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Ernst Junger - Der Arbeiter [ALE]

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    Ernst Jnger

    Der ArbeiterSmtliche Werke

    Zweite Abteilung Essays Band 8 Essays IIEssays II Der Arbeiter

    Klett-Cotta

    Verlagsgemeinschaft Ernst Klett J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,Stuttgart

    Alles Schlechte vorbehaltenFotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages

    Ernst Klett, Stuttgart 1981 Printed in GermanyGestaltung: Heinz Edelmann

    Fotosatz und Druck: Ernst Klett, StuttgartISBN 3-12-904181-8 (Lw)

    ISBN 3-12-904681-X (HIdr)Digitalisiert in Deutschland 2002

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    Inhalt

    Der Arbeiter Herrschaft und Gestalt

    Vorwort 3 [11]Vorwort zur ersten Auflage 4 [13]

    Erster Teil

    Das Zeitalter des dritten Standes als ein Zeitalter der Scheinherrschaft 5 [17]Der Arbeiter im Spiegelbilde der brgerlichen Welt 7 [20]Die Gestalt als ein Ganzes, das mehr als die Summe seiner Teile umfat 15 [37]Der Einbruch elementarer Mchte in den brgerlichen Raum 23 [52]

    Innerhalb der Arbeitswelt tritt der Freiheitsanspruchals Arbeitsanspruch auf 29 [63]Macht als Reprsentation der Gestalt des Arbeiters 34 [74]Das Verhltnis der Gestalt zum Mannigfaltigen 39 [84]

    Zweiter Teil

    Von der Arbeit als Lebensart 43 [93]Der Untergang der Masse und des Individuums 47 [102]Die Ablsung des brgerlichen Individuums

    durch den Typus des Arbeiters 59 [125]Der Unterschied zwischen den Rangordnungen

    des Typus und des Individuums 68 [142]Die Technik als Mobilisierung der Welt durch die Gestalt des Arbeiters76 [159]Die Kunst als Gestaltung der Arbeitswelt 101 [208]Der bergang von der liberalen Demokratie zum Arbeitsstaat 122 [250]Die Ablsung der Gesellschaftsvertrge durch den Arbeitsplan 140 [286]

    Schlu 153 [310]bersicht 154 [312]

    Maxima Minima

    Adnoten zum Arbeiter 158 [321]Aus der Korrespondenz zum Arbeiter 192 [388]

    N.B. Die Seitenzahlen der Werkausgabe stehen in [eckigen], die der Erstausgabe(Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1932) in {geschweiften} Klammern.

    http://k/Text_Scans/ARBEITERhttp://k/Text_Scans/ARBEITER
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    Der ArbeiterErstausgabe 1932

    HERRSCHAFT UND GESTALT

    VORWORT

    Das Werk ber den Arbeiter erschien im Herbst 1932, zu einer Zeit, in der be-reits an der Unhaltbarkeit des Alten und der Heraufkunft neuer Krfte kein Zweifelmehr bestand. Es stellte und stellt den Versuch dar, einen Punkt zu gewinnen, vondem aus die Ereignisse in ihrer Vielfalt und Gegenstzlichkeit nicht nur zu begrei-fen, sondern, obwohl gefhrlich, auch zu begren sind.

    Das Erscheinen des Buches kurz vor einer der groen Wenden ist nicht zufllig;und es fehlte nicht an Stimmen, die ihm einen Einflu darauf zubilligten. Das war

    natrlich nicht immer anerkennend gemeint, und leider kann ich dem auch nichtzustimmen einmal, weil ich den Einflu von Bchern auf die Aktion nicht ber-schtze, und sodann, weil dieses zu kurz vor den Ereignissen erschien.

    Htten die groen Akteure sich nach den hier entwickelten Prinzipien gerichtet,so wrden sie viel Unntiges, ja Unsinniges unterlassen und Notwendiges getanhaben, vermutlich sogar ohne Waffengewalt. Statt dessen leiteten sie einen Mahl-gang ein, dessen Bedeutung sich dort verbarg, wo sie es am wenigsten vermuteten:in der weiteren Auflsung des Nationalstaates und der mit ihm verknpftenOrdnungen. Aus diesem Aspekt heraus erklrt sich, was ber den Brger gesagtworden ist.

    Was sich auf anderen Teilen des Planeten ereignet und Millionen das Leben ge-kostet hatte, war nicht zu bersehen, und ebenso wenig, da die herkmmlichen

    Mittel nicht ausreichten. Demgegenber bleibt es eine akademische Frage, ob dieDoppelaufgabe sowohl einer rcksichtslosen Gepckerleichterung unter Wahrungder Kernsubstanz als auch einer Marschbeschleunigung ber den Fortschritt hinausberhaupt noch zu bewltigen oder ob nicht hinsichtlich der Bereitstellung zu-nchst 1848, sodann 1918 Unwiederbringliches [12] versumt worden war. Dasbetrifft den Unterschied der deutschen zur Weltdemokratie und rhrt nicht an dasProblem.

    Da hier nicht nur nationale, konomische, politische, geographische undethnologische Gren, sondern Vorhuten einer neuen Erdmacht geahnt und abge-tastet wurden, konnte inzwischen eingehender belegt werden. Es wurde auch be-reits damals von manchem Leser erkannt, obwohl das Episodische und Akziden-

    tielle, der politische und polemische Vordergrund eines Problems, zu allen Zeitendie Aufmerksamkeit strker fesseln als sein substantieller Kern. Dieser wirkt jedochauf die Dauer, wenn auch in stets wechselnden Verkleidungen.

    So sehen wir, whrend die historischen Mchte sich erschpfen, und zwar selbstdort, wo sie Imperien bildeten, zugleich im Weltmastab und ber ihn hinaus einGreres wachsen, von dem wir zunchst nur die dynamische Potenz fassen. Dasist ein Zeichen dafr, da der Gewinn an anderer Stelle zu Buche schlgt, als inner-halb der Hndel vermutet wird. Partielle Blindheit gehrt jedoch zum Plan. Uner-schtterlich, stets wirksamer aus dem Chaos hervortretend, bleibt allein die Gestaltdes Arbeiters.

    Seit langem, eigentlich schon seit dem Druck der ersten Auflage, beschftigenmich Plne zur Revision des Buches ber den Arbeiter. Sie sind mehr oder wenigerausgefhrt und variieren von einer durchgesehenen und einer grndlichdurchgesehenen Ausgabe bis zu einer Zweit- oder Neufassung.

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    Wenn trotzdem der unberhrte Text der dritten Auflage (1942) in dieGesamtausgabe bernommen wurde, so vor allem aus Grnden der Dokumenta-tion. Vieles von dem, was damals berraschend oder auch provokatorisch wirkte,ist heute in die alltgliche Erfahrung eingerckt. Zugleich ist vergangen, was zurReplik herausforderte. Eben deshalb lt sich auch leichter als damals die

    Ausgangslage und das Episodische an ihr dem unvernderlichen Kern des Buchesunterordnen: der Konzeption der Gestalt.[13]Immerhin sind auch die Anstze im Lauf der Jahre zu mehr oder minder

    umfangreichen Betrachtungen gediehen. Einige davon finden sich in den Essaybn-den dieser Ausgabe, andere sind hier im Anhang zusammengefat.

    Wilflingen, den 16. November 1963

    VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

    Der Plan dieses Buches besteht darin, die Gestalt des Arbeiters sichtbar zumachen jenseits der Theorien, jenseits der Parteiungen, jenseits der Vorurteile als

    eine wirkende Gre, die bereits mchtig in die Geschichte eingegriffen hat und dieFormen einer vernderten Welt gebieterisch bestimmt. Da es sich hier weniger umneue Gedanken oder ein neues System handelt als um eine neue Wirklichkeit,kommt alles auf die Schrfe der Beschreibung an, die Augen voraussetzt, denen dievolle und unbefangene Sehkraft gegeben ist.

    Whrend diese Grundabsicht sich wohl in jedem Satze niedergeschlagen hat, istdas vorgefhrte Material so, wie es dem notwendig begrenzten berblick und derbesonderen Erfahrung des Einzelnen entspricht. Wenn es nur gelungen ist, eineFlosse des Leviathans sichtbar zu machen, stt der Leser um so leichter zu eigenenEntdeckungen vor, als der Gestalt des Arbeiters nicht ein Element der Armut, son-dern ein Element der Flle zugeordnet ist.

    Es wird versucht, diese wichtige Mitarbeit durch die Methodik des Vertrages zuuntersttzen, die sich bemht, nach den Regeln des soldatischen Exerzitiums zuverfahren, dem ein mannigfaltiger Stoff als Gelegenheit zur Einbung ein unddesselben Zugriffes dient. Nicht auf die Gelegenheiten, sondern auf die instinktiveSicherheit des Zugriffes kommt es an.

    Berlin, den 14. Juli 1932

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    ERSTER TEIL

    DAS ZEITALTER DES DRITTEN STANDES ALS EIN ZEITALTER DERSCHEINHERRSCHAFT

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    Die Herrschaft des dritten Standes hat in Deutschland nie jenen innersten Kernzu berhren vermocht, der den Reichtum, die Macht und die Flle eines Lebensbestimmt. Auf ber ein Jahrhundert deutscher Geschichte zurckblickend, drfenwir mit Stolz gestehen, da wir schlechte Brger gewesen sind. Nicht auf unsereFigur war das Gewand zugeschnitten, das nunmehr bis auf den letzten Fadenabgetragen ist und unter dessen Fetzen bereits eine wildere und unschuldigereNatur erscheint als die, deren empfindsame Tne schon frh den Vorhang erzittern

    lieen, hinter dem die Zeit das groe Schauspiel der Demokratie verbarg.Nein, der Deutsche war kein guter Brger, und er war es dort am wenigsten, woer am strksten war. berall, wo am tiefsten und khnsten gedacht, am leben-digsten gefhlt, am unerbittlichsten geschlagen wurde, ist der Aufruhr gegen dieWerte unverkennbar, die die groe Unabhngigkeitserklrung der Vernunft aufihren Schild erhob. Aber nie waren die Trger jener unmittelbaren Verantwortung,die man als den Genius bezeichnet, vereinsamter, nie in ihrem Werk und Wirkengefhrdeter als hier, und nie wurde die reine Entfaltung des Helden sprlichergenhrt. Tief muten die Wurzeln durch drren Boden hinabgetrieben werden, umdie Quellen zu erreichen, in die die zauberische Einheit von Blut und Geist gebettetist, die das Wort unwiderstehlich macht. Ebenso schwierig war es dem Willen, jeneandere Einheit von Macht und Recht zu erringen, die die Eigenart dem Fremdengegenber zum Range des Gesetzes erhebt.[18]

    Daher war diese Spanne berreich an groen Herzen, deren letzte Auflehnungdarin bestand, da sie ihrem Schlage Einhalt geboten, {12} berreich an hohenGeistern, denen die Stille der Schattenwelt willkommen schien. Sie war reich anStaatsmnnern, denen sich die Quellen der Zeit versagten und die aus derVergangenheit schpfen muten, um fr die Zukunft ttig zu sein; reich anSchlachten, in denen das Blut sich in anderen Siegen und Niederlagen erprobte alsder Geist.

    So kommt es, da alle Positionen, die der Deutsche in dieser Zeit zu besetzenvermochte, nicht befriedigen, aber da sie an ihren entscheidenden Punkten an jeneGefechtsflaggen erinnern, deren Sinn in der Ordnung des Aufmarsches noch

    entfernter Armeen besteht. Dieser Zwiespalt ist im einzelnen berall nachzuweisen;sein Grund liegt darin, da der Deutsche von jener Freiheit, die ihm mit allenKnsten des Schwertes und der berredung angeboten wurde und die in derVerkndung der allgemeinen Menschenrechte ihre Setzung erfuhr, gar keinenGebrauch zu machen wute: es war diese Freiheit fr ihn ein Werkzeug, das zuseinen innersten Organen keine Beziehung besa.

    Wo also in Deutschland man diese Sprache zu sprechen begann, war leicht zuerraten, da es sich nur um schlechte bersetzungen handelte, und das Mitraueneiner Welt, in der die Wiege der brgerlichen Gesittung stand, war um so berechtig-ter, als immer wieder eine Ursprache sich Gehr zu schaffen suchte, ber derengefhrliche und andersartige Bedeutung kein Zweifel mglich war. Man hegte denVerdacht, da hier so teure, so kostbare Wertungen nicht ernst genommen wurden,man ahnte hinter ihrer Maske eine unberechenbare und ungebndigte, in einemeigentmlichen Urverhltnis ihre letzte Zuflucht witternde Kraft und man hatrecht geahnt.

