Entstehungsgeschichte Des Euro

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    Bilanz einer gescheiterten Kommunikation

    Fallstudien zur deutschen Entstehungsgeschichte des

    Euro und ihrer demokratietheoretischen Qualitt

    Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophieim Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der

    Johann Wolfgang Goethe-Universitt Frankfurt am Main

    Vorgelegt von Jens Peter Paul, Berlin

    Imprimatur erteilt von Herrn Prof. Dr. Joachim Hirsch am 26. Juli 2010

    Berichterstatter: Prof. Dr. Josef Esser (), Prof. Dr. Joachim Hirsch (Hauptfach)Prof. Dr. Burkhardt Lindner, Prof. Dr. Dieter Lindenlaub (Nebenfcher)

    Rigorosum: 15. Oktober 2007 (Hauptfach), 17. Oktober 2007 (Nebenfcher)

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    BILANZ EINER GESCHEITERTEN KOMMUNIKATION_________________________________________________________________________________________________________________2

    Inhaltsverzeichnis

    1. Vorwort 5

    2. Einleitung und Forschungsstand

    2.1 Der Euro und seine Geburtsfehler 102.2 Beschreibung des Studiengegenstands 152.3 Untersuchungs- und Recherchemethoden 162.4 Entstehung und Arbeitsbedingungen 172.5 Vorlufer der Europischen Whrungsunion 192.6 Geldkreislauf eine nie endende Volksabstimmung 212.7 Gesellschaftliche Brisanz der Whrungsfrage 232.8 Geldbesitz als Frage der persnlichen Sicherheit 252.9 Europapolitik des Bundestages geht am Stock 282.10 Htten die Abgeordneten die D-Mark retten knnen? 312.11 Internationale Zwnge und Hintergrnde 33

    3. Das Versagen der demokratischen ffentlichkeit

    3.1 Stabile Ablehnung der Whrungsunion in der Bevlkerung 393.2 Medien kamen mit dem Thema Jahre zu spt 433.3 Nach Auschwitz darf niemand mehr gegen Europa sein 46

    3.4 Kritische Journalisten bekamen Probleme 52

    4. Ursprung von Mitrauen: Kohl und Mitterrand

    4.1 Ein Entschlu gegen deutsche Interessen 584.2 Phl erledigt aus Versehen D-Mark und Bundesbank 614.3 Garstige Partner: Kanzler in Paris den Trnen nahe 664.4 Mitterrand lt Kohl mit Politischer Union auflaufen 704.5 Ratlose Unterhndler ohne Weisungen aus Bonn 734.6 Kohl: Mitterrand konnte deutsche Einheit nicht blockieren 764.7 Genscher gegen eine neue Dolchstolegende 794.8 Fr Frankreich unterdrcken sie ihre Angst vor dem Whler 82

    5. Das htte der Schuble nicht gepackt

    5.1 Kohl: Mein Amtsverzicht fiel aus wg. Whrungsunion 855.2 Eine sehr persnliche Niederlage gegen Schrder 915.3 Hat der Euro den Machtwechsel 1998 mitverursacht? 935.4 Miratener Fhrungsversuch, gelungene Fhrungsleistung 102

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    INHALTSVERZEICHNIS_________________________________________________________________________________________________________________

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    6. Unbeholfene Kampagnen gegen Skepsis der Bevlkerung

    6.1 Wie wirbt man fr eine Whrung, die es noch nicht gibt? 1066.2 Weigerung des Bundesbankprsidenten fhrt zum Eklat 116

    6.3 Banken nutzen Verunsicherung der Bevlkerung aus 1186.4 Euro-Fans wird der MMWI-Fonds verkauft 1216.5 Glos: Der Euro macht alle Deutschen rmer 1246.6 Aufklrungsversuche laut Duisenberg gescheitert 1296.7 Angst als Kommunikationsbeitrag nicht gefragt 1316.8 Der Euro als Perpetuierung deutscher Shne 136

    7. Whrungsunion droht an Deutschland zu scheitern

    7.1 Kriterienstreit bringt Bonner Koalition in Bedrngnis 141

    7.2 Hilflos gegenber dem Haushaltsdefizit 1457.3 Wollte Kohl den Euro im Frhjahr 1997 aufgeben? 149

    8. Avanti dilettanti: Waigel holt sich blutige Nase

    8.1 Das Gold der Bundesbank Verlockung fr Finanzminister 1558.2 Angst kann Deutschland sich nicht erlauben 171

    9. Kohls Revanche: Bundesbank wird zur Kronzeugin

    9.1 Wider besseres Wissen gibt Zentralbankrat Weg frei 1739.2 Biedenkopf hlt als einziger dagegen 1819.3 Waigel: Beinahe wre es in Amsterdam noch gescheitert 1849.4 Des Kanzlers Kalkl geht auf 188

    10. Herbe Niederlage bringt SPD auf Euro-Kurs

    10.1 Linke unschlssig ber Charakter der Whrungsunion 18910.2 Schrder triumphiert: Endlich wieder ein nationales Thema 194

    10.3 Spri testet Wahlkampftauglichkeit des Projekts 19810.4 Schrder mu Skepsis fr seine Kanzlerschaft beerdigen 20410.5 Kanzleramt: Die SPD hat uns nicht im Stich gelassen 211

    11. Bitterer Streit in der CSU um den Euro

    11.1 Stoiber als tragischer Hauptkritiker der Whrungsunion 21411.2 Brchiger Burgfrieden zwischen Mnchen und Bonn 21611.3 berraschende Wende in letzter Minute 220

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    1. VORWORT_________________________________________________________________________________________________________________

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    1. Vorwort

    m Herbst 2008 wurde Zeit-Herausgeber Michael Naumann nach seiner wichtig-sten Erkenntnis aus seiner Zeit als Kulturstaatsminister gefragt. Tiefen Respekt

    vor den so oft geschmhten Politikern und ihrem Arbeitsethos habe er erworben,antwortete er sinngem. Die wenigsten htten diesen Beruf der Macht um ihrerselbst willen oder des Geldes wegen gewhlt; die allermeisten, die er in seinen dreiJahren in Schrders Kanzleramt getroffen habe, seien im Kern Idealisten, ber Par-teigrenzen hinweg beseelt von der Idee, so Naumann, die Welt bei allem Streit berden richtigen Weg ein wenig gerechter und lebenswerter zu machen. Das habe erals Journalist und Publizist vor seiner Berufung ins Amt so nicht wahrgenommen.1

    Diese politikwissenschaftliche Dissertation besteht aus zehn Fallstudien Nah-betrachtungen politischer Ablufe in der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist zuverstehen als wissenschaftliche Hommage an unser politisches System und ihrerProtagonisten, und dies nicht nur, weil der Autor kein besseres kennt.2Dennochkommen sie hier an vielen Stellen nicht gut weg, die Abgeordneten, die Regie-rungsmitglieder, die Ministerprsidenten, die Herren von der Bundesbank. Wie das?

    In der vorliegenden Untersuchung wird am Ende nicht allgemeine Verdorben-heit konstatiert, sondern ein unterschiedlich ausgeprgter, sehr menschlicher, aberpotentiell gefhrlicher Mangel an Courage und Gestaltungswillen bei vielen Akteu-ren auch in verantwortungsvollsten Positionen, fr das von ihnen als richtig er-kannte ungeachtet eventueller schmerzhafter Folgen einzustehen. Da sie sitzenblieben, wo sie htten aufstehen, schwiegen, wo sie htten sprechen,Jasagten, wo

    sie httenNeinsagen, mitliefen, wo sie htten innehalten mssen.Es geht um Entscheidungshandeln von Individuen in Konfliktsituationen, um

    Gruppenzwang und die daraus resultierenden Risiken. Wie kann es passieren, danur zu oft die fhigsten und kompetentesten Leute ihres Fachs zusammensitzen und eine herbe Fehlentscheidung produzieren? (Anm. 1).

    Dieses Fazit mge man bitte nicht verwechseln mit Politiker-Bashing. Die um sichgreifende Verachtung, die Vorstellung, Politiker seien eher faul als fleiig, eher ah-nungslos als kompetent, eher korrupt als loyal gegenber ihrem Auftraggeber, demSouvern, die Interessen des Volkes sptestens mit ihrer Wahl vergessend, ist un-begrndet und einfltig. Das Problem liegt tiefer; es ist ein systemisches.

    Die bergroe Mehrheit der Politiker, die mir bisher als Journalist und Forscherbegegneten, ergriff diesen Beruf tatschlich aus idealistischen Motiven, weil sie jeder auf seine Weise die Welt verbessern wollen, auch wenn sie sich das nichtmehr zu sagen trauen, seit Weltverbessererseltsamerweise zum Schimpfwort wurde.

    Wer mit Verachtung in der Stimme pauschal auf die deutsche Politik und diedarin arbeitenden Menschen einschlgt, hat keine Ahnung von den tatschlichen

    1 Diskussionsbeitrag von Naumann whrend Feierstunde und Podiumsdiskussion derBundesregierung 10 Jahre Beauftragter der Bundesregierung fr Kultur und Medien am28. Oktober 2008 im Martin-Gropius-Bau, Berlin (Gedchtnisprotokoll des Verfassers).

    2 Kapitel 2 enthlt eine Zusammenfassung des hier interessierenden Forschungsstandes.

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    Ablufen, Verhltnissen, den Zwngen der Beteiligten. Er wei nicht, was und wiees im Berliner Regierungsviertel und anderswo luft.

    Jeder tarifvertraglich abgesicherte Angestellte wrde, nur als Beispiel, den ganznormalen 14-Stunden-Arbeitsalltagswahnsinn eines beliebigen Abgeordneten einer

    beliebigen Sitzungswoche mit nervenden Sitzungen, hastigem Zwischendurchessen,Stre mit Parteifreunden, Dauerbeobachtung (schlimm) oder Dauerignorierung(schlimmer) durch die Medien, seltenen Erfolgserlebnissen und hufigen Enttu-schungen bei wenig Privatleben und null Kndigungsschutz wie soeben wiedervon einem Drittel der SPD-Parlamentarier erlitten dankend ablehnen.

    Wenn dieser Angestellte she, wie am Wochenende der Darwinismus im Wahl-kampf (und der ist auf irgendeiner Ebene immer) weitergeht, wre er von seinenVorurteilen geheilt.

    Liegt der Politiker schief in seinen Prognosen, ist er eine Niete. Behlt er recht(wie etwa Oskar Lafontaine beim Thema Finanzmrkte) und sagt das auch noch, ist

    es Besserwisserei und erst recht verkehrt bis zu dem Moment, wo es auch die an-deren schon immer gewut haben.3Und da sie glauben, nicht einmal mehr richtigUrlaub machen zu knnen, schlittern sie in sogenannte Dienstwagenaffren undverstehen die Welt nicht mehr. Die wichtigen Dinge bleiben solange liegen.

    Die Kanzlerin, die zum Abendessen mit den verkehrten Leuten verkehrt, hatebenfalls eine wichtige Regel nicht begriffen, die da lautet: Blo nichts tun, wasvom Mittelma abweicht, den Verdacht erregen knnte, das habe auch etwas mitFreude am Leben, am Job, am Umgang mit interessanten Menschen zu tun.

    Anstatt sich gemeinsam als angegriffener Berufsstand gegen alberne Vorwrfe

    zu wehren, geloben sie Besserung oder freuen sich insgeheim ber das Migeschickder Konkurrenz, die nchste Beliebtheitsumfrage im Blick. Sie sind auch selbstschuld an ihrer Misere. Wer heute noch Berufspolitiker werden will, mu zwarnicht unbedingt verrckt sein, aber es erleichterte die Sache doch ungemein.

    Schlielich Helmut Kohl, die zentrale Figur dieser Abhandlung. Kaum ein Leserwird nach Lektre der Vermutung anheimfallen, ich knnte eine Schwche, einFaiblefr diesen Mann haben. Und doch ist es so. Kohl wird unter Wert behandelt.

    Nichts gegen Helmut Schmidt. Die jeweils wochenlangen Lobeshymnen anl-lich seiner runden Geburtstage seien ihm gegnnt. Nur: An die LebensleistungKohls, an seine Verdienste kommt er nicht ganz heran. Das ist nicht seine Schuld

    Schmidt hatte eben nicht einen Wirbelsturm der Geschichte als Herausforderung,sondern die armen Irren von der RAF, und fr diese Krise war er der richtigeMann. Wie berhaupt die Bundesrepublik bisher Glck mit ihren Kanzlern hatte.4

    3 Frankfurter Allgemeine Zeitungvom 12. September 2009, S. 1: Merkel offen fr internatio-nale Brsensteuer auf alle Finanzmarkttransaktionen (eine bis dahin hufig kritisierteForderung Lafontaines).

