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Working Paper Series Global and European Studies Institute at the University of Leipzig No 3 Stefan Troebst Diktaturerinnerung und Geschichtskultur im östlichen und südlichen Europa Ein Vergleich der Vergleiche Leipziger Universitätsverlag

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Working Paper SeriesGlobal and European Studies Institute

at the University of Leipzig

No 3

Stefan Troebst

Diktaturerinnerung und Geschichtskultur im östlichen und südlichen EuropaEin Vergleich der Vergleiche

Leipziger Universitätsverlag

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Stefan Troebst

Diktakturerinnerung und Geschichtskultur im östlichen und südlichen EuropaEin Vergleich der Vergleiche

Working PaPer SerieS global and european Studies institute at the University of Leipzig | no 3

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Stefan TroebstDiktaturerinnerung und Geschichtskultur im östlichen und südlichen EuropaEin Vergleich der Vergleiche

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© Leipziger Universitätsverlag GmbH, Leipzig 2010

Oststraße 41, 04317 Leipzig

www.univerlag-leipzig.de

Umschlaggestaltung und Satz: Antje Zettler, Leipzig

Druck: Merkur - Druck- und Kopierzentrum GmbH Leipzig

ISBN: 978 - 3 - 86583 - 349 - 5

ISSN: 1869 - 4829

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Einleitung 7

Diktaktur(erinnerungs)vergleich 9

Begriffsbestimmungsexkurs:Geschichtskultur,GeschichtspolitikundErinnerungskultur 16

„NichttotalitäreMilitärdiktatur“:HannahArendtsimpliziterOst-Süd-Diktaturvergleich 20

„ModernesnichtdemokratischesRegime“:JuanJ.Linz’undAlfredStepansexplizitereuropäischerOst-Süd-Diktatur-und-Transitionsvergleich 22

„DefekteDemokratien“und„liberale“?:WolfgangMerkelsTransitionsvergleich 30

RegionalisierungenundRankings 34

Unpolitisch,„historisch“undethnokulturell:PostdiktatorischeRegionalisierungsmusterimEurovisionSongContest 40

EuropäisierungderDiktaturbewältigung?PaneuropäischeInstitutionenalsGeneratorengesamteuropäischerGeschichtspolitik 42

Süd-undosteuropäische(Diktaturenund)DiktaturerinnerungenimVergleich:EineZwischenbilanz 45

Schluss 49

DerAutor 51

Inhalt

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DIktaturerInnerung unD geschIchtskultur Im östlIchen unD süDlIchen europa

eIn VergleIch Der VergleIche

Stefan Troebst

Einleitung

DerfranzösischePolitikwissenschaftlerMauriceDuvergerwurde1951europaweitdurchdas „Duverger’sche Gesetz“ bekannt, demzufolge ein System einfacher Mehrheit inEinerwahlkreisendieHerausbildungeinesZweiparteiensystemsbegünstigt.1ZehnJahrespäterjedochveröffentlichteder1917geboreneSozialdemokrateinmit„Deladictature“betiteltes Buch, in dem er nicht trockene sozialwissenschaftliche Wahlstatistik trieb,sonderneinenemotionalen,gardramatischenTonanschlug:

„DieDiktaturbedrohtständigunsereGeneration:wirsindesschongewohnt,dasssieunswieeinwildesTierbeschleicht,dessenBrüllenunsinderNachtaufschreckenlässt,dasunssonahekommt,dasswirmanchmalseinenAtemverspüren.JederAbschnittunseresLebensistdurcheineTyranneigekennzeichnet.MussolinibetratdasCapitol,alswirnochmitGlaskugelnspielten;Hitlerkam,alswirimJünglingsalterstanden;FrancoundPétaintratenauf,alswirjungeMännerwaren;dieVolksdemokratienentstanden,alswirdenWegderReifebeschritten;dannwarendieMilitärsdesMittlerenOstensanderReihe,schließlichdieunseren.“2

Gemeint ist natürlich die Gründung der Fünften Republik mit ihren diktatorischenVollmachtenfürdenStaatspräsidenten.Duvergerporträtierthierdie„BestieDiktatur“alsgesamteuropäischesPhänomen–alseinRaubtier,das1945mitnichtenerlegtwurde

� Duverger, Maurice:Lespartispolitique.Paris�95�(dt.alsDiePolitischenParteien.Hg.undübers.vonSiegfriedLandshut.Tübingen�959).

� Duverger, Maurice:ÜberdieDiktatur.Übers.vonJeanKomaromi.Wien�96�,7(franz.OriginalDeladicta-ture.Paris�96�).

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undauchseitdemseinUnwesenkeinesfallsnurimsowjetischenHegemonialbereichtrieb.Neben dem transnationalen Charakter der Diktatur als Herrschaftsform macht er diegenerationellePrägungderErfahrungderDiktaturundderständigenBedrohungdurchsiedeutlich.UndseineChronologie,beginnendmitMussolini1922undHitler1933überFranco1939undPétain1940,nimmtDeGaulle1958zuihremFluchtpunkt.

InDuvergersPerspektivedesJahres1961wardieDiktaturgefahrinEuropaendemisch,ubiquitärundpermanent.DasnimmtsichfastfünfzigJahrespäter,zuBeginndes21.Jahrhunderts, zwar partiell anders aus, im Rückblick auf das 20. Jahrhundert – unddabeiauchundgeradeaufdieZeitnach1961–abernicht:PortugalundSpanienwarendamals ebenso Diktaturen wie die Sowjetunion, die übrigenWarschauer Pakt-StaatensowiedasJugoslawienJosipBroz-TitosunddasAlbanienEnverHoxhas;1967errichteteeineMilitärjunta einbis1974währendesdiktatorischesRegime inGriechenland;von1987bis2000herrschteSlobodanMiloševićdiktatorischüberSerbien;seit1990stehtderOstteilMoldovasunterderWillkürherrschaft einer spätsowjetischenFunktionärs-,Manager-undGeheimdienstclique;und1994 etablierteAljaksandrLukašėnka einbisheuteanhaltendesautoritär-repressivesPräsidialregimeinBelarus’.DiktaturistinEuropaalsokeinPhänomenderVergangenheit–undihregesellschaftlicheAufarbeitungschongarnicht.

SinnundZweckdieserStudieisteindoppelter:ZumeinensollsieeinenÜberblicküberTheorien,Methoden,KategorisierungenundRegionalisierungendesDiktaturvergleichssowie vor allem des Vergleichs von postdiktatorischen Bewältigungs- undErinnerungsmodisamteinschlägigerFachliteraturundForschungsansätzengeben–mitdemSchwerpunktaufdemsüdlichenunddemöstlichenEuropa.Zumanderenwerdenaktuelle süd-,ost-undgesamteuropäischeEntwicklungen inderDiktaturaufarbeitungbeschriebenund analysiert.Dabei dienendie politikwissenschaftlichenKomparations-undUntersuchungsmodellezuDiktaturenundDemokratisierungsmusternvonHannahArendt,JuanJ.LinzundAlfredStepansowieWolfgangMerkel,diesämtlicherstaunlich„historisch“argumentieren,alsBezugsrahmenundReibungsflächenzugleich.

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Diktatur(erinnerungs)vergleich

DassvontraumatischenKollektiverfahrungengeprägteGenerationen–sieheprototypischDuverger!–ihrerseitsdieErinnerungskulturenvonNationalgesellschaftenprägen,zeigtdervergleichendeBlickaufEuropa: ImWest-undNordeuropaderGegenwart istdieErinnerungandiktatorischeRegimeund/oderandieBesatzungdurcheinefremdeMachtim Verblassen; nur noch wenige der heute Lebenden haben Mussolinis Faschismus,das Vichy-Regime oder die nationalsozialistische Besatzung Norwegens miterlebt.AndersSüd-undOsteuropa:EtwadieHälfteallerGriechen,PortugiesenundSpanierkann sich an die bis in die Mitte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhundertsherrschenden Diktaturen lebhaft erinnern, und noch höher ist der Prozentsatzderjenigen, die in den „durchherrschten“ Gesellschaften der Sowjetunion und derübrigenWarschauer-Pakt-StaatensowieAlbaniensundJugoslawiensaufgewachsensind.Hierin liegt also eine Gemeinsamkeit, die den südlichenTeil der „Westeuropäer“ mitden„Osteuropäern“verbindetundwelchersiezugleichvomnördlichen–glücklicheren?– Teil der „Westeuropäer“ unterscheidet. Neben der Nord-Süd-Barriere, welche dieErinnerungskulturenEuropasseit1945in„West“und„Ost“separiert,garnachHolocaust-ErinnerungundGULag-Gedächtnis sortiert,unddemOstmitteleuropavonderGUStrennendenJalta-Stalingrad-Graben3gibtesalsonochmindestenseineweitereTrennlinie,diedenKontinenterinnerungskulturellunterteilt,undzwarineinimaginäres„Zentrum“sowieinmehrere„Peripherien“.Undebenzweidieser„Peripherien“,dieöstlicheunddiesüdliche,habendieErinnerungandiktatorischeRegime,dieerstvorzweibisdreieinhalbJahrzehntenkollabiertsind,gemeinsam.

Carola Sachse und Edgar Wolfrum haben unlängst im Kontext eines größerenForschungsvorhabens zu Diktaturüberwindung und Zivilgesellschaft in Europa einendetailliertenKatalogzubeantwortenderFragenzudiesemForschungsfeldaufgestellt:

� Maier,CharlesS.:HeissesundkaltesGedächtnis.ZurpolitischenHalbwertzeitdesfaschistischenundkommunistischenGedächtnisses.In:Transit.EuropäischeRevue��(�00�/�00�),�5�–�65;TroebsT,Stefan:HolodomoroderHolocaust?In:FrankfurterAllgemeineZeitungNr.�5�vom4.Juli�005,8;Ders.:JaltaversusStalingrad,GULagversusHolocaust.KonfligierendeErinnerungskulturenimgrößerenEuropa.In:BerlinerJournalfürSoziologie�5,�(�005),�8�–400;ackerMann,Ulrike:DasgespalteneGedenken.EinegesamteuropäischeErinnerungskulturistnochnichtinSicht.In:InternationalePolitik6�,5(�006),44–48;Winkler,Heinrich-August:ErinnerungsweltenimWiderstreit.EuropaslangerWegzueinemgemein-samenBildvonJahrhundertderExtreme.In:AntisemitismusundErinnerungskulturenimpostkommu-nistischenEuropa.Hg.vonBerndkauffMannundBasilkerski.Osnabrück�006,�05–��6.

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„AufwelcheErinnerungengreifteineGesamtheitvonMenschen,diesichnachdemZusammenbrucheinerzuvorgemeinsam,aberdifferenterfahrenenDiktaturinnerhalbderaltenoderneuenGrenzenbefindet,zurück,wennesdarumgeht,einedenneuenVerhältnissenangemesseneundzukünftigverbindlichenationaleIdentitätzukonstruierenodereinneuesnationalesSelbstbildzukreieren?WelcheGeschichtenwerdenalserinnernswertundfürdieBegründungderNationalsfundamentalerachtet,welchewerdenverworfen?WelcheBedeutunghabendabeidienochfrischenErinnerungenandiediktatorischeVergangenheit,werdensiewachgehaltenoderimGegenteileherausgeklammert?InwelcherWeisegeschiehtdaseineoderdasandereundwiewerdendieunmittelbarenErfahrungenvonIndividuenberücksichtigt?WelchegesellschaftlichenAkteuretretenbeidiesemUnternehmenindenVordergrund:derStaat,dieRegierung,dieZivilgesellschaftinihrenaltenoderneuenOrganisationsstrukturen,Intellektuelle,Parteien,Medien,Bildungsinstitutionen?WelcheRollespielendie‚Täter’,diegroßenundkleinenTrägerdesaltenHerrschaftssystems,diemeistumUnsichtbarkeitbemühtsind?InwelcherWeisekommendieOpferzuWort,dieihrerfahrenesLeidinGefängnissen,Lagern,psychiatrischenAnstaltenoderalsFolgevonstaatlicheveranlasstenoderlegitimiertenDiskriminierungenundentgangenenLebenschancenanerkanntwissenmöchten?WerbeanspruchtmitwelcherBegründung,Opferzusein,undwerwirdvonseinemgesellschaftlichenUmfeldalssolchesanerkanntoderaucherneutstigmatisiert?“4

Undweiter:

„Wererinnertsich?Waswirderinnert?Wasnicht?[…]WiestehtesumaktivesVergessenundgezieltesVerdrängen?GibtesGegengedächtnisseundwiekönnensiesichartikulieren?WarumwidersprechenErinnerungenvonZeitgenossenundintergenerationelleFamiliengedächtnissehäufigdenErgebnissenhistorischerRecherchen?WieverändernsichErinnernundVergessenimZeitverlaufundimVerhältniszusozialenEntwicklungen,politischenEntscheidungen,justiziellenUrteilenundexekutivenMaßnahmenwieetwaderBestrafungoderAmnestierungvonTäternoderRestitutionvonbestimmten,zuvornichtberücksichtigenOpfergruppen?“5

4 sachse,Carola/WolfruM,Edgar:StürzendeDenkmäler.NationaleSelbstbilderpostdiktatorischerGesell-schafteninEuropa–Einleitung.In:NationenundihreSelbstbilder.PostdiktatorischeGesellschafteninEuropa.Hg.vonReginafriTz,CarolasachseundEdgarWolfruM:Göttingen�008,7–�5,hier��.

5 Ebd.,��-�4.

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MachtmansichandieÜbertragungdiesesumfangreichen(undmitnichtenvollständigen)Katalogs auf die genannten „peripheren“ Diktaturen Süd- und Osteuropas, an dasAuslotendes jeweiligenStellenwertsdieserFragen in staatlicherGeschichtspolitikundzivilgesellschaftlicher Erinnerungskultur in den mittlerweile demokratisierten bzw.den sich noch demokratisierenden Gesellschaften, gar an den Vergleich sowohl derdiktatorischenVergangenheitenalsauchderpostdiktatorischenGegenwarten,sogleichtdies „Sondierungen in einem unübersichtlichem Gelände“.6 Zwar gibt es zahlreichegeistes- und sozialwissenschaftliche Studien zur Geschichte europäischer Diktaturen,darunterauchsolchemitkomparativemAnspruch,dochliegtderSchwerpunkthierbeiganzüberwiegendaufderGegenüberstellungvonNationalsozialismusundStalinismusbzw.Sowjetkommunismus.7DiestaatssozialistischenRegimesowjetischenTypuswerdenzwar gelegentlich auchuntereinander,nichthingegenmitdenDiktaturenSüdeuropasverglichen–voneinigenwenigengewichtigenAusnahmenabgesehen,aufdiedieSprachenoch kommen wird. Andere Darstellungen und Sammelwerke konzentrieren sich aufnationale Fälle in Ost- oder Südeuropa, mitunter auch in Ost- und Südeuropa, ohnejedoch explizite Vergleiche vorzunehmen8, wobei auch hier etliche Ausnahmen, vor

6 könig,Helmut:StatteinerEinleitung:EuropasGedächtnis.SondierungenineinemunübersichtlichenGe-lände.In:EuropasGedächtnis.DasneueEuropazwischennationalenErinnerungenundgemeinsamerIdentität.Hg.vonDeMs.,Julia schMiDTundManfredsicking.Bielefeld�008,9–�7.Sieheauch Ders.:VonderDiktaturzurDemokratieoderWasistVergangenheitsbewältigung.In:VergangenheitsbewältigungamEndedeszwanzigstenJahrhunderts.Hg.vonDeMs.,MichaelkohlsTruckundAndreasWöll.Wiesbaden�998,�7�–�9�(=Sonderheft�8vonLeviathan).

7 SiehedazudieProblemaufrissevonsTeinbach,Peter:ZurWahrnehmungvonDiktaturenim�0.Jahr-hundert.In:AusPolitikundZeitgeschichte5�–5�(�00�),�6-4�;Ders.:Diktaturenim�0.Jahrhundert–Kategorien,Vergleiche,Probleme.In:DerBürgerimStaat56,�(�006),�40–�48(dass.in:LangeSchatten.BewältigungvonDiktaturen.Hg.vonAngelaborgsTeDT,SiegfriedfrechundMichaelsTolle.schWalbach/Ts.�007,�7–47),undschMiechen-ackerMann,Detlev:MöglichkeitenundGrenzendesDikta-turvergleichs.In:TotalitarismusundDemokratie�,�(�005),�5–�8,sowiediekonziseDarstellungvonDeMs.:DiktaturenimVergleich.Darmstadt�00�[��006].Vgl.außerdemgeyer, Michael/fiTzpaTrick,Sheila(Hg.):BeyondTotalitarianism.StalinismandNazismCompared.Cambridge�009;baberoWski,Jörg/Do-ering-ManTeuffel,Anselm:OrdnungdurchTerror.GewaltexzesseundVernichtungimnationalsozialis-tischenundimstalinistischenImperium.Bonn�006;heyDeMann,Günther/oberreuTer,Heinrich(Hg.):DiktatureninDeutschland–Vergleichsaspekte.Strukturen,InstitutionenundVerhaltensweisen.Bonn�00�;Diner,Dan:GedächtnisundErkenntnis.NationalsozialismusundStalinismusimVergleich.In:Ost-europa50,6(�000),698–708;beyrau,Dietrich:NationalsozialistischesRegimeundStalin-System.EinriskanterVergleich.Ebd.,709–7�0;kershaW,Ian/leWin,Moshe(Hg.):StalinismandNazism.DictatorshipsinComparison.Cambridge�997;kühnharDT,Ludgeru.a.(Hg.):DiedoppeltedeutscheDiktaturerfah-rung.DrittesReichundDDR–einhistorisch-politikwissenschaftlicherVergleich.Frankfurta.M.[��996]undbrooker,Paul:Twentieth-CenturyDictatorships.TheIdeologicalOne-PartyStates.Houndsmill�995.ExzentrischdazuWipperMann,Wolfgang:DämonisierungdurchVergleich.DDRundDrittesReich.Berlin�009.

8 Soetwaborejsza,JerzyW./zieMer,Klaus(Hg.):TotalitarianandAuthoritarianRegimesinEurope.LegaciesandLessonsfromtheTwentiethCentury.NewYork/NY-Oxford�006oderbesier,Gerhard,unterMitar-

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allem zu Polen und Spanien9, die Regel dadurch bestätigen, dass sie das Fehlen vonVergleichen mit anderen Fallbeispielen und Kontrollgruppen umso deutlicher zutagetreten lassen. Ähnlich dürftig ist der Forschungsstand bezüglich eines europa-, garweltweitenVergleichesvonDiktaturerinnerungen10einschließlichDiktaturaufarbeitungs-bzw. -bewältigungsstrategien11 sowie postdiktatorischen Erinnerungskulturen undNostalgiephänomenen:AuchhierstehenderNationalsozialismusundderStalinismusbzw.dieErinnerungansieimZentrumdesInteresses,nebendemitalienischemFaschismusundseinermemorialenBedeutung12,underneutwerdennationaleFälleinderRegellediglichnebeneinander gestellt, nicht transnational, großregional, europaweit, transkontinentaloder global verglichen.13 Bemerkenswert ist dabei der mittlerweile beträchtliche

beitvonKatarzynasTokłosa:DasEuropaderDiktaturen.EineneueGeschichtedes�0.Jahrhunderts.München�006.