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    Denn in diesem Lande ist ein Begriff der Freiheit unvollziehbar, der sich wie einfeststehendes und in sich selbst inhaltloses Ma auf jede beliebige Gre anwendenlt, die man ihm unterwirft. Es hat hier vielmehr von jeher dies ge- [19] golten:da das Ma an Freiheit, ber das eine Kraft verfgt, genau dem Mae an Bindungentspricht, das ihr zugeteilt ist, und da sich im Umfange des befreiten Willens der

    Umfang der Verantwortung offenbart, die diesem Willen seine Berechtigung undGltigkeit erteilt. Dies bringt sich so zum Ausdruck, {13} da nichts anderes inunsere Wirklichkeit, also in unsere Geschichte in ihrer hchsten, schicksalsmigenBedeutung, einzugehen vermag, als was das Siegel dieser Verantwortung trgt. berdieses Siegel braucht nicht gesprochen zu werden, denn da es unmittelbar verliehenwird, so sind auch Zeichen darein geritzt, die ein stets bereiter Gehorsam unmittel-bar zu lesen versteht.

    So ist es: da unsere Freiheit berall dort am mchtigsten sich offenbart, wo sievon dem Bewutsein getragen wird, da sie ein Lehen ist. Dieses Bewutsein hatsich in all jenen unvergelichen Aussprchen niedergeschlagen, mit denen derUradel der Nation den Wappenschild des Volkes bedeckt; es regiert Denken undGefhl, Tat und Werk, Staatskunst und Religion. Daher wird jedesmal die Welt in

    ihren Grundfesten erschttert, wenn der Deutsche erkennt, was Freiheit, das heit:wenn er erkennt, was das Notwendige ist. Hier lt sich nichts abdingen, und mgedie Welt untergehen, so mu doch das Gebot vollstreckt werden, wenn der Rufvernommen ist.

    Man wird eine Eigenschaft, die man vor allen anderen fr das Kennzeichen desDeutschen hlt, nmlich die Ordnung, immer zu gering einschtzen, wenn mannicht in ihr das sthlerne Spiegelbild der Freiheit zu erkennen vermag. Gehorsam,das ist die Kunst zu hren, und die Ordnung ist die Bereitschaft fr das Wort, dieBereitschaft fr den Befehl, der wie ein Blitzstrahl vom Gipfel bis in die Wurzelnfhrt. Jeder und jedes steht in der Lehensordnung, und der Fhrer wird daranerkannt, da er der erste Diener, der erste Soldat, der erste Arbeiter ist. Daher

    beziehen sich sowohl Freiheit wie Ordnung nicht auf die Gesellschaft, sondern aufden Staat, und das Muster jeder Gliederung ist die Heeresgliederung, nicht aber derGesellschaftsvertrag. Daher ist der Zustand [20] unserer uersten Strke erreicht,wenn ber Fhrung und Gefolgschaft kein Zweifel besteht.

    Zu erkennen ist dies: da Herrschaft und Dienst ein und dasselbe sind. DasZeitalter des dritten Standes hat die wunderbare Macht dieser Einheit nie erkannt,denn allzu billige und allzu menschliche Gensse schienen ihm erstrebenswert.Daher wurden alle Punkte, die der Deutsche in diesem Zeitalter zu erreichen ver-mochte, dennoch {14} erreicht: die Bewegung fand auf allen Gebieten in einemfremden und unnatrlichen Elemente statt. Der wirkliche Grund konnte gleichsamnur unter Taucherhelmen betreten werden; die entscheidende Arbeit vollzog sich imtdlichen Raum. Ehre diesen Gefallenen, die die schauerliche Einsamkeit der Liebe

    oder der Erkenntnis zerbrach oder die der Stahl auf den glhenden Hgeln desKampfes zu Boden schlug!

    Aber es gibt kein Zurck. Wer heute in Deutschland nach einer neuen Herr-schaft begierig ist, der wendet den Blick dorthin, wo er ein neues Bewutsein vonFreiheit und Verantwortung an der Arbeit sieht.

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    DER ARBEITER IM SPIEGELBILDE DER BRGERLICHEN WELT

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    Suchen wir dieses Bewutsein zunchst dort auf, wo es am heftigsten am Werkeist, aber suchen wir es mit Liebe, mit dem Willen, Bestehendes wohl zu deuten, auf!Wenden wir uns also dem Arbeiter* zu, der sich schon frh auf einen unerbittlichenGegensatz zu allen brgerlichen Wertungen berief und aus dem Gefhl diesesGegensatzes die Kraft zu seinen Bewegungen zog.

    * Das Wort Arbeiter wird hier wie andere Worte als organischer Begriff verwandt, d. h.es macht im Laufe der Betrachtung Vernderungen durch, die rckblickend zu bersehensind. [21]

    Wir stehen weit genug von den Anfngen dieser Bewegungen entfernt, um ihnengerecht werden zu knnen. Man kann sich die Lehrbank nicht aussuchen, auf der

    der Charakter gebildet wird, denn die Schule wird durch die Vter bestimmt, aberes kommt ein Tag, an dem man sich ihr entwachsen fhlt und die eigentliche Beru-fung erkennt. Dies ist zu bedenken, wenn man die Mittel des Arbeiters auf ihreSchlagkraft hin untersucht, und es ist wohl zu bercksichtigen, da sie im Kampfeentstanden sind und da im Kampfe jede Position unter der Einwirkung des Geg-ners bezogen wird. So wre es allzu billig, dem Arbeiter vorzuwerfen, da seinBestand wie ein Metall, das sich noch nicht in Reinheit ausgeschmolzen hat, vonbrgerlichen Wertungen durchwachsen ist und da seine Sprache, die unzweifelhaftdem 20. Jahrhundert angehrt, reich an Begriffen ist, die durch die Fragestellungendes 19. Jahrhunderts gebildet sind. Denn auf den Gebrauch dieser Begriffe war erangewiesen, um sich verstndlich zu machen, als er zum ersten Male zu sprechenbegann, und die Begrenzung seiner Ansprche wurde durch die Ansprche desGegners bestimmt. So wuchs er langsam und unter Druck gegen die {16} brger-liche Decke an, um sie endlich zu sprengen, und es ist kein Wunder, da er dieSpuren dieses Wachstums trgt.

    Diese Spuren lie jedoch nicht nur der Widerstand, sondern auch die Ernhrungzurck. Wir sahen, da in Deutschland der dritte Stand aus guten Grnden eineoffene und anerkannte Herrschaft zu erringen nicht fhig war. So fiel dem Arbeiterdie wunderliche Nebenaufgabe zu, diese Herrschaft nachzuholen, und es ist einsehr bedeutsamer Akt, da er zunchst das Fremde, das seinen Bestrebungen beige-mischt war, zur Herrschaft bringen mute, um so zu erfahren, da es ihm nichteigentmlich war. Dies, wie gesagt, sind Spuren der Ernhrung, und die Ausschei-dung des Unzutrglichen wird sie beseitigen. Aber wie konnte es auch anders sein,

    da die ersten Lehrmeister des Arbeiters brgerlicher Herkunft waren und die An-lage der Systeme, in die die junge Kraft eingebettet wurde, brgerlichen Musternentsprach! [22]

    So erklrt es sich, da die Erinnerung an die blutige Hochzeit des Brgertumsmit der Macht, die Erinnerung an die Franzsische Revolution, die Quelle war, ausder die ersten Regungen sich speisten und richteten. Aber es gibt ebensowenigWiederholungen des geschichtlichen Vorganges, wie es bertragungen seineslebendigen Inhaltes gibt. So kommt es, da man berall, wo man in Deutschlandrevolutionre Arbeit zu leisten meinte, Revolution schauspielerte und da dieeigentlichen Umwlzungen sich unsichtbar vollzogen, sei es in stillen Rumen, seies verhllt unter den glhenden Vorhngen der Schlacht.

    Aber das wirklich Neue bedarf nicht der Betonung, da es sich im Aufruhrbefindet, und seine hchste Gefhrlichkeit begrndet sich in der Tatsache, da esvorhanden ist.

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    Einer unscharfen Einstellung des Blickes entspringt daher zum ersten die Gleich-setzung des Arbeitertums mit einem vierten Stand.

    Nur einem an mechanische Bilder gewhnten Geiste kann sich der Vorgang der

    Herrschaftsfolge so darstellen, da, so wie der Zeiger der Uhr seinen Schatten berdie Stunden wirft, ein Stand nach dem anderen {17} den Rahmen der Machtdurchgleitet, whrend unten bereits eine neue Klasse zum Bewutsein erwacht.

    Als Stand in diesem besonderen Sinne hat sich vielmehr nur das Brgertum emp-funden; es hat dieses Wort, das von sehr alter und guter Herkunft ist, aus seinengewachsenen Zusammenhngen gelst, seines Sinnes entkleidet und zu nichtsanderem als zu einer Maske des Interesses gemacht.

    Es ist daher ein brgerlicher Gesichtswinkel, unter dem das Arbeitertum als einStand gedeutet wird, und es liegt dieser Deutung eine unbewute List zugrunde, diedie neuen Ansprche in einen alten Rahmen einzuspannen sucht, der die Fortset-zung der Unterhaltung ermglichen soll. Denn wo[23] der Brger sich unterhalten,wo er verhandeln kann, da ist er in Sicherheit. Der Aufstand des Arbeitertums wird

    jedoch nicht ein zweiter und farbloserer Aufgu sein, der nach veralteten Rezeptenbereitet ist. Nicht in der zeitlichen Folge der Herrschaft, nicht im Gegensatze zwi-schen Alt und Neu liegt der wesentliche Unterschied, der zwischen dem Brger unddem Arbeiter besteht. Da matt gewordene Interessen durch jngere und brutalereInteressen abgelst werden, ist zu selbstverstndlich, als da man sich bei derBetrachtung darber aufhalten darf.

    Was vielmehr die hchste Aufmerksamkeit erregt, das ist die Tatsache, da zwi-schen dem Brger und dem Arbeiter nicht nur ein Unterschied im Alter, sondernvor allem ein Unterschied des Ranges besteht. Der Arbeiter nmlich steht in einemVerhltnis zu elementaren Mchten, von deren bloem Vorhandensein der Brgernie eine Ahnung besa. Hiermit hngt es, wie ausgefhrt werden wird, zusammen,

    da der Arbeiter aus dem Grunde seines Seins einer ganz, anderen Freiheit als derbrgerlichen Freiheit fhig ist und da die Ansprche, die er in Bereitschaft hlt,weit umfassender, weit bedeutsamer, weit frchterlicher als die eines Standes sind.

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    Zum zweiten kann jede Front nur als eine vorlufige, nur als eine Front derersten Vorpostengefechte betrachtet werden, die den Arbeiter in eine Kampfstellungbringt, die sich auf den Angriff gegen {18} die Gesellschaft beschrnkt. Denn auchdieses Wort hat im brgerlichen Zeitalter seinen Wertsturz erlebt; es hat eine beson-dere Bedeutung erlangt, deren Sinn die Verneinung des Staates als des oberstenMachtmittels ist. Was diesem Bestreben im Innersten zugrunde liegt, das ist das

    Bedrfnis nach Sicherheit und damit der Versuch, das Gefhrliche zu leugnen undden Lebensraum so abzudichten, da sein Einbruch verhindert wird. Freilich ist dasGefhrliche immer vorhanden und triumphiert selbst ber die fein-[24] sten Listen,mit denen man es umgarnt, ja es fliet unberechenbar in diese Listen ein, um sichmit ihnen zu maskieren, und das verleiht der Gesittung ihr doppeltes Gesicht dieengen Beziehungen, die zwischen Brderlichkeit und Blutgerst, zwischen denMenschenrechten und mrderischen Schlachten bestehen, sind allzu bekannt.

    Aber es wre irrig, anzunehmen, da der Brger jemals, und sei es in seinerbesten Zeit, das Gefhrliche aus eigener Kraft heraufbeschworen htte; alles diesgleicht vielmehr einem schrecklichen Hohnlachen der Natur ber ihre Unterstellungunter die Moral, einem wtenden Frohlocken des Blutes ber den Geist, wenn das

    Vorspiel der schnen Reden beendet ist. Daher wird jedes Verhltnis zwischen derGesellschaft und dem Elementaren geleugnet, und zwar mit einem Aufwande anMitteln, der jedem unverstndlich bleiben wird, der hier nicht ein geheimstesWunschbild als den Vater der Gedanken errt.

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    Diese Verneinung vollzieht sich so, da sie das Elementare in das Reich des Irr-tums, der Trume oder eines notwendig bsen Willens verweist, ja da sie es mitdem Unsinn selbst als gleichbedeutend setzt. Der Vorwurf der Dummheit und derUnmoralitt ist hier der entscheidende, und da die Gesellschaft sich durch diebeiden obersten Begriffe der Vernunft und der Moral bestimmt, so stellt dieser

    Vorwurf das Mittel dar, durch das man den Gegner aus dem Raume der Gesell-schaft, also aus dem Raume der Menschheit und damit aus dem Raume des Geset-zes, verbannt.