    4 Ludwig Erhard und Kurt-Georg Kiesinger haben im Kanzleramt zumindest keinen gro-

    en Schaden angerichtet; die destruktive Kraft von Schrders Politik wird allmhlichdeutlich, wie die Schmach der SPD in der Bundestagswahl 2009 zeigt. Fr ein Urteil berAngela Merkel ist es zu frh, die Frage Wie gut ist sie wirklich? (Patrik Schwarz) auchnach vier Jahren ohne Antwort.

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    Zuviel, als da es Zufall sein knnte. Dieses parteiparlamentarische Auslesesystemscheint noch recht gut zu funktionieren.

    Als es darum ging, Frankreich, England, den USA, den kleineren Nachbarln-dern und vor allem der Sowjetunion die Zustimmung zur Wiedervereinigung

    abzuringen, ohne zugleich die Europische Union plus NATO zu zerlegen,bewegte sich Dickhuter Kohl im politischen Porzellanladen als Schnell lernendesSystem mit einer Sicherheit, die die Tassen heil lie, den Sprung in der Schsseleiniger emprter Vertriebenenfunktionre einmal beiseite gelassen.

    Funktionieren konnte das nur, weil Kohl in den Jahren zuvor ungeachtet allenSpotts systematisch Freundschaften, mindestens aber stabile Beziehungen aufge-baut und sich als verllicher, berechenbarer, gutmtiger, auch die Interessen deranderen stets im Blick habender Deutscher bewiesen hatte, ein Ansehen, auf das eraufbauen konnte, als es ber Nacht ernst wurde. Als htte er es geahnt. Das warStaatskunst. Von der sich sein Nachfolger Schrder etwas htte abschauen knnen.

    Wie pat das zu einer Rekonstruktion der deutschen Euro-Geschichte, in derauch Kanzler Kohl nicht immer als lupenreiner Sympathietrger mit stets stringen-ten Entscheidungen erscheint? Ganz einfach: Es geht in diesem Buch nicht um dieFrage, ob die Whrungsunionper seeine gute oder eine schlechte Idee war. Auchwenn ich sie fr zerbrechlicher denn je halte weil nicht getragen von den Vlkernund deshalb im Kern auch nicht von deren Politikern , spricht elf Jahre nach ih-rem Inkrafttreten sogar einiges mehr dafr als zu Beginn, da sie eine gute war. Einhonorigeres Ziel, als ein fr allemal Krieg zwischen den Vlkern Europas auszu-schlieen, ist ja auch kaum denkbar.5

    Nein es geht hier um den Weg, um das Verfahren. Im Verfahren, in seinerSorgfalt oder Nachlssigkeit, sind Erfolg oder Mierfolg eines Vorhabens, und seies noch so ehrenwert, als unauslschliche DNS angelegt, unsichtbar zunchst, abersich den Weg ans Licht bahnend, wenn es an die Substanz geht: In der Krise.

    In den ersten Monaten des Jahres 2009 bestand die Gefahr, da mehrere Mit-glieder der Euro-Zone ihre Kreditwrdigkeit verlieren und zahlungsunfhig wer-den. Eine Entwicklung, die die Politik bis dahin fr ausgeschlossen gehalten hatte(wie so manches, was seit September 2008 geschah), denn wir haben ja den Euro,und imMaastricht-Vertragist dieser Fall nicht vorgesehen.

    Die Europische Whrungsunion gleicht einem Versuch, den Andreasgraben mit

    Beton auszugieen. Fr eine gewisse Zeit mag das die tektonischen Bewegungenzwischen den Volkswirtschaften blockieren. Irgendwann aber werden sich die auf-gestauten Spannungen um so heftiger entladen.

    David Marsh listet sie in seiner Rekonstruktion der Euro-Vorgeschichte en detailauf, die Verwerfungen, die das Europische Whrungssystem als Vorlufer der Wh-rungsunion wieder und wieder erschtterten. Der Brite beschreibt, welche heutekaum noch vorstellbaren diplomatischen Krisen zwischen Bonn, Paris, London,Rom, Den Haag regelmig ausbrachen mit der EWS-Existenzfrage von 1993 als

    6 Vlker mit einer gemeinsamen Whrung haben nie Krieg gegeneinander gefhrt. Es seidenn, man nimmt den amerikanischen Sezessionskrieg, das war ein Brgerkrieg. Aber diehaben die Whrung danach gendert. Verstehen Sie? Die gemeinsame Whrung ist mehrals das Geld, mit dem bezahlt wird. (Interview mit Helmut Kohl, S. 284).

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    Hhepunkt, die eine Folge der Deutschen Einheit war (was Paris und London be-sonders unanstndig fanden), wenn die Bundesbank das Ausland mit ihrer als rck-sichtslos empfundenen Zinspolitik wieder einmal verzweifeln lie.

    Es ging eben nicht nur um technische Fragen des Whrungsmanagements. Stets

    stand das jeweilige nationale Prestige gleich mit auf dem Spiel mit Folgen fr dasinnenpolitische Machtgefge der Lnder, die von den Entschlssen des FrankfurterZentralbankrates nolens volensabhngig waren und sich oft ohnmchtig fhlten.

    Wer nach der Marsh-Lektre immer noch glaubt, eine so konstruierte Wh-rungsunion sei in der Lage, die Unterschiede in den Entwicklungen der Volkswirt-schaften (die das EWS trotz grozgiger Bandbreiten wiederholt zu sprengen droh-ten) glattzubgeln, mu schon ber ein sonniges Gemt verfgen.6

    Die Grundidee der EWU lautet: Das mit den Bandbreiten hat nicht geklappt,weil sie immer wieder zu eng wurden, darum setzen wir sie auf null. Das ist genialoder absurd. Die Mathematik lt sich auch durch noch so gutgemeinte Vertrge

    nicht auer Kraft setzen. Das ist der Moment, wo es auf den Rckhalt ankommt,auf die Loyalitt, die diese Whrung in den Vlkern der Euro-Zone, in den Kpfender Menschen geniet, die mit dem Geld zu leben und zu wirtschaften haben. ObAbstoungsreaktionen auftreten. Die Turbulenzen innerhalb der Whrungsunionim Zuge der Weltfinanzkrise 2008/2009 sind ein Indiz, da es tief unten im Fun-dament weiter arbeitet. Und in dieser Lage ging es nicht mehr um ein Prozent Leit-zins mehr oder weniger, sondern um alles oder nichts (Anm. 2).

    Kann man Irland sanieren wie eine Hypo Real Estate? Mu man Griechenlandenteignen?, fragte der Tagesspiegelentgeistert.7Die Bild-Zeitung alarmierte: Angst

    vor einer neuen Whrungskrise!8

    Mssen wir fr die Schulden von Iren, Italie-nern und Griechen zahlen?9Die Schwarzseher und Pessimisten von gestern wur-den zu den Realisten von heute. Die Prognose-Institute strzten in eine Sinnkrise.Nichts war sicher, alles schien mglich in diesen Wochen.

    Das Handelsblattschrieb im Herbst 2009, der von den Deutschen 1996 mit vielPomp durchgesetzte Stabilittspakt sei verkommen zur Lachnummer.10Die EU-Kommission erstellte einen Bericht, nach dem Deutschland ohne grundlegendenPolitikwechsel im Jahre 2060 eine Staatsschuld von 320 Prozent des BIP aufgehufthaben werde, whrend Spanien sogar auf 880, Griechenland auf 850, Frankreichauf 760 Prozent kommen wrden alle Lichtjahre entfernt von der 60-Prozent-

    Grenze desMaastricht-Vertrages.11

    7 David Marsh: Der Euro. Die geheime Geschichte der neuen Weltwhrung. Marsh zitiertbei seiner Darstellung der Whrungsturbulenzen vom Herbst 1992 Franois Mitterrandmit dem an seinen Leidensgenossen John Major gerichteten Satz: Die Haltung der Bun-desbank und ihres Prsidenten enthielt zweifellos eine gewisse Brutalitt. (S. 233).

    8 Tagesspiegelvom 20. Februar 2009.9 Bild-Zeitung vom 20. Februar 2009.

    10 Bild-Zeitung vom 25. Februar 2009.11 Handelsblattvom 04. November 2009.

    12 Schulden ohne Ende. Frankfurter Allgemeine Zeitungvom 15. Oktober 2009, S. 15. Weiterheit es dort: Offenbar will die Kommission ihren eigenen Bericht mglichst tief hn-gen. In ihrer Pressemitteilung ist weder von den Schuldenprojektionen noch von der Ein-teilung in Risikoklassen die Rede. Letztere war dem Vernehmen nach unter den Kommis-

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    1. VORWORT_________________________________________________________________________________________________________________

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    Ich danke den mehr als 500 Menschen, die diesem Projekt Zeit und Mhe ge-widmet haben, voran meinem geduldigen, liebenswrdigen, vor wenigen Tagen vielzu frh verstorbenen Betreuer Professor Josef Esser, dem Zweitgutachter Profes-sor Joachim Hirsch sowie den Professoren Dieter Lindenlaub und Burkhardt Lind-

    ner, die im Rahmen des Rigorosums im Oktober 2007 als Prfer in meinen Neben-fchern Mittlere und Neuere Geschichte sowie Theater-, Film- und Medienwissen-schaften fungierten.

    Die Mglichkeit, die Bibliothek des Deutschen Bundestages mit ihren beraushilfsbereiten Mitarbeiterinnen zu nutzen, betrachte ich ebenso als Glcksfall wie dieBereitschaft meiner Interviewpartner zu einem hufig sehr ausfhrlichen Gesprch,wobei Dr. Theo Waigel und Dr. h. c. Hans-Dietrich Genscher zustzlich die Wie-dergabe historischer Dokumente aus ihrem Besitz erlaubten.

    Dr. Liesel Hartenstein gilt meine Verehrung, weil sie mich voller Engagementund mit Herzblut auf ein Thema gestoen hat, das mich nicht mehr loslassen sollte:Wie funktioniert unsere vielbewunderte deutsche Demokratie eigentlich im Detail?

    Berlin-Mitte, Adolph-Menzel-Haus, Mrz 2010

    Jens Peter Paul

    saren umstritten. Sie befrchteten offenbar Konflikte mit ihren Heimatlndern. Als Be-grndung gegen die Klassifizierung wurde auch angefhrt, dass die Lnder [Spanien, Nie-

    derlande, Griechenland, Irland, Slowakei, Slowenien, Malta und Zypern sowie als Nicht-Euro-Lnder Grobritannien, Rumnien, Tschechien, Lettland und Litauen], die alsHochrisikostaaten eingestuft wurden, an den Finanzmrkten fr ihre Staatsanleihen Risi-koaufschlge zu befrchten htten.

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    2. Einleitung und Forschungsstand

    2.1 Der Euro und sein Geburtsfehler

    elmut Kohl einer der Vter des Euro das darf als mehrheitsfhige Darstel-lung gelten. Aber Oskar Lafontaine? 2009 hat er mit einem fulminanten

    Wahlerfolg im Saarland die Linke zum bundespolitischen Playergemacht und kurzdarauf in der Bundestagswahl die SPD gedemtigt. Lafontaine wettert gegenHartz 4, Banker-Boni, gegen angebliche Rentenkrzungen und gegen den Bundes-

    wehreinsatz in Afghanistan. Wie pat das zur These, ohne Lafontaine htte dieserZwangsumtausch, eine doch sehr erklrungsbedrftige Antwort Europas auf dieGlobalisierung, mglicherweise erst ihr Trffner, nicht stattgefunden?

    Und doch ist es so. Nach anfnglichen Irrungen und Versuchen, mit einem (heu-te verleugneten) Anti-Euro-Wahlkampf zu punkten, entwickelte sich Lafontainezum treuen Verbndeten Kohls in diesem Projekt nach auen gelegentlichscheinbar kritisch, nach innen jedoch verllich und gegen seine Gewohnheit alle Chancen auslassend, den Kanzler in einem schwachen Moment (und derer gabes mehrere) auf dem Whrungsfeld anzugreifen.

    Ohne Lafontaines Flankenschutz htte Helmut Kohl, das beschreibt diesesBuch, die Verwandelung des beliebten und bewhrten Geldes in eine unbekannteund vielen Menschen unheimliche Kunstwhrung nicht gegen alle Widerstnde und

    vor allem nicht gegen die Bevlkerung durchsetzen knnen. Die SPD war zwar imBund bis Herbst 1998 in der Opposition, aber unbestritten noch eine Volkspartei.