9 SiehedazudieindenFußnoten,�0,7�–75und80zitierteLiteratur.�0 Der�00�vorgeschlageneNeologismus„Diktaturerinnerungsvergleich“hatsich,wennmander

SuchmaschineGoogleglaubendarf(letzterZugriffvom�4.Februar�0�0),bislangungeachtetseinerHandlichkeitnichtdurchgesetzt.Vgl.TroebsT,Stefan:„Diktaturerinnerungsvergleich”.EineEinführung.In:Diktaturbewältigung,ErinnerungspolitikundGeschichtskulturinPolenundSpanien.Hg.vonDeMs.München�00�,�–�0(=ThemenheftvonJahrbuchfüreuropäischeGeschichte4[�00�])sowieDers.:„Diktaturerinnerungsvergleich”.In:DiktaturbewältigungundnationaleSelbstvergewisserung.Ge-schichtskultureninPolenundSpanienimVergleich.Hg.vonKrzysztofruchnieWiczundStefanTroebsT. Wrocław�004,�7–�5.

�� Aufschlussreiche,datranseuropäischvergleichendeAusnahmenmitgeschichtskulturellenBezügensindfleschenberg,Andrea:VergangenheitsaufklärungdurchAktenöffnunginDeutschlandundPortu-gal.Münster�004,undvorallem(zurSlowakeiundPolen)kneuer,Marianne:DemokratisierungdurchdieEU.Süd-undOstmitteleuropaimVergleich.Wiesbaden�007.Siehejetztauchtransatlantischver-gleichendkerscher,Daniel:DemokratisierunginSüdosteuropaunddenAndenländern.DieFragilitätdesVerfassungs-undRechtsstaatesinAlbanien,Bulgarien,Ecuador,Peru,RumänienundVenezuela.Hamburg�009.

�� SiehedieprofundenEinführungenvoncornelissen,Christoph/klinkhaMMer, Lutz/schWenTker,Wolfgang:NationaleErinnerungskulturenseit�945imVergleich.In:Erinnerungskulturen.Deutschland,ItalienundJapanseit�945.Hg.vonDens.Frankfurta.M.�00�,9–�7undWelzer,Harald/lenz,Claudia:OpainEuropa.ErsteBefundeeinervergleichendenTradierungsforschung.In:DerKriegderErinnerung.Holocaust,KollaborationundWiderstandimeuropäischenGedächtnis.Hg.vonHaraldWelzer.Frank-furta.M.�007,7–40.Vgl.auchcornelissen,Christoph:ZurErforschungvonErinnerungskultureninWest-undOsteuropa.MethodenundFragestellungen.In:Diktatur–Krieg–Vertreibung.Erinnerungs-kultureninTschechien,derSlowakeiundDeutschlandseit�945.Hg.vonDeMs.,RomanholecundJiřípešek.Essen�005,�5–44sowielangenohl,Andreas:MemoryinPost-AuthoritarianSocieties.In:CulturalMemoryStudies.AnInternationalandInterdisciplinaryHandbook.Hg.vonAstrid erll undAnsgarnünning.Berlin-NewYork/NY�008,�6�–�7�.

�� SiehedieeinschlägigenSammelbändevonhaMMersTein,Katrin/MählerT,Ulrich/Trappe,Julie/WolfruM,Edgar(Hg.):AufarbeitungderDiktatur–DiktaturderAufarbeitung?NormierungsprozessebeimUm-gangmitdiktatorischerVergangenheit.Göttingen�009;besier,Gerhard/sTokłosa,Katarzyna(Hg.):Ge-schichtsbilderindenpostdiktatorischenLändernEuropas.AufderSuchenachhistorisch-politischenIdentitäten.Berlin�009;grossbölTing,Thomas,DirkhofMann(Hg.):VergangenheitinderGegenwart.VomUmgangmitDiktaturerfahrungeninOst-undWesteuropa.Göttingen�008;friTz/sachse/WolfruM�008(wieAnm.4);faulenbach, Bernd/jelich,Franz-Josef(Hg.):„Transformationen“derErinnerungs-

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VorsprungdererinnerungskulturellenForschungzumöstlichenEuropavorderjenigenzuanderenTeilendesKontinents.14WasdenVergleichbzw.genauer:dieJuxtapositionbetrifft,sodominierthierganzeindeutigdieKomparationsfoliedesNationalsozialismus,

kultureninEuropanach�989.Essen�006;borejsza/zieMer 2006(wieAnm.8),hierbes.TeilIV;leboW,RichardNed/kansTeiner,Wulf/fogu,Claudio(Hg.):ThePoliticsofMemoryinPostwarEurope.Durham/NC-London�006;kenkMann, Alfons/ziMMer, Hasko(Hg.):NachKriegenundDiktaturen.UmgangmitVergangenheitalsinternationalesProblem–BilanzenundPerspektivenfürdas��.Jahrhundert.Essen�005;rousso,Henry(Hg.):StalinismandNazism.HistoryandMemoryCompared.Lincoln/NE-London�004(franz.OriginalStalinismeetnazisme:Histoireetmémoirecomparées.Bruxelles�999);lenz, Claudia/schMiDT,Jens/von WrocheM, Oliver(Hg.):ErinnerungskulturenimDialog.EuropäischePerspekti-venaufdieNS-Vergangenheit.Hamburg-Münster�00�;knigge,Volkhart/frei,Norbert(Hg.):Verbrechenerinnern.DieAuseinandersetzungmitHolocaustundVölkermord.München�00�;Müller,Jan-Werner(Hg.):MemoryandPowerinPost-WarEurope.StudiesinthePresenceofthePast.Cambridge�00�undbock,Petra/WolfruM,Edgar(Hg.):UmkämpfteVergangenheit.Geschichtsbilder,ErinnerungundVergangenheitspolitikiminternationalenVergleich.Göttingen�999.Vgl.auchspeziellzurHolocaust-Erinnerung kroh,Jens:TransnationaleErinnerung.DerHolocaustimFokusgeschichtspolitischerInitia-tiven.Frankfurta.M.-NewYork/NY�008;karlsson, Klas-Göran/zanDer,Ulf(Hg.):EchoesoftheHolocaust.HistoricalCulturesinContemporaryEurope.Lund�00�;undlevy,Daniel/sznaiDer,Natan:ErinnerungimglobalenZeitalter.DerHolocaust.Frankfurta.M.�00�sowiezudenWiderspiegelungsebenenvonLiteraturundKunstkaiserová,Kristina/röhrborn,Gert(Hg.):Presenttensions.Europeanwritersonover-comingdictatorships.Budapest�008undvinzenT,Jutta:OVERcomingDICTatorships.ContemporaryEastandWestEuropeanVisualInquiries.Ausstellungskatalog.Bielefeld-Leipzig�008.Wedersüd-nochosteuropäischeVergleichsfälleenthältderSammelbandvonlanDkaMMer, Joachim/noeTzel,Thomas/ziMMerli,WaltherCh.(Hg.):Erinnerungsmanagement:SystemtransformationundVergangenheitspolitikiminternationalenVergleich.München�006.

�4 sapper,Manfred/Weichsel, Volker(Hg.):GeschichtspolitikundGegenerinnerung.Krieg,GewaltundTraumaimOstenEuropas.Berlin�008(=ThemenheftvonOsteuropa58,6[�008]);lehTi,Marko/hackMann,Jörg(Hg.):ContestedandSharedPlacesofMemory.HistoryandPoliticsinNorthEasternEurope.London�008(=ThemenheftvonJournalofBalticStudies�9,4[�008]);Müller, Dietmar:ErinnerungskulturundGeschichtspolitikimöstlichenEuropa.In:DimensionenderKultur-undGesellschaftsgeschichte.Fest-schriftfürHannesSiegristzum60.Geburtstag.Hg.vonMatthiasMiDDell.Leipzig�007,��7–��4;alTrich-Ter, Helmut(Hg.):GegenErinnerung.GeschichtealspolitischesArgumentimTransformationsprozeßOst-,Ostmittel-undSüdosteuropa.München�006;knigge,Volkhard/MählerT,Ulrich(Hg.):DerKommunismusimMuseum.FormenderAuseinandersetzunginDeutschlandundOstmitteleuropa.Köln-Weimar-Wien�005;TroebsT,Stefan:PostkommunistischeErinnerungskulturenimöstlichenEuropa.Bestandsaufnah-me,Kategorisierung,Periodisierung/PostkomunistycznekulturypamięciwEuropieWschodniej.Stan,kategoryzacja,periodyzacja.Wrocław�005;corbea-hoisie,Andrei/jaWorski,Rudolf/soMMer,Monika(Hg.):UmbruchimöstlichenEuropa.DienationaleWendeunddaskollektiveGedächtnis.Innsbrucku.a.�004;ToDorova,Maria(Hg.):BalkanIdentities.NationandMemory.London�004;Dies.(Hg.):RememberingCommunism:GenresofRepresentation.Brooklyn/NY�009;undDies.,gille, Zsuzsa(Hg.):Post-CommunistNostalgia.NewYork/NY-Oxford�0�0.SpeziellzummusealenAspektvgl.barTeTzky,Arnold:VisualisierungderDiktaturerfahrung.DerKommunismusimMuseum.In:NeueStaaten–neueBilder?VisuelleKulturimDienststaatlicherSelbstdarstellunginZentral-undOsteuropaseit�9�8.Hg.vonDeMs./DMiTrieva,Ma-rina/TroebsT,Stefan.Köln-Weimar-Wien�005,���–���sowieexemplarischzuPolenundBulgarienMain,Izabella:HowIsCommunismDisplayed?ExhibitionsandMuseumsofCommunistPoland.In:PastfortheEyes.EastEuropeanRepresentationsofCommunisminCinemaandMuseumsafter�989.Hg.vonOksanasarkisovaundPéter apor.Budapest-NewYork/NY�008,�7�–400undvukov,Nikolai:The“Unme-morable”andthe“Unforgettable”.“Muzeumizing”theSocialistPastinPost-�989Bulgaria.Ebd.,�07-��4.

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wohingegensüdeuropäischeFällenurausnahmsweiseeinbezogenwerden.15MitunterwirdauchderErinnerungsbegriffalsbloßesSynonymzugeschichtspolitischerbzw.justiziellerAufarbeitungverwendet,soetwainderinderTateuropaweitvergleichendenStudievonMarkArenhövelüberDemokratieundDiktaturerinnerung.16

So gut wie keine übergreifenden, gar komparativen Darstellungen liegen zu denErinnerungskulturen Portugals, Griechenlands und Spaniens (hier mit Ausnahme desVergleichsmitPolen)vor–wasimübrigeninderRegelauchfürWesteuropazutrifft17;überdies sind diese drei Fallbeispiele nur selten zu Objekten eines intraregional-südeuropäischenDiktaturvergleichsgenommenworden.18TranseuropäischvergleichendistTonyJudtsForschungsansatzeinereuropäischenPrägungdurchdenStalinismusunddie Erinnerung bzw. Nicht-Erinnerung an ihn. Allerdings figurieren hier neben derSowjetunion und ihren Satellitenstaaten nicht Spanien, Portugal oder Griechenland,sondernnaheliegenderweisevor allemFrankreichund Italien,deren Intellektuelle sichinJudtsSichtzugroßenTeilenselbst stalinisierthaben.19Undebenfallsmesoregional-komparativistdiemittlerweileinFahrtgekommeneForschungzutransitional justice impostdiktatorischen Europa unter Einbeziehung außereuropäischer Fallbeispiele.20 Der

�5 ZuzweisolcherAusnahmensiehebrunnbauer,Ulf/TroebsT,Stefan(Hg.):ZwischenAmnesieundNostalgie.DieErinnerungandenKommunismusinSüdosteuropa.Köln-Weimar-Wien�007(einschließlichdergriechischenKommunismuserinnerung),undhenningsen,Bernd/klieMann-geisinger,Hendriette/TroebsT,Stefan(Hg.):TransnationaleErinnerungsorte.Nord-undsüdeuropäischePerspektiven.Berlin�009(einschließlichderLevante).KeinePublikationgibtesbislangzueinerWienerTagungausdemJahr�007zumThema„Nach-Bürgerkriege:Österreich,SpanienundGriechenlandimVergleich“.ZueinemTagungsberichtsieheH-Soz-u-Kultvom��.September�007,siehehttp://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=�69�,�7.�.�0�0.

�6 arenhövel,Mark:DemokratieundErinnerung.DerBlickzurückaufDiktaturundMenschenrechtsverbre-chen.Frankfurta.M.-NewYork/NY�000.

�7 lagrou,Pieter:TheLegacyofNaziOccupation.PatrioticMemoryandNationalRecoveryinWesternEurope�945–�965.Cambridge�000.

�8 SovonDiaManDouros,P.Nikiforos/puhle,Hans-Jürgen/gunTher,Richard(Hg.):ThePoliticsofDemocraticConsolidation.SouthernEuropeinComparativePerspective.Baltimore/MD-London�995;chilcoTe, Ro-naldH.:TransitionsfromDictatorshiptoDemocracy:ComparativeStudiesofSpain,PortugalandGreece.Basingstoke�990;o’Donnell,Guillermo/schMiTTer,PhilippeC./WhiTeheaD,Laurence(Hg.):TransitionsfromAuthoritarianRule.vol.�:SouthernEurope.Baltimore/MD-London�986undWilliaMs,Allan:SouthernEuropeTransformed:PoliticalandEconomicChangeinGreece,Italy,PortugalandSpain.London�984;kohler,Beate:PolitischerUmbruchinSüdeuropa.Portugal,Griechenland,SpanienaufdemWegzurDemokratie.Bonn�98�sowieausneomarxistisch-postkolonialerSichtpoulanTzas,Nicos:DieKrisederDiktaturen.Portugal,Griechenland,Spanien.Frankfurta.M.�975.

�9 juDT,Tony:Postwar.AHistoryofEuropesince�945.NewYork/NY�005,hierbes.Kap.VII,„CultureWars“,�97–��5.SieheauchDers.:ThePastIsAnotherCountry:MythandMemoryinPostwarEurope.In:Dae-dalus��,4(�99�),8�–��8.

�0 Siehepars pro toto Trappe,Julie:Verjährung,RückwirkungsverbotundMenschenrechtsschutz–StandardsstrafrechtlicherVergangenheitsaufarbeitunginEuropa.In:haMMersTeinu.a.�009(wieAnm.��),���–��4;Dies.:RumäniensUmgangmitderkommunistischenVergangenheit.EineUntersuchungausstrafrecht-

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Gerechtigkeithalberseiallerdingsangefügt,dassgegenwartsbezogeneOst-Süd-Vergleichegenerell selten sind. Eine rare Ausnahme bildet etwa David D. Laitins Untersuchungpostdiktatorischer Nationalismen und Regionalismen samt ihres Gewaltpotentials, beider ihmSpanien,dieUkraineundGeorgienalsVergleichsfälledienen.21DieRegel imForschungssegmentzurEntwicklunginterethnischenBeziehungenundethnopolitischerKonflikte in diktatorischen, postdiktatorischen und nicht-diktatorischen Regimen istdie Beschränkung auf den postsowjetischen Raum als Bezugs- und Vergleichsrahmen–Nordirland,dasBaskenland,„Padanien“oderKorsikableibenaußenvor.22

licherPerspektive.Göttingen�009;sTan,Lavinia(Hg.):TransitionalJusticeinEasternEuropeandtheFormerSovietUnion:ReckoningwiththeCommunistPast.London�008; fleschenberg�004(wieAnm.��);arnolD,Jörg:CriminalLawasReactiontoSystemCrime.PolicyforDealingwiththePastinEuropeanTransitions.In:borejsza/zieMer�006(wieAnm.8),�99-4�0;elsTer,Jon:DieAktenschließen.NachdemEndevonDiktaturen.Frankfurta.M.�005;rev,István:RetroactiveJustice.PrehistoryofPost-Communism.Stanford/CA�005;barahona De briTo,Alexandra/aquilar fernánDez,Paloma/gonzáles,Enríques(Hg.):ThePoliticsofMemory.TransitionalJusticeinDemocratizingSocieties.Oxford�00�;Deák,István/gross,JanT./juDT, Tony(Hg.):ThePoliticsofRetributioninEurope.WorldWarIIandItsAftermath.Princeton/NJ�000;TeiTel,RutiG.:TransitionalJustice.Oxford�000undkriTz,NeilJ.(Hg.):TransitionalJustice:Howemergingdemocraciesreckonwithformerregimes,�Bde.Washington/DC�995.GrundlegendzumöstlichenEuropagarTon ash,Timothy:Mesomnesie.In:Transit.EuropäischeRevue,H.��,Winter�00�/�00�,��-48undDers.:Trials,purges,andhistorylessons:treatingadifficultpastinpost-CommunistEurope.In:Müller�00�(wieAnm.��),�65–�8�.

�� laiTin,David:NationalistRevivalsandViolence.In:Archiveseuropéennesdesociologie�6,�(�995),�–4�.Vgl.auchdiebeidenWest-undOsteuropavergleichendenSammelbändevonDafTary,Farimah/TroebsT,Stefan(Hg.):RadicalEthnicMovementsinContemporaryEurope.NewYork/NY-Oxford�00�undTher,Philipp/sunDhaussen,Holm(Hg.):Nationalitätenkonflikteim�0.Jahrhundert.Ursachenvoninter-eth-nischerGewaltimVergleich.Wiesbaden�00�sowiedenwesteuropäisch-nordamerikanischenVergleichbeiWalDMann,Peter:EthnischerRadikalismus.UrsachenundFolgengewaltsamerMinderheitenkonflikteamBeispieldesBaskenlandes,NordirlandsundQuebecs.Opladen�989.

�� SieheexemplarischlaiTin,DavidD.:IdentityinFormation:TheRussian-SpeakingPopulationsintheNearAbroad.Ithaca/NY-London�998sowiekolsTø,Pål(Hg.):Nation-buildingandEthnicIntegrationinPost-SovietSocieties.AnInvestigationofLatviaandKazakhstan.Boulder/CO�999undDers.(Hg.):NationalIntegrationandViolentConflictinPost-SovietSocieties:TheCasesofEstoniaandMoldova.Boulder/CO�00�.

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Begriffsbestimmungsexkurs: Geschichtskultur, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur

WohlseltenistdiePrognoseeinesGeisteswissenschaftlerssoweitreichendinErfüllunggegangenwieJanAssmannsVorhersageausdemJahr1997,„daßsichumdenBegriffderErinnerungeinneuesParadigmaderKulturwissenschaftenaufbaut“.23DerzuBeginnder1990erJahreimZugederdeutschenNeuentdeckungvonMauriceHalbwachsgeprägteNeologismus „Erinnerungskultur” wird dabei mittlerweile als „lockerer Sammelbegrifffür die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichtefür die Öffentlichkeit”24 sowie „als Alternative zur Verwendung der vergleichsweisepathetischkonnotiertenFormulierung‚Vergangenheitsbewältigung‘”gebraucht.25Dabeilässtsichdieserneue„LeitbegriffderhiesigenKulturgeschichtsschreibung”26nichtimmertrennscharf vom umfassenderen Begriff „Geschichtskultur” mit seinen KomponentenGeschichtswissenschaft, Geschichtspolitik und Geschichtsroman abgrenzen.27 ChristophCornelißenetwaverstehtErinnerungskulturals„formalenOberbegrifffüralledenkbarenFormenderbewusstenErinnerunganhistorischeEreignisse,PersönlichkeitenundProzesse[…],seiensieästhetischer,politischeroderkognitiverNatur“28,undkommtdamitderStandarddefinition von Geschichtskultur sehr nahe, die Jörn Rüsen als „Erfinder“ desTerminusbzw.Forschungsansatzes1989gegebenhat:

„MitdemTerminus‚Geschichtskultur‘solldieinderWissenschaftkultiviertekognitiveSeitederhistorischenErinnerungsarbeitsystematischmitderpolitischenundästhetischenSeitedergleichenArbeitverbundenwerden.KeineSeitekannohnedieanderegedachtwerden,jaesistbereitseineFragederVernunftinderpraktischenVerwendunghistorischenWissens,wiesiejeweilsaufeinanderbezogenwerden.Wissenschaft,PolitikundKunstkönnensichimFeldedesGeschichtsbewußtsein[...]wechselseitiginstrumentalisieren

�� assMann,Jan:DaskulturelleGedächtnis.Schrift,ErinnerungundpolitischeIdentitätinfrühenHochkul-turen.München�997,��.