    Dieser Unterscheidung entspricht ein Vorgang, den man immer wieder mitErstaunen beobachtet hat: da nmlich die Gesellschaft {19} gerade whrend derblutigsten Hhepunkte des Brgerkrieges wie auf ein Stichwort die Todesstrafe fraufgehoben erklrt und da sie immer dann, wenn ihre Schlachtfelder sich mitLeichen bedecken, ihre besten Einflle ber die Unsittlichkeit und Unsinnigkeit desKrieges gebiert.

    Es hiee jedoch den Brger berschtzen, wenn man hinter dieser hchst seltsa-men Dialektik Absicht vermuten [25] wollte, denn in keiner Zone nimmt er sichernster als in der vernnftigen und moralischen, ja er ist in seinen bedeutsamsten

    Erscheinungen die Einheit des Vernnftigen mit dem Moralischen selbst.Das Elementarische drngt sich ihm vielmehr aus einer ganz anderen Sphre als

    aus der seiner eigentlichen Strke auf, und mit Schrecken erkennt er jenen Punkt,an dem die Verhandlung beendet ist. Ewig wrde er sich an seinen schnen Ankla-gen ergtzen, deren Grundpfeiler Tugend und Gerechtigkeit sind, wenn ihm nichtim rechten Augenblicke der Pbel das unerwartete Geschenk seiner mchtigeren,aber gestaltlosen Kraft darbringen wrde, die ihre Nahrung aus den Urkrften desSumpfes zieht. Ewig wrde er das Gleichgewicht der Mchte in der Schwebe zuhalten wissen wie ein Kunstwerk, das um seiner selbst willen besteht, wenn nichtzuweilen ber ihn hinweg der Krieger in Erscheinung treten wrde, den erwiderwillig und in stndiger Bereitschaft zu verhandeln gewhren lt. Aber die

    Verantwortung lehnt er ab, da er nicht in Art und Eigenart, sondern im allgemeinMoralischen seine Freiheit erkennt. Kein besseres Beispiel ist dafr zu nennen, alsda er den eigentlichen Tter und Attentter, der ihm die Tore der Herrschaft erstsprengte, vernichtet, sowie dessen Aufgabe beendet ist. Die Einkerkerung derLeidenschaften ist die Bescheinigung, mit der er die Beute der Revolutionen quit-tiert, und die Erhngung der Henker ist das Satyrspiel, das die Tragdie desAufstandes beschliet.

    Ebenso lehnt er die hchste Begrndung des Krieges, den Angriff, ab, weil erwohl fhlt, da sie ihm nicht angemessen ist, und wo er, sei es auch aus dem offen-sichtlichsten Eigennutz, den Soldaten zu Hilfe ruft oder sich selbst als Soldatverkleidet, wird er nie auf die Beschwrung verzichten, da dies zur Verteidigung,ja mglichst zur Verteidigung {20} der Menschheit geschieht. Der Brger kennt nur

    den Verteidigungskrieg, das heit, er kennt den Krieg berhaupt nicht, schon weiler seinem Wesen nach von allen kriegerischen Elementen ausgeschlossen ist. Er istjedoch auf der anderen [26] Seite unfhig, ihren Einbruch in seine Ordnungen zuverhindern, weil alle Wertungen, die er ihnen entgegenzustellen hat, niederen Ran-ges sind.

    Hier setzt das kunstvolle Spiel seiner Begriffe ein, und seine Politik, ja dasUniversum selbst ist ihm ein Spiegel, in dem er seine Tugend stets von neuem best-tigt sehen will. Lehrreich wre es, ihn bei jener unermdlichen Feilarbeit zubeobachten, die die harte und notwendige Prgung des Wortes so lange abzutragenwei, bis eine allgemein verbindliche Moralitt zum Durchschein kommt sei esnun, da er in der Eroberung einer Kolonie deren friedliche Durchdringung, in der

    Abtrennung einer Provinz das Selbstbestimmungsrecht des Volkes oder in derPlnderung des Besiegten eine Wiedergutmachung zu erkennen wei. Aber esgengt, die Methode zu kennen, um zu erraten, da die Konzeption dieses Wrter-buches mit der Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft begonnen hat.

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    Jeder nun, der dies begriffen hat, wird auch die groe Gefahr, die groe Berau-bung an Ansprchen begreifen, die sich in der Tatsache versteckt, da man demArbeiter als oberstes Angriffsziel die Gesellschaft zugewiesen hat. Die entscheiden-den Angriffsbefehle weisen noch alle Kennzeichen eines Zeitalters auf, in dem esfreilich ebenso selbstverstndlich war, da eine erwachende Macht sich als Stand zu

    erkennen hatte, wie es selbstverstndlich war, da der Vollzug der Machtergreifungsich zu kennzeichnen hatte als eine Vernderung des Gesellschaftsvertrages.Wohl zu beachten ist nun dies: da diese Gesellschaft nicht eine Form an sich,

    sondern nur eine der Grundformen der brgerlichen Vorstellung ist. Dies erweistsich an der Tatsache, da es in der brgerlichen Politik keine Gre gibt, die nichtals Gesellschaft begriffen wird.

    Gesellschaft ist die Gesamtbevlkerung des Erdballes, die sich dem Begriffe alsdas Idealbild einer Menschheit darstellt, deren Spaltung in Staaten, Nationen oderRassen im Grunde auf nichts anderem {21} als auf einem Denkfehler beruht. DieserDenkfehler wird jedoch im Laufe der Zeit durch Ver-[27] trge, durch Aufklrung,durch Gesittung oder einfach durch den Fortschritt der Verkehrsmittel korrigiert.

    Gesellschaft ist der Staat, dessen Wesen sich in demselben Grade verwischt, in

    dem ihn die Gesellschaft ihren Maen unterwirft. Dieser Angriff findet durch denBegriff der brgerlichen Freiheit statt, dessen Aufgabe die Umwandlung allerverantwortlichen Bindungen in Vertragsverhltnisse auf Kndigung ist.

    Im engsten Verhltnis zur Gesellschaft steht endlich der Einzelne, jene wunder-liche und abstrakte Figur des Menschen, die kostbarste Entdeckung der brger-lichen Empfindsamkeit und zugleich der unerschpfliche Gegenstand ihrer knstle-rischen Bildungskraft. Wie die Menschheit der Kosmos dieser Vorstellung, so ist derMensch ihr Atom. Praktisch allerdings sieht der Einzelne sich nicht der Menschheitgegenber, sondern der Masse, seinem genauen Spiegelbilde in dieser hchstsonderbaren, hchst imaginren Welt. Denn die Masse und der Einzelne sind eins,und aus dieser Einheit ergibt sich das verblffende Doppelbild von buntester,

    verwirrendster Anarchie und der nchternen Geschftsordnung der Demokratie,welches das Schauspiel eines Jahrhunderts war.Es gehrt aber zu den Kennzeichen einer neuen Zeit, da in ihr die brgerliche

    Gesellschaft, gleichviel ob sie ihren Freiheitsbegriff in der Masse oder im Indivi-duum zur Darstellung bringen mge, zum Tode verurteilt ist. Der erste Schrittbesteht darin, da man in diesen Formen nicht mehr denkt und fhlt, der zweite,da man in ihnen nicht mehr ttig ist.

    Dies bedeutet nicht weniger als den Angriff auf alles, was dem Brger das Lebenkostbar macht. Daher ist es eine Lebensfrage fr ihn, da der Arbeiter sich als derknftige Trger der Gesellschaft begreift. Denn gehrt nur dies zum dogmatischenBestand, so wird die Grundform der brgerlichen Anschauung gerettet und damitdie feinste Mglichkeit ihrer Herrschaft gesichert sein.

    So kann es denn nicht wunder nehmen, da in alle Vor- [28] schriften, die derbrgerliche Geist von seinen Lehrsthlen und aus seinen {22} Dachkammern herabdem Arbeiter verschrieb, die Gesellschaft, nicht etwa in ihrer Erscheinung, sondern,weit wirksamer, in ihren Prinzipien, eingebettet ist. Die Gesellschaft erneuert sichdurch Scheinangriffe auf sich selbst; ihr unbestimmter Charakter oder vielmehr ihreCharakterlosigkeit bringt es mit sich, da sie auch ihre schrfste Selbstverneinungnoch in sich aufzunehmen vermag. Ihre Mittel sind zwiefach: entweder verweist siedie Verneinung an ihren individuell anarchischen Pol und verleibt sie dadurchihrem Bestnde ein, da sie sie ihrem Freiheitsbegriffe unterstellt; oder sie fngt siean dem scheinbar entgegengesetzten Pole der Masse in sich ein und verwandelt siedort durch Zhlung, durch Abstimmung, durch Unterhandlung oder Unterhaltung

    in einen demokratischen Akt.

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    Ihre weibliche Gesinnung verrt sich darin, da sie jeden Gegensatz nicht vonsich abzusetzen, sondern in sich aufzunehmen sucht. Wo immer ihr ein Anspruchbegegnet, der sich als entschieden bezeichnet, besteht ihre feinste Bestechung darin,da sie ihn als eine uerung ihres Freiheitsbegriffes erklrt und ihn dergestalt vordem Forum ihres Grundgesetzes legitimiert, das heit: unschdlich macht.

    Dies hat dem Worte radikal seinen unausstehlich brgerlichen Beigeschmackverliehen, und dies macht, nebenbei gesagt, jenen Radikalismus an sich zu einemeintrglichen Geschft, aus dem eine Generation von Politikern, eine Generationvon Artisten nach der anderen ihre einzige Nahrung zog. Dies ist die letzte Aus-flucht der Dummheit, der Frechheit und der hoffnungslosen Unfhigkeit, da sieauf den Bauernfang geht, indem sie sich mit den Pfauenfedern einer nichts alsradikalen Gesinnung schmckt.

    Zu lange, allzu lange schon wohnt der Deutsche diesem nichtswrdigen Schau-spiele bei. Seine einzige Entschuldigung ist sein Glaube, da in jede Form notwen-dig ein Inhalt eingeschlossen sei, und der einzige Trost, da dieses Schauspiel sichwohl in Deutschland, keineswegs aber innerhalb der deutschen Wirklichkeit voll-zieht. Denn alles dies fllt[29] dem Reiche der Vergessenheit anheim nicht jener

    Vergessenheit, die dem Efeu gleicht, der die Ruinen und die Grber der Gefallenenbedeckt, sondern einer anderen, schrecklichen, die die {23} Lge und das Niegewe-sene enthllt, indem sie sie spurlos und fruchtlos zerstubt.

    Einer besonderen, nachtrglichen Untersuchung mu es berlassen bleiben,aufzudecken, in welchem Umfange es dem brgerlichen Denken gelungen ist, dasBild der Gesellschaft unter der Vorspiegelung ihrer Selbstverneinung in die erstenAnstrengungen des Arbeiters hineinzuflschen. Man wird hier die Freiheit desArbeiters entdecken als eine neue Durchpausung der brgerlichen Freiheitsschab-lone, in der nunmehr ganz offen das Schicksal als ein Vertragsverhltnis auf Kndi-gung und der hchste Triumph des Lebens als eine nderung dieses Vertragesgedeutet wird. Man wird hier den Arbeiter erkennen als den unmittelbaren

    Nachfolger des vernnftig-tugendhaften Einzelnen und als den Gegenstand einerzweiten Empfindsamkeit, die von jener ersten durch nichts als eine grere Drftig-keit unterschieden ist. Man wird ferner in genauer Entsprechung die Arbeiterschaftals den Abdruck des Idealbildes einer Menschheit entdecken, in deren bloer Uto-pie bereits die Verneinung des Staates und seiner Fundamente enthalten ist. Diesund nichts als dies bedeutet der Anspruch, der sich hinter Worten wie internatio-nal, sozial und demokratisch verbirgt oder vielmehr verborgen hat, dennfr jeden, der sich auf das Erraten versteht, wird nichts als das Erstaunenzurckbleiben darber, da man die brgerliche Welt gerade durch die Forderun-gen erschttern zu knnen glaubte, in denen sie selbst sich am eindeutigsten best-tigte.

    Nachtrglich aber wird diese Untersuchung deshalb genannt, weil die Bestti-

    gung sich bereits in der sichtbaren Welt vollzogen hat. Denn in der Tat ist es demBrger gelungen, sich mit Hilfe des Arbeiters einen Grad der Verfgungsgewalt zusichern, wie er ihm im ganzen 19. Jahrhundert nicht beschieden war.