    Warum und wie hat sich Lafontaine als SPD-Vorsitzender dieses von vielen linkenund rechten Kritikern als neoliberal geschmhte Vorhaben zu eigen gemacht? Dasnachzuzeichnen war eine Herausforderung im Laufe dieser Studie.

    Eines ist aber auch wahr: Am Anfang der Europischen Whrungsunion warenHelmut Schmidt und spter, in den 80er Jahren, Auenminister Hans-DietrichGenscher. Geschickt sponn Genscher durch sein Memorandum 1988 einen Faden,der zunchst im deutsch-franzsischen Verhltnis uerlich kaum Wirkung zu ent-falten und in den Ritzen der Tagespolitik zu vertrocknen schien, im Zuge der Erei-gnisse nach dem Fall der Mauer jedoch fast ber Nacht eine ungeheure Kraft ent-

    wickelte, die Kohl mit dem Projekt Whrungsunion bald unlsbar verband.Als es ab 1995 darum ging, den Euro innenpolitisch durchzusetzen, war Gen-scher lngst nicht mehr im Amt. Was aus seiner Sicht nicht schlimm war, hattenKohl und er die Weichen doch lngst so gestellt, da der Zug wie gezeigt wird kaum noch aufzuhalten war.

    Allerdings: Wenn diese Studie erscheint, liegen die grundlegenden Beschlsse zurAbschaffung der D-Mark bereits 21 Jahre zurck, ist der Euro seit acht Jahren ge-setzliches Zahlungsmittel. Dennoch ist das Thema zwar ein zeitgeschichtliches,aber unverndert aktuell, geht es doch darum, wie unsere Demokratie im Kernfunktioniert. Die Arbeit zeigt: Sie funktioniert, aber sie funktioniert nicht gut. Viel-

    leicht sogar: Je wichtiger der Gegenstand, desto schlechter.Ihr zentrales Organ, der Deutsche Bundestag, zeichnete sich ausgerechnet auf

    dem existentiellen Feld der Whrungspolitik durch weitgehende Passivitt aus. Die

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    2. EINLEITUNG UND FORSCHUNGSSTAND_________________________________________________________________________________________________________________

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    Abgeordneten lieen die Dinge treiben und delegierten gewohnheitsgem ihreureigene Verantwortung an die Exekutive, intern bestenfalls an ein Huflein Exper-ten, anstatt sich das Thema anzueignen und die komplizierte Materie zu durchdrin-gen, wie es ihre Pflicht war.

    Der Bundesrat als potentielles Korrektiv lieferte eine nicht viel berzeugendereVorstellung. Magebliche Vertreter der Lnder entschieden sich, wie zu zeigen seinwird, nicht aus berzeugung fr die Europische Whrungsunion, sondern weil siesich dazu gentigt, ja erpret sahen, wre ihnen sonst ihre Partei um die Ohren ge-flogen. Oder sie wurden gerade rechtzeitig, pnktlich auf die Minute fast, vom Mi-nisterprsidenten zum Kanzlerkandidaten und drehten deshalb bei.

    Die Bundesbank schlielich, hier wichtigste auerpolitische Experten- und Kor-rekturinstanz, kapitulierte im entscheidenden Augenblick trotz massiver und, wiesich zeigen sollte, absolut berechtigter Bedenken vor der Macht und den Dro-hungen des Kanzlers. Die Bundesbank lieferte Helmut Kohl nach nervenzermr-

    bender interner Diskussion ein Papier, das er bedenkenlos umdeutete und als Zu-stimmung darstellte. Daraufhin kam ein Zirkelschlu (einmal Bonn-Frankfurt undzurck) zustande. Der Widerstand gegen das Projekt brach zusammen. Dies allesgeschah zuletzt innerhalb von 72 Stunden im Frhjahr 1998. Doch auch dies istfast zwlf Jahre her. Trotzdem noch wichtig?

    Indiz 1:Man probiere es selbst aus, etwa auf einem beliebigen Wochenmarkt.Da ist zum einen die Beobachtung, da die Menschen der Verlust ihrer geliebtenD-Mark unverndert umtreibt. Sie betrachten, wie Gesprchsfetzen auch heutenoch zeigen, die Whrungsumstellung als willkrlich und weitgehend schdlich.

    Unvermeidlich folgt der Satz: Aber uns hat ja keiner gefragt.Im kollektiven Bewutsein vieler Bundesbrger ist die Einfhrung des Euro eine

    nicht verheilte Wunde. Eine Wunde, die zu einem mglicherweise nicht mit denvorhandenen Instrumenten mebaren, aber nachhaltigen Loyalittsverlust gegen-ber unserer reprsentativen Demokratie gefhrt hat. Deshalb: Jahre her und un-

    verndert virulent.13Die mit der D-Mark aufgewachsenen Politiker haben bis heute uneingestanden

    Mhe, die Verdoppelung der Werte zu begreifen und in ihren Entscheidungen zubercksichtigen. Wenigstens eine Phase, sagen wir: Ein paar Monate, in der 50 Eu-

    ro-Cent als hnlich wertvoll betrachtet und behandelt wurden wie zuvor eine D-Mark, ein 50-Euro-Schein als hnlich wertvoll wie zuvor ein Hunderter, habe ichweder bei anderen noch bei mir beobachten knnen. Wenn man nach der Ursache

    13 Nach einerforsa-Umfrage des Deutschen Sparkasse- und Giroverbandes(DSGV) vom Dezem-ber 2008 wird der Euro von 48 Prozent der Bundesbrger nach wie vor als Teuro

    wahrgenommen und fr erhebliche Preiserhhungen verantwortlich gemacht. Die D-Mark, so der Verband, sei auch zehn Jahre nach dem Start der Europischen Whrungs-union unvergessen: Jeder Zweite rechne auch heute noch bei greren Anschaffungen inD-Mark um, nur jeder Vierte tue dies berhaupt nicht mehr, darunter (erwartungsgem)

    viele 14- bis 29jhrige. Die Hlfte der Befragten sei allerdings zugleich der Meinung gewe-sen, da Deutschland durch die Einbettung in den Euro-Whrungsraum besser durch dieFinanz- und Wirtschaftskrise komme, als es ohne dieses System der Fall wre (DSGV-Pressemitteilung vom 29. Dezember 2008).

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    fr gigantisches Anwachsen der Staatsverschuldung (speziell 2009) sucht, knntealso vielleicht ein wahrnehmungspsychologischer Ansatz helfen.

    Indiz 2:Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die seit zwlf Monaten andauert, alsdiese Zeilen entstehen, hat in ihren kritischsten Momenten gezeigt, wie fragil die

    Europische Whrungsunion speziell an ihren Rndern ist. Ohne eine aus drei St-zen bestehende, auf einer Pressekonferenz in eine rhetorische Frage gekleidete,aber unmiverstndliche Hilfszusage des deutschen Finanzministers zugunsten der

    Wackelkandidaten wre sie womglich im Frhjahr 2009 auseinandergebrochen.Zu diesem Zeitpunkt wurden an den Finanzmrkten bereits Wetten abgeschlos-

    sen, wann es Griechenland, Irland, der Slowakei, eventuell auch Spanien, Portugalund Italien nicht mehr mglich sein werde, neue Kredite zu erhalten, was die Insol-

    venz dieser Euro-Lnder zur Folge gehabt htte. Die Whrungsunion zeigte Rissein Form extrem divergierender Schuldzinsen ein Phnomen, das man bei Grn-

    dung der EWU ein fr allemal ausgeschaltet whnte.Da der Crash bislang ausblieb, lag an der berzeugung der mageblichen Ak-teure, die Kosten einer solchen Entwicklung wren immens und die Folgen nachmenschlichem Ermessen fr Europa katastrophal. Da Peer Steinbrck damit in-nerhalb von dreiig Sekunden das heilige, im Vertrag von Maastricht verankerte

    Versprechen der deutschen Politik an ihr Volk brach, ein bail out, einen Geld- unddamit auch Wohlstandstransfer zugunsten wankender Mitglieder der Euro-Zone

    werde es unter keinen Umstnden geben, spielte in diesem Moment keine Rollemehr so gefhrlich war die Situation.14

    Steinbrck warf mit seiner (keineswegs parlamentarisch legitimierten) Brg-

    schaftserklrung das Wertvollste in die Waagschale, was Deutschland besa: SeineAAA-Bonitt. Wie einige Monate zuvor zusammen mit der Kanzlerin an die Adres-se der Sparguthabenbesitzer, setzte er alles auf eine Karte in der Hoffnung, genaudadurch werde ihm der Ernstfall erspart bleiben, weil sich die Spekulanten viel-leicht mit Irland oder Italien, nicht aber mit Deutschland anlegen wrden.

    Ein gewagtes Spiel, fast Zockerei im Milliarden-Mastab. Offenbar soweit heu-te absehbar ist es noch einmal gut gegangen, aber der Vertrauensverlust ist evi-dent. Boulevard-Bltter titelten: Mssen wir bald fr ganz Europa zahlen?15, Ei-

    14 Vor der Bundespressekonferenz in Berlin sagte Bundesfinanzminister Peer Steinbrck am18. Februar 2009 auf die Frage, ob Deutschland vor der Alternative stehe, entgegen derNo-bail-out-Klausel des Maastricht-Vertrages in Not geratenen Lndern zu helfen oder einAuseinanderbrechen der Euro-Zone zu riskieren: Auseinanderbrechen der Euro-Zone knnen Sie sich vorstellen, da irgend jemand so etwas auch nur in Kauf nehmen knnte?Das ist doch vllig absurd mit Blick auf die damit verbundenen konomischen Folgen.

    Ansonsten macht es keinen Sinn, ffentlich zu spekulieren bezogen auf einzelne Lnder,sondern einfach zu versichern, da diejenigen handlungsfhig sein werden, wenn sichProbleme stellen. (Audio-Mitschnitt). Nach Zeitungsberichten fhrten Steinbrcks

    uerungen zu krftigen Gewinnen bei den Kursen des Euro und der Whrungen derosteuropischen Lnder: Analysten und Investoren spekulierten darauf, dass vor dem

    Bankrott einzelner Staaten oder dem Auseinanderfallen der Europischen Whrungsuni-on es zu einer Rettung durch die reichen Lnder kommt. (Robert von Heusinger: Ms-sen wir jetzt Staaten retten? Frankfurter Rundschauvom 20. Februar 2009).

    15 Berliner Kurier vom 20. Februar 2009.

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    ne Rettung drfte deutsche Steuerzahler Milliarden kosten. Es ist ein Beben, dasanrollt. (Focus online)16, Nachdem in der vergangenen Rezession der EU-Stabilittspakt zerstrt wurde, knnte nach der jetzigen Krise auch die No-bail-out-Klausel als inhaltlicher Torso brig bleiben. (Frankfurter Allgemeine Zeitung)17

    Indiz 3fr die Aktualitt der Darstellung: Das Lissabon-Urteil des Bundesverfas-sungsgerichtes vom 30. Juni 2009. Karlsruhe kommt zum selben Schlu wie dieseUntersuchung: Unsere Demokratie geht ausgerechnet in der unpopulren, aber frunser Leben so wichtigen Europapolitik am Stock, weil die Mitglieder des Deut-schen Bundestages ihre Aufgabe nicht ernst-, jedenfalls nicht wahrnehmen. Be-quemlichkeit, berlastung, Mangel an Courage der Ursachen gibt es mehrere. Essteckt der Wurm im Parlament, und Karlsruhe zerrt heftiger denn je an ihm und

    verlangt endlich Besserung, denn es stehe viel auf dem Spiel.Gegen den Lissabon-Vertragselbst hatte das Gericht im Prinzip nichts einzuwen-

    den. Gegen ihn gerichtete Klagen wies es ab. Verstndnislos stellte es aber fest, derGesetzgeber habe seine ureigenen Beteiligungsrechte an der Europapolitik nicht indem erforderlichen Umfang ausgestaltet. Karlsruhe sah sich mit Blick auf die Ar-tikel 38 und 23 GG auerstande, der im ersten Zustimmungsgesetz zum Lissabon-Vertragvom April 2008 vorgesehenen, finalen Selbstentmndigung des DeutschenBundestages (die der Bundesrat vier Wochen spter mit Zwei-Drittel-Mehrheitebenfalls gebilligt hatte) tatenlos zuzusehen.18

