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Seelsorge am Universitaumltsklinikum Leipzig
Leipzig im Februar 2013
bdquoEs muss sich rechnenldquo
Die Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
im Krankenhaus
Rolf-Michael Turek
- 1 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Inhaltsverzeichnis
1 Hinfuumlhrung - 2 -
2 Menschenbilder - 3 - 22 Abgrenzung Wer ist Mensch und wer nicht - 3 - 22 Das Bild vom Menschen im Laufe der Geschichte - 3 -
221 Vorzeit - 3 - 222 Schoumlpfung - 3 -
223 Mensch und Gottheit - 3 - 224 Mittelalter - 4 - 225 Das Menschenbild der Aufklaumlrung - 4 -
226 Moderne - 5 - 227 Das Menschenbild des Grundgesetzes - 5 - 228 Postmoderne - 5 -
23 Was macht den Menschen aus - 6 -
231 Mensch und Tier - 6 - 232 Mensch geschlechtsspezifisch - 6 -
233 Entmenschlichung - 6 - 234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein - 7 -
235 Wann endet der Mensch - 8 - 24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille - 8 - 25 Gleichheit oder Ungleichheit - 9 -
26 Psychologie der Menschenbilder - 9 -
261 Definition - 9 - 262 Psychologie der Menschenbilder - 10 - 263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien - 10 -
264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder - 11 - 265 Erkundung des Menschenbildes - 11 - 266 Menschenbilder in der Psychotherapie - 12 -
267 Weitere Modelle - 12 - 3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo) - 13 -
31 Definition und Bedeutung - 13 -
32 Begriffsgeschichte - 13 -
33 Kritik und neuere Ansaumltze - 13 -
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen - 14 - 35 Homo oeconomicus in der Theologie - 15 - 36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften - 15 - 4 Der Siegeszug des Utilitarismus - 16 - 5 Oumlkonomisierung der Medizin - 19 -
51 Verschiebungen - 19 - 511 bdquoGesundheitldquo - 19 - 512 Krankheit - 20 - 513 Therapie - 20 -
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik - 22 -
6 Thesen und Forderungen - 24 - 7 Literatur - 25 -
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
1 Hinfuumlhrung
Die Klage daruumlber dass immer mehr Lebensbereiche von Kostenfragen uumlberschattet werden ist allge-
genwaumlrtig Das Leitmotiv unserer Epoche scheint sich in dem Satz zu buumlndeln Es muss sich rechnen
Absichten und Handlungen werden danach beurteilt wie und ob sie Kosten einsparen bzw Gewinne
generieren Rote Zahlen zu erwirtschaften gilt als Teufelswerk ndash eine Null ist gerade noch so hinzu-
nehmen
Solche Art von Oumlkonomisierung hat nun schon seit laumlngerer Zeit auch die Krankenhaumluser erreicht
Mitarbeiter Patienten und Angehoumlrige beklagen dass die Frage nach der Wirtschaftlichkeit nicht nur
bisherige medizinische1 und pflegerische2 Standards durchdringt sondern sie zunehmend dominiert
Nun wird in den Debatten um die Rolle ethischer Orientierung in der Medizin oft eine Trennung von
Oumlkonomie und Ethik in der Weise vorgenommen dass beide als unvereinbar gelten Gerade so als
muumlssten sich Medizin und Pflege von oumlkonomischen Fragen fernhalten um ihrem Heilungsauftrag
gerecht werden zu koumlnnen Solch eine Polarisierung ist allerdings nicht hilfreich Oumlkonomisches
Denken muss nicht im Gegensatz zur Ethik stehen Ganz im Gegenteil kann sie sogar ein konstituti-
ver Bestandteil von Ethik sein Ohne oumlkonomisches Denken wuumlrde die Medizin viele Ressourcen
unnoumltig verbrauchen und es wuumlrde zu noch groumlszligeren Engpaumlssen kommen
Und doch ist die Allianz von Oumlkonomie und Medizin nur so lange nicht unheilvoll wie man versucht
sie in ein gutes Verhaumlltnis zueinander zu bringen Angesichts dessen dass der Patient auf den genuin
sozialen Charakter der Medizin angewiesen ist muumlsste das Verhaumlltnis von Oumlkonomie und Medizin
idealerweise so gestaltet werden dass die Ziele der Oumlkonomie in den Dienst der Ziele der Medizin
gestellt werden Die Oumlkonomie haumltte demnach der Medizin zu dienen
Das dieser Zustand von unserer Realitaumlt weit entfernt ist zeigen nicht nur die Auswuumlchse der so ge-
nannten bdquoFinanzkriseldquo Spaumltestens hier muss allen deutlich geworden sei dass nicht etwa Politik und
Fachwissenschaften das Geschehen regulieren sondern ein ungezuumlgelter Markt das Ruder uumlbernom-
men hat
Im Gesundheitswesen gegenzusteuern hieszlige Oumlkonomie und Ethik (wieder) miteinander zu versoumlhnen
und vielleicht als ersten Schritt miteinander ins Gespraumlch zu bringen Dazu sollen diese Gedanken
hier anregen
Ausgehend von einem Blick auf die verschiedenen Konzepte die uumlber das Wesen des Menschen er-
arbeitet worden sind soll mit den folgenden Gedanken Lust geweckt werden hier im KHS ethisches
Denken und Handeln auf allen Ebenen zu etablieren bzw zu staumlrken
1 Als Grundlage aumlrztlicher Entscheidungsfindungen und medizinischen Tuns galt (bisher) der aumlrztliche bzw medi-
zinische Heilungsauftrag Dieser Heilauftrag basiert auf Vorstellungen die ihre Wurzeln in juumldisch-hellenistisch-
christlicher Tradition haben und wird in unserem Kulturkreis durchweg akzeptiert auch von Aumlrzten und Pflegenden
die sich sonst den genannten Traditionen nicht verpflichtet fuumlhlen Der medizinische (dh aumlrztliche und pflegerische)
Heilauftrag wird in der Literatur folgendermaszligen beschrieben Leben erhalten - Krankheiten heilen (oder vermeiden)
- Leiden lindern In der englischsprachigen Literatur aumlhnlichbdquoBeneficienceldquo (zum Wohl des Kranken handeln) -
bdquoNon-maleficienceldquo (keinen Schaden verursachen das bdquonihil nocereldquo der hippokratischen Medizin) - bdquoJusticeldquo (Ge-
rechtigkeit walten lassen) - bdquoAutonomyldquo (den Willen des Kranken respektieren) Diese Kriterien werden heute er-
gaumlnzt durch bdquoDignitiyldquo (die Wuumlrde des Kranken beachten) und bdquoCareldquo (Fuumlrsorge dem Kranken gegenuumlber) 2 bdquoPflege ist eine Praxisdisziplin und hat die Aufgabe einzelne Menschen und Gruppen von Menschen verschiedenen
Geschlechts Alters und kultureller Praumlgung in ihrer Gesundheit zu foumlrdern und zu beraten sie waumlhrend einer Krank-
heit im Genesungsprozess zu unterstuumltzen oder in chronischen nicht heilbaren Stadien Wohlbefinden zu ermoumlgli-
chen und Schmerzen zu lindernldquo (Kuumlhne-Ponesch Modelle und Theorien in der Pflege 2004 11)
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
2 Menschenbilder
Menschenbild ist ein in der philosophischen Anthropologie gebraumluchlicher Begriff fuumlr die Vor-
stellung das Bild das jemand vom Wesen des Menschen hat Insofern der Mensch Teil der Welt
ist ist das Menschenbild auch Teil des Weltbildes Menschenbild wie Weltbild sind immer in
eine bestimmte Uumlberzeugung oder Lehre eingebunden die jemand vertritt So gibt es unter ande-
rem zum Beispiel ein christliches ein buddhistisches ein humanistisches oder ein darwinistisches
Menschen- und Weltbild
Dem Einzelnen erscheint das eigene Menschenbild haumlufig als so selbstverstaumlndlich dass er kaum
daruumlber nachdenkt dass man sich den Menschen auch anders vorstellen kann Trifft man auf ein
anderes Menschenbild so wird dieses haumlufig als falsch das eigene als richtig angesehen Hier
geht es nicht um die Klaumlrung von Streitfragen also nicht darum was richtig und was falsch ist
sondern welche unterschiedlichen Vorstellungen die Menschen in unterschiedlichen Kulturen
haben und zu unterschiedlichen Zeiten uumlber sich hatten und welche Implikationen daraus folgen
22 Abgrenzung Wer ist Mensch und wer nicht
Die Frage was ein Mensch ist und was nicht ist grundlegender und vor allem strittiger als ge-
meinhin angenommen (z B die Frage wann das Leben beginnt ob eine befruchtete Eizelle oder
ein Embryo bereits ein Mensch ist)
Die Differenzierung des Menschen erfolgt durch die Annahme dass der Mensch sowohl Instinkte
als auch die Faumlhigkeit besitzt uumlber sich selbst zu reflektieren Dadurch unterscheidet er sich (in
seinem Verhalten) von anderen Lebewesen
22 Das Bild vom Menschen im Laufe der Geschichte
221 Vorzeit
Uumlber Menschenbild und Selbstverstaumlndnis des Menschen der Vorzeit ist wenig bekannt aller-
dings existieren kuumlnstlerische wohl religioumlse Zeugnisse wie Abbildungen von Menschen und
Goumlttern Nachgewiesene Begraumlbnis-Riten weisen auf Vorstellungen vom Jenseits und Sorge um
die Verstorbenen hin Religioumlse Vorstellungen waren wahrscheinlich animistisch inspiriert Re-
praumlsentativ fuumlr diese Phase ist der Schamanismus
222 Schoumlpfung
In fast allen Gesellschaften existieren Mythen der Schoumlpfung die Hinweise auf Weltbild aber
auch auf das Selbstverstaumlndnis der Menschen liefern
223 Mensch und Gottheit
In der griechischen und roumlmischen Antike wie auch im Zweistromland existiert eine Vielzahl von
Goumlttern die den Menschen uumlberlegen sind aber ihnen auch aumlhneln Der Mensch wird im Gegen-
satz zu den Goumlttern als sterblich angesehen weshalb bdquodie Sterblichenldquo als Umschreibung fuumlr
Menschen benutzt wurde Menschen und Goumltter pflegen untereinander und miteinander eine
Vielzahl von Lieb- oder Feindschaften und sind gleichermaszligen in Leidenschaften verstrickt (sie-
he z B die Sage von Odysseus) Ansonsten ist das Menschenbild der Antike auch durch Sklave-
rei Ungerechtigkeit und Ungleichheit gepraumlgt In Athen und spaumlter auch in Rom finden sich
zwar Ansaumltze der Demokratie Diese ist jedoch immer auf die sog Freien (vgl Oberschicht) be-
grenzt Die Philosophie erbluumlht in der Antike es werden weitreichende Betrachtungen uumlber den
Menschen und die Gesellschaft angestellt auf die man sich teilweise noch heute bezieht
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Im Monotheismus ist die Trennung zwischen Mensch und Gott weitaus praumlgnanter Der alleinige
Gott duldet keine weiteren Goumltter neben sich und verlangt nach Erfuumlllung seines Willens z B
Opfer (siehe Altes Testament)
Der Unterschied zwischen Mensch und Gott (Monotheismus)Goumlttern wird in religioumls gepraumlgten
Gesellschaft darin gesehen dass ein Gott das Uumlberwesen ist das - selber anderen keinen oder
undurchschaubaren Regeln unterworfen - den Menschen uumlberhaupt erst geschaffen hat das ihn
(wie z B im Christentum oder Islam) einst richten wird und das in der Zwischenzeit jede Macht
hat das Leben des Menschen auch existenziell zu beeinflussen Der Mensch erscheint - beson-
ders im Monotheismus - als abhaumlngig von Gott Im Christentum bekommt hierbei der Begriff der