    Und wiederum tut sich, wenn man sich des Augenblickes[30] entsinnt, in dem soin Deutschland die Gesellschaft zur Herrschaft kam, eine Flle von symbolischenBildern auf. Ganz abgesehen sei hier von der Tatsache, da dieser Augenblick mitdem Augenblicke zusammenfiel, in dem sich der Staat in der hchsten, schreck-lichsten Gefahr befand und in dem der deutsche Krieger am Feinde stand. Denn derBrger {24} vermochte nicht einmal jenes geringe Ma an elementarer Kraft aufzu-bringen, das unter diesen Umstnden ein neuer Scheinangriff auf sich selbst, dasheit: auf ein im Kerne lngst verbrgerlichtes Regime, erforderte. Nicht von ihm

    wurden jene wenigen Schsse abgefeuert, deren es bedurfte, um das Ende einesAbschnittes deutscher Geschichte sichtbar zu machen, und seine Ttigkeit bestandnicht etwa darin, sie anzuerkennen, sondern in ihrer Ausnutzung.

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    Lange genug hatte er darauf gelauert, die Verhandlungen beginnen zu knnen,und seine Verhandlungen erreichten, was der uersten Anstrengung einer ganzenWelt nicht erreichbar gewesen war.

    Aber hier mu sich die Sprache Einhalt gebieten und es ablehnen, sich mit denEinzelheiten jener ungeheuerlichen Tragikomdie zu beschftigen, die mit Arbeiter-

    und Soldatenrten begann, deren Mitglieder sich dadurch auszeichneten, da sieweder jemals gearbeitet noch gefochten hatten, in der ferner der brgerlicheFreiheitsbegriff sich enthllte als der Hunger nach Ruhe und Brot, die sich dannfortsetzte durch den symbolischen Akt der Auslieferung der Waffen und Schiffe, dieber eine deutsche Schuld gegenber dem Idealbilde der Menschheit nicht nur zudebattieren, sondern auch sie anzuerkennen wagte, die mit einer unbegreiflichenSchamlosigkeit die verstaubtesten Begriffe des Liberalismus in den Rang einerdeutschen Ordnung zu erheben suchte und in der nunmehr der Triumph der Gesell-schaft ber den Staat sich ganz eindeutig offenbarte als ein fortgesetzter kombinier-ter Hoch- und Landesverrat des Gemeinen und Allzugemeinen am deutschenBestand. Hier hrt jede Unterhaltung auf, denn hier ist jenes Schweigen geboten,das eine Vorahnung des tdlichen Schweigens gibt. Hier hat die deutsche [31]

    Jugend den Brger in seiner letzten, unverhlltesten Erscheinung geschaut, und hierbekannte sie sich in ihren besten Verkrperungen sowohl des Soldaten wie desArbeiters sofort zu einem Aufstande, in dem zum Ausdrucke kam, da es in diesemRume unendlich erstrebenswerter sei, Verbrecher als Brger zu sein.

    Hieraus ergibt sich, wie wichtig es ist, zu unterscheiden zwischen dem Arbeiterals einer werdenden Macht, auf der das Schicksal des {25} Landes beruht, und denGewndern, in die der Brger diese Macht verkleidete, auf da sie ihm als Mario-nette diene in seinem knstlichen Spiel. Dieser Unterschied ist ein Unterschiedzwischen Aufgang und Untergang. Und dies ist unser Glaube: da der Aufgang desArbeiters mit einem neuen Aufgange Deutschlands gleichbedeutend ist.

    Indem der Arbeiter sein brgerliches Erbteil zur Herrschaft brachte, setzte er es

    zugleich sichtbar von sich ab, einer Puppe gleich, gefllt mit drrem Stroh, das seitber einem Jahrhundert ausgedroschen ist. Es kann seinem Blicke nicht mehr entge-hen, da die neue Gesellschaft ein zweiter und billigerer Abklatsch der alten ist.

    Ewig wrde so ein Abzug nach dem anderen gemacht, ewig der Lauf derMaschine durch die Erfindung neuer Gegenstze gespeist, wenn der Arbeiter nichtbegriffe, da er zu dieser Gesellschaft nicht im Verhltnis des Gegensatzes steht,sondern in dem der Andersartigkeit.

    Erst dann wird er sich als der wahre Todfeind der Gesellschaft enthllen, wenner es ablehnt, in ihren Formen zu denken, zu fhlen und zu sein. Dies abergeschieht, wenn er erkennt, da er in seinen Ansprchen bisher allzu bescheidengewesen ist und da der Brger ihn lehrte, nur das zu begehren, was eben demBrger begehrenswert scheint.

    Aber das Leben birgt mehr und anderes als das, was der Brger unter Gternversteht, und der hchste Anspruch, den der Arbeiter zu stellen vermag, bestehtnicht darin, der Trger einer neuen Gesellschaft, sondern der Trger neuen Staateszu sein.[32]

    Erst in diesem Augenblicke erklrt er den Kampf auf Leben und Tod. Dann wirdaus dem Einzelnen, der im Grunde nichts als ein Angestellter ist, ein Kriegsmann,aus der Masse wird das Heer, und die Setzung einer neuen Befehlsordnung tritt anStelle der nderung des Gesellschaftsvertrags. Dies entrckt den Arbeiter derSphre der Verhandlungen, des Mitleids, der Literatur und erhebt ihn in die derTat, es verwandelt seine juristischen Bindungen in militrische das heit, er wirdstatt der Anwlte Fhrer besitzen, und sein Dasein wird Mastab werden, anstatt

    der Auslegung bedrftig zu sein. {26}

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    Denn was sind seine Programme bisher anders als die Kommentare zu einemUrtext, der noch nicht geschrieben ist?

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    Endlich und drittens bleibt die Legende zu zerstren von der Grundqualitt desArbeiters als einer wirtschaftlichen Qualitt.In allem, was hierber gedacht und gesagt worden ist, verrt sich der Versuch

    der Rechenkunst, das Schicksal in eine Gre zu verwandeln, die sich mit rechneri-schen Mitteln auflsen lt Dieser Versuch ist bis in die Zeiten zu verfolgen, indenen man auf Otaheiti und der Ile de France das Urbild des vernnftig-tugendhaf-ten und damit glcklichen Menschen entdeckte, in denen der Geist sich mit dengefhrlichen Geheimnissen des Kornzolles zu beschftigen begann und in denen dieMathematik zu jenen feinen Spielen gehrte, mit denen die Aristokratie sich amVorabend ihres Unterganges belustigte.

    Hier wurde das Muster geschaffen, das dann seine eindeutig wirtschaftlicheAuslegung erfuhr, indem der Freiheitsanspruch des Einzelnen und der Masse sich

    als ein wirtschaftlicher Anspruch innerhalb einer wirtschaftlichen Welt begrndete.Die durch diesen Anspruch hervorgerufene Auseinandersetzung zwischen denmaterialistischen und den idealisti- [33] schen Schulen bildet einen der Abschnittedes endlosen brgerlichen Gesprches; sie ist ein zweiter Aufgu jener ersten Unter-haltung der Enzyklopdisten unter den Dachsthlen von Paris. Wiederum sind diealten Figuren vertreten, und nichts ist gendert als das Schema, das sie gegenber-stellt und das nunmehr zu einem reinen Wirtschaftsschema geworden ist.

    Es wrde zu weit fhren, zu verfolgen, wie sich die Unterhaltung durch die ver-schiedenartige Verteilung der alten Vorzeichen ernhrt und wie sie sich durch ihrenWechsel belebt; wichtig ist nur, da gesehen wird, wie sie den Streit der Meinungenund seine Trger in einer einheitlichen Ordnung umfat.

    Das vernnftig-tugendhafte Idealbild der Welt fllt hier zusammen mit einerwirtschaftlichen Utopie der Welt, und wirtschaftliche Ansprche sind es, auf diejede Fragestellung sich bezieht. Das {27} Unentrinnbare liegt darin, da innerhalbdieser Welt von Ausbeutern und Ausgebeuteten keine Gre mglich ist, ber dienicht von einer hchsten Instanz des Wirtschaftlichen entschieden wird. Es gibt hierzwei Arten des Menschen, zwei Arten der Kunst, zwei Arten der Moral aber wiewenig Scharfsinn gehrt dazu, zu erkennen, da es ein und dieselbe Quelle ist, diesie speist.

    Ein und derselbe Fortschritt ist es auch, auf den die Trger desWirtschaftskampfes ihre Rechtfertigung beziehen sie begegnen sich in demGrundanspruch, die Trger der Prosperitt zu sein, und sie glauben, die Stellungdes Gegners in ebendemselben Mae erschttern zu knnen, in dem ihnen die

    Widerlegung dieses Anspruches gelingt.Aber genug jede Beteiligung an dieser Unterhaltung schliet ihre Fortsetzung

    in sich ein. Was gesehen werden mu, das ist das Vorhandensein einer Diktatur deswirtschaftlichen Denkens an sich, deren Umkreis jede mgliche Diktatur umfatund in ihren Manahmen beschrnkt. Denn innerhalb dieser Welt ist keine Bewe-gung vollziehbar, die nicht den trben Schlamm der Interessen von neuem aufwh-len wrde, und es gibt hier keine Position, von der aus[34] der Durchbruch gelin-gen kann. Denn den Mittelpunkt dieses Kosmos bildet die Wirtschaft an sich, diewirtschaftliche Deutung der Welt, und sie ist es, die jedem ihrer Teile seine Schwer-kraft verleiht.

    Welcher dieser Teile sich auch in den Besitz der Verfgungsgewalt setzen mge,

    immer wird er von der Wirtschaft als von einer hchsten Verfgungsgewalt abhn-gig sein.

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    Das Geheimnis, das sich hier verbirgt, ist einfacher Natur: Es besteht darin, daeinmal die Wirtschaft keine Macht ist, die Freiheit zu vergeben hat, und da zumanderen ein wirtschaftlicher Sinn zu den Elementen der Freiheit nicht vorzudringenvermag und doch bedarf es der Augen eines neuen Geschlechtes, damit diesesGeheimnis erraten werden kann.

    Hier wird vielleicht eine Anmerkung ntig, durch die die Mglichkeit einer Ver-wechslung unterbunden werden soll: die Verneinung der wirtschaftlichen Welt alseiner das Leben bestimmenden, also als {28} einer Schicksalsmacht, ist eine Bestrei-tung des Ranges, nicht aber der Existenz. Denn nicht darauf kommt es an, da dieSchar jener Prediger in der Wste vermehrt werde, denen ein anderer Raum nurdurch die Hintertren erreichbar scheint. Fr die wirkliche Macht gibt es keinenZugang, der nicht in Frage kommt.

    Idealismus oder Materialismus das ist eine Gegenberstellung unsaubererGeister, deren Vorstellungskraft weder der Idee noch der Materie gewachsen ist.Die Hrte der Welt wird nur durch Hrte gemeistert, nicht aber durchTaschenspielerei.

    Verstehen wir uns recht: nicht auf wirtschaftliche Neutralitt kommt es an, nicht

    darauf, da der Geist von allen wirtschaftlichen Kmpfen abgewendet wird, son-dern im Gegenteil darauf, da diesen Kmpfen die hchste Schrfe verliehen wird.Dies aber geschieht nicht, indem die Wirtschaft die Kampfregeln bestimmt, sondernindem ein hheres Gesetz des Kampfes auch ber die Wirtschaft verfgt.

    Aus diesem Grunde ist es fr den Arbeiter so wichtig, da er jede Erklrung ab-lehnt, die seine Erscheinung als eine [35] wirtschaftliche Erscheinung, ja selbst alsein Erzeugnis wirtschaftlicher Vorgnge, also im Grunde als eine Art von Industrie-produkt, zu deuten sucht und da er die brgerliche Herkunft dieser Erklrungendurchschaut Diese verhngnisvollen Bindungen kann keine Manahmewirkungsvoller durchschneiden als die Unabhngigkeitserklrung des Arbeiters vonder wirtschaftlichen Welt. Dies bedeutet nicht etwa den Verzicht auf diese Welt,

    sondern ihre Unterordnung unter einen Herrschaftsanspruch von umfassendererArt. Es bedeutet, da nicht die wirtschaftliche Freiheit und nicht die wirtschaftlicheMacht der Angelpunkt des Aufstandes ist, sondern die Macht berhaupt.

    Indem der Brger seine eigenen Ziele in die des Arbeiters hineinspiegelte,beschrnkte er zugleich das Angriffsziel auf ein brgerliches Angriffsziel. Heuteaber ahnen wir die Mglichkeit einer reicheren, tieferen und fruchtbareren Welt.Sie zu verwirklichen, gengt nicht ein Freiheitskampf, dessen Bewutsein sich ausder Tatsache der Ausbeutung ernhrt. Alles hngt vielmehr davon ab, da derArbeiter seine berlegenheit erkennt und sich aus ihr die eigenen {29} Mastbeseiner knftigen Herrschaft schafft. Dies wird die Wucht seiner Mittel verstrken aus dem Versuche, den Gegner durch Kndigung mattzusetzen, wird seineUnterwerfung durch Eroberung.