    Kurzum: Wenn die Abgeordneten zum Jagen getragen werden mten, so derTenor, sei das zwar unschn, doch mge es nun mit Nachhilfe des hchsten Ge-richts geschehen. Wenige Tage spter durfte der CSU-Politiker Peter Gauweiler,

    neben Gregor Gysi und Oskar Lafontaine19einer der Klger und eben noch ein inden eigenen Reihen argwhnisch beobachteter Einzelgnger, vom Kollegen Hans-Peter Friedrich unter Beifall das hchste denkbare Lob seiner Landesgruppe entge-gennehmen: Peter, Du hast unsere Ehre gerettet!20

    Auenminister a. D. Fischer wetterte dagegen, Karlsruhe passe die ganze euro-pische Integration, die Richtung nicht; das Urteil lese sich, als sei es entstanden ineiner Fraktionssitzung der britischen Konservativen, und dies in einer Zeit, in derdas Ausland ohnehin den Eindruck gewinne, Deutschland wende sich von Europaab. Am liebsten, so Fischer unter Verkennung der frheren Rechtsprechung Karls-

    16 Hans Sedlmaier: Wird der Euro scheitern? Focus Onlinevom 19. Februar 2009.17 Werner Mussler: Meine Schulden, deine Schulden. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom

    8. Mrz 2009.18 Nebenbei stellt Karlsruhe mit diesem Urteil die Ewigkeitsbehauptung des Maastricht-

    Vertragesin Frage, die eine Unumkehrbarkeit der Integrationsschritte der EWU vorsieht,einen Austritt aus der Euro-Zone als Mglichkeit ausschliet: Solche Integrationsschrittemssen von Verfassungs wegen durch den bertragungsakt sachlich begrenzt und prin-zipiell widerruflich sein. (BVerfGE vom 30. Juni 2009, Abs. 233)

    19 Gysi und Lafontaine hatten allerdings aus anderen Motiven geklagt als Gauweiler.

    20 CSU geht beim Lissabon-Vertrag auf Konfliktkurs Spiegel Onlinevom 02. Juli 2009.Nach diesem Bericht sagte der CSU-Umweltpolitiker Josef Gppel in der Sitzung derLandesgruppe, er schme sich dafr, dem Lissabon-Vertragzugestimmt zu haben.Quelle: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,634028,00.html

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    ruhes, htte das Gericht den Lissabon-Vertraggestoppt. Aus Angst vor der eigenenCourage habe es sich formal in das Begleitgesetz geflchtet. Das Urteil strkeaber nicht die Parlamente, sondern die nationalen Regierungen, denn die Realittenseien komplizierter als die Karlsruher Fiktionen.21

    Die Bundesregierung war ebenfalls nicht amsiert, schickte sich aber unter Ab-sonderung leiser Verwnschungen ins Unvermeidliche.22Beobachter gewannen denEindruck, nach Meinung der Regierung und erneut dpierter Fraktionsfhrer habedas Bundesverfassungsgericht endgltig berzogen; es sei hchste Zeit fr eine Be-schneidung seiner Macht, etwa durch eine neue Besetzungspolitik.

    Der Jurist Markus Kerber, Professor an der Technischen Universitt Berlin undeiner der Klger in Karlsruhe, vermag auch nach dem Urteil keinerlei Besserung beiden Abgeordneten zu erkennen. Sie htten nichts gelernt, sondern erneut zugelas-sen, da auch das neue Begleitgesetz durch den Bundestag gepeitscht werde. DasGesetzeswerk rausche wie gehabt an den meisten Abgeordneten vorbei. Allein der

    Europa-Ausschu sei in eine inhaltliche Beratung eingetreten, aber selbst diese ha-be nur zwei Stunden gedauert. Kerber: Dieses Verfahren ist eine Farce und eineBlamage fr das deutsche Parlament.23

    Der CDU-Auenpolitiker Willy Wimmer, der nach 33 Jahren Arbeit als Parla-mentarier im Herbst 2009 aus dem Bundestag ausschied, verlangte fr die nchste

    Wahlperiode die Einsetzung einer Enquete-Kommission, um sich mit der tatsch-lichen Rolle der Abgeordneten zu beschftigen, denn das kann so nicht weiter-gehen. Wimmer beklagt Fehlentwicklungen. Denen, die nach ihm kmen, msseman als frei gewhlten Abgeordneten mit grerem Respekt begegnen.

    Nachdem er als einziger in der Fraktion gegen die Entsendung der Bundeswehrnach Afghanistan gestimmt habe (wie spter auch als einziger CDU-Abgeordnetergegen den Lissabon-Vertrag), sei er mit Sanktionen belegt worden: Ich durfte nichtmehr reden, ich bekam Dienstreisen gestrichen und wurde durch die Fraktionsfh-rung isoliert. Solche Mechanismen, so der Konservative, trgen dazu bei, dassunser parlamentarisches System verkommt.24

    21 Lissabon-Urteil: Fischer attackiert Bundesverfassungsgericht. Die Zeitvom 9. Juli 2009.22 Die Konsequenzen aus dem Urteil hier herrschte bei CDU/CSU, SPD, FDP und

    Bndnis 90/Die Grnen weitgehende Einigkeit sind als Gesetzentwrfe nachzulesen in

    den Bundestagsdrucksachen 16/13923, 16/13924, 16/13925, 16/13926 und 16/13928.Die erste Lesung fand statt am 26. August 2009 (BtPPl 16/232 S. 26251 ff.); fr sie wurdedie Sommerpause unterbrochen, weil es (wieder) pressierte.

    23 Das Gesetzeswerk rauscht doch an den meisten Abgeordneten vorbei FrankfurterAllgemeine Zeitungvom 7. September 2009, S. 15.

    24 Das Parlament vom 13. Juli 2009. Weiter heit es im dort abgedruckten Interview mitWimmer, blickend auf seine Zeit im Bundestag seit 1976: Wir hatten, die vergangenenbeiden Bundestagswahlen zusammengenommen, einen Weggang von rund 70 Prozentder Abgeordneten. Das ist ein Aderlass, den man nicht hinnehmen kann. Ich bin fr fri-schen Wind im Parlament, aber ich bin gegen den Abbau von tradiertem Wissen. Der alteBundestag in Bonn legte grsseren Wert auf das Wissen gestandener Parlamentarier. Wir

    waren auch engagierter. Der alte Deutsche Bundestag hat sich als Parlament in derArbeit anders verstanden. Ich beobachte, dass sich auch die Qualitt der Ausschussar-beit verndert hat. Auf der Regierungsseite gibt es einen Parallelprozess. Im alten Bonnkann ich mich nicht an so schludrige Gesetzentwrfe erinnern wie hier in Berlin.

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    2.2 Beschreibung des Studiengegenstands

    Diese politikwissenschaftliche Arbeit befat sich mit einem klassischen Gegen-stand: Legitimitt. Sie geht mit einer Reihe von Fallstudien der Frage nach, inwie-

    weit die Einfhrung des Euro in Deutschland ausreichend demokratisch legitimiertist materiell, in der demokratischen Substanz, nicht lediglich mittels abzuarbei-tender Formalitten. Durften die Politiker das, was sie da getan haben? War esnicht nur korrekt, sondern auch nach bestem Wissen und Gewissen richtig?

    Die Rekonstruktion hat die politischen Ablufe innerhalb der BundesrepublikDeutschland zum Gegenstand, die zur Aufgabe der D-Mark und der Einfhrungdes Euro fhrten: Motive und Strategien der politischen Akteure, die Probleme, mitdenen sie sich konfrontiert sahen, ihre Lsungsversuche, ihre individuelle Sicht undDeutung der Ereignisse der zurckliegenden 22 Jahre, wobei der Schwerpunkt derUntersuchung liegt auf den vier Jahren 1995 bis 1998, der entscheidenden Phase

    der innenpolitischen Auseinandersetzung um die Whrungsunion.Haben die mageblichen Politiker und Gremien die immanenten Legitimitts-

    schranken (Johannes Winckelmann) beachtet? Oder haben sie sie berschrittenund dadurch irrational und illegitim gehandelt legal und doch nicht korrekt imSinne des demokratischen Prinzips, wie es in Artikel 20 des Grundgesetzes veran-kert ist? Konnte der Bundestag als laut Bundesverfassungsgericht primr Ver-antwortlicher fr die Herstellung von Legitimitt beim bergang in die dritteEWU-Stufe berhaupt unter den gegebenen Bedingungen Legitimitt schaffen?

    Es handelt sich nicht um eine juristische, volkswirtschaftliche oder psychologi-

    sche Untersuchung. Es geht nicht darum, ob die Einfhrung des Euro grundstz-lich eine gute Idee war. Es soll nicht untersucht werden, ob die Europische Wh-rungsunion einwandfrei vonstatten ging aus nationalkonomischer oder verfas-sungsrechtlicher Perspektive. Dazu gibt es viel Literatur.

    Nur gestreift werden die psychologischen Probleme der Umstellung auf eineneue Whrung, auch wenn solche Aspekte an einigen Stellen hineinwirken, weil sieden anhaltenden Unwillen der Regierten wenigstens zum Teil erklren. Die genann-ten Felder wurden und werden von der Forschung ausfhrlich bearbeitet und dis-kutiert; es herrscht kein Mangel an Analysen, Meinungen, Mahnungen.

    Auch ein vielbeschriebenes und -beklagtes Demokratiedefizit auf der Ebene der

    Europischen Union ist zwar eine Voraussetzung fr die Fragestellung, aber nichtihr Thema, denn an Schriften und Diskussionsbeitrgen herrscht auch hier schonlange kein Mangel mehr. Die sukzessive Strkung der Rechte des EuropischenParlaments darf sogar als ein Ergebnis dieser Auseinandersetzung zwischen Politikund Wissenschaft betrachtet werden. Von einem folgenlosen Diskurs kann manalso an dieser Stelle nicht sprechen, auch wenn die Bemhungen um einen europi-schen Verfassungsvertrag scheiterten an den Volksabstimmungen in Frankreichund den Niederlanden und ersetzt werden muten durch den mhsam EU-weitratifizierten Lissabon-Vertrag. Die Staatskommunikationen in den beteiligten Ln-

    dern hatten weitgehend versagt.Die politischen Prozesse innerhalb der Bundesrepublik Deutschland im Hinblickauf die Entstehungsgeschichte des Euro erscheinen jedoch nur sehr selektiv er-

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    forscht. Offenbar ist der Euro fr die Parlaments- und Parteienforschung ,,nochviel zu neu.25Da eine Regierung im zuletzt weitgehenden Einvernehmen mitder Opposition mittels eines fast 14 Jahre dauernden Prozesses ein Projekt durch-setzt, das den Charakter des Landes verndert, ist fr sich schon ein bemerkens-

    wertes Ereignis.

    26

    Wenn dies zudem geschieht gegen den Willen einer Mehrheit derRegierten, ergeben sich Fragen:

    War das Vorgehen der Regierung und der sie tragenden Parteien legitim? Wie sind die wichtigsten Akteure vorgegangen? Was haben sie sich damals dabei gedacht, wie denken sie heute darber? Wie haben sie versucht, Legitimitt zu erzeugen oder zu erhhen? Warum weigerten sich die Spitzen von Regierung undOpposition, einen er-

    kannten Mangel an Legitimitt durch eine Volksabstimmung zu beheben? Knnte alles am Mangel an ,,Legitimittsglauben (Max Weber) scheitern?

    2.3 Untersuchungs- und Recherchemethoden

    Leitfadengesttzte Zeitzeugen- und Experteninterviews: Motivforschung sttschnell an Grenzen. Erst recht gilt dies bei Politikern als Experten fr Motivver-schleierung. Dennoch liegt eine Chance, tatschliche Motive zu erkennen, in derdirekten Begegnung, im persnlichen Gesprch mit dem Akteur. Das Interviewschliet Fehldeutungen nicht aus, doch kann es anderen Erkenntnisquellen berle-gen sein. Die Dokumentation kann Dritten spter neue, vielleicht treffendere In-terpretationen vor einem neuen Erfahrungshorizont gestatten.