Suumlnde etwa im Verhaumlltnis zum freien Willen groszlige Bedeutung
In verschiedenen Kulturen konnten Menschen zu Goumlttern werden und wurden auch als solche
verehrt Weltliche Herrscher wie manche der Pharaonen oder solche in den mittelamerikanischen
Kulturen der Maya oder Azteken beanspruchten als Menschen gleichzeitig Goumltter zu sein Herr-
scher uumlber Himmel und Erde Die Konquistadoren aus Europa wurden von den Indianern zu-
naumlchst als Goumltter wahrgenommen die alte Prophezeiungen erfuumlllten
Bei den Voodoo-Kulten und vergleichbaren Naturreligionen etwa in Afrika oder der Karibik ge-
raten (auch heute) gewoumlhnliche Menschen in Trance und Gottheiten ergreifen von ihnen zeitwei-
se Besitz sprechen durch sie oder druumlcken sich in Bewegungen und Handlungen aus
Im asiatischen Kulturkreis uumlberwiegt im Unterschied zu christlich gepraumlgten Gesellschaften eine
buddhistisch beeinflusste Sicht des Menschen die dadurch gekennzeichnet ist dass Gott und
Mensch in eins fallen Schoumlpfer und Geschoumlpf existieren nicht unabhaumlngig voneinander Gott
druumlckt sich als alles durchdringende Lebenskraft in der Schoumlpfung aus Aus diesem Grund hat der
Begriff bdquoGottldquo im Buddhismus keine Bedeutung da bdquoGottldquo im wesentlichen eine Abgrenzung
zum Menschen ausdruumlckt Fuumlr das Menschenbild hat diese Sicht entscheidende Bedeutung da sie
den Menschen auf sich selbst und die ihn umgebende Schoumlpfung zuruumlckwirft Er ist keinem au-
szligerhalb von sich befindlichen Uumlberwesen Rechenschaft schuldig (wie im Judentum Christentum
und Islam) sondern hat sein Tun und Lassen allein vor sich selbst zu verantworten Jede Aus-
uumlbung einer Wirkung auf die Umwelt kommt einer Auswirkung auf das eigene Selbst gleich da
das Schoumlpferische im Menschen (Gott) und der Mensch als Teil der Welt nicht voneinander ver-
schieden sind (vgl auch Pantheismus)
224 Mittelalter
Das Mittelalter ist gepraumlgt vom Glauben und vom Aberglauben von der Hinnahme des eigenen
Schicksals vom Fatalismus und der Furcht vor der Houmllle aber auch von der Wiederentdeckung
des Wissens der Antike in den Bibliotheken der Kloumlster Handel mit dem Orient bietet die Moumlg-
lichkeit der Verbreitung von Wissen und Erfindungen Die Kreuzzuumlge sollen die Uumlberlegenheit
des christlichen Glaubens demonstrieren weltliche und kirchliche Macht und Rechtsprechung
gehen Hand in Hand Die Herrschaft des Adels wird als gottgewollt dargestellt Ungleichheit
zwischen den Menschen meist hingenommen (siehe aber auch Habeas Corpus)
225 Das Menschenbild der Aufklaumlrung
Der Humanismus stellt einen Bruch mit den vormaligen Vorstellungen dar im Zentrum steht nun
der Mensch das Individuum Die Philosophie der Aufklaumlrung erreicht eine Synthese von antiken
und neueren Vorstellungen vom Menschen Das Licht der Aufklaumlrung soll dem vernunftbegabten
Menschen ermoumlglichen alten Aberglauben abzulegen sich selbst zu erkennen seine eigenen
Belange und die der Gesellschaft vernuumlnftig zu regeln Das naturwissenschaftlich-rationale Den-
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
ken haumllt Einzug Das Buumlrgertum uumlberwindet in Folge der franzoumlsischen Revolution die Herrschaft
von Kirche und Adel und entwickelt ein neues Selbstverstaumlndnis das sich in Kultur und Politik
niederschlaumlgt
226 Moderne
Die Industrialisierung muumlndet in die Moderne Die Moderne ist (in ihrer Selbstwahrnehmung)
gepraumlgt von technischen Erfindungen kulturellen Revolutionen und Fortschritt Saumlkularisierung
politisch von Marxismus Emanzipation von Frauen und der Arbeiterbewegung Liberalismus
Faschismus und den Katastrophen der beiden Weltkriege
Max Weber analysiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus die oumlkonomi-
schen Prozesse der Industriegesellschaft die zeitgenoumlssische Arbeitsethik ihre Verankerung im
Protestantismus In ihrem beruumlhmten Werk Dialektik der Aufklaumlrung kritisieren die Philosophen
Theodor W Adorno und Horkheimer die Unmenschlichkeiten des Nazi-Regimes und anderer
Systeme als Folge des uumlberbetont rationalen Denkens der Aufklaumlrung Die Konzentrationslager
funktionierten technisch perfekt organisiert nach rationalen Gesichtspunkten die den Wert des
Menschen auf seinen Materialwert bezifferten
In der zweiten Haumllfte des 20 Jahrhunderts entstehen die modernen kapitalistischen westlichen
Gesellschaften auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten Das Individuum tritt
als Buumlrger und Konsument als Waumlhler und als Arbeitnehmer auf Wohlstand und weitere Ratio-
nalisierung halten Einzug Im konkurrierenden Ostblock soll ein dogmatischer Sozialismus die
Lehren von Karl Marx verwirklichen Die Verfolgung von sog Abweichlern von der Parteilinie
autoritaumlre Regimes und Mangel an Freiheit sind jedoch die Folge
227 Das Menschenbild des Grundgesetzes
Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveraumlnen Individuums das
Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemein-
schaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden ohne dabei deren
Eigenwert anzutasten Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art 1 2 12 19
und 20 GG Dies heiszligt aber der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfrei-
heit gefallen lassen die der Gesetzgeber zur Pflege und Foumlrderung des sozialen Zusammenlebens
in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht vorausgesetzt
dass dabei die Eigenstaumlndigkeit der Person gewahrt bleibt (BVerfGE 4 7 15 f)
228 Postmoderne
Der Existenzialismus als populaumlre Denkschule der Avantgarde der 50er entwirft ein Bild vom
modernen Menschen der in eine sinnlose Welt geworfen ist Sinn muss von ihm selbst gestiftet
werden
Mit der Studentenbewegung von 1968 mit Umbruumlchen wie der machtvollen Popkultur haumllt wie-
derum ein neues Menschenbild Einzug Die 68er protestieren gegen eine vermeintlich erstarrte
Gesellschaft in West wie Ost eine Technokratie die dem Individuum keinen Raum einraumlumt
sondern angepasstes Verhalten verlangt Irrationale Seiten des Menschen wie Phantasie werden
von den 68ern dagegengehalten Esoterik Utopien aber auch Kunst und Kultur sind dabei Aus-
druck dieser Haltung
In der Philosophie entwerfen Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jacques Derrida Grundzuumlge
einer neuen Philosophie des Menschen Sie wenden sich gegen die scheinbar selbstverstaumlndlichen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Eindeutigkeiten binaumlren Entscheidungen Festschreibungen die das Denken uumlber Mensch und
Welt bisher praumlgten
Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom Nebeneinander einer Vielzahl von Ansichten uumlber den
Menschen von divergierenden neuen und alten Lebensstilen Gemein ist ihnen jedoch zumeist
der Wille zu Pluralismus und Toleranz Die Oumlkologie-Bewegung entwirft in den 70ern und 80ern
ein ganzheitliches Menschenbild bei dem besonders das Eingebundensein des Menschen in die
Natur betont wird Jugendbewegungen wie Punk oder New Wave propagieren einen melancholi-
schen bis pessimistisch-nihilistischen Blick auf den Menschen
23 Was macht den Menschen aus
231 Mensch und Tier
Im europaumlischen Weltbild scheint die Abgrenzung zum Tier eindeutig zu sein In anderen Kultu-
ren jedoch erfolgt die Abgrenzung anders In einigen suumldostasiatischen Sprachen beispielsweise
werden die Menschenaffen zu den Menschen gerechnet Orang Utan ist der Waldmensch und
Orang Asli ein Einheimischer Alle sind Menschen Umgekehrt werden gelegentlich voumlllig ande-
re Menschen nicht zu den Menschen gerechnet In Brasilien kommt es vor dass die dortigen Ur-
einwohner als bdquoWaldtiereldquo bezeichnet werden
In der klassischen Philosophie und im christlichen Menschenbild kommt dem Menschen auf-
grund seiner geistigen Seele (Geist) eine eindeutig herausgehobene Stellung gegenuumlber den Tie-
ren zu denn der Mensch gilt als Ebenbild Gottes (Gen 1 26-27) und ihm steht es zu uumlber die
Tiere wie die gesamte Schoumlpfung zu herrschen (Gen 1 28) Das moderne naturwissenschaftliche
Menschenbild verneint dagegen einen systematischen Unterschied zwischen Mensch und Tier
Haumlufig schmuumlcken sich jedoch in vielen Kulturen Menschen mit Bezeichnungen von Tieren Ad-
ler Loumlwe Fuchs Wolf usw sind beliebte Selbstbezeichnungen wie auch anhand von Vornamen
und Titeln erkennbar ist Analog gibt es Bezeichnungen die abwertend gesehen werden wie z B
Schwein Sau Ratte Hund Esel Manche Tiere wie z B Kamel werden in einigen Kulturkreisen
anerkennend in anderen abwertend gebraucht Wo der Unterschied zwischen Mensch und Tier
besonders betont wird werden Tiervergleiche uumlberhaupt nicht gerne gesehen
Teilweise umstritten sind die Bezeichnungen human (woumlrtlich menschlich) und bestialisch
(woumlrtlich tierisch) Hier wird unterstellt dass der Mensch mild waumlre waumlhrend das Tier roh ist
Haumlufig werden aber Handlungsweisen des Menschen als bestialisch bezeichnet die beim Tier
kaum oder gar nicht vorkommen Umgekehrt wird mit human haumlufig eine Verhaltensweise be-
zeichnet die bei Tieren in analoger Form vorkommen
Kritische Literatur zu dieser Problematik
Jobst Paul (2004) Das bdquoTierldquo - Konstrukt - und die Geburt des Rassismus Zur kulturellen Ge-
genwart eines vernichtenden Arguments ISBN 3-89771-731-X
232 Mensch geschlechtsspezifisch
Noch bis ins 19 Jahrhundert wurde in der Theologie aber auch in den Wissenschaften und der
Politik daruumlber debattiert ob Frauen als Menschen zu gelten haben oder nicht und wenn ja ob sie
bdquovollwertigeldquo Menschen seien oder nur eine minderwertige Sonderform
233 Entmenschlichung
Menschen mit Aussehen Verhalten oder Lebensweisen die nicht der Norm entsprachen etwa
geistiger Behinderung wurde gelegentlich das Attribut bdquoMenschldquo abgesprochen man spricht
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des
Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus
wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung
ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam
bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der
Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form
als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-
chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile
(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)
Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-
menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-
ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-
tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-
ziefer belegt
Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht
man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort
wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als
bdquotypisch menschlichldquo betrachtet
In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive
Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen
um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-
tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten
Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib
Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung
als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht
in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-
misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-
bracht wird Penner
Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-
chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt
234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein
Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme
ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-
tragen bekommen kann
Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern
ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-
katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das
Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-
schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen
keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und
mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den
Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-
ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger
Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt
Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-
ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal
uumlberlassen
235 Wann endet der Mensch
Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-
tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-
tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem
Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen
der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber
fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-
nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen
koumlnnen
24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille
Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind
ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung
des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula
rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-
ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen
Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung
von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-
den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-
weltbeeinflussung
Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion
uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch
Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der
Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass
der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt
Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung
In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von
einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann
muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht
angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren
Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und
versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-
keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-
scheint
Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-
de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei
bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die
man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit
der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-
tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt
gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-
cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-
muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-
einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann
die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung
Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt
voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch
Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-
zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen
25 Gleichheit oder Ungleichheit
Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das
Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon
rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in
ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist
Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-
ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-
schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob
die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen
Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen
26 Psychologie der Menschenbilder
261 Definition
Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von
Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele
sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen
oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-
ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-
pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-
entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-
scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen
unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich
den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und
Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und
bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist
das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-
theorien und Weltanschauungen ausmacht
Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-
tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-
freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-
ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-
hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-
pretationen der Welt
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
262 Psychologie der Menschenbilder
In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-
theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-
benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften
(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich
Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die
wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-
trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu
den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-
schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-
schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-
pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-
renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen
Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-
duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um
sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-
gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen
christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene
Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen
Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-
renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und
durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-
Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie
die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht
ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen
263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien
Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-
scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde
Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-
genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-
sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in
ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-
ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum
noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-
rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein
klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen
und Sinnfragen aus
Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-
mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-
den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen
Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-
tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt
bzw systematisches gesichertes Wissen
- 11 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder
Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch
eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-
mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier
als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-
schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-
praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach
Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde
liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-
schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine
wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes
Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-
che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-
rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-
gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen
Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle
Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung
zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-
schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-
rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch
psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte
Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-
haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind
die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie
Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-
lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch
ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-
teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung
265 Erkundung des Menschenbildes
Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch
durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-
gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-
psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch
fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-
len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde
ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-
fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden
der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von
Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-
se auf das Menschenbild geben
Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen
waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen
religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung
von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-
nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die
Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte
Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-
schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie
unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-
sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie
Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-
sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-
tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-
logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben
266 Menschenbilder in der Psychotherapie
Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-
schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und
pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen
uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-
rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der
bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-
kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-
rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-
graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung
Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen
richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie
auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie
der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In
wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die
Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden
267 Weitere Modelle
Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der
Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)
Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)
Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)
Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-
gicus)
Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen
nach Charles Elworthy)
Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)
Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)
Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)
Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3
3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt
Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer
Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn
versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung
betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten
- 13 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)
hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-
traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge
31 Definition und Bedeutung
Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational
handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende
Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4
Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur
Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-
resse des Menschen5
Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten
erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-
treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden
wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder
Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten
wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig
beschreiben
Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw
einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung
bezeichnet
32 Begriffsgeschichte
Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-
tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten
Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-
nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform
des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-
ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles
wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-
nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die
Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7
33 Kritik und neuere Ansaumltze
Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-
maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-
reitschaft und Kooperation wider
4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-
versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)
5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X
6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage
Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus
in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter
gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-
nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-
ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung
des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig
erweitert
In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden
Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-
tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen
Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-
nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich
irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo
von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert
sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8
In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-
den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung
eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)
Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-
schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-
onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu
fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet
Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie
auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen
Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-
oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts
(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-
ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig
auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-
barldquo[6]
Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein
theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-
genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-
genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]
Der Oumlkonom
Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-
munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-
leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-
trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-
8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml
9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-
ka] 2005 (PDF 688 KB)
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13
Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am
Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14
Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump
Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven
Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15
Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16
Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-
furt-New York-Paris 1993 31-62
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
- 17 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
- 20 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
- 21 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
- 22 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
- 23 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
- 24 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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- 1 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Inhaltsverzeichnis
1 Hinfuumlhrung - 2 -
2 Menschenbilder - 3 - 22 Abgrenzung Wer ist Mensch und wer nicht - 3 - 22 Das Bild vom Menschen im Laufe der Geschichte - 3 -
221 Vorzeit - 3 - 222 Schoumlpfung - 3 -
223 Mensch und Gottheit - 3 - 224 Mittelalter - 4 - 225 Das Menschenbild der Aufklaumlrung - 4 -
226 Moderne - 5 - 227 Das Menschenbild des Grundgesetzes - 5 - 228 Postmoderne - 5 -
23 Was macht den Menschen aus - 6 -
231 Mensch und Tier - 6 - 232 Mensch geschlechtsspezifisch - 6 -
233 Entmenschlichung - 6 - 234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein - 7 -
235 Wann endet der Mensch - 8 - 24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille - 8 - 25 Gleichheit oder Ungleichheit - 9 -
26 Psychologie der Menschenbilder - 9 -
261 Definition - 9 - 262 Psychologie der Menschenbilder - 10 - 263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien - 10 -
264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder - 11 - 265 Erkundung des Menschenbildes - 11 - 266 Menschenbilder in der Psychotherapie - 12 -
267 Weitere Modelle - 12 - 3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo) - 13 -
31 Definition und Bedeutung - 13 -
32 Begriffsgeschichte - 13 -
33 Kritik und neuere Ansaumltze - 13 -
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen - 14 - 35 Homo oeconomicus in der Theologie - 15 - 36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften - 15 - 4 Der Siegeszug des Utilitarismus - 16 - 5 Oumlkonomisierung der Medizin - 19 -
51 Verschiebungen - 19 - 511 bdquoGesundheitldquo - 19 - 512 Krankheit - 20 - 513 Therapie - 20 -
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik - 22 -
6 Thesen und Forderungen - 24 - 7 Literatur - 25 -
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
1 Hinfuumlhrung
Die Klage daruumlber dass immer mehr Lebensbereiche von Kostenfragen uumlberschattet werden ist allge-
genwaumlrtig Das Leitmotiv unserer Epoche scheint sich in dem Satz zu buumlndeln Es muss sich rechnen
Absichten und Handlungen werden danach beurteilt wie und ob sie Kosten einsparen bzw Gewinne
generieren Rote Zahlen zu erwirtschaften gilt als Teufelswerk ndash eine Null ist gerade noch so hinzu-
nehmen
Solche Art von Oumlkonomisierung hat nun schon seit laumlngerer Zeit auch die Krankenhaumluser erreicht