    Dies sind nicht mehr die Mittel des Angestellten, dessen hchstes Glck darinbesteht, da er seinen Anstellungsvertrag diktieren darf, und der sich dennoch berdie innerste Logik dieses Vertrages nie zu erheben vermag, nicht mehr die Mitteldes Betrogenen und Enterbten, der sich bei jeder Stufe, die er erringt, einer neuenPerspektive des Betruges gegenber sieht. Es sind dies nicht die Mittel derErniedrigten und Beleidigten, sondern vielmehr die Mittel des eigentlichen Herrndieser Welt, die Mittel des Kriegers, der ber die Reichtmer von Provinzen undgroen Stdten gebietet und der um so sicherer ber sie gebietet, je mehr er sie zuverachten wei.[36]

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    Blicken wir zurck: Es ist das 19. Jahrhundert, das den Arbeiter als den Vertre-ter eines neuen Standes, als den Trger einer neuen Gesellschaft und als ein Organder Wirtschaft gedeutet hat.

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    Diese Deutung weist dem Arbeiter eine Scheinstellung an, innerhalb derer diebrgerliche Ordnung in ihren entscheidenden Grundstzen gesichert ist. JederAngriff aus dieser Stellung kann infolgedessen nur ein Scheinangriff sein, der zueiner schrferen Ausprgung der brgerlichen Wertungen fhrt. Jede Bewegungvollzieht sich theoretisch im Rahmen einer veralteten Gesellschafts- und

    Menschheitsutopie, praktisch bringt sie immer wieder die Figur des geschicktenGeschftstrgers zur Herrschaft, dessen Kunst im Verhandeln und Vermittelnbesteht. Dies ist leicht festzustellen, wenn man die Ergebnisse der Arbeiterbewegun-gen prft. Was darber hinaus an machtpolitischer Vernderung bereits sichtbarwird, ist im Tiefsten ungewollt, es entzieht sich der brgerlichen Deutungskunstund widerspricht durchaus allen Voraussagen im Sinne der humanitren Gesell-schaftsutopie.

    Die Vorstellungen, unter deren Bann man den Arbeiter zu bringen suchte,reichen jedoch zur Lsung der groen Aufgaben eines neuen {30} Zeitalters nichtaus. Wie fein auch die Rechnungen aufgestellt sind, deren Ergebnis nichts anderesals das Glck sein sollte, so bleibt doch immer ein Rest, der sich jeder Auflsungentzieht und der sich im menschlichen Bestnde als Verzicht oder als wachsende

    Verzweiflung bemerkbar macht.Will man einen neuen Vorsto wagen, so kann das nur in der Richtung auf neue

    Ziele geschehen. Dies setzt eine andere Front, es setzt Bundesgenossen anderer Artvoraus. Es setzt voraus, da der Arbeiter sich in einer anderen Form begreift undda in seinen Bewegungen nicht mehr eine Widerspiegelung des brgerlichenBewutseins, sondern ein eigentmliches Selbstbewutsein zum Ausdruck kommt.[37]

    Es erhebt sich also die Frage, ob sich in der Gestalt des Arbeiters nicht mehr ver-birgt, als man bisher zu erraten verstand. {31}

    DIE GESTALT ALS EIN GANZES, DAS MEHR ALS DIE SUMME SEINERTEILE UMFASST

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    Der Beantwortung der eben gestellten Frage ist vorauszusetzen, was als Gestaltbegriffen werden soll. Diese Erluterung gehrt keineswegs zu den Randbemerkun-gen, wie wenig Raum ihr auch hier gewidmet werden kann.

    Wenn im Folgenden zunchst von Gestalten als von einer Mehrzahl gesprochenwird, so geschieht das aus einem vorlufigen Mangel an Rangordnung, der imVerlaufe der Untersuchung behoben wird. ber die Rangordnung im Reiche derGestalt entscheidet nicht das Gesetz von Ursache und Wirkung, sondern ein

    andersartiges Gesetz von Stempel und Prgung; und wir werden sehen, da in derEpoche, in die wir eintreten, die Prgung des Raumes, der Zeit und des Menschenauf eine einzige Gestalt, nmlich auf die des Arbeiters, zurckzufhren ist.

    Vorlufig seien, unabhngig von dieser Ordnung, als Gestalt die Grenangesprochen, wie sie sich einem Auge darbieten, das begreift, da die Welt sichnach einem entschiedeneren Gesetz als nach dem von Ursache und Wirkung zusam-menfat, ohne jedoch die Einheit zu sehen, unter der diese Zusammenfassung sichvollzieht.

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    In der Gestalt ruht das Ganze, das mehr als die Summe seiner Teile umfat unddas einem anatomischen Zeitalter unerreichbar war. Es ist das Kennzeichen einerheraufzie-[38] henden Zeit, da man in ihr wieder unter dem Banne von Gestaltensehen, fhlen und handeln wird. ber den Rang eines Geistes, den Wert eines

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    Auges entscheidet der Grad, in dem ihnen der Einflu von Gestalten sichtbar {32}wird. Schon liegen die ersten, bedeutsamen Bemhungen vor; sie sind weder in derKunst noch in der Wissenschaft noch im Glauben zu bersehen. Auch in der Politikhngt alles davon ab, da man Gestalten und nicht etwa Begriffe, Ideen oder bloeErscheinungen zum Kampfe bringt.

    Von dem Augenblick, in dem man in Gestalten erlebt, wird alles Gestalt. DieGestalt ist also keine neue Gre, die zu den bereits bekannten hinzu zu entdeckenwre, sondern von einem neuen Aufschlag des Auges an erscheint die Welt als einSchauplatz der Gestalten und ihrer Beziehungen. Es stellt sich dies, um einen fr diebergangszeit bezeichnenden Irrtum anzudeuten, nicht so dar, als ob etwa derEinzelne verschwnde und nur von Krperschaften, Gemeinschaften oder Ideen alsvon bergeordneten Einheiten seinen Sinn entgegenzunehmen htte. Auch imEinzelnen reprsentiert sich die Gestalt, jeder Fingernagel, jedes Atom an ihm istGestalt. Und hat brigens die Wissenschaft unserer Zeit nicht schon begonnen, dieAtome nicht mehr als kleinste Teile, sondern als Gestalten zu sehn?

    Ein Teil freilich ist ebensowenig Gestalt, wie eine Summe von Teilen eine Gestaltergeben kann. Dies ist zu bercksichtigen, wenn man etwa das Wort Mensch in

    einem Sinne verwenden will, der sich jenseits der Redensarten bewegt. Der Menschbesitzt Gestalt, insofern er als der konkrete, der fabare Einzelne begriffen wird.Dies gilt aber nicht vom Menschen schlechthin, der lediglich eine der Schablonendes Verstandes ist und der nichts oder alles, auf keinen Fall aber etwas Bestimmtesbedeuten kann.

    Dasselbe gilt von den umfassenderen Gestalten, denen der Einzelne angehrt.Diese Zugehrigkeit ist weder durch Multiplikation noch durch Division zu errech-nen viele Menschen ergeben noch keine Gestalt, und keine Teilung der Gestaltfhrt auf den Einzelnen zurck. Denn die Gestalt[39] ist das Ganze, das mehr alsdie Summe seiner Teile enthlt. Ein Mensch ist mehr als die Summe der Atome, derGlieder, Organe und Sfte, aus denen er besteht, eine Ehe ist mehr als Mann und

    Frau, eine Familie mehr als Mann, Frau und Kind. Eine Freundschaft ist mehr alszwei Mnner und ein Volk mehr, als {33} durch das Ergebnis einer Volkszhlungoder durch eine Summe von politischen Abstimmungen zum Ausdruck gebrachtwerden kann.

    Man hat sich im 19. Jahrhundert angewhnt, jeden Geist, der sich auf diesesMehr, auf diese Totalitt*, zu berufen suchte, in das Reich der Trume zu verwei-sen, wie sie in einer schneren Welt, nicht aber in der Wirklichkeit am Platze sind.

    Es kann aber kein Zweifel sein darber, da gerade die umgekehrte Wertung diegegebene ist und da auch im Politischen jeder Geist minderen Ranges ist, dem frdieses Mehr das Auge fehlt. Er mag in der Geistesgeschichte, in der Wirtschaftsge-schichte, in der Ideengeschichte eine Rolle spielen aber Geschichte ist mehr; sie istGestalt ebensosehr, wie sie das Schicksal von Gestalten zum Inhalt hat.

    Freilich und diese Einschaltung mge schrfer andeuten, was unter Gestaltbegriffen werden soll freilich bewegte sich auch die Mehrzahl der Gegenspielerder Logiker und Mathematiker des Lebens auf einer Ebene, die zu der, die siebekmpften, in keinem Rangunterschiede stand. Denn es ist kein Unterschied, obman sich auf eine losgelste Seele oder eine losgelste Idee anstatt auf einen losge-lsten Menschen beruft. Die Seele und die Idee in diesem Sinne sind weder Gestalt,noch besteht zwischen ihnen und dem Krper oder der Materie ein berzeugenderGegensatz.

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    Dem scheint die Erfahrung des Todes zu widersprechen, bei dem fr die herge-brachte Vorstellung die Seele das Gehuse des Krpers und also der unvergnglicheTeil des

    * Nhere Auskunft ber das Wort total, das im Folgenden noch eine Rolle spielen wird,erteilt die Schrift Die Totale Mobilmachung (Berlin, 1930). [40]

    Menschen den vergnglichen verlt. Es ist jedoch ein Irrtum, eine fremde Lehre,da der sterbende Mensch seinen Krper verlt seine Gestalt tritt vielmehr ineine neue Ordnung ein, der gegenber jeder rumliche, zeitliche oder urschlicheVergleich unzulssig ist. Diesem Wissen entsprang die Anschauung unserer Vor-vter, nach der der Krieger im Augenblicke des Todes nach Walhalla geleitet wurde nicht als Seele wurde {34} er dort aufgenommen, sondern in strahlenderLeibhaftigkeit, von welcher der Leib des Helden in der Schlacht ein hohes Gleichniswar.

    Es ist sehr wichtig, da wir wieder zu einem vollkommenen Bewutsein derTatsache vordringen, da der Leichnam nicht etwa der entseelte Krper ist. Zwi-

    schen dem Krper in der Sekunde des Todes und dem Leichnam in der darauffolgenden besteht nicht die mindeste Beziehung; dies deutet sich darin an, da derKrper mehr als die Summe seiner Glieder umfat, whrend der Leichnam gleichder Summe seiner anatomischen Teile ist. Es ist ein Irrtum, da die Seele wie eineFlamme Staub und Asche hinter sich lt. Von hchstem Belange aber ist die Tat-sache, da die Gestalt den Elementen des Feuers und der Erde nicht unterworfen istund da daher der Mensch als Gestalt der Ewigkeit angehrt. In seiner Gestalt,ganz unabhngig von jeder nur moralischen Wertung, jeder Erlsung und jedemstrebenden Bemhn, ruht sein angeborenes, unvernderliches und unvergng-liches Verdienst, seine hchste Existenz und seine tiefste Besttigung. Je mehr wiruns der Bewegung widmen, desto inniger mssen wir davon berzeugt sein, da einruhendes Sein sich unter ihr verbirgt und da jede Steigerung der Geschwindigkeit

    nur die bersetzung einer unvergnglichen Ursprache ist.Aus diesem Bewutsein ergibt sich ein neues Verhltnis zum Menschen, eine

    heiere Liebe und eine schrecklichere Unbarmherzigkeit. Es ergibt sich dieMglichkeit einer heiteren Anarchie, die zugleich mit einer strengsten Ordnungzusammenfllt ein Schauspiel, wie es bereits in den groen Schlachten und denriesigen Stdten angedeutet ist, deren [41] Bild am Beginn unseres Jahrhundertssteht. In diesem Sinne ist der Motor nicht der Herrscher, sondern das Symbol unse-rer Zeit, das Sinnbild einer Macht, der Explosion und Przision keine Gegenstzesind. Er ist das khne Spielzeug eines Menschenschlages, der sich mit Lust in dieLuft zu sprengen vermag und der in diesem Akte noch eine Besttigung der Ord-nung erblickt. Aus dieser Haltung, die weder dem Idealismus noch dem Materialis-

    mus vollziehbar ist, sondern die als ein Heroischer Realismus angesprochen werdenmu, ergibt sich jenes uerste Ma an Angriffskraft, dessen wir bedrftig {35}sind. Ihre Trger sind vom Schlage jener Freiwilligen, die den groen Krieg mitJubel begrten und die alles begren, was ihm folgte und folgen wird.