    Sofern die Betreffenden noch leben und ihr Erinnerungsvermgen ungetrbt ist,sind Interviews das Mittel der Wahl, um Schilderungen und Bewertungen aus ersterHand zu erhalten. Aus diesem Grund hat der Verfasser 32 Interviews mit Akteurenund Experten der Whrungsunion persnlich gefhrt, ihren Verlauf auf Tonbandaufgezeichnet, transkribiert und zur Autorisierung vorgelegt.27

    Ein Einwand, ein standardisierter Fragenkatalog htte (auch angesichts der Hete-rogenitt der Klientel) zu einer besseren Vergleichbarkeit der Interviewergebnissegefhrt, scheint begrndet, bersieht jedoch die Situation: Spitzenpolitiker wieKohl, Schuble, Genscher oder Lafontaine lassen sich so nicht behandeln, sondern

    wrden derart prparierte Gste nach wenigen Minuten aus dem Zimmer schicken.Auf diese Interviewpartner lt man sich entweder ein und reagiert situativ, kreistein Thema gegebenenfalls erst vorsichtig ein und stellt es beim Auftreten von Ab-

    wehrreaktionen auch einmal nach hinten oder man wird nicht weit kommen.28Das war bei der Methodenwahl zu bercksichtigen (Anm. 3).

    25 So die Auskunft der Kommission fr Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien(Telefonat mit dem Sekretariat in Bonn vom 08. April 2004).

    26 EU-Gipfel von Hannover im Juni 1988 bis Bargeldumtausch im Januar 2002.27 Ausnahme: Hans-Dietrich Genscher gestattete eine Bandaufzeichnung des Interviews

    nicht. Das Memo des Verfassers, entstanden anhand von Notizen, gab er nach eingehen-dem Feinschliff der Zitate frei.28 Nach Christel Hopf handelt es sich um einen Proze permanenter spontaner Operatio-

    nalisierung.

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    Standardisierter Fragebogen: Um die Entstehungsgeschichte des Euro aus derSicht des Gesetzgebers zu erkunden, wurde an alle Abgeordneten, auf die es hierankam, der 13. und 14. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages (1994 bis2002), zum Jahreswechsel 1999/2000 ein aus 30 Fragen bestehender Fragebogen

    verschickt. Einen bis auf Einzelformulierungen gleichen Fragebogen erhieltenzwecks Quervergleichs gleichzeitig die deutschen Abgeordneten im EuropischenParlament sowie die Abgeordneten des Hessischen Landtages. 414 Abgeordneteantworteten, was einer mittleren Rcklaufquote von 28,6 Prozent entspricht. Freine ausfhrliche Befragung sollte dies ein annehmbarer Wert sein.

    Viele Politiker machten von der Mglichkeit Gebrauch, den Fragebogen mitAnmerkungen und Kommentaren zu versehen.29Die Methode des persnlich ge-fhrten Interviews war bei 1448 zu befragenden Akteuren nur bei einzelnen Exper-ten und den Meinungsfhrern und Dissidenten in den Fraktionen anwendbar.

    Teilnehmende und nichtteilnehmende Beobachtung: Nicht-reaktive Methoden

    wandte der Verfasser an fr Parteiveranstaltungen oder Pressekonferenzen. Anschriftlichem Quellen wurden neben Literatur vor allem Bundestags- und Bundes-ratsprotokolle ausgewertet. Zeitlicher Ausgangspunkt der Untersuchung ist dasGenscher-Memorandumvom 26. Februar 1988.30Einzelne Entwicklungen und Texte

    wurden bis Dezember 2009 bercksichtigt. Sofern nichts anderes angegeben wird,beziehen sich bei Zitaten alle Funktionsangaben auf den Zeitpunkt der uerung.

    2.4 Entstehung und Arbeitsbedingungen

    Der empirische Untersuchungsteil entstand zwischen Februar 1998 und Sommer2003. Ausgangspunkt war die Frage, wie das Bundespresseamt versucht hat, Legi-timitt durch Erhhung der Zustimmungswerte zum Euro herzustellen, um eineErosion der Macht von Bundeskanzler Helmut Kohl auf diesem Feld abzuwehren.

    Im Zuge der Recherchen fanden sich Hinweise, die auf Mngel bei der Behand-lung der Thematik durch den Bundestag deuteten: Kritiker und Gegner der EWU

    wrden, so berichteten einige Euro-Kritiker, durch eine Art Schweigespirale isoliertund stumm gemacht, was der gesamten gesellschaftlichen Euro-Diskussion elemen-tar schade, die demokratische Qualitt des Entscheidungsprozesses fragwrdig er-scheinen lasse und nur schlimm enden knne.31

    Dieser Vorwurf wurde als so gravierend empfunden, da ihm der Verfassernachgehen wollte auch um den Preis einer zeitraubenden Ausweitung des Unter-suchungsgegenstandes. Ergebnis: Eine Schweigespirale nach Elisabeth Noelle-Neumann existierte entweder hchstens in einem sehr speziellen Sinn. Oder sie

    29 Es antworteten 20,3 Prozent der Bundestagsabgeordneten der 13. und 14. Wahlperiode,27,9 Prozent der deutschen Europaabgeordneten und 38,2 Prozent der hessischen Land-tagsabgeordneten.

    30 Faksimile mit freundlicher Genehmigung des Verfassers im Anhang abgedruckt.

    31 Ausfhrlich dazu der Aufsatz von Liesel Hartenstein (MdB/SPD): Das Wagnis Euro kein Bravourstck der Demokratie. Hartenstein klagt, eine offene und ffentliche, breitangelegten Debatte sei zwischen 1992 und 1997 nicht gefhrt worden. Dabei handelees sich um ein nicht entschuldbares Versumnis der Politik. S. 54 (1998).

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    existierte lehrbuchkonform, lie sich aber mit den Methoden des Verfassers nichtnachweisen, da sich etwaige Urheber oder Opfer auch im auf Wunsch anonymretournierten Fragebogen nicht outeten (Anm. 4). Von Einzelfllen abgesehen,blieben solche Darlegungen aus. Die Abgeordneten der fr den Euro wichtigsten

    zwei Wahlperioden bekennen sich zumindest rckblickend zur Whrungsunionund ihrer Rolle als Wegbereiter.Nein: Das Problem der demokratischen Legitimation erwies sich als komplizier-

    ter. Weniger zwischenmenschlicher Druck, ausgebt in gruppendynamischen Pro-zessen, als vielmehr das Grundprinzip einer Europapolitik, bei der Bundestag undBundesrat regelmig nur Vorgaben der Exekutive alternativlos nachvollziehendrfen, bewirkte nach Meinung vieler Abgeordneten eine erhebliche, demokratie-theoretisch bedenkliche Einschrnkung ihrer Entscheidungsfreiheit. Das verbandsich mit einer Delegation der Prfung der EWU an wenige, als kompetent erachteteKollegen. Unter den Abgeordneten herrschte Null Bock auf gar nichts, wie Liesel

    Hartenstein es ungehalten umschrieb.32Die ueren Arbeitsbedingungen dieser Untersuchung waren gnstig und hin-

    derlich zugleich. Als politischer Korrespondent mit Sitz in einem Studio in unmit-telbarer Nachbarschaft zu Kanzleramt, Bundestag, Bundesrat und Bundespresse-amt begegneten dem Verfasser zahlreiche Akteure regelmig im Bonner und sp-ter im Berliner Regierungsviertel. Hufig hatten Pressetermine, Hintergrundgespr-che und sonstige Veranstaltungen seinerzeit den Euro ohnehin zum Gegenstand.Man mute eine Flle von Informationen zunchst nur sammeln und sortieren.

    Es gab jedoch auch Hindernisse. Die Analyse eines politischen Vorgangs, der

    noch nicht abgeschlossen ist, im laufenden Betrieb, trifft bei den Akteuren nichtimmer auf Gegenliebe. Manche fhlten sich beobachtet und von der Arbeit ab-gehalten. Auch der unvermeidliche Hinweis, man arbeite im Hauptberuf als Journa-list, lste manchmal reservierte Reaktionen aus (Anm. 5). Alles in allem waren die

    Voraussetzungen in Bonn bei diesem Thema aber recht gut.Um Dritten eine mglicherweise treffendere Interpretation der erarbeiteten

    Quellen zu ermglichen, werden der Wortlaut der Interviews sowie der Fragebo-genrcklauf33gerne auf Anfrage fr wissenschaftliche Zwecke auf Datentrger zur

    Verfgung gestellt.34Aus Platzgrnden sind im Anhang nur die Interviews der da-maligen Parteivorsitzenden Kohl, Waigel und Lafontaine komplett dokumentiert;

    die Seitenzahlen in den Funoten beziehen sich auf das vorliegende Buch. Die Sei-tenzahlverweise in Klammern zu allen brigen Interviews des Verfassers (mit Zeit-angabe, falls mehrere Interviews mit derselben Person gefhrt wurden) meinen diejeweiligen, hier nicht wiedergegebenen Originalabschriften.

    32 Vgl. Burkhard Hirsch in einem Brief an den Verfasser vom 04. Januar 2000 (Auszgezitiert in Kapitel 3.4).

    33 MS-Word- und -Excel-Format. Einzelne Fragebgen wurden auf Wunsch anonymisiert.34 Unter Bercksichtigung der von den Teilnehmern verlangten und ihnen zugesicherten

    Einschrnkungen. Eine Verffentlichung der Interviews und Daten sowie Aktualisierun-gen auf www.zwangsumtausch.eu werden bei entsprechender Nachfrage erwogen. DieOriginaltonbnder sollen von Einzelfllen abgesehen zum gegebenen Zeitpunkt eben-falls fr wissenschaftliche Zwecke zugnglich gemacht werden.

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    2.5 Vorlufer der Europischen Whrungsunion

    Die gemeinsame Whrung fr Europa hat eine Reihe von neuzeitlichen Vorbil-dern und Vorlufern: Mehrere Mnz- und Papiergeldvereinheitlichungen im

    Deutschland des 19. Jahrhunderts, die Lateinische Mnzunion, die SkandinavischeMnzunion, die Schaffung einer Einheitswhrung in der belgisch-luxemburgischenWirtschaftsunion seit 1921, die Eingliederung sterreichs in das deutsche Wh-rungsgebiet 1938, die deutsch-deutsche Whrungsunion von 1990.

    Die meisten alten Whrungsunionen sind aber aus unterschiedlichen Grndengescheitert manche bereits nach wenigen Jahren, andere nach Jahrzehnten.35

    Immer, wenn eine monetre Union nicht zugleich eine vollstndige politischeUnion war, kam sie nach einer Studie von Theresia Theurl nicht hinaus ber dasStadium eines temporren monetren Arrangements und lste sich frher oderspter auf. Whrungsunionen, die mit einer totalen politischen Unifikation ihrer

    Mitglieder einhergingen, erwiesen sich dagegen als irreversibel, wobei Unifikationzwar eine notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung darstellte.36

    Das Gelingen einer monetren Verschmelzung von Volkswirtschaften ist also anVoraussetzungen geknpft, die sich nicht ohne weiteres einstellen. Haltbarkeit er-gibt sich nicht von selbst. Dies gilt besonders fr den hier untersuchten Vorgang.

    Teilnehmerstaaten knnen sich nun nicht mehr nach Belieben verschulden, son-dern sind an die Bedingungen des Maastrichter Vertrages gebunden, der Obergren-zen fr die jhrliche jeweilige Neuverschuldung diktiert und im Wege eines mitt-lerweile stark aufgeweichten ,,Stabilittspaktes dauerhaft festschreibt. Auch liegt

    das Ausma der Inflationsbekmpfung mit Hilfe der Justierung des Leitzinses nunnicht mehr in nationaler Souvernitt. Damit entfllt fr die Regierungen eine Mg-lichkeit, sich via Geldentwertung mit Blick auf die Staatsverschuldung schleichend,aber wirksam zu entlasten.

    Wechselkurse, klassisches nationales Instrument zur Beeinflussung der Export-chancen, knnen seit Inkrafttreten der EWU am 1. Januar 1999 nicht mehr inner-halb von Zielzonen schwanken, sondern wurden unwiderruflich, wie es in Ar-tikel 109g des Maastricht-Vertrages heit auf der Grundlage des ECU-

    Whrungskorbes in einer logischen Sekunde auf fnf Stellen hinter dem Kommafr die gesamte Euro-Zone festgelegt.37

    Unterschiede in den Entwicklungen der einzelnen Volkswirtschaften knnenseitdem nicht mehr durch Anpassungen der Wechselkurse ausgeglichen werden.

    35 Die Skandinavische Mnzunion (1872 bis 1931) scheiterte nach 59 Jahren, die LateinischeMnzunion (1865 bis 1927) nach 62 Jahren.