�4 hockerTs,HansGünther:ZugängezurZeitgeschichte:Primärerfahrung,Erinnerungskultur,Geschichtswis-senschaft.In:VerletztesGedächtnis.ErinnerungskulturundZeitgeschichteimKonflikt.Hg.vonKonradH.jarauschundMartinsabroW.Frankfurta.M.-NewYork/NY�00�,�9–7�,hier4�.

�5 cornelissen/klinkhaMMer/schWenTker�00�(wieAnm.��),��.�6 cornelissen,Christoph:WasheißtErinnerungskultur?Begriff-Methoden–Perspektiven.In:Geschichtein

WissenschaftundUnterricht54,�0(�00�),548–56�,hier550. �7 harDTWig,Wolfgang:Geschichtskultur.In:LexikonderGeschichtswissenschaft.HundertGrundbegriffe.

Hg.vonStefanjorDan.Stuttgart�00�,���–��5,hier���.Vgl.auchMüTTer,Bernd/schöneMann,Bernd/uf-felMann,Uwe(Hg.):Geschichtskultur.Theorie–Empirie–Pragmatik.Weinheim�000.

�8 cornelissen�00�(wieAnm.�6),555.

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unddabeidiejeweilsinDienstgenommeneDimensiondeshistorischenWissensdurchdieherrschendeverkürzenundverstümmeln.DiesistfastimmerdannderFall,wenndieeinzelnenDimensionenderGeschichtskulturnichtauseinandergehaltenwerden,sondernindernaivenSelbstverständlichkeitjeeinerDimensionderenUnterschiedeundBeziehungenzudenanderenübersehenwerden.”29

WährendalsodieGeschichtskulturzumindestzuTeilenvondenForschungsergebnissender Geschichtswissenschaft (qua medialem Geschichtsdiskurs) geprägt wird, ist dieErinnerungskulturdagegenweitgehendresistent.SieistinihremöffentlichenTeil,zumalinpostdiktatorischenKontexten,ProduktprimärstaatlicherSymbolvorgabenundstehtdamitinderKontinuitäteinerGeschichtspolitik,dielangeZeitvondiktatorischenRegimenmit ihrenFührern,Monopolparteien,ChefideologenundMilitärs formuliertwurde.30„ErinnerungskulturundGeschichtspolitik”,soÉvaKovácsundGerhardSeewannpars pro totozumungarischenFallvorwienach1989,„sind[...]zweiSeitenderselbenMedaille”.31DassinpostdiktatorischenGesellschafteninderTatweitgehendeDeckungsgleichheitderbeidenBereichevorherrscht,wirdauchbeimAnlegenderfünf„Praxisebenen”deutlich,die Wolfgang Kaschuba in einem Plädoyer für eine „ethnologische Betrachtungsweisevon ‚Geschichtspolitik’” in Europa aufführt, dienen diese doch zugleich als zentraleTransmissionsriemengesamtgesellschaftlicherErinnerungskultur:

”[E]rstensderöffentlicheDiskursum(eigene)GeschichteindenMedien;zweitenseinräumlichesundterritorialesKonzeptderRepräsentationundSymbolisierung,ermitteltüberGedächtnisorteundDenkmäler;drittensdersymbolischeKampfumZeichenundDeutungender

�9 rüsen,Jörn:LebendigeGeschichte.GrundzügeeinerHistorikIII:FormenundFunktionendeshistorischenWissens.Göttingen�989,�0.SieheüberdiesDers.:WasistGeschichtskultur?ÜberlegungenzueinerneuenArt,überGeschichtenachzudenken.In:HistorischeFaszination.Geschichtskulturheute.Hg.vonKlausfüssMann,HeinrichTheodorgrüTTerundJörn rüsen.Köln�994,�–�6undDers.:Geschichtskultur.In:HandbuchderGeschichtsdidaktik.Hg.vonKlausbergMannu.a.Seelze-Velber,5�997,�8–40.

�0 könig,Helmut:ErinnernundVergessen.VomNutzenundNachteilfürdiePolitik.In:sapper/Weichsel �008(wieAnm.�4),�7–40.Exemplarisch:WolfruM,Edgar:GeschichtspolitikinderBundesrepublikDeutsch-land.DerWegzurbundesrepublikanischenErinnerung�948–�990.Darmstadt�999undleggeWie,Claus/Meyer,Erik:„EinOrt,andenmangernegeht“.DasHolocaust-MahnmalunddiedeutscheGeschichtspoli-tiknach�989.München-Wien�005.

�� kovács,Éva/seeWann,Gerhard:Ungarn.DerKampfumdasGedächtnis.In:MythenderNationen.�945–ArenaderErinnerungen.Hg.vonMonikaflacke,Bd.�.Berlin�004,8�7–8�7,hier8�7.Sieheauchhaslinger,Peter:ErinnerungskulturundGeschichtspolitikinderhistorischenForschungzumöstlichenEuropa.In:zeitenblicke6,�(�007),siehehttp://www.zeitenblicke.de/�007/�/haslinger,�7.�.�0�0.

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‚Gedenkästhetik’;viertensderKanonrituellerundästhetischerPraxenderErinnerungsarbeit;undfünftensjenesregelrechteSetvonÜberlieferungsformenund-figurenwieErzählungen,autobiographischenErinnerungsserien,Gedenkfotos,lokalenundnationalenGeschichtsbüchern.”32

GeschichtspolitikprägteimStaatssozialismusdensichtbarenTeilderErinnerungskultureiner Gesellschaft zu einem sehr hohen Prozentsatz; der Restbereich des inoffiziellenprivaten,individuellenundfamiliärenGedächtnisseswarkleinbzw.nichtsichtbar.MitBlickaufdieLangzeitwirkungsowjetischerGeschichtspolitikhatderMoskauerSoziologeBoris Dubin unlängst bezüglich des Putinschen Russland sogar bezweifelt, „ob dasFamiliengedächtniseinOrtfüreineGegenerinnerungandenGULagist“.33DiedeutlichsteAbweichung von der sowjethegemonialen Norm stellte Polen dar, wo die katholischeKircheihrenSpielrauminderÖffentlichkeitauchundgeradeerinnerungskulturellnutzteunddiePartei1980/81garihrgeschichtspolitischesMonopolverlor.DasvonSolidarność1980ertrotzte42Meterhohe„DenkmalfürdieBlutopferanderOstseeküste“von1970vorderLenin-WerftinGdańskisteinBeispieldafür,desgleichendieTrauerfahnenmitdemPorträtdes1984vomGeheimdienstermordetenPriestersJerzyPopiełuszko,dieMitteder1980erJahrevorpolnischenKirchen–nichtetwalediglichinihnen–hingen.34

Das Epochenjahr 1989 hat bezüglich der Relation staatlicher und nicht-staatlicherPrägung von Erinnerungskultur zwar eine deutliche Veränderung hin zumletztgenannten Bereich bewirkt, doch wirkt das kommunistische GedächtnismonopolindermodifiziertenGestaltderDominanzregierungsamtlicherGeschichtspolitiküberdie zivilgesellschaftlichePrägungweiternach.DasÄquivalent zudem,was frühermitdem Kollektivterminus „Partei- und Staatsführung“ als geschichtspolitischer AkteurNummer1belegtwurde,istheutedie–jeweilige–Regierungs-bzw.Präsidialbürokratie,wasnaheliegenderWeisedieMöglichkeitvonAmtswechselnunddamitvonabruptengeschichtspolitischenKursänderungenmiteinschließt.IndiesemnochunausbalanciertenundmitunterspannungsreichenWechselverhältnisstaatlicherundzivilgesellschaftlicher

�� kaschuba,Wolfgang:GeschichtspolitikundIdentitätspolitik.NationaleundethnischeDiskurseimKultur-vergleich.In:DieInszenierungdesNationalen.Geschichte,KulturunddiePolitikderIdentitätenamEndedes�0.Jahrhunderts.Hg.vonBeatebinDer,Wolfgang kaschuba undPéternieDerMüller.Köln-Weimar-Wien�00�,�9–4�,hier�4.

�� Dubin,Boris:ErinnernalsstaatlicheVeranstaltung.GeschichteundHerrschaftinRussland.In:sapper/Weich-sel�008(wieAnm.�4),57–65,hier57.

�4 kubik,Jan:ThePowerofSymbolsagainsttheSymbolsofPower.TheRiseofSolidarityandtheFallofStateSocialisminPoland.UniversityPark/PA�994.

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Gedächtnissemuss sicheineGeschichtswissenschaftverorten,diebis1989perDekretLegitimationsproduzent einer Diktaturideologie sowie zugleich natürlich einer ihrerbürokratischenApparategewesenwar.35Auchdiesbezüglichistzukonstatieren,dassdieFunktionderHistoriographiendesöstlichenEuropainundnachderDiktaturdeutlichbesser,partiellsogarvergleichenderforschtistalsdiejenigedessüdlichenEuropa.36

Resümierendbleibtfestzustellen,dasssichimöffentlichenDiskursErinnerungskulturundGeschichtspolitikalsrelativeindeutigkonnotierteBegriffeweitgehenddurchgesetzthaben–vorGeschichtskultur,ErinnerungspolitikoderGedächtnispolitik.37LediglichderTerminusderVergangenheitspolitikkonntesichmitBlickaufjuristischeVergangenheitsaufarbeitungmittelstransitional justicesektoralbehaupten.38GeschichtskulturundErinnerungskulturallerdingsbegrifflichzuverschmelzen,wieChristophCornelißendiesvorgeschlagenhat39,macht in der fachwissenschaftlichen Diskussion für postdiktatorische GesellschaftennochwenigerSinnalsfürandere–aufgrundderDominanzstaatlicherGeschichtspolitik.VielmehrbötesicheineErweiterungdeshierarchischaufgebautenRüsenschenModellsder Geschichtskultur als Oberbegriff für Geschichtswissenschaft, Geschichtspolitik,GeschichtsromanundfürdiezivilgesellschaftlichenAnteilevonErinnerungskulturan.

�5 TroebsT,Stefan:GeschichtswissenschaftimpostkommunistischenOst(mittel)europa.ZwischenVergan-genheitspolitikundErinnerungskultur.In:DeutschlandArchiv4�,�(�009),87-95.

�6 ivanišević,Alojzu.a.(Hg.):KlioohneFesseln?HistoriographieimöstlichenEuropanachdemZusammen-bruchdesKommunismus.Wienu.a.�00�(=ThemenheftvonÖsterreichischeOsthefte44,�-�[�00�]);brunnbauer,Ulf(Hg.):(Re)WritingHistory.HistoriographyinSoutheastEuropeafterSocialism.Münster�004;anTohi,Sorin/Trencsényi,Balázs/apor,Péter(Hg.):NarrativesUnbound.HistoricalStudiesinPost-CommunistEasternEurope.Budapest�007;górny,Maciej:Przedewszystkimmabyćnarod.Marksistows-kiehistoriografiewEuropieŚrodkowo-Wschodniej[AnersterStellemussdasVolkstehen.MarxistischeHistoriographieinOstmitteleuropa].Warszawa�007; kopeček,Michal(Hg.):PastintheMaking.HistoricalRevisionisminCentralEuropeafter�989.Budapest-NewYork/NY�008;TroebsT,Stefan:EinvergessenerParadigmenwechsel?GeschichtswissenschaftundPolitikimöstlichenEuropa.In:Clio-online-The-menportalEuropäischeGeschichte(�009),siehehttp://www.europa.clio-online.de/�009/Article=�68,�7.�.�0�0.

�7 fröhlich,Claudia/heinrich,Horst-Alfred(Hg.):Geschichtspolitik.WersindihreAkteure,werihreRezi-pienten?Stuttgart�004;binDer,Beate/kaschuba,Wolfgang/nieDerMüller,Péter:„Geschichtspolitik”:ZurAktualitätnationalerIdentitätsdiskurseineuropäischenGesellschaften.In:GesellschaftenimVergleich.ForschungenausSozial-undGeschichtswissenschaft.Hg.vonHartmutkaelbleundJürgenschrieWer. Frankfurta.M.�998,465–508;leggeWie/Meyer �005(wieAnm.�0).AuchhieraberbestätigenAusnahmendieRegel,soetwakohlsTruck,Michael:Erinnerungspolitik:KollektiveIdentität,NeueOrdnung,Diskurshe-gemonie.In:PolitikwissenschaftalsKulturwissenschaft.Theorien,Methoden,Problemstellungen.Hg.vonBirgitschWelling.Wiesbaden�004,�7�–�9�oderderThemenschwerpunkt„EuropäischeGedächtnispoli-tik“derZeitschriftTransit.EuropäischeRevueH.�5,Sommer�008,6–��8.

�8 Vgl.dazuAnm.�0sowiedasThemenheft„Vergangenheitspolitik“derZeitschriftAusPolitikundZeitge-schichte4�/�006vom�6.Oktober�006,siehehttp://www.bpb.de/files/IUUZMN.pdf,�7.�.�0�0.

�9 cornelissen�00�(wieAnm.�6),555.

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„Nichttotalitäre Militärdiktatur“: Hannah Arendts impliziter Ost-Süd-Diktaturvergleich

EinederzentralenAusnahmeneineseuropäischenOst-Süd-DiktaturvergleichsistHannahArendt,dieinihrem1951veröffentlichtenundbisheutediskutiertenBuchThe Origins of Totalitarianismbezogenauf „Rumänien,Polen,diebaltischenStaaten,Ungarn,PortugalundschließlichSpanien“derZwischenkriegszeitdenBegriff„nichttotalitäreMilitärdiktatur”geprägthat– inAbgrenzungvondenzeitgenössischen„totalitärenDiktaturen“,alsodersowjetischenunterStalinunddernationalsozialistischenunterHitler.40Zugleichverwiessiedarauf,dassdieErrichtungalldieser„nichttotalitärenMilitärdiktaturen“dasErgebnisvon„totalitärenBewegungen“war.41DassdiesenBewegungenindengenanntenFällendieErrichtungeiner„totalitärenDiktatur“nichtgelang,führtesieaufdiebescheideneGrößeder genannten Staaten zurück. In ihrer Sicht konnten sich diese „eine eigentlich totaleHerrschaftnichtleisten,weilsieeinfachnichtübergenügendMenschenmaterialverfügten,um die ungeheuren Verluste, die der totale Herrschaftsapparat dauernd fordert, zuertragen“.42DasFehleneinersolchen„totalitärenBewegung“imFallederKönigsdiktaturenimAlbanien,JugoslawienundBulgarienderZwischenkriegzeit sowie indemjenigenderMetaxas-DiktaturimGriechenlandderJahre1936–1941istmutmaßlichderGrunddafür,dass Arendt diese Staaten in ihre Aufzählung nicht mit eingeschlossen hat.43 Währenddie „nichttotalitären Militärdiktaturen“ Ostmittel- und Südosteuropas zwischen 1939und1944derExpansionderTotalitarismenHitlersund(mitAusnahmeGriechenlands)anschließendStalinserlagen,bildetederZweiteWeltkriegfürdiediktatorischenRegimeSpaniensundPortugalskeinenEinschnittdieserArt.AberdasArendtscheArgumentvomressourcenbedingtgebremstenTotalitarismuspotentialistinmodifizierterFormauchfürdieNachkriegszeitgültig.DiesbelegtderFalldes„stalinistischenMusterknaben“Jugoslawien,dersichzwar1948demsowjetischenHegemonialanspruchentzog,aufgrunddramatischerstaatsfinanzieller Probleme aber bereits zu Beginn der 1950er Jahre zu einer partiellenÖffnungzumWestengezwungenwar.Nurdaraufisteszurückzuführen,dassderanfänglich

40 arenDT,Hannah:TheOriginsofTotalitarianism.NewYork/NY�95�.Hierzit.nachderdt.Übers.derAuto-rin:ElementeundUrsprüngetotalerHerrschaft.Antisemitismus,Imperialismus,Totalitarismus.München�986[��955],664.ZumaktuellenForschungsstandvgl.backes,Uwe:TotalitarismusundTransformation.EineEinführung.In:TotalitarismusundTransformation.DefizitederDemokratiekonsolidierunginMittel-undOsteuropa.Hg.vonDeMs.,TytusjaskułoWskiundAbelpolese.Göttingen�009,��–�6.

4� arenDT�986,665.4� Ebd.4� Vgl.zudieserDiktaturgattungsunDhaussen,Holm:DieKönigsdiktatureninSüdosteuropa.Umrisseeiner

Synthese.In:AutoritäreRegimeinOstmittel-undSüdosteuropa�9�9–�944.Hg.vonErwinoberlänDer. Paderborn�00�,��7–�48sowieexplizitzuAlbanienschMiDT-neke,Michael:EntstehungundAusbauderKönigsdiktaturinAlbanien(�9��–�9�9).Regierungsbildungen,HerrschaftsweiseundMachtelitenineinemjungenBalkanstaat.München�987.

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Stefan Troebst: Diktakturerinnerung und Geschichtskultur im östlichen und südlichen Europa | 21

durchaus totalitäre Anspruch desTitoismus dann in Richtung Arbeiterselbstverwaltung,Blockfreiheit, familiäre Privatwirtschaft und schließlich gelenkte Medienfreiheitabgemildertwurde.44LediglichdieEntwicklungAlbaniensimKaltenKriegpasstnichtinArendtsErklärungsmuster:KleinundarmsowiezwischenBelgrad,MoskauundPekingoszillierend,errichtetederNationalkommunistHoxhahiereineveritabletotalitäreDiktaturen miniaturestalinistisch-maoistischenTyps.45UndaußerhalbdesUntersuchungsrahmensderKönigsbergerPhilosophinlagderSonderfallderTschechoslowakei,derendemokratischeTraditionderZwischenkriegszeit1945zunächstwiederhergestelltunderst1948durchdiehalblegaleMachtübernahmederKommunistenabgebrochenwurde.46

WährenddievonArendtfürdieZwischenkriegszeitbetontemilitärischeKomponenteindenParteidiktaturenOstmittel-undSüdosteuropaszwarpräsent,abernichtdominantwar– Ausnahme Polen unter ArmeegeneralWojciech Jaruzelski 1981-1989 –, nahm sie imSpanienderNach-Bürgerkriegszeitdeutlichab.InPortugalbliebsieerhalten,desgleicheninGriechenland–überdennichtdiktatorisch-„nominaldemokratischen“HiatuszwischendemEndederMetaxas-Diktatur1941bzw.derBesatzungdurchdieArmeenNS-Deutschlands,ItaliensundBulgariensbis1944undderErrichtungderJunta-Herrschaft1967hinweg.47

InsgesamtnimmtsichHannahArendtsBegriffder„nichttotalitärenMilitärdiktatur“ fürdievonihrgenanntenostmittel-undsüdosteuropäischenFällealsproblematischaus.Zwarwaren die Staatsoberhäupter und Regierungschefs Estlands, Griechenlands, Lettlands,Litauens,Polens,Ungarns,BulgariensundRumäniensinderZwischenkriegszeitmitunteraktiveoderEx-Militärs,aucheinigeMinister,dochhandelteessichinderRegelnichtumMilitärregimeimklassischenSinne.UndauchderFranquismusistbeiallenmilitärischenAnteilen nicht als Militärdiktatur zu klassifizieren. Entsprechend müsste die ArendtscheFormelinRichtung„nichttotalitäreDiktatur“gedehntbzw.erweitertwerden.UndfolglichistdieAbgrenzungzumBegriffdes„autoritärenRegimes“fließend.