Mitarbeiter Patienten und Angehoumlrige beklagen dass die Frage nach der Wirtschaftlichkeit nicht nur
bisherige medizinische1 und pflegerische2 Standards durchdringt sondern sie zunehmend dominiert
Nun wird in den Debatten um die Rolle ethischer Orientierung in der Medizin oft eine Trennung von
Oumlkonomie und Ethik in der Weise vorgenommen dass beide als unvereinbar gelten Gerade so als
muumlssten sich Medizin und Pflege von oumlkonomischen Fragen fernhalten um ihrem Heilungsauftrag
gerecht werden zu koumlnnen Solch eine Polarisierung ist allerdings nicht hilfreich Oumlkonomisches
Denken muss nicht im Gegensatz zur Ethik stehen Ganz im Gegenteil kann sie sogar ein konstituti-
ver Bestandteil von Ethik sein Ohne oumlkonomisches Denken wuumlrde die Medizin viele Ressourcen
unnoumltig verbrauchen und es wuumlrde zu noch groumlszligeren Engpaumlssen kommen
Und doch ist die Allianz von Oumlkonomie und Medizin nur so lange nicht unheilvoll wie man versucht
sie in ein gutes Verhaumlltnis zueinander zu bringen Angesichts dessen dass der Patient auf den genuin
sozialen Charakter der Medizin angewiesen ist muumlsste das Verhaumlltnis von Oumlkonomie und Medizin
idealerweise so gestaltet werden dass die Ziele der Oumlkonomie in den Dienst der Ziele der Medizin
gestellt werden Die Oumlkonomie haumltte demnach der Medizin zu dienen
Das dieser Zustand von unserer Realitaumlt weit entfernt ist zeigen nicht nur die Auswuumlchse der so ge-
nannten bdquoFinanzkriseldquo Spaumltestens hier muss allen deutlich geworden sei dass nicht etwa Politik und
Fachwissenschaften das Geschehen regulieren sondern ein ungezuumlgelter Markt das Ruder uumlbernom-
men hat
Im Gesundheitswesen gegenzusteuern hieszlige Oumlkonomie und Ethik (wieder) miteinander zu versoumlhnen
und vielleicht als ersten Schritt miteinander ins Gespraumlch zu bringen Dazu sollen diese Gedanken
hier anregen
Ausgehend von einem Blick auf die verschiedenen Konzepte die uumlber das Wesen des Menschen er-
arbeitet worden sind soll mit den folgenden Gedanken Lust geweckt werden hier im KHS ethisches
Denken und Handeln auf allen Ebenen zu etablieren bzw zu staumlrken
1 Als Grundlage aumlrztlicher Entscheidungsfindungen und medizinischen Tuns galt (bisher) der aumlrztliche bzw medi-
zinische Heilungsauftrag Dieser Heilauftrag basiert auf Vorstellungen die ihre Wurzeln in juumldisch-hellenistisch-
christlicher Tradition haben und wird in unserem Kulturkreis durchweg akzeptiert auch von Aumlrzten und Pflegenden
die sich sonst den genannten Traditionen nicht verpflichtet fuumlhlen Der medizinische (dh aumlrztliche und pflegerische)
Heilauftrag wird in der Literatur folgendermaszligen beschrieben Leben erhalten - Krankheiten heilen (oder vermeiden)
- Leiden lindern In der englischsprachigen Literatur aumlhnlichbdquoBeneficienceldquo (zum Wohl des Kranken handeln) -
bdquoNon-maleficienceldquo (keinen Schaden verursachen das bdquonihil nocereldquo der hippokratischen Medizin) - bdquoJusticeldquo (Ge-
rechtigkeit walten lassen) - bdquoAutonomyldquo (den Willen des Kranken respektieren) Diese Kriterien werden heute er-
gaumlnzt durch bdquoDignitiyldquo (die Wuumlrde des Kranken beachten) und bdquoCareldquo (Fuumlrsorge dem Kranken gegenuumlber) 2 bdquoPflege ist eine Praxisdisziplin und hat die Aufgabe einzelne Menschen und Gruppen von Menschen verschiedenen
Geschlechts Alters und kultureller Praumlgung in ihrer Gesundheit zu foumlrdern und zu beraten sie waumlhrend einer Krank-
heit im Genesungsprozess zu unterstuumltzen oder in chronischen nicht heilbaren Stadien Wohlbefinden zu ermoumlgli-
chen und Schmerzen zu lindernldquo (Kuumlhne-Ponesch Modelle und Theorien in der Pflege 2004 11)
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
2 Menschenbilder
Menschenbild ist ein in der philosophischen Anthropologie gebraumluchlicher Begriff fuumlr die Vor-
stellung das Bild das jemand vom Wesen des Menschen hat Insofern der Mensch Teil der Welt
ist ist das Menschenbild auch Teil des Weltbildes Menschenbild wie Weltbild sind immer in
eine bestimmte Uumlberzeugung oder Lehre eingebunden die jemand vertritt So gibt es unter ande-
rem zum Beispiel ein christliches ein buddhistisches ein humanistisches oder ein darwinistisches
Menschen- und Weltbild
Dem Einzelnen erscheint das eigene Menschenbild haumlufig als so selbstverstaumlndlich dass er kaum
daruumlber nachdenkt dass man sich den Menschen auch anders vorstellen kann Trifft man auf ein
anderes Menschenbild so wird dieses haumlufig als falsch das eigene als richtig angesehen Hier
geht es nicht um die Klaumlrung von Streitfragen also nicht darum was richtig und was falsch ist
sondern welche unterschiedlichen Vorstellungen die Menschen in unterschiedlichen Kulturen
haben und zu unterschiedlichen Zeiten uumlber sich hatten und welche Implikationen daraus folgen
22 Abgrenzung Wer ist Mensch und wer nicht
Die Frage was ein Mensch ist und was nicht ist grundlegender und vor allem strittiger als ge-
meinhin angenommen (z B die Frage wann das Leben beginnt ob eine befruchtete Eizelle oder
ein Embryo bereits ein Mensch ist)
Die Differenzierung des Menschen erfolgt durch die Annahme dass der Mensch sowohl Instinkte
als auch die Faumlhigkeit besitzt uumlber sich selbst zu reflektieren Dadurch unterscheidet er sich (in
seinem Verhalten) von anderen Lebewesen
22 Das Bild vom Menschen im Laufe der Geschichte
221 Vorzeit
Uumlber Menschenbild und Selbstverstaumlndnis des Menschen der Vorzeit ist wenig bekannt aller-
dings existieren kuumlnstlerische wohl religioumlse Zeugnisse wie Abbildungen von Menschen und
Goumlttern Nachgewiesene Begraumlbnis-Riten weisen auf Vorstellungen vom Jenseits und Sorge um
die Verstorbenen hin Religioumlse Vorstellungen waren wahrscheinlich animistisch inspiriert Re-
praumlsentativ fuumlr diese Phase ist der Schamanismus
222 Schoumlpfung
In fast allen Gesellschaften existieren Mythen der Schoumlpfung die Hinweise auf Weltbild aber
auch auf das Selbstverstaumlndnis der Menschen liefern
223 Mensch und Gottheit
In der griechischen und roumlmischen Antike wie auch im Zweistromland existiert eine Vielzahl von
Goumlttern die den Menschen uumlberlegen sind aber ihnen auch aumlhneln Der Mensch wird im Gegen-
satz zu den Goumlttern als sterblich angesehen weshalb bdquodie Sterblichenldquo als Umschreibung fuumlr
Menschen benutzt wurde Menschen und Goumltter pflegen untereinander und miteinander eine
Vielzahl von Lieb- oder Feindschaften und sind gleichermaszligen in Leidenschaften verstrickt (sie-
he z B die Sage von Odysseus) Ansonsten ist das Menschenbild der Antike auch durch Sklave-
rei Ungerechtigkeit und Ungleichheit gepraumlgt In Athen und spaumlter auch in Rom finden sich
zwar Ansaumltze der Demokratie Diese ist jedoch immer auf die sog Freien (vgl Oberschicht) be-
grenzt Die Philosophie erbluumlht in der Antike es werden weitreichende Betrachtungen uumlber den
Menschen und die Gesellschaft angestellt auf die man sich teilweise noch heute bezieht
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Im Monotheismus ist die Trennung zwischen Mensch und Gott weitaus praumlgnanter Der alleinige
Gott duldet keine weiteren Goumltter neben sich und verlangt nach Erfuumlllung seines Willens z B
Opfer (siehe Altes Testament)
Der Unterschied zwischen Mensch und Gott (Monotheismus)Goumlttern wird in religioumls gepraumlgten
Gesellschaft darin gesehen dass ein Gott das Uumlberwesen ist das - selber anderen keinen oder
undurchschaubaren Regeln unterworfen - den Menschen uumlberhaupt erst geschaffen hat das ihn
(wie z B im Christentum oder Islam) einst richten wird und das in der Zwischenzeit jede Macht
hat das Leben des Menschen auch existenziell zu beeinflussen Der Mensch erscheint - beson-
ders im Monotheismus - als abhaumlngig von Gott Im Christentum bekommt hierbei der Begriff der
Suumlnde etwa im Verhaumlltnis zum freien Willen groszlige Bedeutung
In verschiedenen Kulturen konnten Menschen zu Goumlttern werden und wurden auch als solche
verehrt Weltliche Herrscher wie manche der Pharaonen oder solche in den mittelamerikanischen
Kulturen der Maya oder Azteken beanspruchten als Menschen gleichzeitig Goumltter zu sein Herr-
scher uumlber Himmel und Erde Die Konquistadoren aus Europa wurden von den Indianern zu-
naumlchst als Goumltter wahrgenommen die alte Prophezeiungen erfuumlllten
Bei den Voodoo-Kulten und vergleichbaren Naturreligionen etwa in Afrika oder der Karibik ge-
raten (auch heute) gewoumlhnliche Menschen in Trance und Gottheiten ergreifen von ihnen zeitwei-
se Besitz sprechen durch sie oder druumlcken sich in Bewegungen und Handlungen aus
Im asiatischen Kulturkreis uumlberwiegt im Unterschied zu christlich gepraumlgten Gesellschaften eine
buddhistisch beeinflusste Sicht des Menschen die dadurch gekennzeichnet ist dass Gott und
Mensch in eins fallen Schoumlpfer und Geschoumlpf existieren nicht unabhaumlngig voneinander Gott
druumlckt sich als alles durchdringende Lebenskraft in der Schoumlpfung aus Aus diesem Grund hat der
Begriff bdquoGottldquo im Buddhismus keine Bedeutung da bdquoGottldquo im wesentlichen eine Abgrenzung
zum Menschen ausdruumlckt Fuumlr das Menschenbild hat diese Sicht entscheidende Bedeutung da sie
den Menschen auf sich selbst und die ihn umgebende Schoumlpfung zuruumlckwirft Er ist keinem au-
szligerhalb von sich befindlichen Uumlberwesen Rechenschaft schuldig (wie im Judentum Christentum
und Islam) sondern hat sein Tun und Lassen allein vor sich selbst zu verantworten Jede Aus-
uumlbung einer Wirkung auf die Umwelt kommt einer Auswirkung auf das eigene Selbst gleich da
das Schoumlpferische im Menschen (Gott) und der Mensch als Teil der Welt nicht voneinander ver-
schieden sind (vgl auch Pantheismus)
224 Mittelalter
Das Mittelalter ist gepraumlgt vom Glauben und vom Aberglauben von der Hinnahme des eigenen
Schicksals vom Fatalismus und der Furcht vor der Houmllle aber auch von der Wiederentdeckung
des Wissens der Antike in den Bibliotheken der Kloumlster Handel mit dem Orient bietet die Moumlg-
lichkeit der Verbreitung von Wissen und Erfindungen Die Kreuzzuumlge sollen die Uumlberlegenheit
des christlichen Glaubens demonstrieren weltliche und kirchliche Macht und Rechtsprechung
gehen Hand in Hand Die Herrschaft des Adels wird als gottgewollt dargestellt Ungleichheit
zwischen den Menschen meist hingenommen (siehe aber auch Habeas Corpus)
225 Das Menschenbild der Aufklaumlrung