    36 Vgl. Theresia Theurl: Eine gemeinsame Whrung fr Europa: 12 Lehren aus der Ge-schichte, 1992. Die Autorin warnte, eine Irreversibilitt der EWU sei angesichts des zudiesem Zeitpunkt (1992) absehbaren Grades an politischer Integration der EU keines-

    wegs gesichert. Der Euro-Kritiker Wilhelm Hankel nennt aus historischer Sicht eine

    durchschnittliche Haltbarkeit von Whrungsunionen von zwlf bis 15 Jahren. ,,Solangegebe ich auch in etwa dem Euro. (Interview mit Wilhelm Hankel in der Berliner Zeitungvom 04. Oktober 2001).

    37 Die Vertragstexte von Maastricht, S. 192 (1996).

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    Die Whrungsunion ist damit weit mehr als ein finanztechnisches Projekt. Siedurchdringt den Alltag smtlicher Einwohnerinnen und Einwohner der Eurozoneund darber hinaus.

    Sollte sich eine Erwartung erfllen, nach der der Euro den US-Dollar als Weltre-

    servewhrung auf lngere Sicht ablsen oder ihm zumindest ernsthaft Konkurrenzmachen kann Anzeichen dafr mehren sich, auch wenn derzeit nach einer vielbe-achteten chinesischen Intervention gegen den US-Dollar als Leitwhrung mehrber IWF-SZR (Sonderziehungsrechte) gesprochen wird , wrden Konsequenzenfr die Menschen in allen Erdteilen sprbar. Schwankungen des Eurokurses gegen-ber der jeweiligen einheimischen Whrung htten fr die Lebensumstnde welt-

    weit hnliche Folgen wie heute Schwankungen des Dollarkurses.Der Vertrag von Maastricht und seine Weiterungen ist somit eines der folgen-

    reichsten Kapitel bundesdeutscher Politik. Trotzdem war die Einfhrung des Euround die damit einhergehende Abschaffung der D-Mark ber weite Strecken eine

    Angelegenheit der Exekutive. Der Vertreter des Souverns, der Bundestag, spielteentgegen allen Mahnungen und Vorgaben aus Karlsruhe nur eine Nebenrolle undbestimmte zu keinem Zeitpunkt Tempo oder Regeln.

    Das deutsche Parlament zog sich grtenteils zurck auf eine Rolle als Notar undnachtrglich arbeitender Kontrolleur. Einzelne Abgeordnete haben dies kritisiert,fanden aber meist nicht einmal in den eigenen Reihen nennenswerte Untersttzung

    zumindest nicht in Bonn, am damaligen Sitz der Regierung, auch wenn sich 1997,im Jahr vor dem Beschlu ber den Eintritt in die dritte Stufe, allein in der SPD-Fraktion angeblich bis zu 100 Abgeordnete schwer taten mit dem Vorhaben.38

    Anders als in anderen EU-Lndern war zu keinem Zeitpunkt eine Volksabstim-mung ber die Teilnahme an der EWU vorgesehen. Eine zaghafte Diskussiondarber kam in Deutschland erst lange nach der vlkerrechtlich bindenden Unter-zeichnung des Vertrages von Maastricht auf und verlief im Sande.

    Bundeskanzler Kohl bekmpfte entsprechende Vorste, indem er ihren Urhe-bern angebliche unliebsame Folgen bei Problembereichen vor Augen hielt, von de-nen er vermutete, da sie den Befrwortern eines Referendums am Herzen liegen:,,Ich kann nicht an einem Punkt Abstimmungen verlangen und etwa in der Frageder Auslnderpolitik, um es einmal ganz konkret zu sagen, eine solche Entschei-dung nicht herbeifhren. Auerdem seien Bundestagswahlen ,,die drastischste

    Volksabstimmung, die es gibt zu diesem Thema.39Bundesfinanzminister Theo Waigel sekundierte, das Bundesverfassungsgericht

    habe bei der Frage der Ausweisung atomwaffenfreier Zonen solche Befragungen

    38 Der SPD-Bundestagsabgeordnete Dieter Schloten berichtete dem Verfasser: ,,Viele beiuns haben den Euro skeptisch gesehen und die Unterzeichnung [meines Aufrufes von1997, den Zeitplan einzuhalten] abgelehnt, etwa 80 bis 100 Kolleginnen und Kollegen.

    Also die Begeisterung in der SPD-Bundestagsfraktion fr die EWU die war gemigt. ...

    Die Euro-Skepsis vieler meiner Kolleginnen und Kollegen spiegelte eine Haltung der Ba-sis in den Wahlkreisen gegenber dem Euro. (Vgl. Kapitel 10.4)39 Bundeskanzler Kohl in der Abschlupressekonferenz nach einer CDU-CSU-

    Klausurtagung in Wildbad Kreuth, 27. Januar 1996 (Abschrift nach Bandaufnahme).

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    ,,klipp und klar fr unzulssig erklrt ,,und bei der Entscheidung bleibt es. 40SPD-Politiker kritisierten, die Regierungskoalition habe einen Volksentscheid ver-hindert, indem sie nach der Wiedervereinigung einen SPD-Vorsto zur Verfas-sungsreform abgeblockt habe.41

    Doch Kohl und Waigel waren berzeugt: Eine Volksabstimmung ber den Eurowrde negativ ausgehen.42Das Beispiel Dnemark und das sehr knappe Resultat inFrankreich bestrkten sie in dieser Befrchtung. Der Bundesrat verschaffte sich aufdem Feld der EWU zwar mehr Einflu und sicherte sich ihn dauerhaft durch eine

    nderung des Grundgesetzes, vermochte aber letztlich an den Vorgaben der Bun-desregierung ebenso wenig zu rtteln wie der Bundestag.

    2.6 Geldkreislauf eine nie endende Volksabstimmung

    Auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens konnte sich der Euro in Deutsch-

    land zu keinem Zeitpunkt der politischen Auseinandersetzung sttzen. Ob er sichheute, elf Jahre nach seiner technischen Einfhrung, eingestellt hat, ist offen. Manbenutzt ihn mangels Alternative, aber man liebt ihn augenscheinlich nicht. Der Eu-ro blieb wie andere europische Entwrfe, etwa Verfassungsvertrag oder EU-Erweiterungen bis zur Bargeldumstellung und lnger ein Projekt der Eliten.

    In den Jahren der innenpolitischen Auseinandersetzung um das Schicksal der D-Mark zeigten die meisten demoskopischen Untersuchungen, da die Zahl derjeni-gen Brgerinnen und Brger, die die Whrungsunion ablehnen oder ihr skeptischgegenberstehen, grer ist als die derjenigen, die die Abschaffung der D-Mark

    und die Einfhrung des Euro begren.43

    Beispiel Herbst 1998: Bereits das Auftreten des neuen BundesfinanzministersOskar Lafontaine mit seinen Forderungen nach einer Zinssenkung und politischerSteuerung der Europischen Zentralbank irritierte Brgerinnen und Brger undbelebte Zweifel an der Stabilitt des Euro.44Besonders unsicher in ihrer Einstellung

    waren ltere Menschen. Wer 65 Jahre oder lter war, reagierte sensibler auf eurore-40 Waigel in derselben Kreuther Pressekonferenz wie vor (Abschrift nach Bandaufnahme).41 Heidemarie Wieczorek-Zeul in einer Pressemitteilung vom 12. Februar 1998.42 Interview mit Helmut Kohl, S. 285; Theo Waigel zum Verfasser am 3. Februar 2003.

    43 Das Institut fr Demoskopie Allensbachfragte im Frhjahr 2003: Wie gro ist Ihr Vertrauenin den Euro? Antworten: Habe groes Vertrauen 29 Prozent, Weniger Vertrauen 44Prozent, Kaum, gar kein Vertrauen 16 Prozent, Unentschieden 11 Prozent (n = 1013Befragte ab 16 Jahre). Verffentlicht in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitungvom 08. Juni2003, S. 29. Polis/Usumafragte im Herbst 2003: Halten Sie die Einfhrung des Euro inDeutschland vor bald zwei Jahren fr falsch oder richtig? Antworten: falsch 57 Pro-zent, ,,richtig 41 Prozent, keine Angabe 2 Prozent (Focus39/2003, S. 11).

    44 Vgl. Handelsblatt vom 13./14. November 1998, S. 9: Lafontaines Vorsto schwcht dasVertrauen in den Euro: ,,War das Krfteverhltnis zwischen Euro-Befrwortern und Eu-ro-Gegnern in Deutschland im Oktober [1998] mit jeweils 43 Prozent noch ausgeglichen,so haben nun die Skeptiker wieder Oberwasser: 44 Prozent der Deutschen sprechen sich

    gegen die Gemeinschaftswhrung aus, untersttzt wird sie nur noch von 40 Prozent, un-ter Berufung auf eine Erhebung des Psephos-Institutes fr Wahlforschung und Sozialwissenschaft,Potsdam. Telefonumfrage unter 1005 wahlberechtigten Deutschen ber 18 Jahre. Erhe-bungszeitraum: 5. bis 11. November 1998.

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    levante Nachrichten als jngere. Verbale Aktivitten eines einzelnen Politikers ver-ursachten Rckschlge im Vertrauen; der Rcktritt dieses Politikers erzeugte dem-gegenber einen Kurssprung des Euro gegenber dem Dollar, was auf Mitrauenauch unter professionellen Marktteilnehmern schlieen lie.

    Der Medienanalyst Roland Schatz wies anhand statistischer Auswertungen eineberdurchschnittlich direkte Korrelation von Tendenzen der Presseberichterstat-tung mit der (bald darauf reagierenden) Stimmung der Bevlkerung nach. Ein stabi-les, fundiertes Meinungsbild gegenber der neuen Whrung existierte nicht.45

    Die Euphorie der Mrkte in den Tagen nach Neujahr 1999, als Kommentatorenvon einem ,,fulminanten Start der neuen Whrung sprachen, war nach zwei Wo-chen verflogen und machte Platz fr Auseinandersetzungen, wer oder was schuldsei an immer neuen Tiefstnden gegenber dem US-Dollar. Umgekehrt rgertensich Euro-Befrworter, eine Erhhung des Auenwertes des Euro (etwa 2004 mitneuen Tiefstmarken der US-Whrung) werde lediglich zur Kenntnis genommen,

    ndere aber nichts an der Empfnglichkeit fr ungnstige Nachrichten.Zerbrechlich nannte Wolfgang Clement 1999 als Ministerprsident von Nord-

    rhein-Westfalen Erhhungen der Zustimmungsraten: ,,Weil der Euro den ehrgeizi-gen Versuch unternimmt, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu bannen.46

    Bis zur Jahrtausendwende hatten die Politiker die Hoffnung, die Materialisierungdes neuen Geldes, die Gewhnung an den Euro, die Erfahrung von Vorteilen etwaim Urlaub werde zu einer nachtrglichen Legitimierung der Entscheidung fhren.Im brigen vertraute man auf die normative Kraft des Faktischen. Mangels aussa-gekrftiger Untersuchungen ist die Frage im Moment offen. Auffllig ist allerdings,

    wie weit die EWU-Akzeptanzwerte in den Bevlkerungen der Euro-Zone laut Eu-robarometerregelmig auseinandergehen, sofern im Einzelfall danach gefragt wurde.Und steigende Preise gelten europaweit mit weitem Abstand als grtes Problem

    weit vor Arbeitslosigkeit.47Akzeptanz ist die Zwillingsschwester der Legitimitt. Wo Akzeptanz ist, ist Legi-

    timitt nicht weit. Entweder war sie bereits vorher da oder sie wird demnchsteintreffen. Und umgekehrt: Wo Legitimitt schwindet, wird auch die Akzeptanznicht von Dauer sein. Eine Whrung, speziell eine neue, unerprobte, ist existentiellauf Akzeptanz angewiesen. Geld, das nicht oder erst nach lngeren Diskussionenangenommen wird, erleidet einen Wertverlust und wird bald von Ersatzwhrungen

    verdrngt, wie es weltweit seit der Erfindung des Geldes vielfach geschehen ist.48Der Akzeptanztest findet mit jedem Bezahlvorgang und damit tglich millionen-

    fach statt, mit jedem Kauf oder Verkauf einer Ware oder Dienstleistung. Unbe-

    45 Medien-Tenor01. Oktober 1996 bis 24. Februar 1997, verffentlicht in MT-Forschungsbericht

    4. Jahrgang Nr. 58 vom 15. Mrz 1997. Danach lieen sich nur noch Kohl, Waigel unddie Banken (Nur die, die mssen) pro Euro zitieren, whrend der Zweifel Konjunkturhabe, sogar in internationalen, angesehenen Zeitungen. So erklrte Herausgeber RolandSchatz eine wieder skeptischere Haltung der Bevlkerung.