    Gestalt besitzt, wie gesagt, auch der Einzelne, und das erhabenste und unverlier-bare Lebensrecht, das er mit Steinen, Pflanzen, Tieren und Sternen teilt, ist seinRecht auf Gestalt. Als Gestalt umfat der Einzelne mehr als die Summe seinerKrfte und Fhigkeiten; er ist tiefer, als er es in seinen tiefsten Gedanken zu erratenvermag, und mchtiger, als er es in seiner mchtigsten Tat zum Ausdruck bringenkann.

    So trgt er den Mastab in sich, und die hchste Lebenskunst, insofern er alsEinzelner lebt, besteht darin, da er sich selbst zum Mastab nimmt. Dies macht

    den Stolz und die Trauer eines Lebens aus. Alle groen Augenblicke des Lebens, dieglhenden Trume der Jugend, der Rausch der Liebe, das Feuer der Schlacht, fallenzusammen mit einem tieferen Bewutsein der Gestalt, und die Erinnerung ist die

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    zauberhafte Rckkehr der Gestalt, die das Herz berhrt und es von der Unvergng-lichkeit dieser Augenblicke berzeugt. Die bitterste Verzweiflung eines Lebensberuht darin, sich nicht erfllt zu haben, sich selbst nicht gewachsen gewesen zusein. Hier gleicht der Einzelne dem Verlorenen Sohn, der sein Erbteil, wie gro oderwie gering es immer gewesen sei, mig und in der Fremde vergeudet hat und

    dennoch kann ber seine Wiederaufnahme im Vaterlande kein Zweifel sein. Denndas unverlierbare Erbteil des Einzelnen ist es, da er der Ewigkeit angehrt, und inseinen hchsten und [42] unzweifelhaften Augenblicken ist er sich dessen vlligbewut. Es ist seine Aufgabe, da er dies in der Zeit zum Ausdruck bringt. Indiesem Sinne wird sein Leben zu einem Gleichnis der Gestalt.

    Darber hinaus aber ist der Einzelne einer groen Rangordnung von Gestalteneingefgt Mchten, die man sich gar nicht wirklich, leibhaftig und notwendiggenug vorstellen kann. Ihnen gegenber wird der Einzelne selbst zum Gleichnis,zum Vertreter, und die Wucht, der Reichtum, der Sinn seines Lebens hngt von demMae ab, in dem er an der Ordnung und am Streit der Gestalten beteiligt ist. {36}

    Echte Gestalten werden daran erkannt, da ihnen die Summe aller Krfte gewid-met, die hchste Verehrung zugewandt, der uerste Ha entgegen gebracht wer-

    den kann. Da sie das Ganze in sich bergen, fordern sie das Ganze ein. So kommt es,da der Mensch mit der Gestalt zugleich seine Bestimmung, sein Schicksal ent-deckt, und diese Entdeckung ist es, die ihn des Opfers fhig macht, das im Blutop-fer seinen bedeutendsten Ausdruck gewinnt.

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    Den Arbeiter in einer durch die Gestalt bestimmten Rangordnung zu sehen, hatdas brgerliche Zeitalter nicht vermocht, weil ihm ein echtes Verhltnis zur Weltder Gestalten nicht gegeben war. Hier schmolz alles zu Ideen, Begriffen oder bloenErscheinungen ein, und die beiden Pole dieses flssigen Raumes waren die Vernunft

    und die Empfindsamkeit. In der letzten Verdnnung ist Europa, ist die Welt nochheute von dieser Flssigkeit, von dieser blassen Tnche eines selbstherrlichgewordenen Geistes berschwemmt.

    Aber wir wissen, da dieses Europa, da diese Welt in Deutschland nur denRang einer Provinz besitzen, deren Verwaltung die Aufgabe nicht der besten Her-zen, ja nicht einmal der besten Kpfe gewesen ist. Schon frh in diesem Jahrhun-dert sah man den Deutschen im Aufstande gegen[43] diese Welt, und zwar vertre-ten durch den deutschen Frontsoldaten als den Trger einer echten Gestalt. Dieswar zugleich der Beginn der deutschen Revolution, die bereits im 19. Jahrhundertdurch hohe Geister angekndigt wurde und die nur als eine Revolution der Gestaltbegriffen werden kann. Wenn dieser Aufstand dennoch nur ein Vorspiel gewesenist, so liegt der Grund darin, da er in seinem vollen Umfange noch der Gestalt

    entbehrte, von der jeder Soldat, der einsam und unbekannt bei Tag und Nacht anallen Grenzen des Reiches fiel, bereits ein Gleichnis gewesen ist.

    Denn zum ersten war die Fhrung viel zu gesttigt, viel zu berzeugt von denWerten einer Welt, die einmtig in Deutschland ihren gefhrlichsten Widersachererkannte; und so entsprach es der Gerechtigkeit, da diese Fhrung besiegt undausgestrichen wurde, whrend {37} der deutsche Frontsoldat sich nicht nur alsunbesiegbar, sondern auch als unsterblich erwies. Jeder dieser Gefallenen ist heutelebendiger als je, und das kommt daher, da er als Gestalt der Ewigkeit angehrt.Der Brger aber gehrt nicht den Gestalten an, daher frit ihn die Zeit, auch wenner sich mit der Krone des Frsten oder mit dem Purpur des Feldherrn schmckt.

    Zum andern aber sahen wir, da der Aufstand des Arbeiters in der Schule des

    brgerlichen Denkens vorbereitet war. So konnte er nicht mit dem deutschen Auf-stand zusammenfallen, und dies deutet sich darin an, da die Kapitulation vorEuropa, die Kapitulation vor der Welt einerseits durch eine brgerliche Oberschichtalten Stiles, andererseits durch die ebenso brgerlichen Sprecher einer sogenannten

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    Revolution, also im Grunde durch die Vertreter ein und desselben Menschenschla-ges, sich vollzog.

    In Deutschland aber kann kein Aufstand den Rang einer Neuordnung besitzen,der gegen Deutschland gerichtet ist. Er ist schon deshalb zum Scheitern verurteilt,weil er gegen eine Gesetzmigkeit verstt, der sich kein Deutscher entziehen

    kann, ohne da er sich selbst der geheimsten Wurzeln seiner Kraft beraubt.Daher knnen bei uns nur solche Mchte fr die Freiheit [44] kmpfen, diezugleich die Trger der deutschen Verantwortung sind. Wie aber konnte der Brgerdiese Verantwortung auf den Arbeiter bertragen, da er selbst ihrer nicht teilhaftigwar? Ebenso wie er, insofern er regierte, unfhig war, die elementare Kraft desVolkes zum unwiderstehlichen Einsatze zu bringen, war er, insofern er die Regie-rung anstrebte, nicht imstande, diese Elementarkraft revolutionr in Bewegung zusetzen. Daher versuchte er, sie an seinem Verrate gegen das Schicksal zu beteiligen.

    Dieser Verrat ist belanglos in seiner Eigenschaft als Hochverrat, in der er als einSelbstvernichtungsproze der brgerlichen Ordnung erkannt werden mu. Er istaber zugleich Landesverrat, insofern der Brger versuchte, die Gestalt des Reichesin seine Selbstvernichtung einzubeziehen. Da ihm die Kunst des Sterbens nicht

    gegeben ist, versuchte er, den Zeitpunkt seines Todes, koste es, was es wolle,hinauszuziehen. {38} Die Kriegsschuld des Brgers beruht darin, da er weder fhigwar, den Krieg wirklich, das heit: im Sinne einer Totalen Mobilmachung, zu fh-ren, noch ihn zu verlieren also seine hchste Freiheit im Untergange zu sehn. Diesunterscheidet den Brger vom Frontsoldaten, da der Brger auch im Kriege jedeGelegenheit zur Verhandlung zu ersphen suchte, whrend er fr den Soldateneinen Raum bedeutete, in dem es zu sterben galt, das heit: so zu leben, da dieGestalt des Reiches besttigt wurde jenes Reiches, das uns, auch wenn sie denLeib nehmen, doch bleiben mu.

    Es sind zwei Menschenschlge, von denen man den einen um jeden Preisverhandlungsbereit, den anderen um jeden Preis kampfbereit erkennt. Die Erzie-

    hungskunst des Brgers am Arbeiter bestand darin, da er ihn zu einem Verhand-lungspartner erzog. Der Sinn, der sich dahinter versteckt und der in dem Wunschebesteht, die Lebensdauer der brgerlichen Gesellschaft um jeden Preis zu verln-gern, konnte so lange verborgen bleiben, wie diese Gesellschaft im Gleichgewichtder Mchte ein auenpolitisches Ebenbild besa. Seine gegen den Staat gerichteteTendenz mute sich in demselben Augenblick enthllen, in dem zwischen diesen[45] Mchten ein anderes Verhltnis als das der Verhandlung in Erscheinung trat.Dennoch verhalf der letzte Sieg Europas dem Brger dazu, noch einmal einen jenerknstlichen Rume zu ermglichen, von denen aus gesehen Gestalt und Schicksaldem Unsinnigen gleichbedeutend sind. Es ist das Geheimnis der deutschen Nieder-lage, da der Fortbestand eines solchen Raumes, der Fortbestand Europas, dasverschwiegenste Wunschbild des Brgers war.

    Hier enthllte sich nunmehr auch ganz klar die unwrdige Rolle, die er demArbeiter zugedacht hatte, indem er ihm in der inneren Politik mit groem Geschickdas Bewutsein einer Herrschaft zuzuspielen wute, deren Ansprche sich einemauenpolitischen Schuldverhltnisse gegenber immer wieder als ungedeckte Wech-sel herausstellen muten. Die Protestspanne ist zugleich die letzte Lebensspanne derbrgerlichen Gesellschaft, und auch hierin kommt ihr Scheindasein zum Ausdruck,das sich auf die lngst verbrauchten Kapitalien des 19. Jahrhunderts zu sttzensucht. {39}

    Dies aber ist der Raum, den der Arbeiter nicht etwa zu bekmpfen hat, denn erwird in ihm ja immer auf nichts anderes als auf Verhandlungen und Zugestndnissestoen, sondern den er nur mit Verachtung von sich abzuschtteln braucht. Es ist

    der Raum, dessen uere Grenzen der Ohnmacht und dessen innere Ordnungendem Verrate entsprungen sind. Damit wurde Deutschland eine Kolonie Europas,eine Kolonie der Welt.

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    Der Akt aber, durch den der Arbeiter diesen Raum abzuschtteln vermag,besteht eben darin, da er sich als Gestalt und innerhalb einer Rangordnung vonGestalten erkennt Hierauf begrndet sich die tiefste Rechtfertigung zum Kampf umden Staat, die sich nunmehr nicht auf eine neue Vertragsauslegung, sondern aufeinen unmittelbaren Auftrag, auf ein Schicksal zu berufen hat.[46]

    10

    Das Sehen von Gestalten ist insofern ein revolutionrer Akt, als es ein Sein inder ganzen und einheitlichen Flle seines Lebens erkennt.

    Es ist die groe berlegenheit dieses Vorganges, da er sich jenseits sowohl dermoralischen und sthetischen als auch der wissenschaftlichen Wertungen vollzieht.Es kommt in diesem Bereiche zunchst nicht darauf an, ob etwas gut oder bse,schn oder hlich, falsch oder richtig ist, sondern darauf, welcher Gestalt eszugehrt. Hiermit dehnt sich der Umkreis der Verantwortung in einer Weise aus,die mit allem, was das 19. Jahrhundert unter Gerechtigkeit verstand, ganzunvereinbar ist: es ist die Legitimation oder die Schuld des Einzelnen, da er dieser

    oder jener Gestalt zugehrt.In dem gleichen Augenblick, in dem dies erkannt und anerkannt wird, bricht die

    ungeheuer komplizierte Apparatur zusammen, die ein sehr knstlich gewordenesLeben zu seinem Schutze errichtete, weil jene Haltung, die wir zu Beginn unsererUntersuchung als eine wildere Unschuld bezeichneten, ihrer nicht mehr bedarf. Diesist die Revision des Lebens durch das Sein, und wer neue, grere Mglichkeiten{40} des Lebens erkennt, begrt diese Revision im Ma und bermae ihrer Uner-bittlichkeit.

    Eins der Mittel zur Vorbereitung eines neuen und khneren Lebens besteht inder Vernichtung der Wertungen des losgelsten und selbstherrlich gewordenenGeistes, in der Zerstrung der Erziehungsarbeit, die das brgerliche Zeitalter am

    Menschen geleistet hat. Damit dies von Grund auf, und nicht etwa in der Art einerReaktion, die die Welt um hundertfnfzig Jahre zurckstellen will, geschehe, ist esntig, da man durch diese Schule hindurchgegangen ist. Es kommt nun auf dieErziehung eines Menschenschlages an, der die verzweifelte Gewiheit besitzt, dadie Ansprche der abstrakten Gerechtigkeit, der freien Forschung, des knstle-rischen Gewissens sich auszuweisen haben vor einer [47] hheren Instanz, als sieinnerhalb einer Welt der brgerlichen Freiheit berhaupt wahrgenommen werdenkann.