44 raMeT,Sabrina:TheThreeYugoslavias:State-buildingandLegitimation�9�8–�00�.Bloomington/IN�006;Dies.:ThinkingaboutYugoslavia:ScholarlyDebatesabouttheYugoslavBreakupandtheWarsinBosniaandKosovo.Cambridge�005.

45 o’Donnell,James:AComingofAge:AlbaniaUnderEnverHoxha.Boulder/CO�999.46 kaplan,Karel:DerkurzeMarsch.KommunistischeMachtübernahmeinderTschechoslowakei

�945–�948.München-Wien�98�;MyanT,MartinR.:SocialismandDemocracyinCzechoslovakia�945-�948.Cambridge�98�.

47 SiehedazugrundlegenddiedengesamtenZeitraumvomBeginnderMetaxas-Diktatur�9�6biszumEndedesJunta-Regimes�974unterdemRubrum„autoritäreHerrschaft“fassendeStudievonfleischer,Hagen:AuthoritarianRuleinGreece(�9�6-�974)andItsHeritage.In:borejsza/zieMer(wieAnmerkung8),��7–�75.ÄhnlichbereitsMerkel,Wolfgang:Systemtransformation.EineEinführungindieTheorieundEmpiriederTransformationsforschung.Opladen�999,�46.

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„Modernes nichtdemokratisches Regime“: Juan J. Linz’ und Alfred Stepans expliziter europäischer Ost-Süd-Diktatur- und -Transitionsvergleich

Die zweite zentrale Ausnahme des Ost-Süd-Diktaturenvergleichs (samt Ansätzen zumDiktaturerinnerungsvergleich!)istdas1996erschieneneBuch„ProblemsofDemocraticTransitionandConsolidation.SouthernEurope,SouthAmerica,andPost-CommunistEurope“ von Linz und Stepan, in welchem die Ko-Autoren den Arendtschen Begriffder „nichttotalitärenMilitärdiktatur” (einschließlich seinerbesagtenDehnungstendenzin Richtung „autoritäres Regime“) in der Form des „modernen nichtdemokratischenRegimes”adaptiertundweiterentwickelthaben.48AngestoßendurchdieEreignissedesEpochenjahrs1989inderOsthälfteEuropas,unternahmendiebeidenPolitikwissenschaftlereinen transregional-transkontinentalen Vergleich, um den Prozess der Transformationeines „modernen nichtdemokratischen Regimes“ in eine „konsolidierte Demokratie“zuuntersuchen.49IhreFallstudiensinddabei(nebensüdamerikanischenBeispielen)diesüdeuropäischenStaatenSpanien,PortugalundGriechenlandsowieimöstlichenEuropaPolen,Bulgarien,Rumänien,dieRussländischeFöderation,EstlandundLettland.

Linz’undStepans zentraleArbeitshypothese lautet, „democraciesneedfive interactingarenastobecomeconsolidated:[...]alivelycivilsociety,arelativelyautonomouspoliticalsociety,aruleoflaw,ausablestate,andaneconomicsociety”.50IhrsozialwissenschaftlichesForschungsdesign weist überdies „seven generic variables“ auf, darunter „twomacro variables“, nämlich „the complex relationship between state, nation(s), anddemocratization“(bzw.“stateness”)sowie“thecharacterofthepriorregime”.51IndieserletztgenanntenMakrovariablenistdabeieinekulturwissenschaftlicheHintertürnamens„Geschichte“(history)bzw.„Vermächtnis”(legacy)eingelassen:

”Forbetterorworsewewillnotrestrictourselvestotheprocrusteanbedofthisframework[=five interacting arenas and seven generic variables – S. T.].Thespecificitiesofhistoryarealsoimportant,andthuswewilldiscussthecontributions,whereappropriate,ofsome

48 linz,JuanJ./sTepan,Alfred:ProblemsofDemocraticTransitionandConsolidation.SouthernEurope,SouthAmerica,andPost-CommunistEurope.Baltimore/MR-London�996,�8–54.ZureinerÜbernahmediesesBegriffsvgl.brooker,Paul:Non-DemocraticRegimes.Theory,GovernmentandPolitics.NewYork/NY�00�.

49 linz/sTepan(wieAnm.48),xiv.50 Ebd.5� Ebd.

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Stefan Troebst: Diktakturerinnerung und Geschichtskultur im östlichen und südlichen Europa | 23

variables[...],thatdonotlendthemselvestogenericpropositionsbutarecriticaltothehistoricalanalysisofanyparticularcase.”52

Entsprechend ist ein neuerliches Lesen des Linz-Stepanschen Buches dann ergiebig,wenn man die Verwendung ihres Begriffs des „Diktaturvermächtnisses“ ins ZentrumderAufmerksamkeitstellt.DenndieserTerminusistinfunktionalerHinsichtzugroßenTeilen deckungsgleich mit kulturwissenschaftlichen Kategorien wie „Gedächtnis“ oder„Erinnerung“,etwawenndieRedevon”legaciesofcommunist-styletotalitarianism”53,”the difficult legacy [of ] totalitarianism cum sultanism and nationalism”54, ”legaciesfor democratic transition and consolidation”, bedingt durch ”the disintegration oftheUSSR”55,oder”theBaltics‘difficult legacy” ist.56Wann immer sichder InhaltdessozialwissenschaftlichenWerkzeugkastensalsunzureichenderweist,soscheintes,greifendie beiden Autoren zum Kombischlüssel des „Vermächtnisses“ – methodisch analogzudemjenigender„psychischenWesensart“als„weichem“Faktor inStalinsansonsten„harter“ Nationsdefiniton.57 Wie historisch, ja nachgerade geschichtswissenschaftlichLinzundStepandabeiargumentieren,machteinBlickaufdieVerwendungdeslegacy-BegriffesinderHistoriographiezumöstlichenEuropadeutlich.VorallemMariaTodorovaoptiertdafür,mesoregional-strukturellePrägungendeslongue durée-Typusals„historicallegacies“bzw.„historischeVermächtnisse“zufassen58–einKonzept,dasaufganzEuropawiedarüberhinausanwendbarist.59Unddiewiederumgeschichtsregionalunterfütterte

5� Ebd.(Fn.5).5� Ebd.,�44.54 Ebd.,�6�.55 Ebd.,�86.56 Ebd.,40�.57 „EineNationisteinehistorischentstandenestabileGemeinschaftvonMenschen,entstandenaufder

GrundlagederGemeinschaftderSprache,desTerritoriums,desWirtschaftslebensunddersichinderGemeinschaftderKulturoffenbarendenpsychischenWesensart.“sTalin,J.W..:MarxismusundnationaleFrage(�9��).In:Ders.:DerMarxismusunddienationaleundkolonialeFrage.Köln�976,�6–9�,hier��.

58 ToDorova,Maria:HistorischeVermächtnissealsAnalysekategorie.DerFallSüdosteuropa.In:EuropaunddieGrenzenimKopf.Hg.vonKarlkaser,DagmargraMshaMMer-hohlundRobertpichler.Klagenfurt�00�,��7-�5�.Vgl.auchDies.:SpacingEurope:WhatisaHistoricalRegion?In:EastCentralEurope��,�–�(�005),59–78;undDies.:TheOttomanLegacyintheBalkans.In:ImperialLegacy:TheOttomanImprintintheBalkansandtheMiddleEast.Hg.vonL.CarlbroWn.NewYork/NY�995,45–77.

59 VerwiesenseiindiesemKontextüberdiesaufeinenausgesprochenenHardcore-ÖkonomenwiedenNobelpreisträgerJosephE.Stiglitz,derineinerkritischenStudiezuErfolgundMisserfolgdes„westli-chen“KonzeptsderSchocktherapiefürpostkommunistischeÖkonomienausdemJahr�006denNot-ausgangeinerfürdenTransformationserfolgmöglicherweiseausschlaggebenden„differenceinhistory“eingebauthat:goDoy,Sergio/sTigliTz,JosephE.:Growth,InitialConditions,LawandSpeedofPrivatizationinTransitionCountries:��YearsAfter.Cambridge/MA�006,�(=NationalBureauofEconomicResearch.WorkingPaper��99�),siehehttp://www.nber.org/papers/w��99�,�7.�.�0�0.

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Vorstellung „historischer Pfadabhängigkeit“ ist Erkenntnisleitlinie der internationalensozialwissenschaftlichenForschungzumöstlichenEuropa.60

BesondersdeutlichwirdderhistorisierendeZugriffvonLinzundStepanimKapitelüberEstlandundLettland,inwelchemsievoneinernichtnurregionalspezifischen,sondernoffensichtlichglobalgültigenKausalverbindungzwischenethnischerHomogenitätundDemokratisierungschancen ausgehen. Der Grad der Präsenz nicht zur Titularnationgehöriger ethnischer Gruppen auf dem Territorium eines Staates, so ihre Annahme,bestimmt die Stabilität eines jeden demokratischen Nationalstaats; und so wie ohneeinenumerischstarkeTitularnationeinStaatnichtmöglichsei,soseiohneeinesolcheTitularnation auch Demokratie nicht vorstellbar.61 Bezüglich ihrer beiden baltischenFällemachenLinzundStepanallerdingseinenWiderspruchzwischendemPrinzipderDemokratieundderDynamiksolcherNationalismenaus,diezumeinenlangeZeitunterder Hegemonie einer fremden imperialen Macht standen und die zum anderen nachErlangungderEigenstaatlichkeitTeilderBrubakerschenTriasvonNationalstaat,nationalerMinderheit und einem diese protegierendem Nachbarstaat62, hier der HalbgroßmachtRussländischeFöderation,sind.„Geschichte“und„Vermächtnis“spieleninihrerSichtinsolchenFälleneineganzbesondereRolle:

”Historyandthespecificlegacyofthepreviousnondemocraticregimesareimportantforallanalysesofdemocratization.ThereispossiblynoareawherehistoryismoreimportantthanintheBaltics,wherethepreviousnondemocraticregime,theUSSR,brutallytransformedthesepolitiesdemographically,culturally,economically,andevenecologically.”63

60 goehrke,Carsten:TransformationschancenundhistorischesErbe.VersucheinervergleichendenErklärungaufdemHintergrundeuropäischerGeschichtslandschaften.In:TransformationundhistorischesErbeindenStaatendeseuropäischenOstens.Hg.vonDeMs.undSeraina gilly.Frankfurta.M.u.a.�000,65�–74�;sunDhaussen,Holm:DieUrsprüngederosteuropäischenProduktionsweiseinderFrühenNeuzeit.In:DieFrüheNeuzeitinderGeschichtswissenschaft.ForschungstendenzenundForschungs-ergebnisse.Hg.vonNadaboškovska-leiMgruber.Paderbornu.a.�997,�45–�6�;Ders.:DerWandelinderosteuropäischenAgrarverfassungwährendderfrühenNeuzeit:EinBeitragzurDivergenzderEntwick-lungswegevonOst-undWesteuropa.In:Südost-Forschungen49(�990),�5–56;chiroT,Daniel(Hg.):TheOriginsofBackwardnessinEasternEurope.EconomicsandPoliticsfromtheMiddleAgesuntiltheEarlyTwentiethCentury.Berkeley/CA-LosAngeles/CA-Oxford�989.

6� SiehedazudasSchaubild”Theinter-relationshipbetweenState,Nation(s),andDemocratization”.In:linz/sTepan�996(wieAnm.48),�6.

6� brubaker,Rogers:Nationalminorities,nationalizingstates,andexternalnationalhomelandsintheNewEurope.In:Ders.:NationalismReframed:NationhoodandtheNationalQuestionintheNewEurope.Cambridge�996,55–76.

6� linz/sTepan�996(wieAnm.48),40�.

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Gemeint ist hier die autoritäre Erfahrung zu Zeiten der Eigenstaatlichkeit in derZwischenkriegszeit, die sowjetische Einverleibung von 1940, die nationalsozialistischeBesatzung von 1941 bis 1944 sowie die neuerliche zwangsweise Eingliederungin die UdSSR von 1944 bis 1991 samt ihren gravierenden ethnischen, sozialen,demographischen, kulturellen, ökonomischen u. a. Veränderungen.64 Das hochgradignegative „Vermächtnis“ des früheren diktatorischen Regimes, hier der sowjetischenFremdherrschaft, bestimmt Linz und Stepan zufolge in hohem Maße Art und WeisedesÜbergangszurDemokratiesowieihreKonsolidierung.ImestnischenwielettischenFall, so ihre Aussage, waren die interethnischen Spannungen und Konflikte der Jahre1991–1995 vorprogrammiert. Bezüglich der von ihnen vorgezeichneten Alternativezwischen„multiethnischerDemokratieundIrredenta“äußertensiesichMitteder1990erJahre verhalten optimistisch zur weiteren Entwicklung Estlands, aber pessimistisch zuderjenigenLettlands.65

DiebeidenAutorenwarnenallerdingsdavor,negativeDiktaturerinnerungunderfolgreichenÜbergangzurDemokratiekausalzuverknüpfen.Ineinemmehrseitigen”ExcursusOnWhyNegativeEvaluationofthePastNondemocraticRegimeIsNotaRequirementforDemocratic Consolidation” lehnen sie das Argument, Demokratiekonsolidierung undkritischeAufarbeitungdiktatorischerVergangenheitstündenindirektemZusammenhang,aus konzeptionellen, historischen und empirischen Gründen ab.66 Da hier kulturell-moralisches Katharsis-Gebot und sozialwissenschaftlicher Pragmatismus besondershartaufeinanderprallen,seidiedreifacheBegründungvonLinzundStepanzurGänzezitiert:

”Conceptually,werejectsuchargumentsbecauseourdefinitionofconsolidationispresentandfutureoriented.Thus,akeyindicatorforusiswhetherornotastrongmajorityofthecitizensisinagreementwithsuchphrasesas‘foracountrylikeoursdemocracyisbetterthananyotheralternative.‘Analytically,apositiveattitudetowarddemocracyasthebestalternativefornow,andthefuturedoesnotrequireanegativeattitudetowardthepast.Peoplecanmakeanindependentevaluationandaffirmthattheprecedingregimehadachievementsoratleastwasnotallbadandstillsupportdemocracyastheirpreferredformofgovernment.

64 Ebd.,40�–406.65 Ebd.,4��–4��.66 Ebd.,�4�–�47,hier�4�.ClaudiakrafTverdankeichdenHinweisdarauf,dassdiedeutscheDebattedar-

über,obdieDDRgleichdemDrittenReichein„Unrechtsstaat“warodernichteinemAuf-den-Prüfstand-StellenderLinz-StepanschenAnnahmegleichkommt.

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Historically,werejectsuchargumentsbecauseinourjudgementtheoverwhelmingmajorityofconsolidateddemocraciesdidnotactuallybegintheirtransitiontodemocracywithamajorityofmembersofthepolityorevenmanyofthekeyagentsofthetransitionbeingeitherconvinceddemocratsorcitizenswhorejectedeverythingaboutthepastregime.Rather,ademocraticmajorityemergeswhenelitesandordinarycitizensalikebegintoevaluate,forthesocietalproblemstheythenfaceandtheoverallworldwithinwhichtheythenlive,thatdemocraticproceduresofconflictregulationarebetterorlessdangerousthananyotherformofgovernance.Thus,formanykeyelitesdemocraticbehavior emergesbeforedemocraticattitudesbecauseelitesmaymakethecalculationthatbreakingthedemocraticrulesofthegame—whethertheylikeitornot—willnotyieldapositiveoutcomefortheirinterest.Democracybecomesthe‘onlygameintown‘partlybybeliefandpartlybyelitecalculationofthecostofcomplicanceversusthecostofmobilizationforothergoverningalternatives.

Empirically,werejectsuchargumentsbecauseforrecenttransitionswehaveconclusivedocumentationshowingthatitispossiblefordemocracytobecomeconsolidatedwhileonlyaminorityofthepubliccompletelyrejectsthepast.Proofofthisisthat,in1985inPortugalandSpain,whenaccordingtoourcriteriademocracyhadalreadybeenconsolidatedinbothcountries,lessthan30percentofthosepolledsaidthattheFrancoorSalazarregimeswere‘onlybad,‘butastrongmajoritysaidthat‘democracyispreferabletoanyotherregime‘[Hervorhebungen im Original – S. T.].”67

ZugleichpostulierendiebeidenAutoren,dassdas,wassiefürSüdeuropa(undSüdamerika)empirischbelegenkönnen,auchfürdiepostkommunistischenGesellschaftenOstmittel-undSüdosteuropasgilt:

”Overwhelmingly,respondentsinCentralEurope(butnotintheformerSovietUnion)fiveyearsafterthecollapseofCommunismsimultaneouslysaidthattheeconomywasbetterundertheCommunistregimebutthatthepoliticalsystemwasbetterunderthenewdemocraticregime.Thus,theywereabletodifferentiatebetweenan‘economicbasketofgoods‘anda‘politicalbasketofgoods,‘betweenapastthatforthemasindividuals

67 Ebd.,�4�–�44.

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wasnotallbadandadifferentpoliticalfuturetheyaspiredtoeventhoughtheyknewtheywouldloseelementsofthepasttheyvalued.”68

LediglichamRandestreifenLinzundStepaneinenUmstand,derfürdieretrospektiveDiktaturbeurteilung eine entscheidende Rolle spielt, nämlich die Delegitimierungdiktatorischer Regime Südeuropas durch verlorene Kriege.69 Dies war bezüglich desportugiesischenKolonialkriegs inAngolaunddergriechischenMilitärinterventionaufZypernderFall,nichthingegeninSpanien.70EinenähnlichenEffektkönntemanaberauch bezüglich der hohenVerlustziffern der sowjetischen Streitkräfte im Afghanistan-Krieg–vorallemindennicht-russischenRepublikendereuropäischen,transkaukasischenundzentralasiatischenTeiledesLandes–sowie1988schließlichmitBlickaufdenAbzugderTruppenausKabulunddemHindukuschaufdieUdSSRalsGanzeskonstatieren.Dennoch ist etwa die russländische, armenische, kasachische oder weißrussische SichtaufdieSowjetuniondeutlichpositiveralsdiejenigederPolenaufdieVolksrepublikPolenoderdiederSlowakenaufdieČSSR.