    46 Frankfurter Allgemeine Zeitungvom 22. Mrz 1999, S. 15.47 Vgl. Eurobarometerder Europischen Kommission, Ausgaben 66 bis 70.48 Zu den groen Inflationen in Deutschland und ihren traumatischen Folgen fr das kol-

    lektive Bewutsein der Deutschen vgl. Spiegel Special02/98, S. 70.

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    wut, wenn es sich wie seinerzeit bei der D-Mark um eine bekannte und be-whrte Whrung handelt, sehr bewut, wenn es die handelnden Subjekte mit ihnenunbekannten, ungewohnten oder suspekten Whrungen (auch Ersatzwhrungen,etwa Zigaretten) zu tun bekommen.49Dabei kann es geschehen, da gestern noch

    problemlos akzeptierte Whrungen pltzlich nicht mehr oder nur noch einge-schrnkt akzeptiert werden oder da frher gering geachtete Whrungen im Wertsteigen, etwa, weil die Wirtschaftskraft des bezogenen Landes gestiegen ist.

    Der Akzeptanztest kommt niemals zum Stillstand, sondern begleitet eine Wh-rung whrend der gesamten Dauer ihrer Existenz. Es handelt sich um einen quasibasisdemokratischen Vorgang, da jeder, der Geld ausgibt oder annimmt, immer

    wieder teilnimmt und durch sein Handeln abstimmt.50

    2.7 Gesellschaftliche Brisanz der Whrungsfrage

    Politische, wirtschaftliche oder monetre Krisen, die von der Bevlkerung zuRecht oder zu Unrecht in einen kausalen Zusammenhang mit dem Euro gebracht

    wrden Lohndumping, Abbau von Sozialleistungen, Verfall von Binnen- oderAuenwert der Whrung, Rezession, weitere Verschrfung der Arbeitslosigkeitoder hnliches knnten, wie das Schicksal der Weimar Republik zeigt, unmittel-bar oder mittelbar einen Delegitimierungsproze des politischen Systems auslsenoder einen bereits laufenden verstrken.

    Das Vertrauen der Menschen in das Urteilsvermgen ihrer politischen Klassewrde im Falle einer vermeintlich oder tatschlich whrungsinduzierten Krise lei-

    den etwa in dem Sinne: Wenn sie schon glauben, den Euro ,,von oben durchset-zen (Wolfgang Clement51), die D-Mark ber die Kpfe der Brger hinweg(Gnter Verheugen52) abschaffen zu drfen, dann verlangen die Brger unausge-sprochen, da sie genau wissen, was sie da tun und wehe, es erweist sich irgend-

    wann das Gegenteil (Anm. 6).53Scheitern darf der Euro auch nach Meinung seiner

    49 Die Akzeptanzprobleme der Euro-Geldscheine sind Legion und werden im Alltag als fastselbstverstndliche Unannehmlichkeit hingenommen. So ist eine 500-Euro-Note weitge-hend unbrauchbar und ihre Verwendung vielerorts eine Mglichkeit, Bekanntschaft mitder Polizei zu machen, weil man in Verdacht gert, mit Falschgeld zu hantieren. Stellen-

    weise kann man bereits mit 200- und 100-Euro-Noten scheitern.50 Insofern ist die von den Euro-Protagonisten gerne ins Feld gefhrte Beobachtung, dieBargeldumstellung zur Jahreswende 2001/2002 sei vllig problemlos verlaufen, das neueGeld ohne Murren, ja vielerorts sogar frhlich akzeptiert worden, angesichts des Zeit-raumes, um den es geht (unbegrenzt, postulieren die Urheber der EWU doch Irreversibi-litt), nur eine Momentaufnahme.

    51 ,,Clement mahnte, die Europische Whrungsunion msse die letzte europische Reformsein, die gewissermaen von oben durchgesetzt worden sei. (AFP-Meldung vom14. September 2000)

    52 Sddeutsche Zeitungvom 02. September 2000, S. 14; vgl. Kap. 2.9.53 Vgl. Viktoria Kaina: Elitenvertrauen und Demokratie. Die Produktion von Legitimitt sei

    nach der Wiedervereinigung schwieriger geworden; das strukturelle Spannungsverhltniszwischen autonomen Entscheidungsrumen von Eliten und der Legitimation ihres Han-delns verschrfe sich. Das super-reprsentative Institutionensystem der Bundesrepublikgerate unter Anpassungsdruck im Hinblick auf eine Aufnahme plebiszitrer Elemente.

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    Protagonisten wie Jrgen Stark, damals Staatssekretr und wichtigster Euroexpertedes Bundesfinanzministeriums, auf keinen Fall:

    Wir haben nur einen Schu frei. Zu viel steht auf dem Spiel, als da wir unseinen Fehlschu erlauben knnten. Die WWU eignet sich nicht fr eine Stra-tegie des trial and error.54

    Sollte das mentale Akzeptanzdefizit tatschlich einhergehen mit einem Legitimi-ttsdefizit, knnte dies in kritischen Situationen konomische und politische Ge-fahren heraufbeschwren, die sich wechselseitig hochschaukeln.

    Eine bestandene Volksabstimmung htte dieses Problem gelst, zumindest ent-schrft: Referenz-Objekt einer eventuell als solche empfundenen Fehlentscheidung

    wre im Krisenfall nicht mehr allein eine Elite, sondern in erster Linie die Bevlke-rung selbst, hat sie doch mehrheitlich zugestimmt.55Die Politik htte das Volk inMithaftung nehmen knnen. Doch das erschien ihr zu riskant.

    Man sollte deshalb meinen, das Akzeptanzdefizit htte die Bundesregierungalarmieren und zu grten Anstrengungen zwecks Behebung veranlassen mssen.Doch das war nur eingeschrnkt der Fall. Bundeskanzler Kohl kannte den Mangelan Zustimmung zum Euro aus den regelmigen Analysen des Referates III 3 desBundespresseamtes genau.56Renate Kcher, Geschftsfhrerin des Institutes fr De-moskopie Allensbach, reiste regelmig nach Bonn ins Kanzleramt, um Kohl dieStimmungslage der Nation zu erlutern (Allensbach wurde seit 1951 von CDU-Kanzlern bevorzugt). Dadurch wute Kohl auch ber seine Chancen in der Bun-destagswahl 1998 Bescheid. Eine professionelle und wirkungsvoll ausgestattetePro-Euro-Kampagne brachte das dem Kanzleramt zugeordnete Bundespresseamt

    jedoch trotz jahrelanger Bemhungen nicht zu Stande (Anm. 7).Als Kohl klar wurde, da er nicht mehr mit einem Stimmungsumschwung rech-nen durfte, deutete er die Durchsetzung des Projektes um in ein Paradebeispiel po-litischer Fhrung durch den Bundeskanzler (Anm. 8). Dieser htten sich andereInstitutionen und Personen unterzuordnen: Als es mit dem bayerischen Minister-prsidenten Edmund Stoiber Streit gab um die Auslegung der Defizitkriterien und

    54 Zitat aus Manuskript eines Vortrags von Jrgen Stark Die Wirtschafts- und Whrungs-

    union aus deutscher Sicht, S. 52 (1996).55 Damit lt sich auch erklren, warum die Menschen in den neuen Bundeslndern ihrevielfltigen Enttuschungen (bisher jedenfalls) mehrheitlich vergleichsweise geduldig hin-nehmen, haben sie sich doch in einer Volksabstimmung als solche darf man die Volks-kammerwahlen vom 18. Mrz 1990 betrachten fr den Beitritt entschieden (vgl. BerlinerZeitungvom 19. Mrz 1990: Erste freie Wahlen zur Volkskammer der DDR Eine klareMehrheit fr die schnelle deutsche Einheit).

    56 In Wolfgang Gibowski hatte Kohl sogar einen fhrenden Meinungsforscher von der For-schungsgruppe Wahlenins Bundespresseamt geholt, diesen spter aber kaltgestellt. Als sp-tere Reaktion auf den Mangel an Euro-Akzeptanz erinnerte Kohl an seine Erfahrungenbei der Durchsetzung anderer umstrittener Plne gegen den erbitterten Widerstand gesell-

    schaftlicher Gruppen: ,,Die Stationierung von Pershing-Raketen war Voraussetzung frdie Deutsche Einheit. Htte ich damals auf die Kirchen gehrt, htten wir die deutscheEinheit nicht bekommen. (Kohl in der Pressekonferenz nach einer CDU-CSU-Klausurtagung in Wildbad Kreuth am 27. Januar 1996 Abschrift nach Bandaufnahme)

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    die Bedeutung der abschlieenden Stellungnahme der Bundesbank, stellte Kohlklar, das letzte Wort habe die Regierung und nicht die Bundesbank.57

    Kohl spielte va banque: Ob der Kanzler einen auf die Spitze getriebenen Konfliktmit der vom Volk verehrten Bundesbank politisch berlebt htte, mute nach allen

    Erfahrungen als hchst unsicher gelten, was Kohl natrlich wute. Doch nichtKohl lenkte im letzten Moment ein, sondern die Bundesbank. Vielleicht war esKohl auch schon egal angesichts der sich bereits abzeichnenden Wahlniederlage.58

    Die politische Klasse Deutschlands knnte schlielich aus dem Verfahren, wiedie Whrungsunion gegen den Willen der Bevlkerungsmehrheit durchgesetzt wer-den konnte, den gefhrlichen Schlu ziehen, das Bemhen um Akzeptanz sei in derpostmodernen Gesellschaft bei nur hinreichend komplexen Problemstellungen undausreichend hohem Anteil an Fait-accompli-Komponenten la Maastricht-Vertragberflssig geworden, weil es inzwischen reiche, die jeweils thematisch relevantenEliten auf ihre Seite zu ziehen. Und dies, obwohl Karlsruhe wiederholt die solitre

    Rolle von demokratischen Willensbildungs- und Wahlakten betont hat: Das de-mokratische Prinzip ist nicht abwgungsfhig; es ist unantastbar.59

    Mit dem ersten Karlsruher Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 wurde diezentrale Verantwortung des Bundestages fr den weiteren Ablauf der deutschenBeteiligung an der EWU hchstrichterlich besttigt und bekrftigt. Doch wasscheinbar klare Verhltnisse schuf, erweist sich bei nherer Betrachtung als Musterohne Wert. Die Diskussion, wie weit der Einflu des Bundestages im konkretenFall, bei der Einfhrung des Euro, tatschlich ging oder htte gehen knnen undbis zu welchem Zeitpunkt welche Einflumglichkeit gegeben war, endete nicht

    mit dieser Entscheidung, sondern begann. Trotz ihrer Bedeutung blieb sie auf ei-nen kleinen Kreis von Juristen beschrnkt, und diese erkannten mehrheitlich einenBundestag, dem, wie im folgenden gezeigt wird, in der EWU-Frage ab 1993 dieHnde gebunden waren ungeachtet der Fallhhe des Gegenstands.

    2.8 Geldbesitz als Frage der persnlichen Sicherheit

    Politische Entscheidungen brauchen Legitimitt. Dies gilt um so mehr, je tiefereine politische Entscheidung in das Leben der Regierten eingreift. Ein sehr tieferEingriff war die Aufgabe der nationalen Whrung zugunsten einer neuen, suprana-

    tionalen, der freiwillige Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf ein zentralesElement nationaler Souvernitt.

    Das Whrungssystem ist zentraler Bestandteil der geltenden Herrschaftsordnung.Es durchdringt den Alltag und bestimmt die materiellen Grundlagen von Gegen-

    wart und Zukunft aller Mitglieder des jeweiligen Whrungsraumes.60Niemand, der

    57 Bonner General-Anzeigervom 21. Februar 1998, S. 1.58 Vgl. Interview mit Helmut Kohl, S. 294.59 Vgl. BVerfGE vom 30. Juni 2009, Absatz 216.

    60 Bundesbank-Pressesprecher Manfred Krber rechnete vor, eine Erhhung der Inflations-rate um einen Prozentpunkt bedeute einen Kapitalverlust von 45 Milliarden D-Mark frdie Inhaber von Sparguthaben (Memo des Verfassers einer Informationsveranstaltung derFrankfurter Sparkasse von 1822im November 1996 in Hofheim am Taunus).

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    hier lebt, kann ihm ausweichen. Als entsprechend elementar werden Whrungsfra-gen, etwa im Hinblick auf den knftigen Geldwert, von den Menschen empfunden.

