen in der Regel mit fossilem Erdgas befeuert. Dies ist aufgrund der End-lichkeit von Erdgas und aus Klimaschutzgründen nicht zukunftsfähig. Doch es findet bereits eine punktuelle Verschiebung zu erneuerbarem Gas statt, die sich in Zukunft noch verstärken wird. In Zürich beispielsweise werden zukünftig mit Biogasanlage sowie einer Klärschlammverbren-nungsanlage grosse Mengen Biogas produziert. Dieses Biogas wird vollumfänglich ins Erdgasnetz eingespiesen. Bei Erdgas Zürich kann die Kundschaft bereits heute beliebige Anteile Biogas bestel-len – je nach Wunsch auch 100 Prozent. Im Winter 2011/2012 entschieden sich schon 13 Prozent der KundInnen, mindestens zum Teil mit Biogas zu heizen. In den kommenden Jahren soll der Bio-gasanteil im gesamten Netz von Erdgas Zürich 5 Prozent der gesamten Gasnachfrage decken. Das ist noch sehr wenig, aber der Anteil an erneuerbarem Gas lässt sich bedeutend steigern.

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Sihlquai 67CH-8005 ZürichTel. ++ 41 (0)44 275 21 21Fax ++ 41 (0)44 275 21 [email protected] 80-3230-3

www.energiestiftung.ch

«Neue Grosskraftwerke in der Schweiz, egal ob Gas oder Atom, sind auf

absehbare Zeit nicht wirtschaftlich.»

Urs Meister, Energieexperte bei der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse

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