Nicht thematisiert hingegen wird von Linz und Stepan ein gravierender UnterschiedzwischendensüdeuropäischenDiktaturensowiederUdSSRunddenjenigenOstmittel-undSüdosteuropas,denmanmitdenBegriffenvonAutochthonieundAllochthoniefassenkönnte:DieDiktaturenSpaniens,Portugals,GriechenlandsundderSowjetunionwarengenuin spanische, portugiesische, griechische sowie russ(länd)ische Hervorbringungen,also gleichsam autochthon, diejenigen Polens, Ungarns, Rumäniens und Bulgariensindes per nationalkommunistische Transmissionsriemen bzw. Rote Armee vermittelteideologische Exporte aus der UdSSR (mit der Tschechoslowakei als dem besagtenSonderfall)–undimFalleGeorgiens,Estlands,LettlandsundLitauensgingdiepolitischeFremdbestimmungdurchMoskaugarmiteiner(alsfreiwilligemBeitrittcamouflierten)Annexion einher. Aufschlussreich ist in diesem Kontext die polnische Diskussion derfrühen 1990er Jahre darüber, ob die 1944 gegründete kommunistische VolksrepublikPolenalssouveränerStaatoderalsbloßesowjetischeKolonieeinzuordnensei.ObwohldasErgebnislautete,dassVolkspolenmitnichteneinsowjetischbesetztesLand,sonderneinegenuinpolnisch-kommunistischeGründungwar,wurdeesnichtindieZählungderdreipolnischenRepubliken–1569–1795,1918–1939und1989ff.–aufgenommen.71

68 Ebd.,�47.69 Ebd.,87–88.70 SiehedazudieBeiträgein TroebsT,Stefan(Hg.):PostdiktatorischeGeschichtskulturenimSüdenundOsten

Europas.BestandsaufnahmeundForschungsperspektiven.Göttingen�0�0.7� friszke, Andrzej:WardieVolksrepublikPoleneinbesetztesLand?Ein„Historikerstreit“.In:Forumfürosteu-

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Ebenfalls zu kurz kommt bei Linz und Stepan ein weiterer struktureller UnterschiedzwischenihrenFallbeispielenimSüdenundOstenEuropas,nämlichdieBeibehaltungmarktwirtschaftlicher Systeme in den spanischen, portugiesischen und griechischenDiktaturen – mit der Folge beträchtlicher Startvorteile gegenüber den ost-, ostmittel-und südosteuropäischen Regimen beim Übergang zur Demokratie. Die BreslauerSoziologin Bogusława Dobek-Ostrowska hat dies in einer komparativen Studie zuden diesbezüglichen Strategien der politischen Eliten Spaniens und Polens in derTransformationuntersucht72unddieWarschauerHistorikerinHannaBuchner-NaimskahatesmittelseinervergleichendenFallstudiezueinerspanischenundeinerpolnischenKleinstadtim„Jahr1“nachdemDiktaturendeexemplifiziert.73

Überdies hat die Warschauer Politikwissenschaftlerin Beata Wojna am Beispiel derNATO-Beitritte Spaniens 1982 und Polens 1999 einen weiteren folgenreichenUnterschied identifiziert, nämlich die postdiktatorische Umorientierung der Außen-und Sicherheitspolitik. Während das demokratisierte Spanien nach 1976 im weiteranhaltendenKaltenKriegaufdemjetztWestorientierunggenannten,indesvonFrancobereitsinderZwischenkriegszeiteingeschlagenenantisowjetischenKursverbleibenkonnte–eineEntwicklung,dieportugiesischeundgriechischeParallelenaufweist–,musstensichPolenunddieMehrheitderübrigenStaatenOstmittel-undSüdosteuropasnach1989einerinnergesellschaftlichnichteinfachzuvermittelndenbündnis-wieaußenpolitischen180-Grad-Kehre vom „Osten“ nach „Westen“ unterziehen.74 Die dabei entstehenden

ropäischeIdeen-undZeitgeschichte�,�(�998),���–�50;sTobiecki,Rafał:DieGegenwartderVergangen-heit.KommunismusundVolksrepublikinderöffentlichenDebattePolensnach�989.In:cornelissen/ho-lec/pešek �005(wieAnm.��),4�9–45�.

7� Dobek-osTroWska,Bogusława:HiszpaniaiPolska:Elitypolitycznewokresieprzejściadodemokracji.Analizaporównaczna[SpanienundPolen:PolitischeElitenimUmfelddesÜbergangszurDemokratie.EinevergleichendeAnalyse].Wrocław�996.SiehedazuauchzweiwirtschaftshistorischvergleichendeLangzeituntersuchungen:caTalan,Jordi:TheDevelopmentofTwoEuropeanPeripheralEconomiesintheLongTerm.PolandandSpain�450-�990.Mannheim�995undscherner,Jonas:Elitenundwirtschaft-licheEntwicklung.KongresspolenundSpanienim�9.Jahrhundert.Münster�00�.ZurVorbildfunktionSpaniensfürGesellschaftundStaatPolensim�9.und�0.Jahrhundertvgl.kienieWicz,Jan:Hiszpaniawzwierciadlepolskim[SpanienimpolnischenSpiegel].Gdańsk�00�undDers.:SpanienimpolnischenSpiegel.In:ruchnieWicz/TroebsT�004(wieAnm.�0),�5–��.

7� buchner,Hanna:Burgos�975/76-Inowrocław�989/90.Życiecodziennewmiastachprowincjonalnychpoupadkudyktatur/ProvinzalltagnachderDiktatur.Wrocław�006.SieheauchdieMikrostudiezumasturischenLlanesvonschlee,Beatrice:EndstationVergangenheit?SchweigepaktundErinnerungsgesetzamFallbeispieleinerspanischenKleinstadt.In:Amnesie,AmnestieoderAufarbeitung?ZumUmgangmitautoritärenVergangenheitenundMenschenrechtsverletzungen.Hg.vonSiegmarschMiDT,GertpickelundSusanne pickel.Wiesbaden�009,�0�–��9.

74 Wojna,Beata:Spain’sandPoland’sRoadtoNATO.Theproblemofcontinuityandchangeintheforeignpolicyofademocratisingstate.In:EuropeanReviewofHistory/Revueeuropéenned’histoire�5,5(�008),

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ReibungsverlustewirktensichnaheliegenderweiseretardierendaufdasReformtempoaus.

Und die Erfurter Historikerin Claudia Kraft schließlich hat herausgearbeitet, dassStrategien,(europabezogene)ZukunftskonzeptionenundsymbolischeRepräsentationenderTransition im spanischen und polnischen Fall stark unterschiedlich waren. Dabeikann sie zeigen, dass Tadeusz Mazowieckis „dicker Strich“ (gruba kreska) mitnichteneinen Schlussstrich unter der kommunistischen Vergangenheit und schon gar keinenSchweigepakt(pacto de silencio),wieimspanischenFall,darstellte.75GemeintwarlediglicheineDefacto-AmnestiefürmittlereundniedereFunktionärederkommunistischenParteiundMitarbeiterderStaatssicherheit–wohlgemerktzueinemZeitpunkt,alssowjetischeTruppennichtnurrundumdieGrenzenPolens,sonderningroßerZahlauchimLandselbststationiertwaren.76UndandersalsimFalledes„ausgehandeltenBruches“(rupturapactada)mitderFranco-Diktatur,dervonderMehrheitderSpanierheutealsnationaleErrungenschaftgewertetwird,wirdinPolenheftigdarübergestritten,obder1989amfürganzOstmitteleuropastilbildendenWarschauerRundenTischzwischenSolidarnośćundkommunistischerParteiausgehandelteschrittweiseMachtwechseltatsächlicheinekluge,dagewaltvermeidendeevolutionäreStrategiewarodernichtvielmehreinenschändlichen,dereigenenrevolutionärenNationaltraditionfremdenElitenkompromissdarstellte.

AuchwennLinzundStepandieParteidiktaturendesöstlichenEuropaaugenzwinkerndeiner „Vorgeschichte des Postkommunismus“ zuordnen, figuriert das gleichfallssozialwissenschaftliche Post-(Post-)Kommunismuskonzept, wie es vor allem von derangloamerikanischenethnologischenForschungentwickeltwurde,beiihnennochnicht.77

5��–547.Vgl.auchDies.:LapolíticadeseguridadenEspañayPoloniaenlatransiciónhacialademocra-cia:unaanálisiscomparado.Madrid�004.

75 krafT, Claudia:Pacto de silencioundgruba kreska:VomUmgangmitVergangenheitinTransformations-prozessen.In:Hammersteinu.a.�009(wieAnm.��),97–�07,hier�0�.Vgl.auchDies.:Diktaturbewälti-gungundGeschichtskulturinPolenundSpanienimVergleich.In:RuchnieWicz/TroebsT�004(wieAnm.�0),�7-44;Dies.:„EuropäischePeripherien“–„EuropäischeIdentität“:ÜberdenUmgangmitderVergangen-heitimzusammenwachsendenEuropaamBeispielPolensundSpaniens.In:JahrbuchfürEuropäischeGeschichte4(�00�),��–�7;Dies.:DerUmgangmitdermehrfachenDiktaturerfahrungimöstlichenEuropa.In:borgsTeDT/frech/sTolle�007(wieAnm.7),6�–89sowiegraboWski,Sabine:Vergangenheitsbe-wältigunginPolen.DossierundAnalyse.In:könig/kohlsTruck/Wöll �998(wieAnm.6),�6�–�90undDies.:Vom„dickenStrich”zur„Durchleuchtung”.In:Osteuropa48,�0(�998),�0�5–�0��.

76 Vgl.Wóycicki,Kazimierz:OpferundTäter–DiepolnischeAbrechnungmitderGeschichtenach�989.In:könig/kohlsTruck/Wöll�998(wieAnm.6),�9�–�08sowieseinenDiskussionsbeitrag„NachdemFalldes‚EisernenVorhangs’“,ebd.,88–89.DennochverkennendieHerausgebereinesaktuellenSammel-bandesTadeuszMazowieckisberühmteFormulierungvom�4.August�989als„einhervorragendesBeispielfüreinenVersuch,dieVergangenheitruhenzulassenunddadurchgesellschaftlicheKonfliktezuvermeiden“:SchMiDT,Siegmar/pickel,Gert/pickel,Susanne:Einführung:EinigeThesenzurSignifikanzdesUmgangsmitderVergangenheit.In:Dies.�009(wieAnm.7�),7–��,hier9.

77 verDery,Katherine:WhatWasSocialismandWhatComesNext?Princeton/NJ�996;hann,ChristopherM.(Hg.):Postsocialism.Ideals,IdeologiesandPracticesinEurasia.London-NewYork/NY,�00�;Ders.:„Not

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EntsprechendstellensiesichauchnichtdieFrage,obalsBenchmarkderTransitionimsüdlichenwie imöstlichenFall inderTat „Demokratie“ zu setzen ist.Sind imSüdenwieOstenEuropasregionalnichtgravierendeDemokratiedefizitefestzustellen,etwainderspanischenProvinzBaskenland,wodasstaatlicheGewaltmonopolnureingeschränktgilt, oder im separatistisch-wirtschaftskriminell-diktatorischen Ostteil Moldovas, dervon Moskau gesteuerten selbstproklamierten Dnjestr-Republik – vom „modernennichtdemokratischenRegime“LukašėnkasinBelarus’erstgarnichtzureden?Undwares1996tatsächlichnochsinnvoll,dieStaatenOstmitteleuropasunddiejenigenderGUSdemselbenregionalenPhänotypuszuzuordnen–ungeachtetihrerganzunterschiedlichen„Vermächtnisse“?WärehiernichtdieDifferenzierungineinöstlichesEuropader„zweiGeschwindigkeiten“angemessengewesen?

„Defekte Demokratien“ und „liberale“?: Wolfgang Merkels Transitionsvergleich

EbeneinesolcheUnterscheidungeinesStaatengürtelsvonEstlandbisUngarninnerhalbeinesgrößeren,dieGUSunddenBalkaneinschließenden„Osteuropas“hatinAnlehnungan Philippe C. Schmitter 2007 Wolfgang Merkel vorgeschlagen und dabei auf dieUnterschiedeimKonsolidierungstempoabgehoben:

„DiejungenDemokratienOstmittel-undNordosteuropaskonsolidiertensichschnelleralsdiesinSpanienundPortugal[…]derFallwar.DiejungenDemokratienNordost-undMittelosteuropassindkonsolidiert.“78

BereitszuvorhatteMerkelaufdieUnterschiedeimKonsolidierungsniveauhingewiesen,

theHorseWeWanted!“Postsocialism,Neoliberalism,andEurasia.Münster�006.Vgl.auchdieZeitschriftProblemsofPost-Communism(bis�99�ProblemsofCommunism)sowiesegerT,Dieter(Hg.):Postsozia-lismus.HinterlassenschaftendesStaatssozialismusundneueKapitalismeninEuropa.Wien�007.

78 Merkel,Wolfgang:GegenalleTheorie?DieKonsolidierungderDemokratieinOstmitteleuropa.In:PolitischeVierteljahresschrift48,�(�007),4��–4��,hier4�0.SieheauchDers./puhle,Hans-Jürgen(Hg.):VonderDiktaturzurDemokratie.Transformationen,Erfolgsbedingungen,Entwicklungspfade.Opladen�999sowieschMiTTer,PhilippeC./schneiDer,CarstenQ.:Liberalization,TransitionandConsolidation:MeasuringtheComponentsofDemocratization.In:ConsolidatedorDefectiveDemocracy?ProblemsofRegimeChange.Hg.vonAurelcroissanTundWolfgangMerkel.Abingdon�004,59–90(=ThemenheftvonDemocratization��,5[�004])undbereitskarl,TerryL./schMiTTer,PhilippeC.:ModesofTransitioninLatinAmerica,SouthernandEasternEurope.In:InternationalScienceJournal��8(�99�),�69–�84sowieo’Donnell,GuillermoA./schMiTTer, PhilippeC.(Hg.):TransitionsfromAuthoritarianRule,vol.�:ComparativePerspectives.Baltimore/MD�986undDies.(Hg.):TransitionsfromAuthoritarianRule,vol.4:TentativeConclusionsaboutUncertainDemocracies.Baltimore/MD�986.

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dieerbezüglichderStaatendesöstlichenEuropasausgemachtunddieseentsprechendin„liberaleDemokratien“und„defekteDemokratien“unterschiedenhatte.79

Merkel grenzt sich dabei deutlich von Claus Offes Erklärungsmuster eines alsDemokratisierungshemmniswirkendenosteuropäischen„DilemmasderGleichzeitigkeit“ab–alsodesparallelstattfindendenÜbergangsvonderParteidiktaturzurDemokratie,von der Planwirtschaft zu Marktwirtschaft, von der „sozialistische Gesetzlichkeit“zu Rechtsstaatlichkeit und nicht selten auch noch vom Teilrepubliksstatus zurEigenstaatlichkeit.80 Dies deshalb, weil in Merkels Sicht Offes Ansatz drei zentraleWirkungsebenen ausblendet, welche das Ost(mittel)europa der 1990er Jahre nichthinter, sondern vor dem Südeuropa der 1970/80er Jahre plazieren: Modernität,StaatlichkeitundderEinfluss externerAkteure.Überzeugend istdabei seinArgumentbezüglichdesvonder„akteurstheoretischenTransformationsforschung“aufgrundihrer„kontextuellen Unterkomplexität“ gleichsam übersehenen, von der „sozialistischenModernisierungsdiktatur“ hervorgebrachten und „im interregionalen Vergleich hohenkulturellenundsozialenModernisierungsniveaus“„imBaltikumundinOstmitteleuropa“81,zumalmitBlickaufdenEntwicklungsstanddesBildungswesens:

„HinterdengewaltigenProblemenderpostkommunistischenTransformationbliebdenTheoretikernverborgen,dassdasModernisierungsniveauindenmeistenLänderndeswestlichenOsteuropashöherwar,alsdiesinden1970erJahreninSüdeuropa[…]derFallwar.VorallemeinentscheidenderModernisierungsfaktorgingnurseltensystematischindiePrognoseein:dasBildungsniveau.VonderBildungweißdiemodernisierungsorientierteDemokratieforschungjedochschonlänger,dassihrNiveauderentscheidendePrädikatorfürnachhaltigeDemokratisierungist[…].In

79 Tab.�:TypologiepolitischerRegimes.In:Merkel,Wolfgang:TotalitäreRegimes.In:TotalitarismusundDemokratie�,�(�004),�8�–�0�,hier�9�.

80 offe,Claus:DasDilemmaderGleichzeitigkeit.DemokratisierungundMarktwirtschaftinOsteuropa.In:Merkur45,4(�99�),�79–�9�.Vgl.auchDers.:DerTunnelamEndedesLichts.ErkundungenderpolitischenTransformationimNeuenOsten.Frankfurta.M.-NewYork/NY�994,Kap.4,57–80.KritischdazuintranseuropäischvergleichenderPerspektivelessenich,Stefan:SpanischerWeininosteuropäischenSchläuchen?DasAlteunddasNeueamtransformationspolitischen„DilemmaderGleichzeitigkeit“.In:GesellschaftenimUmbruch.Verhandlungendes�7.KongressesderDeutschenGesellschaftfürSoziolo-gieinHalleanderSaale�995.Hg.vonLarsclausen.Frankfurta.M.�996,��4–��8.

8� Merkel�007(wieAnm.78),4�8.DiezeithistorischeForschunghatzusätzlichzumMerkelschenBegriffder„sozialistischenModernisierungsdiktatur“diefolgendenTerminihervorgebracht:„Fürsorgediktatur“,„sozialistischeParteidiktatur“,„moderneDiktaturkommunistischenTyps“,„bürokratischeDiktatur“,„Erzie-hungsdiktatur“,„Überwachungsdiktatur“sowie„kommodeDiktatur“.Vgl.schMiechen-ackerMann�00�(wieAnm.7),60.

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OsteuropaundinsbesondereinOstmitteleuropawardasBildungsniveauhöheralsindenanderenTransformationsländernderdrittenWelt.“82

Hinzufügen könnte man hier den Ausbaugrad des Sozialstaats sowie die Dichte derZivilgesellschaft. Auch dabei treten sowohl beträchtliche Ost-Süd-Unterschiede alsauchOst-Ost-Differenzenzutage.83UndMarianneKneuerhat in ihrergrundlegendenUntersuchung zur „Demokratisierung durch die EU“ neben der Sogwirkung sowohlder „Beitrittseuropäisierung“ als auch der „Mitgliedseuropäisierung“84 bezüglich desspanischenFallsaufetwasverwiesen,dasman„Nachbarschaftsdemokratisierung“nennenkönnte:

„Eswar[…]eindemokratieförderlicherUmstand,dasssichdieNachbarnPortugalundGriechenland–alsomitSpaniendieletztenverbleibendenRechtsdiktaturenEuropas–demokratisierten.“85

Dies gilt für das postkommunistische Ostmittel- und Südosteuropa in potenziertemMaße, wobei temporäre Ausnahmen wie etwa die Slowakei unter MinisterpräsidentVladimírMečiarvon1994bis1998dieseRegeleindrücklichbestätigen.86

Ein zweiter Kritikpunkt Merkels am Konzept eines „Dilemmas der Gleichzeitigkeit“ist die Unterschätzung des Staatlichkeitsfaktors, verstanden von ihm im Anschluss anLinz und Stepan (und an Georg Jellineks Dreielementenlehre) sowohl als „IntegritätvonStaatsvolk,StaatsgebietundStaatsmacht“alsauchals„AdministrationsfähigkeitderStaatsbürokratie“.87AuchunterAnlegungdiesesKriteriumskommterzumErgebniseineshohen Demokratiekonsolidierungspotentials im „engeren“ Ostmitteleuropa zwischenTallinnundLjubljanaundeinesniedrig(er)enaufdemBalkanundimGUS-Bereich:

8� Merkel �007(wieAnm.78),4�8.8� Vgl.beispielsweisehilDerMeier, Manfred/kocka,Jürgen/conraD,Christoph(Hg.):EuropäischeZivilgesell-

schaftinOstundWest.Begriff,Geschichte,Chancen.Frankfurta.M.-NewYork/NY�000undkaelble,Hart-mut:SozialgeschichteEuropas.�945biszurGegenwart.München�007.SieheauchdieUntersuchungvonhockerTs,HansGünter(Hg.):DreiWegedeutscherSozialstaatlichkeit.NS-Diktatur,BundesrepublikundDDRimVergleich.München�998.

84 axT,Heinz-Jürgen/Milošoski,Antonio/schWarz,Oliver:Europäisierung–einweitesFeld.LiteraturberichtundForschungsfragen.In:PolitischeVierteljahresschrift48,�(�007),��6-�49,hier�4�–�44.

85 kneuer �007(wieAnm.��),�97.86 Ebd.,���–���.SieheauchDiMiTrova,Rozaliya:VerspäteterAutoritarismus:DieSlowakei�99�–�998.In:

AutoritarismusinMittel-undOsteuropa.Hg.vonJerzyMaćkóW.Wiesbaden�009,�09–��7.87 Merkel �007(wieAnm.78),4�8.