    Wenn dies zunchst im Denken geschieht, so deshalb, weil der Gegner auf demFelde seiner Strke aufzusuchen ist. Die beste Antwort auf den Hochverrat desGeistes gegen das Leben ist der Hochverrat des Geistes gegen den Geist; und esgehrt zu den hohen und grausamen Genssen unserer Zeit, an dieser Sprengarbeit

    beteiligt zu sein.

    11

    Eine gestaltmige Betrachtung des Arbeiters knnte anknpfen an die beidenErscheinungen, aus denen bereits das brgerliche Denken den Begriffdes Arbeitersgewann, nmlich an die Gemeinschaft und an den Einzelnen, deren gemeinsamerNenner in der Vorstellung bestand, die das 19. Jahrhundert vom Menschen besa.Diese beiden Erscheinungen wechseln ihre Bedeutung, wenn ein neues Bild desMenschen in ihnen zum Einsatz kommt.

    So wre es lohnend, zu verfolgen, wie der Einzelne unter heroischen Aspekten

    auf der einen Seite als der Unbekannte Soldat erscheint, der auf den Schlachtfeldernder Arbeit vernichtet wird, und wie er eben deshalb auf der anderen auftritt als derHerr und Ordner der Welt, als gebietender Typus im Besitze einer bisher nur dunkel{41} geahnten Machtvollkommenheit. Beide Seiten gehren der Gestalt des Arbei-

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    ters an, und dies ist es, was sie selbst dort, wo sie sich im tdlichen Kampfeaneinander messen, im tiefsten vereint.

    Ebenso erscheint die Gemeinschaft einmal als leidend, insofern sie die Trgerineines Werkes ist, dessen Wucht gegenber selbst die hchste Pyramide einerStecknadelspitze gleicht, und doch zum andern als bedeutende Einheit, deren Sinn

    durchaus vom Bestehen oder Nichtbestehen eben dieses Werkes abhngig ist. Daherpflegt bei uns wohl darber gestritten zu werden, welcher Art die Ordnung seinsoll, in der das Werk bedient und beherrscht zu werden hat, wh-[48] die Notwen-digkeit dieses Werkes selbst zum Schicksal gehrt und damit jenseits derFragestellungen steht.

    Dies kommt unter anderem darin zum Ausdruck, da selbst innerhalb derbisherigen Arbeiterbewegungen niemals eine Verneinung der Arbeit als einerGrundtatsache stattgefunden hat. Es ist eine Erscheinung, die den Geist mit Ach-tung und Zuversicht erfllen mu, da selbst dort, wo solche in der Schule desbrgerlichen Denkens herangewachsene Bewegungen bereits die Macht eroberten,nicht verminderte, sondern vermehrte Arbeit die unmittelbare Folge gewesen ist.Dies liegt, wie noch ausgefhrt werden soll, einmal daran, da schon der Name

    Arbeiter nichts anderes andeuten kann als eine Haltung, die ihren Auftrag, unddaher ihre Freiheit, in der Arbeit erkennt. Zum andern aber kommt hier sehr deut-lich zum Vorschein, da nicht Unterdrckung, sondern ein neues Gefhl derVerantwortung die wesentliche Triebfeder ist und da wirkliche Arbeiterbewegun-gen nicht, wie es der Brger tat, gleichviel ob er sie bejahte oder verneinte, alsSklaven-, sondern als verkappte Herrenbewegungen aufzufassen sind. Jeder, derdies erkannt hat, erkennt auch die Notwendigkeit einer Haltung, die ihn der Fh-rung des Arbeitertitels wrdig macht

    Nicht also soll angeknpft werden an die Gemeinschaft und an den Einzelnen,obwohl beide auch gestaltmig zu begreifen sind. Dann allerdings ndert sich derInhalt dieser Worte, und wir werden sehen, wie sehr der Einzelne und die Gemein-

    schaft innerhalb der Arbeitswelt {42} vom Individuum und der Masse des 19. Jahr-hunderts verschieden sind. Unsere Zeit hat sich in dieser Gegenberstellung ganzhnlich wie in jenen anderen Gegenberstellungen von Idee und Materie, Blut undGeist, Macht und Recht erschpft, aus denen sich nur perspektivische Deutungenergeben, durch welche dieser oder jener Teilanspruch belichtet wird. Weit mehrkommt es darauf an, die Gestalt des Arbeiters auf einem Range aufzusuchen, vondem aus gesehen sowohl der Einzelne als auch die Gemeinschaften als Gleichnisse,als die Vertreter aufzufassen sind. Vertreter des Arbeiters in diesem Sinne sind[49]ebensowohl die hchsten Steigerungen des Einzelnen, wie sie bereits frh im ber-menschen* geahnt worden sind, als auch jene ameisenartig im Banne des Werkeslebenden Gemeinschaften, von denen aus gesehen der Anspruch auf Eigenart alseine unbefugte uerung der privaten Sphre betrachtet wird. Diese beiden Lebens-

    haltungen haben sich in der Schule der Demokratie entwickelt, von beiden lt sichsagen, da sie durch sie hindurchgegangen und nunmehr von zwei scheinbar entge-gengesetzten Richtungen her an der Vernichtung der alten Wertungen beteiligt sind.Beide aber sind, wie gesagt, Gleichnisse der Gestalt des Arbeiters, und ihre innereEinheit weist sich aus, indem der Wille zur totalen Diktatur sich im Spiegel einerneuen Ordnung als der Wille zur Totalen Mobilmachung erkennt

    Aber jede Ordnung, sei sie, wie sie auch immer sei, gleicht dem Gradnetz, dasber eine Landkarte gezogen ist und das erst durch die Landschaft, auf die es sichbezieht, Bedeutung gewinnt gleicht den wechselnden Namen von Dynastien,deren sich der Geist nicht zu entsinnen braucht, whrend er durch ihre Denkmlererschttert wird.

    So ist auch die Gestalt des Arbeiters tiefer und ruhender in das Sein gebettet alsalle Gleichnisse und Ordnungen, durch die sie sich besttigt, tiefer als Verfassungenund Werke, als die Menschen und ihre Gemeinschaften, die wie die wechselndenZge eines Gesichtes sind, dessen Grundcharakter unvernderlich besteht. {43}

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    In der Flle ihres Seins gesehen und in der Gewalt einer Prgung, die eben erstbegonnen hat, erscheint die Gestalt des Arbeiters reich an Widersprchen und

    Spannungen in sich, und doch von einer wunderbaren Einheit und schicksalsmi-gen Geschlossenheit So wird sie uns zuweilen offenbar, in

    *Und zwar durch das Medium des brgerlichen Individuums hindurch. [50]

    Augenblicken, in denen kein Zweck und keine Absicht die Besinnung strt alsruhende und vorgeformte Macht.

    So scheint uns manchmal, wenn pltzlich der Sturm der Hmmer und Rder, deruns umgibt, zum Schweigen kommt, fast krperlich die Ruhe entgegenzutreten, diesich hinter dem bermae der Bewegung verbirgt, und es ist eine gute Sitte, die inunserer Zeit, um die Toten zu ehren oder um einen Augenblick von geschichtlicherBedeutung dem Bewutsein einzuprgen, die Arbeit fr eine Frist von Minuten wie

    auf ein hchstes Kommando stillstehen heit. Denn diese Bewegung ist ein Gleich-nis der innersten Kraft in dem Sinne, in dem sich etwa die geheime Bedeutung einesTieres am klarsten in seiner Bewegung offenbart. Das Erstaunen ber ihren Still-stand aber ist im Grunde das Erstaunen darber, da das Ohr fr einen Augenblickdie tieferen Quellen, die den zeitlichen Ablauf der Bewegung speisen, zu vernehmenmeint, und das erhebt diesen Akt in einen kultischen Rang.

    Es zeichnet die groen Schulen des Fortschrittes aus, da ihnen zu den Urkrftendie Beziehung fehlt und da ihre Dynamik auf den zeitlichen Ablauf der Bewegungbegrndet ist. Dies ist der Grund, aus dem ihre Schlsse in sich berzeugend unddoch wie durch eine diabolische Mathematik zur Mndung in den Nihilismusverurteilt sind. Wir haben dies selbst erlebt, insofern wir am Fortschritt beteiligtwaren, und halten es fr die groe Aufgabe eines Geschlechts, das lange in einerUrlandschaft lebte, die unmittelbare Verbindung mit der Wirklichkeit wiederherzu-stellen.

    Das Verhltnis des Fortschritts zur Wirklichkeit ist abgeleiteter Natur. Was gese-hen wird, ist die Projektion der Wirklichkeit auf die Peripherie der Erscheinung;dies ist an allen groen Systemen {44} des Fortschritts nachzuweisen und gilt auchfr sein Verhltnis zum Arbeiter.

    Und doch ist, ebenso wie die Aufklrung tiefer als Aufklrung ist, auch der Fort-schritt nicht ohne Hintergrund. Auch er kannte jene Augenblicke, von denen ebendie Rede war. Es gibt einen Rausch der Erkenntnis, der mehr als logischen [51]Ursprunges ist, und es gibt einen Stolz auf technische Errungenschaften, auf denAntritt der schrankenlosen Herrschaft ber den Raum, der eine Ahnung besitzt

    vom geheimsten Willen zur Macht, dem all dieses nur eine Rstung fr ungeahnteKmpfe und Aufstnde ist und gerade deshalb so kostbar und einer liebevollerenWartung bedrftig, als sie noch je ein Krieger seinen Waffen zuteil werden lie.

    Daher kann fr uns nicht jene Haltung in Frage kommen, die dem Fortschrittdie untergeordneten Mittel der romantischen Ironie entgegenzustellen sucht und diedas sichere Kennzeichen eines in seinem Kerne geschwchten Lebens ist. UnsereAufgabe ist es, nicht die Gegen-, sondern die Vabanquespieler der Zeit zu sein,deren voller Einsatz sowohl in seinem Umfange wie in seiner Tiefe zu begreifen ist.Der Ausschnitt, den unsere Vter so berscharf belichteten, ndert seine Bedeu-tung, wenn er im greren Bilde gesehen wird. Die Verlngerung eines Weges, derzur Bequemlichkeit und Sicherheit zu fhren schien, schneidet nunmehr in die Zonedes Gefhrlichen ein. In diesem Sinne erscheint der Arbeiter ber den Ausschnitthinaus, den ihm der Fortschritt anwies, als der Trger der heroischen Grundsub-stanz, die ein neues Leben bestimmt.

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    Wo wir aber diese Substanz am Werke fhlen, da sind wir dem Arbeiter nah,und wir sind Arbeiter, insofern sie zu unserem Erbteil gehrt. Alles, was wir alswunderbar an unserer Zeit empfinden und was uns noch in den Sagen der fernstenJahrhunderte als ein Geschlecht von mchtigen Zauberern erscheinen lassen wird,gehrt dieser Substanz, gehrt der Gestalt des Arbeiters an. Sie ist es, die in unserer

    Landschaft, die wir nur deshalb nicht als unendlich seltsam empfinden, weil wir inihr geboren sind, am Werke ist; ihr Blut ist der Kraftstoff, der die Rder treibt undan ihren Achsen raucht. {45}

    Bei der Betrachtung dieser trotz allem eintnigen Bewegung, die an ein Gefildevoll tibetanischer Gebetsmhlen gemahnt, dieser strengen, den geometrischenGrundrissen der Pyramiden gleichenden Ordnungen dieser Opfer, wie sie[52] nochkeine Inquisition und kein Moloch forderte und deren Zahl jeder Schritt voran mittdlicher Sicherheit vermehrt wie knnte sich hier ein Auge, das wirklich zu sehenversteht, der Einsicht entziehen, da hinter dem Schleier von Ursache und Wirkung,der sich unter den Kmpfen des Tages bewegt, Schicksal und Verehrung am Werkesind? {46}

    DER EINBRUCH ELEMENTARER MCHTE IN DEN BRGERLICHENRAUM

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    Es wurde bisher vorausgesetzt, da dem Arbeiter ein neues Verhltnis zumElementaren, zur Freiheit und zur Macht eigentmlich sei.

    Das Bestreben des Brgers, den Lebensraum hermetisch gegen den Einbruch desElementaren abzudichten, ist der besonders gelungene Ausdruck eines uraltenStrebens nach Sicherheit, das in der Natur- und Geistesgeschichte, ja in jedem

    einzelnen Leben berall zu verfolgen ist. In diesem Sinne verbirgt sich hinter derErscheinung des Brgers eine ewige Mglichkeit, die jedes Zeitalter, jeder Menschin sich vorfinden wird hnlich wie jedem Zeitalter, jedem Menschen die ewigenFormen von Angriff und Verteidigung zur Verfgung stehen, obwohl es kein Zufallist, welche dieser Formen in der Entscheidung zur Anwendung kommt.