    Folgerichtig bildete die Whrungspolitik zu Lebzeiten der D-Mark ein wichtigesSegment der deutschen Innenpolitik; sie konnte hitzige Debatten etwa ber Auf-

    oder Nichtaufwertung der D-Mark und sogar Kabinettsumbildungen auslsen.

    61

    Der Soziologe Georg Simmel erklrt dieses Phnomen wie folgt:

    Das Gefhl der persnlichen Sicherheit, das der Geldbesitz gewhrt, ist viel-leicht die konzentrierteste und zugespitzteste Form und uerung des Ver-trauens auf die staatlich-gesellschaftliche Organisation und Ordnung.62

    Wer den Menschen etwas wegnehmen will, das in ihren Augen bisher hervorra-gend funktioniert hat, braucht dafr sehr gute Grnde. Das ist eine Voraussetzungfr die Tatsache, da das Projekt der EWU seit Ende der 80er Jahre, als es konkretzu werden begann, so gut wie ununterbrochen unter einem Mangel an Akzeptanzin der Bevlkerung litt, der sich regelmig in Umfragen etwa der EuropischenKommission (Eurobarometer) niederschlug. Kohls Staatskommunikation (Her-mann Hill), mit der sein Bundespresseamt in den Jahren 1994 bis 1998 Ablehnungin Zustimmung verwandeln wollte, hat versagt.63

    Ein zentrales politisches Projekt dieser Regierung mit tiefgreifenden Folgen frden Alltag aller (damaligen und seinerzeit zuknftigen) Besitzer von D-Mark wurde

    vorbereitet und durchgesetzt gegen den vielfach in Umfragen dokumentiertenMehrheitswillen der Regierten. Diese sahen eine Notwendigkeit nicht. Vielmehr

    war die Vermutung verbreitet, ohne Not werde die D-Mark auf dem Altar Europasgeopfert. Es geschah nach Schilderung der Akteure ohne Zwang, freiwillig. An den

    Grad der Legitimitt des deutschen Beitritts zur EWU sind damit nach Ulrich K.Preuss besonders hohe Anforderungen zu stellen:64

    Gerade weil die Gemeinschaft ein freiwilliger Zusammenschlu von Staatenund den in ihnen politisch organisierten Vlkern ist, steht ihre Legitimitt untereinem viel hheren Leistungs- und Erwartungsdruck als diese Staatenselbst.65

    61 Der Streit um den Auenwert der D-Mark im Jahre 1972 gilt als Auslser des Rcktrittsvon Bundeswirtschafts- und Finanzminister (Superminister) Karl Schiller. 1957 und1960 hatte sich diesbezglich bereits Vorgnger Ludwig Erhard heftige Auseinanderset-

    zungen mit der Bundesbank geliefert.62 Zitiert nach Peter M. Schmidhuber: Die Europische Wirtschafts- und Whrungsunionund das Problem der Glaubwrdigkeit, S. 199 (1998).

    63 Einzelheiten in: Hill, Hermann, Staatskommunikation, 1993.64 Die demokratische Legitimation der Alltagsentscheidungen der Zentralbanken frher

    der Deutschen Bundesbank, heute der Europischen Zentralbank etwa im Hinblick aufZinsstze oder Interventionen am Devisenmarkt wird in der Wissenschaft diskutiert. Soerkennt etwa Frauke Brosius-Gersdorf ein Legitimationsdefizit der Bundesbank sowohlpersonell als auch sachlich-inhaltlich, sieht es aber verfassungsrechtlich gerechtfertigtdurch Art. 88 i. V. m. Art. 23 GG. [Frauke Brosius-Gersdorf: Deutsche Bundesbank undDemokratieprinzip, S. 400 (1997)]. Danach ist das ein legales Legitimittsdefizit.

    65 Transit Europische Revue, Heft 17. Insofern, so Preuss weiter, stehe die Legitimationdurch Effizienz durchaus gleichberechtigt neben der durch Zustimmung es handelesich ,,um zwei verschiedene Sulen eines europischen Konsenses. Anmerkung des Ver-fassers: Dieses Sulenbild erscheint nach Preuss eigener Argumentation nicht schlssig.

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    Wir haben es also mit vier Faktoren zu tun, die den an die Qualitt des Legitimie-rungsprozesses anzulegenden Mastab verschrfen:

    Hohe Zufriedenheit mit dem vorhanden Zustand Hohe Relevanz fr das Leben der Bevlkerung auf unabsehbare Zeit Hohe Ablehnungsquoten gegenber der geplanten Vernderung Ursprnglich hoher Grad an Freiwilligkeit des Projektes66

    Genauso wenig, wie eine politische Entscheidung bereits per se legitim ist, wennsie sich auf eine von der Demoskopie festgestellte Untersttzung der Bevlkerungsttzen kann, wird sie in einem reprsentativen System automatisch illegitim, wenndiese Untersttzung im konkreten Fall fehlt.

    Die Nachkriegsgeschichte kennt Grundsatzentscheidungen, die gegen den (ur-sprnglichen) Willen eines Groteils der Bevlkerung und wichtiger gesellschaftli-cher Gruppen durchgesetzt worden sind, etwa die Westbindung der Bundesrepu-

    blik in den 50er und die NATO-Nachrstung in den 80er Jahren. Anders als imFalle der EWU wurden beide Schritte jedoch nachtrglich in Wahlkmpfern explizitthematisiert und in Bundestagswahlen implizit sanktioniert. Die Whler gabenKonrad Adenauer 1953 und 1957 Mehrheiten.67Helmut Kohl durfte aus dem Er-gebnis der Bundestagswahl 1983 Zustimmung fr seinen Nachrstungskurs heraus-lesen, mit dem Vorgnger Helmut Schmidt (an der eigenen Partei) gescheitert war.68

    Man knnte einwenden, mit der Zurckweisung der Verfassungsklagen gegen dieTeilnahme Deutschlands an der EWU, sptestens mit den zustimmenden Ent-scheidungen von Bundestag und Bundesrat, allersptestens mit dem Scheitern der

    Anti-Euro-Parteien bei der Bundestagswahl 1998 sei die Frage nach der Legitimittbeantwortet. Eine solche Betrachtung wrde den hier besonders hohen Legitimi-ttsanforderungen, die sich aus der Tragweite der politischen Entscheidung unddem Widerstand der Bevlkerung ergeben, jedoch nicht gerecht.

    Es lohnt ein Blick in die Feinheiten. Karlsruhe hat sich in seinem Beschlu vom31. Mrz 1998 eine inhaltlich-materielle Prfung des Euro-Beitritts weitgehend ver-sagt und auf eine Beschreibung der Spielrume von Bundesregierung und Bundes-tag beschrnkt. Verantwortlich fr die bertragung der Whrungshoheit und die

    Wenn es in erster Linie Effizienzerwgungen sind, die die EU zusammenhalten, dann

    wrde die Sule Zustimmung sofort zerbrckeln, sobald die Effizienzerwartungen derBevlkerung enttuscht werden. In Wirklichkeit drfte es sich also um ein und dieselbeSule handeln, bestehend aus zwei Bauelementen Zustimmung und ,,Effizienz ohneEffizienz keine Zustimmung mehr. Speziell in Whrungsfragen drfte auch gelten: OhneZustimmung irgendwann keine Effizienz mehr.

    66 An ein Projekt, das die meisten Menschen nur am Rande berhrt, dessen Vorlufer nachallgemeiner Wahrnehmung nur unzureichend funktioniert, dem man ausweichen oder dasjederzeit rckgngig gemacht werden knnte, drfte man einen weniger strengen Legiti-mittsmastab anlegen.

    67 1957 erhielt die Union sogar die absolute Mehrheit der Mandate und der Stimmen.68 Im Sinne von Seymour Martin Lipset ist es dem politischen System also gelungen, auf

    einem zentralen Feld seiner Arbeit aktiv zu seiner Anerkennung als legitim beizutragen.Aus diffuser Untersttzung wurde ,,spezifische (David Easton) ein Phnomen, dasvon den Akteuren im Falle des Euro immer erhofft wurde, aber bislang zumindest inDeutschland nicht nachhaltig eingetreten ist.

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    Fortentwicklung durch eine nderung ihrer vertraglichen Grundlagen sei gemArtikel 23 Absatz 1 Grundgesetz primr der Gesetzgeber, fr den Vollzug desVertrages primr die Bundesregierung. Der Whrungsumtausch finde in Artikel88 Satz 2 Grundgesetz ,,sowie in der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat

    zum Maastricht-Vertrag ... eine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage.Der Vertrag erffne ,,Einschtzungs-, Bewertungs- und Prognoserume:

    Die Beurteilung der Entwicklungen fordert Analysen und Voraussagen mittelspraktischer Vernunft, die sich nur annhernd auf Erfahrungswissen sttzenknnen.69

    Die verantwortlichen Organe, so der Zweite Senat weiter, htten Entscheidungenzu treffen, ,,in denen sich Tatsachenfeststellungen, Erfahrungswerte und willentli-ches Gestalten in flieenden bergngen mischen. Endgltige Sicherheit knne esspeziell im Hinblick auf die Sicherung des knftigen Geldwertes nicht geben, son-dern lediglich ,,eine Einschtzung nach Wahrscheinlichkeit, so der einstimmig ge-fate Beschlu. Angesichts dieser Sachlage, so das Gericht, seien die Befugnisseklar durch Artikel 23 des Grundgesetzes geregelt:

    In diesem Bereich rechtlich offener Tatbestnde zwischen konomischer Er-kenntnis und politischer Gestaltung weist das Grundgesetz die Entschei-dungsverantwortlichkeiten Regierung und Parlament zu.70

    Sofern sie die Regeln ,,praktischer Vernunft beachteten, htten Regierung undParlament einen groen Ermessensspielraum, ob und unter welchen Voraussetzun-gen sie die Hoheit ber die in Deutschland gltige Whrung in neue Hnde legen.

    Mit ihrer Berufung auf ethische Kategorien erffneten die Richter ein weites

    Feld. Carl Schmitt warnte 1926 angesichts der Krisen der Weimarer Republikvor ei-ner Zerstrung der ideellen Voraussetzungen des Parlamentarismus durch Entfall

    von Diskussion, ffentlichkeit, Reprsentation.711993 machte Karlsruhe der Poli-tik sehr allgemeine und interpretationsbedrftige Vorgaben. Um so mehr ist zuprfen, inwieweit die Abgeordneten wenigstens diese Minimalvorgaben erfllt ha-ben, erfllen konnten. Forscher betrachten die Bedingungen, unter denen die Ab-geordneten arbeiten, jedoch mit Skepsis.

    2.9 Europa-Politik des Bundestages geht am Stock

    Hans H. Klein erkennt eine atemberaubende Einbue an politischer Steue-rungsfhigkeit, die der Bundestag im entgrenzten Verfassungsstaat erlitten habeund fortschreitend erleide. Trotz ihrer Machtlosigkeit werde die nationale Politiknach wie vor fr alles, was schieflaufe, von den Brgern verantwortlich gemacht der Bundestag hrter als die Regierung, da diese sich noch wenigstens als Akteurauf supra- und internationaler Ebene prsentieren knne.72

    69 BVerfGE in den Verfahren 2 BvR 1877/97 und 2 BvR 50/98 vom 31. Mrz 1998, S. 12.

    70 Ebenda, S. 13.71 Vgl. Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.72 Hans H. Klein, Bundesverfassungsrichter a. D.: Entmachtung der Parlamente. Frankfurter

    Allgemeine Zeitungvom 29. November 2004, S. 8.

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    Stefan Marschall stellt ebenfalls fest, die nationalen Parlamente mten auf Ent-wicklungen reagieren, die sie nicht beeinflussen knnten: Ihre Spielrume werdeneingeschrnkt, nicht jedoch ihre Verantwortlichkeit. Nationale Volksvertretungen

    wrden zu schwachen Organisationen, ,,die nicht mehr steuern knnen73, zu

    governments without governance.

    74

    Dadurch wrden die Volksvertretungen zumVerlierer im Mehrebenenspiel.75Die Entgrenzung der Politik sprenge den Be-zug zwischen Politikbetroffenen und Politikgestaltenden, zwischen Reprsentiertenund Reprsentanten und damit das Kernstck parlamentarischer Reprsentation.76

    Sven Hlscheidt sieht den Bundestag in EU-Angelegenheiten leiden an Desin-formation durch berinformation.77

    Fr Klaus v