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„InjenenLändern[…],indenenkeineStaatlichkeitsproblemevorhandenwaren,hatdaskommunistischeRegimeeineneinigermaßenfunktionierendenStaat,vergleichsweiseumfangreicheöffentlicheRessourcenundeinVerständnisfürdienotwendigenFunktionendesStaateshinterlassen.[…]StaatsfixierteAutokratiengebeneinpositiveresVermächtnisfürdieDemokratisierungweiteralsDiktaturenmitschwachenStaatstrukturen.“88

Auchhier ist also einedeutlicheParallele zumEntwicklungsverlauf imSüdeuropaderzweitenHälfteder1970erJahrezuerkennen–wiebezüglichdesdrittenMerkelschenKritikpunktes anOffe,nämlichderFokussierungaufBinnenakteurebeiAusblendungexternerAkteure.Sowohlimsüdeuropäischenwieimostmittel-undsüdosteuropäischenFall war ihm zufolge die Wirkung der „Karotte“ eines Beitritts zur EuropäischenGemeinschaftbzw.UnionvonkaumzuunterschätzenderBedeutung.89

InMerkelsSichtistalsodasauchvonihmsogenannte„Vermächtnis“derParteidiktaturandieNachfolgegesellschaften,seiendiesebezüglichihresDemokratisierungsgradesnun„defekt“oder„liberal“,alsosowohleinesvonstaatlicherHardware–sodieStrukturendesBildungswesens–alsauchvonSoftware,etwaimFalledesStaatsverständnisses.MitBlick aufdieLinz-StepanscheFormel vonder „VorgeschichtedesPostkommunismus“ist dabei jedoch anzumerken, dass diese sich natürlich nicht auf die kommunistischePeriodebeschränkt.Beides,HardwarewieSoftware, sind imFallevonNationalstaatenwie Polen oder Ungarn, Estland oder Litauen, deutlich älteren Datums, gehören alsozur Vorgeschichte nicht des Post-Kommunismus, sondern des Kommunismus. Die– zugegebenermaßen schwachen – Demokratietraditionen im östlichen Europa derZwischenkriegszeitunddienichtselten ins19.Jahrhundert,gar in früheNeuzeitundMittelalterreichendenstaatlichenTraditionenwirkenauchinderGegenwartfort.90

88 Ebd.,4�9.89 Ebd.,4�9–4�0.IneinemVortragzumThema„DasDilemmaderGleichzeitigkeit.EinRückblickaufdie

Transformationsforschung“am8.Juli�009inLeipzighatClausOffezumeinenseinedreifacheDenkfigurgegenMerkelsKritikverteidigt,zumanderenaberseinezudüsterePrognosevon�99�ebenfallsmitdemVerweisaufdiepositivkonditionalisierendeWirkungderEU-Beitrittsperspektiverelativiert.Grundle-genddazukneuer�007(wieAnm.��),bes.�6–�9.

90 Sieheexemplarischbeyrau,Dietrich:ZwischenAutonomieundAbhängigkeit:Ostmitteleuropa�9�9–�9�9.In:DiegroßeKrisederdreißigerJahre.VomNiedergangderWeltwirtschaftskrisezumZweitenWeltkrieg.Hg.vonGerhardschulz.Göttingen�985,�79–�99;berenD,IvánT.:TheCrisisZoneofEurope:AnInterpretationofEast-CentralEuropeanHistoryintheFirstHalfoftheTwentiethCentury.Cambridge-NewYork/NY�986;(samtFolgebandvonDeMs.:CentralandEasternEurope�944–�99�.DetourfromthePeripherytothePeriphery.Cambridge�996);höpken,Wolfgang:StrukturkriseoderverpassteChance?ZumDemokratiepotentialdersüdosteuropäischenZwischenkriegsstaatenBulgarien,

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Regionalisierungen und Rankings

Der Zürcher Osteuropahistoriker Carsten Goehrke hat im Jahr 2000 bezüglich derTransformationschancen der Staaten und Gesellschaften des östlichen Europa unterBerücksichtungihres„historischenErbes“den„VersucheinervergleichendenErklärungauf dem Hintergrund europäischer Geschichtslandschaften“ unternommen und dabeidiesen Teil des Kontinent gemäß dem Transformationstempo in vier Ländergruppenunterteilt:(1)„Die‚Leader’Ostmitteleuropas:Tschechien,Estland,Polen,UngarnundSlowenien“91; (2) „Die Nachzügler beim Transformationsprozess in Ostmitteleuropa:Lettland, Litauen und Slowakei“92; (3) „Im Rückstand oder steckengeblieben: […]Russland, Kroatien, Bulgarien, Rumänien und Makedonien“93; und (4) „SchlusslichtderTransformation: Ukraine, Belarus, Serbien und Albanien“.94 Goehrkes kombiniertsoziokulturell-sozioökonomischerAnsatzweistdabeieinehistorischeTiefenschärfevoneintausendJahrenauf.

Ineiner2005unternommenenTypologiederModidesDiktaturerinnerungsvergleichsim östlichen Europa habe ich selbst unter Berücksichtigung einer deutlich kürzerenhistorischenTraditionebenfallsvierKategoriengebildet,dieals(1)antikommunistischergesamtgesellschaftlicher Konsens (Estland, Lettland, Litauen, Slowakei, Kroatien,Kosovo),(2)heftigeinnergesellschaftlicheKontroversen(Polen,TschechischeRepublik,Ungarn, Ukraine), (3) national(istisch)e Rückbesinnung (Rumänien, Bulgarien,Makedonien,Albanien,Slowenien,Serbien,Moldova)und(4)unkritischeSowjetnostalgie(RussländischeFöderation,Belarus’,Dnjestr-Republik)bezeichnetwerdenkönnen.95DieseerinnerungskulturellenKategorienweisensowohleinenhohenGradanDeckungsgleichheitmitGoehrkessozialgeschichtlicherEingruppierungalsauchmitdenunterschiedlichenGattungen postkommunistischer Gesellschaften auf, welche Linz und Stepan sowieMerkelidentifizierthaben,alsomit„liberalenDemokratien“mithohemoderniedrigemStaatlichkeitsfaktorsowiemit„defektenDemokratien“mitgünstigeroderwenigergünstigerZukunftsprognose.Diesistinsofernwenigerstaunlich,alsbeideSystematisierungsmuster

JugoslawienundRumänien.In:OstmitteleuropazwischendenbeidenWeltkriegen(�9�8–�9�9).StärkeundSchwächederneuenStaaten,nationaleMinderheiten.Hg.vonHansleMberg.Marburg/L.�997,7�–��7;undjanos,AndrewC.:EastCentralEuropeintheModernWorld.ThePoliticsoftheBorderlandsfromPre-toPostcommunism.Stanford/CA�000.

9� goehrke�000(wieAnm.60),7�8–7�4,hier7�8.9� Ebd.,7�4–7�7,hier7�4.9� Ebd.,7�7–7��,hier7�7.94 Ebd.,7��–7�5,hier7��.95 TroebsT �005:JaltaversusStalingrad(wieAnm.�).

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elitenzentriert sind. Zugleich wird in meinem eigenen Regionalisierungsmodellein Muster deutlich, das nur zum Teil mit staatlichen, bundesstaatlichen undBlockstrukturen des Kalten Krieges koinzidiert. Die 15 Nachfolgestaaten der UdSSRetwasindaufallevierKategorienaufgeteilt,diesiebendesNach-TitoschenJugoslawiensauf zwei, nämlich 1 und 3, und auch „nicht-post-kommunistische“ Staaten Nordost-und Südosteuropas wie Finnland und Griechenland lassen sich problemlos in diesesKategorienrastereinordnen(nämlichebenfallsunter1und3).Esscheint,alserwiesensichauflongue durée-StrukturfaktorenundhistorischePfadabhängigkeitenrekurrierendegeschichtsregionaleKonstruktionenwie„Ostmitteleuropa“,„Balkan“,„Nordosteuropa“oder„Südeuropa“alsoauchbeiderErklärungerinnerungskulturellerLangzeitmusteralshilfreich.96Allerdings istdabeidieFallederSelbstreferentialität zubeachten,wie etwadasBeispieldesausWiengebürtigenexilpolnischenUS-HistorikerskroatischerHerkunftOskar Halecki belegt: Seine eigener Aussage zufolge auf kulturellen und religiösenLangzeitfaktorenbasierendegeschichtsregionaleUntergliederungEuropasimallgemeinenundderOsthälfteimbesonderenmagmittelalterlicheGrundlagenaufweisen,ähneltindesfrappierenddenmentalenwierealenGrenzziehungendesKaltenKrieges.97WasHaleckisGliederungsmodellausderPerspektivederNach-„Wende“-Zeitabergeradewegenseines

96 Grundlegenddazuzernack,Klaus:Osteuropa.EineEinführunginseineGeschichte.München�977,��–4�,sowiesowie–mitsüd-,west-undnordeuropäischenBeispielensamtosteuropäisch-eura-sischemFokus–TroebsT,Stefan(Hg.):Geschichtsregionen:ConceptandCritique.MiltonPark,Abingdon,Oxfordshire�00�(=ThemenheftvonEuropeanReviewofHistory/Revueeuropéenned’histoire�0,�[�00�])undneuerdingsschenk,FrithjofBenjamin/Winkler,Martina(Hg.):DerSüden.NeuePerspektivenaufeineeuropäischeGeschichtsregion.Frankfurta.M.-NewYork/NY�007.Zumheuristisch-komparati-vistischenKonzeptderGeschichtsregioninsgesamtvgl.sTrohMeyer,Arno:HistorischeKomparatistikunddieKonstruktionvonGeschichtsregionen:derVergleichalsMethodederhistorischenEuropaforschung.In:JahrbücherfürGeschichteundKulturSüdosteuropas�(�999),�9–55;giorDano,Christian:Interde-pendenteVielfalt.DiehistorischenRegionenEuropas.In:kaser/graMshaMMer-hohl/pichler�00�(wieAnm.58),���–��5;TroebsT,Stefan:Vomspatial turnzumregional turn?GeschichtsregionaleKonzeptionenindenKulturwissenschaften.In:DimensionenderKultur-undGesellschaftsgeschichte,�4�–�59undDers.:Meso-RegionalizingEurope:HistoryVersusPolitics.In:DomainsandDivisionsofEuropeanHistory.Hg.vonJohannP.arnasonundNatalieJ.Doyle.Liverpool�0�0,78–89.

97 halecki,Oscar:TheLimitsandDivisionsofEuropeanHistory.London-NewYork/NY�950(deutschalsEuropa.GrenzenundGliederungseinerGeschichte.Darmstadt�957;Reprint�96�);Ders.:BorderlandsofWesternCivilization.AHistoryofEastCentralEurope.NewYork/NY�95�;ReprintSafetyHarbour,FL,�000(deutschalsGrenzraumdesAbendlandes.EineGeschichteOstmitteleuropas.Salzburg�956).SieheauchTroebsT,Stefan:HaleckiRevisited:Europe’sConflictingCulturesofRemembrance.In:AEuropeanMemory?ContestedHistoriesandPoliticsofRemembrance.Hg.vonBosTråThundMałgorzatapakier.Oxford-NewYork/NY�0�0,56–6�.ZuPersonundWerkvgl.MoraWiec,Małgorzata:OskarHalecki(�89�–�97�).In:Europa-Historiker.EinbiographischesHandbuch.Hg.vonHeinzDuchharDTu.a.Göt-tingen�006,��5–��9,undböMelburg,Hans-Jürgen:ZwischenimperialerGeschichteundOstmitteleuro-paalsGeschichtsregion:OskarHaleckiunddiepolnische„jagiellonischeIdee“.In:VergangeneGrößeundOhnmachtinOstmitteleuropa:RepräsentationenimperialerErfahrunginderHistoriographieseit�9�8.Hg.vonFrank haDlerundMathiasMesenhöller.Leipzig�007,99–��0.

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nur notdürftig verhüllten Bezuges auf den Ost-West-Konflikt so erkenntnisträchtigmacht,wirddeutlich,wennmanesaufdieerinnerungskulturellenMesoregionenEuropasanwendet: Nach Halecki besteht das mittelalterliche wie neuzeitliche Europa aus dreigroßenGeschichtsregionen–„Westeuropa“,„Mitteleuropa“und„Osteuropa“,beiweitererUntergliederung „Mitteleuropas“ in „Westmitteleuropa“ und „Ostmitteleuropa“. UnddiesevierMesoregionenlassensichauchbezüglichdernationalenErinnerungskulturenimEuropaderGegenwartausmachen:(a)Das„transatlantisch“orientierteWesteuropa,gebildet aus den Weltkriegsalliierten Großbritannien und Frankreich, aber auchaus Nordeuropa, den Benelux-Staaten sowie den südeuropäischen Ländern Italien,SpanienundPortugal;(b)das„ambivalente“sowiepartielldoppelt„postdiktatorische“Westmitteleuropa,dasmeint„alte“BundesrepublikundDDRbzw.daswiedervereinigteDeutschland plus Österreich; (c) das „postkommunistische“ Ostmitteleuropa, alsodie baltischen Staaten, Polen, dieTschechische Republik, die Slowakei, Ungarn samtdem mit Halecki hellenisch-byzantinisch-osmanisch-orthodox geprägten Balkanraumeinschließlich Griechenlands; und schließlich (d) das „postsowjetische“ Osteuropa,d. h. die aus der Sowjetunion hervorgegangenen GUS-Republiken einschließlich derRussländischen Föderation, aber mit der „Haleckischen“ Ausnahme der Ukraine undBelarus’alsTeilOstmitteleuropas.DiegravierendenUnterschiedezwischendiesenviereuropäischen Erinnerungsregionen sind mittels Anlegen von europaweiten lieux de mémoire wie„1939“,„1945“und„1989“leichtaufdemRadarschirmdesGedächtnissesderEuropäersichtbarzumachen–mit„1956“und„1968“alsZwischenstufen.98

Die skizzierte erinnerungskulturelle Binnengliederung des östlichen Europa in viergeographisch weitgehend kontingente Kategorien deckt sich wiederum auf langenStrecken mit dem „Versuch einer kritischen Bilanzierung der Forschung um denZusammenhang von Institutionen und demokratischer Konsolidierung“ im östlichenEuropa, welchen der Politikwissenschaftler Timm Beichelt unlängst unternommen

98 SieheexemplarischTroebsT,Stefan:Der��.August�9�9.EineuropäischerLieudemémoire?In:Dikta-torenamSchachbrett-DerHitler-Stalin-Pakt,derKriegunddieeuropäischeErinnerung.Hg.vonMan-fredsapperundVolkerWeichsel.Berlin�009,�49–�56(=ThemenheftvonOsteuropa59,7–8[�009]);Ders.:„�945“alseuropäischerErinnerungsort?In:haMMersTeinu.a.�009(wieAnm.��),���-���;Ders.:VonNikitaChruščëvzuSandraKalniete.Der lieu de mémoire„�956“undEuropasaktuelleErinnerungskonflikte.In:Comparativ�6,�(�006),�50–�70undDers.:“�989“asaEuropeanLieu de Mémoire,or:IsthePostwarPeriodOver?In:�989imeuropäischenKontext.Hg.vonderkörber-sTifTung.Hamburg�009,siehehttp://www.koerber-stiftung.de/bildung/dossiers/�989-im-europaeischen-kontext.html,�7.�.�0�0.Zu„�945“vgl.auchDiner,Dan:Reims,Karlshorst,Sétif:DiemultipleBedeutungdes8.Mai�945.In:WasheißtundzuwelchemEndestudiertmanGeschichtedes�0.Jahrhunderts?Hg.vonNorbertfrei.Göttingen�007,�90–�95(dass.erweitertals:KontinentaleVerschiebungen.In:Ders.:GegenläufigeGedächtnisse.ÜberGeltungundWirkungdesHolocaust.Göttingen�007,4�-6�und���–��8).

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hat.99 Auch er identifiziert vier regionale Cluster bildende Kategorien, basierend aufdendreiIndikatoren„Wahlen“,„politischeRechte“und„BindungderRegierendenangesetztesRecht“:(1)Formal-demokratischeRegime(Estland,Lettland,Litauen,Polen,Slowakei, Slowenien,Tschechische Republik und Ungarn; (2) minimal-demokratischeRegime(Bulgarien,Kroatien,Rumänien,SerbienundUkraine);(3)einevorallemdurchWahlbetrugundmangelndeMedienfreiheitbedingteGrauzone(Albanien,Makedonienund Moldova); sowie (4) autokratische Regime (Belarus’, Russländische Föderation).100Auch Beichelt hat in sein Erklärungsmodell einen historischen Puffer eingebaut, indemerdievormaligeZugehörigkeitderStaatenderRegionzurHabsburgermonarchieundzuBrandenburg-Preußenbzw.zumDeutschenReichals„begünstigendeKontextbedingung“für Demokratiekonsolidierung wertet, hingegen frühere Eingliederung in den „russischoderosmanischdominiertenRaum“diesbezüglichalshemmendeinstuft.101Diegenanntebeträchtliche Koinzidenz aller drei Kategorisierungsmodelle, des historischen, deserinnerungskulturellenunddesdemokratiekonsolidierenden,verweisteinmalmehraufdieengeVerknüpfungvonDemokratisierungsniveauundIntensitätderDiktaturaufarbeitung.

EinenweiterenKategorisierungsversuchhabendiebeidenschwedischenPolitikwissenschaftlerJoakimEkmanundJonasLindeunternommen,wobeisiedasKriteriumderSehnsuchtnachderautoritärenVergangenheitindenTransformationsgesellschaftendesöstlichenEuropaalsTertiumcomparationisnehmen.102SiegreifendabeidiegenanntePrämissevonLinzundStepanauf,derzufolgeverklärteVergangenheitssichtundDemokratiekonsolidierungsichnichtwechselseitigausschließen.EkmansundLindesforschungsleitendeundaufdiezehngegenwärtigenEU-MitgliederimöstlichenEuropabezogeneFragelautetdaher:

”[I]sthepresenceofauthoritarianrulenostalgiaanindicationofgenuinenon-democraticvaluesamongcitizensincontemporaryCentralandEasternEurope,acquiredastheresultofpoliticalsocialisationintheold,communist-authoritariansystem?Or,isthepresenceofnostalgiaquitesimplybroughtaboutbyaperceivedoutputdeficit,andrelatedtothegeneraldiscontentwiththedemocraticsystem’sperformanceability?”103

99 beichelT,Timm:DieRollederpolitischenInstitutionenimProzessderDemokratiekonsolidierunginMittel-undOsteuropa.In:Backes/jaskułoWski/polese�009(wieAnm.40),49–6�.

�00 Vgl.Tabellen�,„IndikatorenfürdemokratischeKonsolidierunginOsteuropa(Stand:�006)“,und�,„De-mokratischeKonsolidierungimpostsozialistischenEuropaundinstitutionelleGrundform(Stand:�006)“.Ebd.,55und60.