    Der Brger sieht sich von vornherein auf die Verteidigung angewiesen, und zwi-schen den Mauern einer Burg und denen einer Stadt drckt sich der Unterschiedzwischen einer letzten und einer einzigen Zuflucht aus. Hier deutet sich auch an,warum der Advokatenstand in der brgerlichen Politik von Anfang an eine beson-dere Rolle spielt, desgleichen, warum man sich bei Kriegen zwischen nationalenDemokratien darber streitet, wer der Angegriffene ist. Die Linke ist die Hand derVerteidigung.[53]

    Niemals wird der Brger sich getrieben fhlen, das Schicksal in Kampf undGefahr freiwillig aufzusuchen, denn das Elementare liegt jenseits seines Kreises, esist das Unvernnftige und damit das Unsittliche schlechthin. So wird er sich immervon ihm abzusetzen suchen, gleichviel ob es ihm erscheine als Macht und Leiden-schaft {47} oder in den Urelementen des Feuers, des Wassers, der Erde und der Luft.

    Unter diesem Gesichtswinkel erscheinen die groen Stdte um die Jahrhundert-wende als die idealen Hochburgen der Sicherheit, als der Triumph der Mauerschlechthin, die sich seit ber einem Jahrhundert von den veraltetenBefestigungsringen zurckgezogen hat und als Stein, als Asphalt, als Glas das Lebenin wabenfrmigen Ordnungen umschliet und gleichsam in seine innerstenOrdnungen eingedrungen ist. Jeder Sieg der Technik ist hier ein Sieg der

    Bequemlichkeit, und der Zutritt der Elemente wird durch die konomie bestimmt.Das Auerordentliche des brgerlichen Zeitalters aber liegt weniger in demBestreben nach Sicherheit als in dem ausschlielichen Charakter, der diesen Bestre-bungen eigentmlich ist. Es liegt darin, da hier das Elementare als das Sinnlose

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    erscheint und da somit die Grenzmauer der brgerlichen Ordnung sich zugleichdarstellt als die Grenzmauer der Vernunft. Hierdurch setzt sich der Brger vonanderen Erscheinungen ab, etwa von der des Glubigen, des Kriegers, des Knst-lers, des Seefahrers, des Jgers, des Verbrechers und, wie behauptet, auch von derdes Arbeiters.

    Vielleicht wird an dieser Stelle bereits der Grund der Abneigung klar, die derBrger vor diesen und anderen Erscheinungen empfindet, die gleichsam schon inihren Kleidern den Geruch des Gefhrlichen in die Stdte tragen. Es ist dies dieAbneigung vor dem Angriff nicht etwa gegen die Vernunft, sondern gegen denKultus der Vernunft, der durch das bloe Vorhandensein dieser Lebenshaltungengegeben ist.

    Einer der Schachzge des brgerlichen Denkens nmlich luft darauf hinaus,den Angriff auf den Kultus der Vernunft zu entlarven als den Angriff auf die Ver-nunft und ihn damit[54] als unvernnftig abzutun. Dem ist entgegenzuhalten, daeine Kongruenz dieser beiden Angriffe nur innerhalb der brgerlichen Welt besteht,denn wie es eine brgerliche Auffassung vom Arbeiter gibt, so gibt es auch einespezifisch brgerliche Vernunft, die sich eben dadurch auszeichnet, da {48} sie mit

    dem Elementaren unvereinbar ist. Dieses Kennzeichen trifft jedoch keineswegs frdie angedeuteten Lebenshaltungen zu.

    So ist die Schlacht fr den Krieger ein Vorgang, der sich in hoher Ordnung voll-zieht, der tragische Konflikt fr den Dichter ein Zustand, in dem der Sinn desLebens besonders deutlich zu erfassen ist, und eine brennende oder vom Erdbebenverwstete Stadt fr den Verbrecher ein Feld gesteigerter Ttigkeit.

    Ebenso nimmt der glubige Mensch an einem erweiterten Kreise des sinnvollenLebens teil. Durch Unglck und Gefahr bezieht ihn das Schicksal ebenso wie durchdas Wunder unmittelbar in ein mchtigeres Walten ein, und der Sinn dieses Zugrif-fes wird in der Tragdie anerkannt. Die Gtter lieben es, sich in den Elementen zuoffenbaren, in glhenden Gestirnen, in Donner und Blitz, im brennenden Busche,

    den die Flamme nicht versehrt. Zeus bebt auf dem hchsten Throne vor Lust,whrend der Erdkreis unter der Schlacht der Gtter und Menschen erdrhnt, weiler hier den ganzen Umfang seiner Macht gewaltig besttigt sieht.

    Es gibt hohe und niedere Beziehungen, die dem Menschen zum Elementarengegeben sind, und viele Ebenen, auf denen sowohl die Sicherheit wie die Gefahrvon ein und derselben Ordnung umschlossen sind. Der Brger dagegen ist zubegreifen als der Mensch, der die Sicherheit als einen hchsten Wert erkennt unddemgem seine Lebensfhrung bestimmt.

    Die oberste Macht, durch die er diese Sicherheit gewhrleistet sieht, ist die Ver-nunft. Je nher er sich ihrem Zentrum befindet, desto mehr schmelzen die dunklenSchatten ein, in denen sich das Gefhrliche verbirgt, das sich manchmal, in Zeiten,whrend deren kaum ein Wlkchen den Himmel zu trben scheint, in groe Fernen

    verliert.[55]Dennoch ist die Gefahr immer vorhanden; sie sucht ewig, wie ein Element, die

    Dmme zu durchbrechen, mit denen die Ordnung sich umringt, und sie wird nachden Gesetzen einer geheimen, aber unbestechlichen Mathematik in dem gleichenMae drohender und tdlicher, in dem die Ordnung sie aus sich auszuscheidenverstand. Denn die Gefahr will nicht nur Anteil an jeder Ordnung haben, sondern{49} sie ist auch die Mutter jener hchsten Sicherheit, deren der Brger niemalsteilhaftig werden kann.

    Der ideale Zustand der Sicherheit dagegen, den der Fortschritt zu erreichenstrebt, besteht in der Weltherrschaft der brgerlichen Vernunft, die die Quellen desGefhrlichen nicht nur vermindern, sondern zuletzt auch zum Versiegen bringen

    soll. Der Akt, in dem dies geschieht, ist eben der, da das Gefhrliche sich imScheine der Vernunft als das Sinnlose offenbart und damit seines Anspruches aufWirklichkeit verlustig geht. Es kommt in dieser Welt darauf an, das Gefhrliche alsdas Sinnlose zu sehen, und es ist im gleichen Augenblicke berwunden, in dem es

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    im Spiegel der Vernunft als Irrtum erscheint.Dies ist im einzelnen innerhalb der geistigen und tatschlichen Ordnungen der

    brgerlichen Welt berall nachzuweisen. Es offenbart sich im groen in dem Bestre-ben, den Staat, der auf Rangordnung beruht, zu sehen als Gesellschaft, derenGrundprinzip die Gleichheit ist und die sich durch einen Vernunftakt begrndet

    hat. Es offenbart sich im umfassenden Aufbau eines Versicherungssystems, durchdas nicht nur das Risiko der ueren und inneren Politik, sondern auch das desprivaten Lebens gleichmig verteilt und damit der Vernunft unterstellt werden soll in Bestrebungen, in denen man das Schicksal durch die Wahrscheinlichkeits-rechnung aufzulsen sucht. Es offenbart sich ferner in den zahlreichen und sehrverwickelten Bemhungen, das Leben der Seele als einen Ablauf von Ursache undWirkung zu erkennen und es damit aus einem unberechenbaren Zustande in denberechenbaren zu berfhren, es also in den Herrschaftskreis des Bewutseinseinzubeziehen.[56]

    Alle Fragestellungen innerhalb dieses Raumes, seien sie knstlerischer, wissen-schaftlicher oder politischer Natur, laufen darauf hinaus, da der Konflikt vermeid-bar ist. Tritt er dennoch auf, wie es etwa den permanenten Tatsachen des Krieges

    oder des Verbrechens gegenber nicht zu bersehen ist, so kommt es darauf an, ihnals Irrtum nachzuweisen, dessen Wiederholung durch Erziehung oder durchAufklrung zu vermeiden ist. Diese Irrtmer treten nur deshalb {50} auf, weil dieFaktoren jener groen Rechnung, deren Ergebnis die Bevlkerung des Erdballes miteiner einheitlichen, sowohl von Grund auf guten als auch von Grund auf vernnfti-gen und daher auch von Grund auf gesicherten, Menschheit sein wird, noch nichtzur allgemeinen Kenntnis gekommen sind.

    Der Glaube an die berzeugungskraft dieser Aussichten ist einer der Grnde,aus denen die Aufklrung dazu neigt, die Krfte zu berschtzen, die ihr gegebensind.

    14Wir sahen bereits, da das Elementare immer vorhanden ist. Obwohl seine Aus-

    scheidung einen hohen Grad erreichen kann, so sind diesem Vorgange dochbestimmte Grenzen gesetzt, da ja das Elementare nicht nur der ueren Welt ange-hrt, sondern auch dem Dasein jedes Einzelnen als eine unverlierbare Mitgift zuge-teilt ist. Der Mensch lebt elementar, ebensowohl insofern er ein natrliches als auchinsofern er ein dmonisches Wesen ist. Kein Vernunftsschlu kann den Schlag desHerzens oder die Ttigkeit der Nieren ersetzen, und es gibt keine Gre, und sei esdie Vernunft selbst, die sich nicht zuzeiten den niederen oder stolzen Leidenschaftendes Lebens unterstellt.

    Die Quellen des Elementaren sind zwiefacher Art. Sie liegen einmal in der Welt,

    die immer gefhrlich ist, so wie das Meer auch whrend der tiefsten Windstille dieGefahr in sich verbirgt. Sie liegen zum zweiten im menschlichen Herzen, [57] dassich nach Spielen und Abenteuern, nach Ha und Liebe, nach Triumphen undAbstrzen sehnt, das sich der Gefahr ebenso bedrftig fhlt wie der Sicherheit unddem ein von Grund auf gesicherter mit Recht als ein unvollkommener Zustanderscheint.

    Es ist nun ein Gradmesser fr den Umfang der Herrschaft der brgerlichen Wer-tungen, bis in welche Entfernung das Elementare zurckzuweichen scheint scheint, denn wir werden noch sehen, wie es sich selbst im Zentrum der brger-lichen Welt unter harmlosen Maskierungen zu verbergen wei. Zunchst ist festzu-stellen, da es {51} dem geborenen Verteidiger gegenber in einer seltsamen

    Verteidigungsstellung, und zwar in der der Romantik, erscheint. Es erscheint imMenschen als die romantische Haltung und in der Welt als der romantische Raum.

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    Dem romantischen Raume ist ein eigenes Zentrum nicht gegeben; er bestehtlediglich in der Projektion. Er liegt im Schatten der brgerlichen Welt, deren Licht-quelle nicht nur seine Ausdehnung bestimmt, sondern die ihn auch berall undjederzeit mit Leichtigkeit aufzulsen vermag. Dies kommt darin zum Ausdruck,da der romantische Raum niemals als gegenwrtig erscheint, ja da die Entfer-

    nung als sein wesentliches Kennzeichen anzusprechen ist eine Entfernung jedoch,deren Mastbe an der Gegenwart gewonnen sind. Nah und Fern, Hell und Dun-kel, Tag und Nacht, Traum und Wirklichkeit heien die Orientierungspunkte desromantischen Bestecks.

    In seiner Entfernung von der zeitlichen Gegenwart erscheint die Lage des roman-tischen Raumes als Vergangenheit, und zwar als eine durch das Spiegelgefhl(Ressentiment) gegen den jeweils augenblicklichen Zustand gefrbte Vergangenheit.Die Entfernung von der rtlichen Gegenwart stellt sich dar als die Flucht aus einemdurchaus gesicherten und vom Bewutsein durchdrungenen Raum, und daherschmilzt im gleichen Verhltnis mit dem Siegeszuge der Technik als des schrfstenMittels des Bewutseins die Zahl der romantischen Landschaften ein. Gestern nochlagen [58] sie vielleicht weit in der Trkei oder in Spanien und Griechenland,

    heute noch in dem Urwaldgrtel um den quator oder an den Eiskappen der Pole,aber morgen werden die letzten weien Flecke dieser wunderlichen Landkarte dermenschlichen Sehnsucht verschwunden sein.

    Fr uns gilt es, zu wissen, da das Wunderbare in jenem Sinne, der so liebevollden Klang der mittelalterlichen Glocken oder den Duft exotischer Blten herbeizu-zaubern versteht, zu den