�0� Ebd.,57.�0� ekMan,Joakim/linDe,Jonas:FondMemoriesofDictatorships?–NostalgiaandSupportforDemocracyin

Post-CommunistEurope.In:backes/jaskułoWski/polese�009(wieAnm.40),�4�–�60.�0� Ebd.,�45.Vgl.dazuauchroberTs,Andrew:ThePoliticsandAnti-PoliticsofNostalgia.In:EastEuropean

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Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass zum einen die baltischen Staaten insoferneine besondere Gruppe bilden, als hier der „Nostalgielevel“ mit 6 bis 11 ProzentpositivenRespondenten(2004)niedrigundseit1995nurminimalgestiegenist–wobeiLettlandmiteinemAnstiegvon7auf11Prozentregionaler„Spitzenreiter“ist.104Zumanderenkonstatierensie,dassderAnteilderjenigenBefragten,dieeineRückkehrzumkommunistischen Herrschaftsmodell befürworten, bei den übrigen EU-MitgliedernimöstlichenEuropamit14bis31Prozent(2004)deutlichhöherals imBaltikumist.DieNummer1isthierBulgarien(31Prozent),wozugleichmit25Prozent(1993)diehöchsteAusgangspositionfestzustellenist.DendeutlichstenSprunghatzwischen1993und2004dieSlowakeigemacht–von16auf28Prozent–,währenddieTschechischeRepublik sowohl 1993 wie 2004 „Tabellenletzter“ war (mit 7 bzw. 14 Prozent). Dieheftigsten Ausschläge nach unten und oben hatte Polen zu verzeichnen: Von 1993auf1995von17auf8Prozent,zwischen1995und2004dannvon8auf24Prozent.InsgesamtistderAnteilder„Nostalgiker“indensiebennicht-baltischenheutigenEU-StaatenOstmittel-undSüdosteuropaszwischen1993und2004von7bis26Prozentaufdiegenannten14bis31Prozentgestiegen–imDurchschnittumsiebenProzentpunkte.Einziger „Ausreißer“ dieses Trends ist Ungarn, wo der Zustimmungsgrad zu einerRückkehrzumKommunismusimgenanntenZeitraumvon18auf14Prozentsank.105EkmanundLindekönnenüberdieszeigen,dassdas„Nostalgieniveau“mitzunehmendenAltersteigt–beidenüber50jährigenlages2004imSchnittinallenzehnosteuropäischenEU-StaatendoppeltsohochwieinderAltergruppeder18-bis29jährigen106–unddasses direkt mit der Bewertung des früheren und des gegenwärtigen Wirtschaftssystemskorreliert. Lediglich Esten und Tschechen hielten 2004 die Marktwirtschaft derKommandoökonomie gegenüber mehrheitlich für überlegen – alle anderen warengegenteiligerMeinung,zuvörderstBulgarenundSlowaken.107Bezeichnendistallerdings,dassnichtnurTschechenundLetten2004mehrheitlichihrepersönlichewirtschaftlicheLagebesseralsimStaatssozialismuseinschätzten,sondernauchSlowenenundRumänen–alleanderenhieltensiefürschlechter.108AuchwenndieWirkungenderunterschiedlichen

PoliticsandSociety�6,�(�00�),764–809;pickel, Gert:NostalgieoderProblembewusstsein?Demokrati-sierungshindernisseausderBewältigungvonVergangenheitinOsteuropa.In:schMiDT/pickel/pickel�009(wieAnm.7�),��9–�58undToDorova/gille�0�0(wieAnm.�4).

�04 Abb.”ApprovalofareturntocommunistruleintheBalticcountries(%)“.In:ekMan/linDe�009(wieAnm.�0�),�49.

�05 Abb.”ApprovalofareturntocommunistruleinCentralandEasternEurope(%)”.Ebd.,�48.�06 Abb.”Approvalofareturntocommunistrulebyage(%)“.Ebd.,�5�.�07 Abb.”Evaluationofthepastandpresenteconomicsystem(%)“.Ebd.,�54.�08 Abb.”Evaluationofthepastandpresentpersonaleconomicsituation(%)“.Ebd.,�55.

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EU-Eintrittsdaten der zehn untersuchten Gesellschaften in diese Gesamtrechnungeinzubeziehensind,korrelieren„Nostalgieniveau“einerseitsundDemokratisierungslevelsowieDiktaturaufarbeitungsgradandererseitsdeutlich.

BedauerlicherweiseliegenzuGriechenland,PortugalundSpanienkeinevergleichbarenUmfragen zur Diktaturnostalgie wie zum östlichen Europa vor. Xosé-Manoel NúñezSeixashatallerdings fürSpanienermittelt,dasshierderAnteilderjenigen,welchedendieFranco-DiktaturauslösendenBürgerkrieg„nichtvergessen“haben,indenfünfJahrenvon1995bis2000von40auf51Prozentgestiegenist,unddass200664,5ProzentallerbefragtenSpanierfüreineAufarbeitungdesBürgerkriegs,25,5Prozentdagegenund10Prozentunentschlossenwarenbzw.keineMeinungdazuhatten.109

Die empirische sozialwissenschaftliche Forschung und ihre regionalisierten Rankingszeigen zum einen, dass Transformationsprozesse in unmittelbar benachbartenNationalgesellschaftenganzunterschiedlichverlaufenkönnen.ZumanderenbelegteineKartierungdieserForschungsergebnisse,dasssehrwohlregionaleClustererkennbarsind– Baltikum, Visegrád-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechoslowakei bzw. Slowakei undTschechischeRepublik),Balkan,GUSu.a.–,dienichtzuletztaufsolchenUnterschiedenundGemeinsamkeitenberuhen,diesichaufdiejüngere,nichtseltenauchaufdielängerzurück liegende Vergangenheit zurückführen lassen. Dabei sind geschichtsregionaleZuordnungenmitnichteneinProkrustesbett,sondernbietendieMöglichkeitzurErklärungsolcher Phänomene, die Sozialwissenschaftlern zufolge mit sozialwissenschaftlichenMethodennurunzureichenderklärtwerdenkönnen.

�09 núñez, Xosé-Manoel:ZwischenGedächtnisundPolitik:DiespanischeZivilgesellschaftunddieAufarbei-tungderfranquistischenDiktatur.In:haMMersTeinu.a.�009(wieAnm.��),�60–�74,hier�60.

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Unpolitisch, „historisch“ und ethnokulturell: Postdiktatorische Regionalisierungsmuster im Eurovision Song Contest

DiesgiltinerhöhtemMaßefüreinebesondersmassenwirksameFormderBekundung(meso)regionalkultureller Präferenzen im postdiktatorischen Europa. Gemeint ist ”theannualmusic competitionEuropeans love tohate“, alsoderEurovisionSongContest(ESC).110Dieser seit 1956durchgeführte Schlagerwettbewerb ist eineder sichtbarstenunddamitzugleichpublikumswirksamstenkulturellenManifestationen„Europas“mitbeträchtlichemgeschichtskulturellemPotential.ZunächstunterderBezeichnungGrandPrix Eurovision de la Chanson Européenne als „westliche“ Gründung auf den Weggebracht, nahmer von1991 an gesamteuropäischen, ja paneurasischenCharakter an.DievonmusikalischenKriterieninallerRegelunbeeinflusstenMechanismennationalerBewertungeninFormvonPunktevergabeaufgrundtelefonischerPublikumsreaktionensind dabei mitnichten „anti-hegemonial“ sondern eben „geschichtsregional“. DerpostsowjetischeRaummitseinenbaltischenundkaukasischenSubregionenwirddadurchebensosichtbarwiedas„nordische“FennoskandienoderdasbalkanischeSüdosteuropaeinschließlich seiner orthodoxen und muslimischen, postjugoslawischen und EU-Bestandteile.DassKroatienundSerbienvornichteinmalzwanzigJahrenimKrieglagen,spieltdabeiebensowenigeineRollewiediediktatorischeHegemoniederUdSSRüberLettlandoderBulgarien:KroatengebenihrezwölfPunkte–dieHöchstzahl–habituellanSerbien(selbstwenn,wie2007geschehen,dieserbischeSiegerinPublikumundKamerasdendreifingrigenČetnik-Grußentbietet)111,SerbienseinezwölfanRusslandundzehn–diezweithöchsteWertung–anKroatien,LettlandzwölfanRusslandundzehnanEstlandoderSchweden,RusslandzwölfanSerbienundzehnandieUkraine,undsoweiter.112Undwenn,wie2009,zweiRegionalisierungsmusterzusammenfallen–hierdaspostsowjetischeunddas skandinavische–, istderSiegsogutwie sicher.Lediglichder„alte“Kerndes

��0 raykoff,Ivan/Tobin,RobertDeam(Hg.):ASongforEurope.PopularMusicandPoliticsintheEuropeanSongContest.Abingdon�007;WolTher,Irving:„KampfderKulturen“.Der„EurovisionSongContest“alsMittelnational-kulturellerRepräsentation.Würzburg�006;kenneDy o’connor,John:TheEurovisionSongContest,50Years.TheOfficialHistory.London�005;feDDersen,Jan:EinLiedkanneineBrückesein.DiedeutscheundinternationaleGeschichtedesGrandPrixEurovision.Hamburg�00�undgaMbaccini, Paul/rice,Jonathan/broWn,Tony:TheCompleteEurovisionSongContestCompanion�999.London�999.

��� MiTrović, Marijana:”NewfaceofSerbia“attheEurovisionSongContest:internationalmediaspectacleandnationalidentity.In:EuropeanReviewofHistory�7,�(�0�0),�7�–�85.

��� ZueinermathematischfundiertenNetzwerkanalysedieservotingclustersvgl.fenn,Daniel/suleMan, Omer/efsTaThiou,Janet/johnson,NeilF.:HowdoesEuropeMakeItsMindUp?Connections,cliques,andcompatibilitybetweencountriesintheEurovisionSongContest.In:PhysicaA:StatisticalMechanicsanditsApplications�60,�(�006),576–598,siehehttp://arxiv.org/PS_cache/physics/pdf/0505/050507�v�.pdf,�8.�.�0�0.

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europäischenIntegrationsprozessesumdiesechsGründerderMontanunionnimmthierkeineKonturenan,geschweigedennsubregionalenEinheitenwiedieBenelux-Staaten,dieIberischeHalbinsel,derdeutschsprachigeRaumoderdieromanischenVölker.Der„Osten“ macht dem „Westen“ vor, was mesoregional-kulturelle Identifikation bzw.Solidaritätbedeutet–wasim„Westen“malalsSpätfolgeeinespostsowjetischenStockholm-Syndroms,malalsNeuauflageeinesvonRusslandgesteuertenPanslavismus,jedenfallsalseineArtunzulässigesmusikpolitischesDopingkritisiertwird.EntsprechendistdasESC-BewertungssystemGrund für ständigeDiskussionen samtModifizierungen,umbuddy votingwiebloc voting,d.h.dieVergabevonSympathie-bzw.LoyalitätspunktenanstellevonQualitätspunkten,zuverhindern.DieletzteÄnderungderRegularien,mittelsdererdasGewichtdernationalenWertungenperTelefonauf50Prozentzurückgestuftunddieanderen50ProzenteinernationalenJuryübertragenwurden,änderteamÜbergewichtpolitischer,kulturellerundregionalerFaktorenübermusikalisch-ästhetischenWertungenjedochnichts,wieder54.WettbewerbimMai2009inMoskaubelegte:AlexanderRybak,dermitdemselbstkomponiertenSong„Fairytale“unangefochtenerSiegerwurde, tratzwar fürNorwegenan, ist aber gebürtigerWeißrusse ausMinsk.Wenigüberraschenderhielt er daher die jeweils höchste Punktzahl zwölf aus dem postsowjetischen Raum–Belarus’,Russland,Ukraine,Estland,LettlandundLitauen–,vom„Nachbarn“PolensowievondennordischenStaatenIsland,SchwedenundDänemark.LediglichFinnlandfielmitachtPunktenausdemMuster–nichthingegenmitseinenzwölffürEstland.

Unverkennbar ist also zum einen die Wirkung des Epochenjahres 1989 auf den sichdadurchbeträchtlicherweiterndenESCundzumanderendieWirkungdesESCaufdieneuenundaußergewöhnlicherfolgreichenPartizipantenimöstlichenEuropa.DieSiegeEstlands2001,Lettlands2002,derUkraine2004,Serbiens2007undRusslands2008belegendiesdeutlich.DabeiberuhteetwaderErfolgderukrainischenSängerinRuslanainIstanbul2004maßgeblichaufdenjeweilszwölfPunktenausRussland,Polen,Litauen,LettlandundEstlandsowiejeweilszehnausBelarus’undSerbien.RuslanawurdewenigeMonatespäterzueinerIkoneder„orangenenRevolution“und2006garAbgeordneteimukrainischenParlament.Undals2005derESCinKievstattfand,wurdedieinoffizielleHyme des proeuropäischen Lagers um den seinerzeitigen PräsidentschaftskandidatenViktor Juščenko „Razom nas bahato“ (Gemeinsam sind wir viele) zum offiziellenukrainischen ESC-Beitrag.113 Der homo post-sovieticus mag mitunter sowjetnostalgisch

��� AllerdingswurdenzudiesemZweckdieLiedpassagen„Fälschungen,nein!Machinationen,nein![…]JuščenkoistunserPräsident,ja,ja,ja!“sowie„WirsindkeinVieh,wirsindkeineZiegen,wirsindSöhneundTöchterderUkraine!“durchUnverfänglichesersetzt,jedochderRefrain„Gemeinsamsindwirviele,niemandkannunsbesiegen!“zusätzlichzumukrainischerOriginalauchinpolnischer,tschechischer,deutscher,spanischer,französischerundrussischer(!)Sprachewiederholt.Vgl.raykoff,Ivan:Camping

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sein;dasheißtabernicht,dasserderDiktaturnachtrauert-womitzumeinendieLinz-Stepan’scheAnnahmeeinmalmehrbestätigtwäre,zumanderenaberauchdasbeschriebene(meso)regionalkulturelleSolidaritätsmuster.

Europäisierung der Diktaturbewältigung? Paneuropäische Institutionen als Generatoren gesamteuropäischer Geschichtspolitik

DieDiskussiondarüber,ob„Europa“eineeigene,europabezogeneIdentifikationsprozesseweiterbeförderndeErinnerungskulturbenötigt–undfolgerichtigeinetranseuropäischeGeschichtspolitikentwickelnmuss–bzw.obeinsolch„europäischesGedächtnis“bereitsimEntstehenist,istauchindenSozial-undKulturwissenschafteninvollemGange.114DiePositionenreichendabeivonderForderungnachdiesbezüglicherintellektuellerundkulturwissenschaftlicher „Amtshilfe“ für die Brüsseler Beamten bis zum Postulat nachAbstinenzderakademischenWeltvondenNiederungeneuropäischerIdentitätspolitik.Den politberatenden Vorschlag mit der größten Praxisnähe hat dabei der EssenerPolitikwissenschaftlerClausLeggewieunterbreitet,indemeraufsieben„konzentrischenKreisen“gleichangeordnete„AnkerundFluchtpunkteeinersupra-undtransnationalenErinnerung“abhebt.115DiesenschreibterdasPotentialzurStiftungeinerqualitativneuenIdentitätderEuropäerals„größtemNoch-Nicht-VolkderErde“zu–inderGestalteines

onthebordersofEurope.In:raykoff/Tobin�007(wieAnm.��0),�–��,hier4–5undbaker, caTherine:WildDancesandDyingWolves:Simulation,Essentialization,andNationalIdentityattheEurovisionSongCon-test.In:PopularCommunication6,�(�008),�7�–�89.

��4 SiehedazudiedreiaktuellenSammelbändevonjoerges, Christian/MahlMann,Matthias/preuss,UlrichK.(Hg.):„SchmerzlicheErfahrungenderVergangenheit“undderProzessderKonstitutionalisierungEuropas.Wiesbaden�008;jarausch,KonradH./linDenberger,Thomas(Hg.):ConflictedMemories.EuropeanizingContemporaryHistories.NewYork/NY-Oxford�007undsTråTh/pakier�0�0(wieAnm.97)sowiefrançois, Etienne:IsteinegesamteuropäischeErinnerungskulturvorstellbar?In:henningsen/klieMann-geisinger/Tro-ebsT�009(wieAnm.�5),��–�0;schWelling,Birgit:DasGedächtnisEuropa.EineDiagnose.In:Europa-Studien.EineEinführung.Hg.vonTimmbeichelTu.a.Wiesbaden�006,8�–94;assMann,Aleida:DerlangeSchattenderVergangenheit.ErinnerungskulturundGeschichtspolitik.München�006,�50–�79;rousso, Henry:DasDilemmaeineseuropäischenGedächtnisses.In:ZeithistorischeForschungen�,�(�004),�6�–�78;paTel,KlausKiran:EuropasSymbole.IntegrationsgeschichteundIdentitätssucheseit�945.In:InternationalePolitik59,4(�004),��–�8undjeisMann,Michael:Schuld–derneueGründungsmythosEuropas?DieInternationaleHolocaust-KonferenzvonStockholm(�6.–�8.Januar�000)undeineMoral,dienachhintenlosgeht.In:HistorischeAnthropologie8,�(�000),454–458.

��5 leggeWie,Claus:SchlachtfeldEuropa.TransnationaleErinnerungundeuropäischeIdentität.In:BlätterzurdeutschenundinternationalenPolitik64,�(�009),8�–9�.SiehedazuTroebsT,Stefan:KonzentrischeKreiseoderHaleckischeGeschichtsregionen?KommentarzuClausLeggewies„SchlachtfeldEuropa“.In:KulturimKonflikt.ClausLeggewierevisited.Hg.vonChristophbieber,BenjaminDrechselundAnne-Katrinlang.Bielefeld�0�0(imErscheinen).

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zuvor nur bei Einzelnationen feststellbaren „gemeinsamen Geschichtsbewusstseins“.Die ersten fünf seiner Kreise sind dabei „die großen Katastrophen des langen 20.Jahrhunderts“,nämlichderHolocaustalsmemorialerNukleus,weiterGULag,ethnischeSäuberung,GenozidandenArmeniernundKolonialismus.DersechsteKreis,„Europaals Einwanderungskontinent“, ist ambivalenter Natur, und nur der siebte, „EuropasErfolgsgeschichtenach1945“,isteindeutigpositiverArt.

Leggewies„konzentrischeKreise“basierensämtlichaufkonkreterMemorialpolitik.DennpaneuropäischeInstitutionenwiedieEuropäischeUnionundderEuroparat,amRandeauchdieOrganisationfürSicherheitundZusammenarbeitinEuropa(OSZE),habendieErinnerungskulturalsTeilgebieteuropäischenIdentitätsmanagementsunddamitalsneuesundvielversprechendesPolitikfelderkannt,formulierenentsprechendteilsinformell,teilsoffizielleigeneGeschichtspolitikenunderprobendiesetastend.AuchwennderKonsensübereineeuropäischeidentitätspolitischeArbeitsteilungzwischenderEUeinerseits,hiervorallemdemEuropäischenParlament,unddemEuroparatandererseits–auchhieristdieParlamentarischeVersammlungdietreibendeKraft–mittlerweilebröckelt116,istdieeuropäischeGeschichte,nebendeneuropäischenWerten,auchgegenwärtigdieDomänederältesten,inStraßburgansässigenpaneuropäischenInstitution.JedochandersalsaufdenGebietendesMenschenrechts-undMinderheitenschutzesistdiegeschichtspolitischeBilanz des Europarats durchwachsen. Der groß angelegte, auf eine polnisch-deutscheInitiativehinindenJahren2004–2006unternommeneVorstoßderParlamentarischenVersammlung zurGründung einesEuropean Remembrance Centre for Victims of Forced Populations Movements and Ethnic Cleansing unter den Auspizien Straßburgs etwascheitertegleichzweimalaneinerfranzösisch-türkisch-russländischenAblehnungsfront.117Dem stehen allerdings zwei erfolgreichere parallele Vorstöße der ParlamentarischenVersammlungvon2006zurVerurteilungdesFranco-Regimes(Empfehlung1736/2006)sowie zur „Beseitigung des Erbes der früheren kommunistischen totalitären Systeme“(Resolution 1481/2006) gegenüber, welche in ihren Formulierungen ähnlich oder gardeckungsgleich sind.118 Die letztgenannte Initiative stieß dabei auf Zustimmung beiAbgeordneten aus Ostmittel- und Südosteuropa, hingegen auf massive Ablehnung

��6 SiehedazuhaMMersTein,Katrin/hofMann,Birgit:Europäische„Interventionen“:ResolutionenundInitiativenzumUmgangmitdiktatorischerVergangenheit.In:haMMersTeinu.a.�009(wieAnm.��),�89–�0�,hierdenAbschnitt„DasEuropäischeParlamentunddieNS-VergangenheitimGedenkjahr�006“,�9�–�94.

��7 Troebst,Stefan:EuropäisierungderVertreibungserinnerung?Einedeutsch-polnischeChronique scanda-leuse�00�–�007.In:VerflochteneErinnerungen.PolenundseineNachbarnim�9.und�0.Jahrhundert.Hg.vonMartinausT,KrzysztofruchnieWiczundStefanTroebsT.Köln-Weimar-Wien�009,�45–�74undDers.(Hg.):VertreibungsdiskursundeuropäischeErinnerungskultur.Deutsch-polnischeInitiativenzurInstituti-onalisierung.EineDokumentation.Osnabrück�006.

��8 haMMersTein/hofMann�009(wieAnm.��5),�94.

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bei solchen aus der Russländischen Föderation. Mit Blick auf die Parlamentarier ausdem „alten“, westlichen Europa war eine ideologische Trennlinie zwischen Rechts(Zustimmung)undLinks(Ablehnung)erkennbar.UndwährendinPolitikundMediendesöstlichenEuropadieResolution einbreitesEcho fand,blieb sie inderwestlichenÖffentlichkeitnahezuunbeachtet.119

Naheliegenderweise bieten ihre unvergleichlich größeren Ressourcen der EU weitausgünstigereMöglichkeitenzurEntfaltungeinereuropaweitwirkungsvollenGeschichtspolitikalsdemEuroparat.DiesenVorteilhabenParlamentundKommission2008/09ausgespielt,als sie die Gründung eines Hauses der Europäischen Geschichte als Austellungs-,Dokumentations- und Informationszentrum beschlossen, eine Konzeption dazu inAuftraggaben,einenAufbaustabberiefensowieinBrüsseleineImmobilienerwarben.120Inden„InhaltlichenGrundlinienderDauerausstellung“dieserMuseumsneugründungistdabeiexplizitvonden„demokratischenTransformationsprozessen“im„SüdenEuropas“inder„Mitteder1970erJahre“dieRede,wiezugleicheinBezugzumRegimewandelimöstlichenEuropavon1989hergestelltwird:

„InGriechenlandbricht1974dasObristen-Regimezusammen,imgleichenJahrendetauchdieportugiesischeDiktatur.EbensowieinSpanieneinJahrspäterwerdendieDiktaturendurchparlamentarischeDemokratienabgelöst.Die‚Nelkenrevolution’inPortugal1974beendetzudemdieKriegeinAfrika[…].NachdemToddesDiktatorsFrancoam20.November1975istderfriedlicheÜbergangvonderDiktaturzurDemokratieeinvielfachbeachtetesPhänomenundstrahltaufdieEreignisseindenOstblockstaatenEndeder1980erJahreaus.“121

Dass mittlerweile die EU in Gestalt des Europäischen Parlaments geschichtspolitischaktiverauftrittalsdiedurchMitgliederwiedieRussländischeFöderationoderdieTürkeigehandicappte Parlamentarische Versammlung des Europarats, demonstriert überdiesdie Initiative zur Proklamierung des 23. Augusts – desTages der Unterzeichnung desHitler-Stalin-PaktsdurchdieAußenministerJoachimvonRibbentropundVjačeslavM.Molotov1939inMoskau–zumEuropäischenGedenktagandieOpferderstalinistischen

��9 Ebd.,�96–�0�.��0 hanneMann,Matthias:TerrorundTraum.DieEuropa-PlänedesBonnerHausesderGeschichte.In:Frankfur-

terAllgemeineZeitungNr.�9�vom�5.Dezember�008,��.��� sachversTänDigenausschuss haus Der europäischen geschichTe:KonzeptionelleGrundlagenfüreinHausderEu-

ropäischenGeschichte.Brüssel�008,��,siehehttp://www.europarl.europa.eu/meetdocs/�004_�009/documents/dv/745/7457��/7457��_de.pdf,�7.�.�0�0.

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undnazistischenVerbrechen,„umdasGedenkenandieOpfervonMassendeportationund-vernichtungaufrechtzuerhaltenundsomitDemokratiezustärkensowieFriedenundStabilitätaufunseremKontinentzufördern“.122Dieseging2008vomEuropäischenParlament aus; die Parlamentarische Versammlung des Europarats zog 2009 lediglichnach.123MitanderenWorten:BrüsselundStraßburghabenimKontextderDebatteüberIdentität,ÖffentlichkeitundDemokratisierungsgrad„Europas“mittlerweiledenHebelderGeschichtspolitikidentifiziertundsinddabeiihnanzusetzen–wenngleichmitunternochunbeholfen.

Süd- und osteuropäische (Diktaturen und) Diktaturerinnerungen im Vergleich: Eine Zwischenbilanz

IstnunaberbeiallerVergleichbarkeit,jaÄhnlichkeitderStrukturundFunktionsweisederDiktatureninSüd-undOsteuropaauchdieErinnerungindenpostdiktatorischenGesellschaften der Gegenwart an eben diese Diktaturen vergleichbar, gar ähnlich, wieLinzundStepandasannehmen?Vergleichbarja,undzwarindemSinne,wieprinzipiellallesauchbeiNichtähnlichkeitmiteinanderverglichenwerdenkann.Aberähnlich?Wohlkaum,denn„Geschichte“, „Gedächtnis“und„Erinnerung“ stehenkommunizierendenRöhrengleich indirekterVerbindungmitdem semantischenFeldder „Nation“.Undso unterschiedlich die Nationen Europas sowie entsprechend inkompatibel auch ihrehistorischenMeistererzählungensind,soverschiedensindzugleichdieFormenundMusterihrerDiktaturerinnerungen–unddamitderStrategienderDiktaturbewältigung.EinesaberhabendieinFragestehendenGesellschaftengemeinsam:IhrdemokratischesDesignistganzmaßgeblichvonderErfahrungderDiktaturund ihrerÜberwindunggeprägt.DiesgiltauchundgeradefürdiejeweiligeGeschichtskultur,seidiesenundurchkritischeAufarbeitungderdiktatorischenVergangenheitoderdurchderengezielteAusblendungausdemnationalenNarrativgeprägt.VerglichenmitdemkollektivenGedächtnis vonGesellschaften,diekeineDiktaturerfahrunggemachthaben,wirktdieGeschichtskulturpostdiktatorischer Gesellschaften aufgrund ihrer „Geschichtsversessenheit“ bzw.

��� ErklärungdesEuropäischenParlamentszurAusrufungdes��.AugustzumEuropäischenGedenktagandieOpfervonStalinismusundNazismus.Brüssel,�8.September�008,siehehttp://www.europarl.euro-pa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P6-TA-�008-04�9+0+DOC+XML+V0//DE,�7.�.�0�0.Vgl.auchhaMMersTein/hofMann�009(wieAnm.��5),�0�.

��� faz:Fürden��.AugustalsGedenktag.In:FrankfurterAllgemeineZeitungNr.�5�vom4.Juli�008.ZumKontextvgl.TroebsT�009(wieAnm.98).

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dem entgegengesetzen Modus der „Geschichtsvergessenheit“ gebrochen.124 Dergesellschaftliche Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, so scheint es, kennt keinMittelmaß –Timothy Garton Ashs „Mesomnesie“125 – sondern nur die Extreme vonAmnesieundPathomnesie.Dabei schließendiese sichmitnichtenaus, sondern folgenvielmehrinderRegelaufeinander,wieetwadieWirkungderÖffnungderFrancoschenMassengräberinSpanienoderderVergegenwärtigungdesPogromsvonJedwabne1941inPolenunterdeutscherBesatzung,beidesinsJahr2000fallend,belegen.126InbeidenFällen brachen Schweigekonsense bzw. Verdrängungsabreden eruptionsartig auf undinitiiertenschmerzhaftegesamtgesellschaftlicheSelbstvergewisserungsdiskurse.

Dass „[d]ie Überwindung der Folgen von Diktaturen […] ein zentrales Kennzeichendesvergangenen20.Jahrhunderts“istsowieüberdies„einewichtigeAufgabefürdas21.Jahrhundert [bleibt]“,wiedieHerausgebereinesaktuellenSammelbandeszumThemapostulieren127, ist wohl unbestritten. Die Hoffnung einer hauptamtlichen deutschenDiktaturfolgenbewältigerinjedoch,„dasseseinesTagesinEuropaStandardsdafürgebenwird,wiemanmitüberwundenenDiktaturenumgeht“128,erscheintgleichindoppelterHinsicht problematisch: Zum einen muss offen bleiben, ob sich diese Hoffnung jeerfüllenwird,undzumanderenistfraglich,obimnationalkulturellstarkdiversifiziertenEuropasolche„Standards“überhauptfunktionierenwürden–vonderunterschwelligen„europäischen“mission civilisatricederBehördederBundesbeauftragtenfürdieUnterlagendes Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik(BStU)einmalganzabgesehen.MitBlickaufdasöstlicheEuropahatzwarauchGartonAsh dem bundesdeutschen Modell der Vergangenheitsbewältigung attestiert, es habe

��4 ZurBegrifflichkeitvgl.assMann,Aleida/freverT,Ute:Geschichtsvergessenheit,Geschichtsversessenheit.VomUmgangmitdeutschenVergangenheitennach�945.Stuttgart�999.DazuauchfreverT,Ute:Ge-schichtsvergessenheitundGeschichtsversessenheitrevisited.DerjüngsteErinnerungsboominderKritik.In:AusPolitikundZeitgeschichte40–4�(�00�),6–��.

��5 garTon ash�00�/�00�(wieAnm.�0),��.��6 silva barrera,Emilio:TheImportanceofRemembranceintheTransitiontoDemocracyinSpain.In:

ruchnieWicz/TroebsT�004(wieAnm.�0),69–74;bernecker,WaltherL./brinkMann,Sören:KampfderErinne-rungen.DerSpanischeBürgerkrieginPolitikundGesellschaft�9�6–�006.Nettersheim�006;ruchnieWicz,Krzysztof:DiehistorischeErinnerunginPolen.In:AusPolitikundZeitgeschichte5–6(�005),�8–�6undDers.:Die„Jedwabne-Debatte“inPolen.DasschwierigsteundschmerzlichsteKapitelderpolnisch-jü-dischenBeziehungen.In:ausT/ruchnieWicz/Troebst�009(wieAnm.��6),�89–�98.

��7 borgsTeDT,Angela/frech,Siegfried/sTolle,Michael:BewältigungvonDiktaturen.In:Dies. �007(wieAnm.7),7–�6,hier7.

��8 SüddeutscheZeitungvom�0.Juli�006;zit.nachhaMMersTein/hofMann�009(wieAnm.��5),�89.Vgl.auchbirThler,Marianne:InstrumentarienderAuseinandersetzungmitderDiktatur–eininternationalerVergleich.In:NachdemFalldes„EisernenVorhangs“.GeschichteundÖffentlichkeitimeuropäischenVergleich.Hg.vondersTifTung haus Der geschichTe Der bunDesrepublik DeuTschlanD. zeiTgeschichTliches foruM leipzig.Leipzig�00�,7�–84.

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„eineneueNormderVollständigkeitgesetzt“,diesesaberzugleichals„DIN-Standards“129bzw. „,Deutsche Industrienormen‘ im Bereich der Geschichtsschreibung“ ironisiert.130Ernst gemeint hingegen war der Appell der ehemaligen Präsidentin des EuropäischenParlamentsundAuschwitz-ÜberlebendenSimoneVeilinihrerRedevordemDeutschenBundestagam27.Januar2004,demGedenktagfürdieOpferdesNationalsozialismus,zurBekämpfungvonpostkommunistischerHolocaust-VerdrängungundvonAntisemitismus„ineinigenosteuropäischenLändern“:

„ZueinerZeit,wo[sic!]EuropasichnachOstenöffnet,sinddieseEntgleisungeninhöchstemMaßealarmierend,denndieseangeblichengeschichtlichenKontroversenberührendieIdentitätdeszukünftigenEuropaimKern.Deutschland,dasbeideFormendesTotalitarismuserlebthatundnunwiedervereinigtist,kanndenneuenMitgliedstaatensicherlicheinegroßeHilfedabeisein,sichdesProblemsdieserUngleichgewichtigkeitderErinnerunggelassenanzunehmen.“131

The Germans to the front! also – diesmal jedoch nicht wie 1900 im chinesischenBoxeraufstandinUniform,sonderningeschichtspädagogischemZivil?AndersalsbeiderDiktaturfolgenbeseitigunggibtesmitBlickaufdieAntisemitismusbekämpfungaushöchstnaheliegendenGründenkeinAnzeichendafür,dassdieauswärtigeGeschichtspolitikdespostdiktatorischenDeutschlandandereGesellschaftenanihremeigenen„Wesengenesen“lassenwill.Funktionierenwürdedergleichenohnehinnicht,dennjedeDiktaturundjedesKollaborationsregimeistentscheidendvonnationalerSpezifikgeprägt,undentsprechendist die Erinnerung daran primär eine nationale. Folglich muss auch der Versuch derAufarbeitung–politisch,historisch, justiziellu.a.–injedemnationalenFallmühsammaßgeschneidertwerden.DieVorgehensweisederNachbarnoderdesRestsderWeltkanndabeialsInspirationdienen,nichtaberalsBlaupause,schongarnichtalsImportartikel.132DassdiegesellschaftlicheBewältigungdiktatorischerVergangenheitauchimintegriertenEU-Europa der 27 ein dorniger und langwieriger, von Sackgassen und Rückschlägen,ScheinheiligkeitundRachefurorgeprägterWegseinkann,belegenaktuellenationaleFällewieSpanienoderPolen.VorüberfünfzigJahrenhatderGöttingerHistorikerHermann

��9 garTon ash,Timothy:Strafgerichte,SäuberungenundGeschichtsstunden.In: Ders.:ZeitderFreiheit.AusdenZentrendesneuenEuropa.München�999,�08–���,hier�09.

��0 Ders.�00�/�00�(wieAnm.�0),��.��� veil,Simone:FondationpourlamémoiredeShoa.RedevordemBundestag,Berlin,�7.Januar�004,

siehehttp://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/veil/rede_veil.html,�7.�.�0�0.

��� Vgl.alsFallbeispielDakoWska,Dorota:Aufarbeitung„madeinPoland“unddieFragenachdemdeutschenStandard–IPNundBStUimVergleich.In:haMMersTeinu.a.�009(wieAnm.��),86–96.

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HeimpeldieDialektikvonNationalstaatenundIntegrationskonzepteninEuropaineinekomplizierte,aberebendeshalbadäquateFormelgefasst:„DieIdeederNationisteineeuropäischeIdee,mitEuropaistseinenationaleZertrennung,abermitdenNationenistEuropagegeben.“133FürdiepostdiktatorischenunterdennationalenGeschichtskulturenEuropasgiltdiesinpotenziertemMaße.

��� heiMpel,Hermann:EuropaundseinemittelalterlicheGrundlegung.In:Ders.:DerMenschinseinerGegen-wart.SiebenhistorischeEssays.Göttingen�954,67–86,hier68.

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Schluss

„Die Diktatur bedroht“ zwar nicht mehr, um noch einmal mit Maurice Duvergerzu sprechen, „ständig unsere Generation“134, aber sie beschäftigt die europäischenGesellschaftenweiterhin,unddiesumsomehr, je intensivernationaleÖffentlichkeitenin Europa über bislang unaufgearbeitete diktatorischeVergangenheiten zu diskutierenbeginnenundjestärkersicheuropäischeInstitutionenzueuropaweiterGeschichtspolitikberufenfühlen.DochesgibtnocheinenweiterenGrund,dendieausRumäniengebürtigeunddortaufgewachseneLiteraturnobelpreisträgerinHertaMüllerinihrerTischredenachdemNobelpreis-Konzertam8.Dezember2009eindringlichbenannthat–inmittelbarerAnknüpfung an die Duverger’scheWarnung vor dem „wildenTier“ der Diktatur von1961:

„BisheutegibtesDiktaturenallerCouleur.ManchedauernschonewigunderschreckenunsgeradewiederaufsNeue,wiederIran.AnderewieRusslandundChinaziehensichzivileMäntelchenan,liberalisierenihreWirtschaft–dieMenschenrechtesindjedochnochlängstnichtvomStalinismusoderMaoismuslosgelöst.UndesgibtdieHalbdemokratienOsteuropas,diedaszivileMäntelchenseit1989ständigan-undausziehen,sodassesschonfastzerrissenist.“135

MitBlickaufdasihrbekannteRumänien,aufBelarus’undaufSerbien,möglicherweiseauch auf Bulgarien und die Ukraine, hat die einer nachhaltig diktaturtraumatisiertenGenerationangehörendeSchriftstellerinwohlRecht,bezüglichPolensoderLettlandsabersichernicht,undschongarnicht,wasdenSüdenEuropasbetrifft.DieflächendeckendeundsystematischeAufarbeitungderzahlreichenundnichtseltensukzessivenDiktaturendes 20. Jahrhunderts im Süden und Osten steht erst am Anfang – mit erkennbarenFolgenfürdiepolitischenundhistorischenKulturendieserGesellschaften.Wie inderWissenschaftkanndabeiauchinstaatlicherGeschichtspolitikundzivilgesellschaftlicherErinnerungskulturdervergleichendeBlickaufdieeuropäischen(undaußereuropäischen)Nachbarninspirierendsein.

��4 Duverger�96�(wieAnm.�),7.��5 Zit.nachdemBerichtvonWichner,Ernst:Literatursprichtmitjedemeinzeln.Stockholmimköniglichen

Glanz:EindrückevonderVerleihungdesNobelpreisesanHertaMüller.In:DerTagesspiegelNr.�0469vom��.Dezember�009,�7.

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Der Autor

Stefan Troebst,Dr.phil.habil.(*1955),istOsteuropahistorikerundSlavistsowieseit1999ProfessorfürKulturstudienOstmitteleuropasanderUniversitätLeipzigundstellv.DirektordesaußeruniversitärenGeisteswissenschaftlichenZentrumsGeschichteundKulturOstmitteleuropas(GWZO),ebenfallsinLeipzig.AmGlobalandEuropeanStudiesInstitutederUniversitätLeipzigleiteterdasMasterprogramm„EuropeanStudies“.SeineForschungsgebietesinddievergleichendeKulturgeschichteEuropasmitSchwerpunktenaufErinnerungskultursowiegeschichtsregionalenKonzeptionen,desgleichen–mitdiplomatie-undwirtschaftshistorischerSchwerpunktsetzung–dieneuereGeschichteOsteuropasundseinerTeilregionenSüdosteuropa,Ostmitteleuropa,NordosteuropaundRusslandsowiedieGeschichtederinternationalenBeziehungeninderNeuzeit.

NeuereVeröffentlichungen:(Hrsg.):Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven.Göttingen2010;HaleckiRevisited:Europe’sConflictingCulturesofRemembrance.In:Stråth,Bo,MałgorzataPakier(eds.):A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance.London,NewYork2010,56–63;Meso-regionalizingEurope:HistoryVersusPolitics.In:Arnason,JohannP.,NatalieJ.Doyle(eds.):Domains and Divisions of European History.Liverpool2010,78–89;(Mithrsg.zusammenmitDetlefBrandesundHolmSundhaussen):Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts.Wien,Köln,Weimar2010.

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