Der Humanismus stellt einen Bruch mit den vormaligen Vorstellungen dar im Zentrum steht nun
der Mensch das Individuum Die Philosophie der Aufklaumlrung erreicht eine Synthese von antiken
und neueren Vorstellungen vom Menschen Das Licht der Aufklaumlrung soll dem vernunftbegabten
Menschen ermoumlglichen alten Aberglauben abzulegen sich selbst zu erkennen seine eigenen
Belange und die der Gesellschaft vernuumlnftig zu regeln Das naturwissenschaftlich-rationale Den-
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
ken haumllt Einzug Das Buumlrgertum uumlberwindet in Folge der franzoumlsischen Revolution die Herrschaft
von Kirche und Adel und entwickelt ein neues Selbstverstaumlndnis das sich in Kultur und Politik
niederschlaumlgt
226 Moderne
Die Industrialisierung muumlndet in die Moderne Die Moderne ist (in ihrer Selbstwahrnehmung)
gepraumlgt von technischen Erfindungen kulturellen Revolutionen und Fortschritt Saumlkularisierung
politisch von Marxismus Emanzipation von Frauen und der Arbeiterbewegung Liberalismus
Faschismus und den Katastrophen der beiden Weltkriege
Max Weber analysiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus die oumlkonomi-
schen Prozesse der Industriegesellschaft die zeitgenoumlssische Arbeitsethik ihre Verankerung im
Protestantismus In ihrem beruumlhmten Werk Dialektik der Aufklaumlrung kritisieren die Philosophen
Theodor W Adorno und Horkheimer die Unmenschlichkeiten des Nazi-Regimes und anderer
Systeme als Folge des uumlberbetont rationalen Denkens der Aufklaumlrung Die Konzentrationslager
funktionierten technisch perfekt organisiert nach rationalen Gesichtspunkten die den Wert des
Menschen auf seinen Materialwert bezifferten
In der zweiten Haumllfte des 20 Jahrhunderts entstehen die modernen kapitalistischen westlichen
Gesellschaften auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten Das Individuum tritt
als Buumlrger und Konsument als Waumlhler und als Arbeitnehmer auf Wohlstand und weitere Ratio-
nalisierung halten Einzug Im konkurrierenden Ostblock soll ein dogmatischer Sozialismus die
Lehren von Karl Marx verwirklichen Die Verfolgung von sog Abweichlern von der Parteilinie
autoritaumlre Regimes und Mangel an Freiheit sind jedoch die Folge
227 Das Menschenbild des Grundgesetzes
Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveraumlnen Individuums das
Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemein-
schaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden ohne dabei deren
Eigenwert anzutasten Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art 1 2 12 19
und 20 GG Dies heiszligt aber der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfrei-
heit gefallen lassen die der Gesetzgeber zur Pflege und Foumlrderung des sozialen Zusammenlebens
in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht vorausgesetzt
dass dabei die Eigenstaumlndigkeit der Person gewahrt bleibt (BVerfGE 4 7 15 f)
228 Postmoderne
Der Existenzialismus als populaumlre Denkschule der Avantgarde der 50er entwirft ein Bild vom
modernen Menschen der in eine sinnlose Welt geworfen ist Sinn muss von ihm selbst gestiftet
werden
Mit der Studentenbewegung von 1968 mit Umbruumlchen wie der machtvollen Popkultur haumllt wie-
derum ein neues Menschenbild Einzug Die 68er protestieren gegen eine vermeintlich erstarrte
Gesellschaft in West wie Ost eine Technokratie die dem Individuum keinen Raum einraumlumt
sondern angepasstes Verhalten verlangt Irrationale Seiten des Menschen wie Phantasie werden
von den 68ern dagegengehalten Esoterik Utopien aber auch Kunst und Kultur sind dabei Aus-
druck dieser Haltung
In der Philosophie entwerfen Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jacques Derrida Grundzuumlge
einer neuen Philosophie des Menschen Sie wenden sich gegen die scheinbar selbstverstaumlndlichen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Eindeutigkeiten binaumlren Entscheidungen Festschreibungen die das Denken uumlber Mensch und
Welt bisher praumlgten
Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom Nebeneinander einer Vielzahl von Ansichten uumlber den
Menschen von divergierenden neuen und alten Lebensstilen Gemein ist ihnen jedoch zumeist
der Wille zu Pluralismus und Toleranz Die Oumlkologie-Bewegung entwirft in den 70ern und 80ern
ein ganzheitliches Menschenbild bei dem besonders das Eingebundensein des Menschen in die
Natur betont wird Jugendbewegungen wie Punk oder New Wave propagieren einen melancholi-
schen bis pessimistisch-nihilistischen Blick auf den Menschen
23 Was macht den Menschen aus
231 Mensch und Tier
Im europaumlischen Weltbild scheint die Abgrenzung zum Tier eindeutig zu sein In anderen Kultu-
ren jedoch erfolgt die Abgrenzung anders In einigen suumldostasiatischen Sprachen beispielsweise
werden die Menschenaffen zu den Menschen gerechnet Orang Utan ist der Waldmensch und
Orang Asli ein Einheimischer Alle sind Menschen Umgekehrt werden gelegentlich voumlllig ande-
re Menschen nicht zu den Menschen gerechnet In Brasilien kommt es vor dass die dortigen Ur-
einwohner als bdquoWaldtiereldquo bezeichnet werden
In der klassischen Philosophie und im christlichen Menschenbild kommt dem Menschen auf-
grund seiner geistigen Seele (Geist) eine eindeutig herausgehobene Stellung gegenuumlber den Tie-
ren zu denn der Mensch gilt als Ebenbild Gottes (Gen 1 26-27) und ihm steht es zu uumlber die
Tiere wie die gesamte Schoumlpfung zu herrschen (Gen 1 28) Das moderne naturwissenschaftliche
Menschenbild verneint dagegen einen systematischen Unterschied zwischen Mensch und Tier
Haumlufig schmuumlcken sich jedoch in vielen Kulturen Menschen mit Bezeichnungen von Tieren Ad-
ler Loumlwe Fuchs Wolf usw sind beliebte Selbstbezeichnungen wie auch anhand von Vornamen
und Titeln erkennbar ist Analog gibt es Bezeichnungen die abwertend gesehen werden wie z B
Schwein Sau Ratte Hund Esel Manche Tiere wie z B Kamel werden in einigen Kulturkreisen
anerkennend in anderen abwertend gebraucht Wo der Unterschied zwischen Mensch und Tier
besonders betont wird werden Tiervergleiche uumlberhaupt nicht gerne gesehen
Teilweise umstritten sind die Bezeichnungen human (woumlrtlich menschlich) und bestialisch
(woumlrtlich tierisch) Hier wird unterstellt dass der Mensch mild waumlre waumlhrend das Tier roh ist
Haumlufig werden aber Handlungsweisen des Menschen als bestialisch bezeichnet die beim Tier
kaum oder gar nicht vorkommen Umgekehrt wird mit human haumlufig eine Verhaltensweise be-
zeichnet die bei Tieren in analoger Form vorkommen
Kritische Literatur zu dieser Problematik
Jobst Paul (2004) Das bdquoTierldquo - Konstrukt - und die Geburt des Rassismus Zur kulturellen Ge-
genwart eines vernichtenden Arguments ISBN 3-89771-731-X
232 Mensch geschlechtsspezifisch
Noch bis ins 19 Jahrhundert wurde in der Theologie aber auch in den Wissenschaften und der
Politik daruumlber debattiert ob Frauen als Menschen zu gelten haben oder nicht und wenn ja ob sie
bdquovollwertigeldquo Menschen seien oder nur eine minderwertige Sonderform
233 Entmenschlichung
Menschen mit Aussehen Verhalten oder Lebensweisen die nicht der Norm entsprachen etwa
geistiger Behinderung wurde gelegentlich das Attribut bdquoMenschldquo abgesprochen man spricht
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des
Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus
wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung
ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam
bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der
Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form
als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-
chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile
(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)
Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-
menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-
ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-
tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-
ziefer belegt
Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht
man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort
wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als
bdquotypisch menschlichldquo betrachtet
In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive
Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen
um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-
tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten
Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib
Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung
als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht
in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-
misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-
bracht wird Penner
Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-
chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt
234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein
Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme
ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-
tragen bekommen kann
Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern
ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-
katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das
Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-
schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen
keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und
mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den
Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-
ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger
Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt
Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-
ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal
uumlberlassen
235 Wann endet der Mensch
Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-
tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-
tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem
Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen
der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber
fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-
nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen
koumlnnen
24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille
Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind
ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung
des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula
rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-
ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen
Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung
von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-
den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-
weltbeeinflussung
Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion
uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch
Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der
Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass
der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt
Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung
In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von
einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann
muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht
angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren
Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und
versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-
keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-
scheint
Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-
de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei
bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die
man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit
der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-
tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt
gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-
cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-
muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-
einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann
die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung
Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt
voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch
Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-
zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen
25 Gleichheit oder Ungleichheit
Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das
Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon
rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in
ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist
Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-
ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-
schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob
die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen
Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen
26 Psychologie der Menschenbilder
261 Definition
Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von
Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele
sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen
oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-
ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-
pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-
entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-
scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen
unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich
den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und
Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und
bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist
das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-
theorien und Weltanschauungen ausmacht
Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-
tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-
freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-
ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-
hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-
pretationen der Welt
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
262 Psychologie der Menschenbilder
In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-
theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-
benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften
(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich
Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die
wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-
trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu
den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-
schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-
schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-
pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-
renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen
Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-
duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um
sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-
gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen
christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene
Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen
Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-
renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und
durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-
Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie
die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht
ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen
263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien
Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-
scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde
Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-
genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-
sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in
ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-
ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum
noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-
rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein
klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen
und Sinnfragen aus
Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-
mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-
den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen
Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-
tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt
bzw systematisches gesichertes Wissen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder
Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch
eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-
mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier
als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-
schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-
praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach
Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde
liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-
schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine
wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes
Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-
che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-
rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-
gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen
Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle
Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung
zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-
schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-
rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch
psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte
Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-
haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind
die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie
Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-
lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch
ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-
teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung
265 Erkundung des Menschenbildes
Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch
durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-
gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-
psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch
fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-
len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde
ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-
fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden
der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von
Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-
se auf das Menschenbild geben
Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen
waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen
religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung
von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-
nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-
- 12 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die
Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte
Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-
schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie
unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-
sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie
Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-
sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-
tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-
logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben
266 Menschenbilder in der Psychotherapie
Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-
schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und
pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen
uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-
rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der
bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-
kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-
rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-
graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung
Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen
richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie
auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie
der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In
wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die
Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden
267 Weitere Modelle
Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der
Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)
Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)
Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)
Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-
gicus)
Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen
nach Charles Elworthy)
Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)
Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)
Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)
Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3
3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt
Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer
Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn
versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung
betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten
- 13 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)
hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-
traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge
31 Definition und Bedeutung
Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational
handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende
Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4
Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur
Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-
resse des Menschen5
Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten
erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-
treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden
wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder
Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten
wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig
beschreiben
Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw
einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung
bezeichnet
32 Begriffsgeschichte
Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-
tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten
Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-
nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform
des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-
ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles
wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-
nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die
Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7
33 Kritik und neuere Ansaumltze
Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-
maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-
reitschaft und Kooperation wider
4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-
versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)
5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X
6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage
Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus
in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter
gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-
nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-
ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung
des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig
erweitert
In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden
Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-
tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen
Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-
nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich
irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo
von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert
sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8
In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-
den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung
eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)
Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-
schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-
onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu
fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet
Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie
auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen
Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-
oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts
(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-
ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig
auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-
barldquo[6]
Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein
theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-
genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-
genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]
Der Oumlkonom
Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-
munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-
leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-
trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-
8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml
9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-
ka] 2005 (PDF 688 KB)
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13
Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am
Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14
Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump
Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven
Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15
Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16
Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-
furt-New York-Paris 1993 31-62
- 16 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
- 17 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
- 20 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
1 Hinfuumlhrung
Die Klage daruumlber dass immer mehr Lebensbereiche von Kostenfragen uumlberschattet werden ist allge-
genwaumlrtig Das Leitmotiv unserer Epoche scheint sich in dem Satz zu buumlndeln Es muss sich rechnen
Absichten und Handlungen werden danach beurteilt wie und ob sie Kosten einsparen bzw Gewinne
generieren Rote Zahlen zu erwirtschaften gilt als Teufelswerk ndash eine Null ist gerade noch so hinzu-
nehmen
Solche Art von Oumlkonomisierung hat nun schon seit laumlngerer Zeit auch die Krankenhaumluser erreicht
Mitarbeiter Patienten und Angehoumlrige beklagen dass die Frage nach der Wirtschaftlichkeit nicht nur
bisherige medizinische1 und pflegerische2 Standards durchdringt sondern sie zunehmend dominiert
Nun wird in den Debatten um die Rolle ethischer Orientierung in der Medizin oft eine Trennung von
Oumlkonomie und Ethik in der Weise vorgenommen dass beide als unvereinbar gelten Gerade so als
muumlssten sich Medizin und Pflege von oumlkonomischen Fragen fernhalten um ihrem Heilungsauftrag
gerecht werden zu koumlnnen Solch eine Polarisierung ist allerdings nicht hilfreich Oumlkonomisches
Denken muss nicht im Gegensatz zur Ethik stehen Ganz im Gegenteil kann sie sogar ein konstituti-
ver Bestandteil von Ethik sein Ohne oumlkonomisches Denken wuumlrde die Medizin viele Ressourcen
unnoumltig verbrauchen und es wuumlrde zu noch groumlszligeren Engpaumlssen kommen
Und doch ist die Allianz von Oumlkonomie und Medizin nur so lange nicht unheilvoll wie man versucht
sie in ein gutes Verhaumlltnis zueinander zu bringen Angesichts dessen dass der Patient auf den genuin
sozialen Charakter der Medizin angewiesen ist muumlsste das Verhaumlltnis von Oumlkonomie und Medizin
idealerweise so gestaltet werden dass die Ziele der Oumlkonomie in den Dienst der Ziele der Medizin
gestellt werden Die Oumlkonomie haumltte demnach der Medizin zu dienen
Das dieser Zustand von unserer Realitaumlt weit entfernt ist zeigen nicht nur die Auswuumlchse der so ge-
nannten bdquoFinanzkriseldquo Spaumltestens hier muss allen deutlich geworden sei dass nicht etwa Politik und
Fachwissenschaften das Geschehen regulieren sondern ein ungezuumlgelter Markt das Ruder uumlbernom-
men hat
Im Gesundheitswesen gegenzusteuern hieszlige Oumlkonomie und Ethik (wieder) miteinander zu versoumlhnen
und vielleicht als ersten Schritt miteinander ins Gespraumlch zu bringen Dazu sollen diese Gedanken
hier anregen
Ausgehend von einem Blick auf die verschiedenen Konzepte die uumlber das Wesen des Menschen er-
arbeitet worden sind soll mit den folgenden Gedanken Lust geweckt werden hier im KHS ethisches
Denken und Handeln auf allen Ebenen zu etablieren bzw zu staumlrken
1 Als Grundlage aumlrztlicher Entscheidungsfindungen und medizinischen Tuns galt (bisher) der aumlrztliche bzw medi-
zinische Heilungsauftrag Dieser Heilauftrag basiert auf Vorstellungen die ihre Wurzeln in juumldisch-hellenistisch-
christlicher Tradition haben und wird in unserem Kulturkreis durchweg akzeptiert auch von Aumlrzten und Pflegenden
die sich sonst den genannten Traditionen nicht verpflichtet fuumlhlen Der medizinische (dh aumlrztliche und pflegerische)
Heilauftrag wird in der Literatur folgendermaszligen beschrieben Leben erhalten - Krankheiten heilen (oder vermeiden)
- Leiden lindern In der englischsprachigen Literatur aumlhnlichbdquoBeneficienceldquo (zum Wohl des Kranken handeln) -
bdquoNon-maleficienceldquo (keinen Schaden verursachen das bdquonihil nocereldquo der hippokratischen Medizin) - bdquoJusticeldquo (Ge-
rechtigkeit walten lassen) - bdquoAutonomyldquo (den Willen des Kranken respektieren) Diese Kriterien werden heute er-
gaumlnzt durch bdquoDignitiyldquo (die Wuumlrde des Kranken beachten) und bdquoCareldquo (Fuumlrsorge dem Kranken gegenuumlber) 2 bdquoPflege ist eine Praxisdisziplin und hat die Aufgabe einzelne Menschen und Gruppen von Menschen verschiedenen
Geschlechts Alters und kultureller Praumlgung in ihrer Gesundheit zu foumlrdern und zu beraten sie waumlhrend einer Krank-
heit im Genesungsprozess zu unterstuumltzen oder in chronischen nicht heilbaren Stadien Wohlbefinden zu ermoumlgli-
chen und Schmerzen zu lindernldquo (Kuumlhne-Ponesch Modelle und Theorien in der Pflege 2004 11)
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
2 Menschenbilder
Menschenbild ist ein in der philosophischen Anthropologie gebraumluchlicher Begriff fuumlr die Vor-
stellung das Bild das jemand vom Wesen des Menschen hat Insofern der Mensch Teil der Welt
ist ist das Menschenbild auch Teil des Weltbildes Menschenbild wie Weltbild sind immer in
eine bestimmte Uumlberzeugung oder Lehre eingebunden die jemand vertritt So gibt es unter ande-
rem zum Beispiel ein christliches ein buddhistisches ein humanistisches oder ein darwinistisches
Menschen- und Weltbild
Dem Einzelnen erscheint das eigene Menschenbild haumlufig als so selbstverstaumlndlich dass er kaum
daruumlber nachdenkt dass man sich den Menschen auch anders vorstellen kann Trifft man auf ein
anderes Menschenbild so wird dieses haumlufig als falsch das eigene als richtig angesehen Hier
geht es nicht um die Klaumlrung von Streitfragen also nicht darum was richtig und was falsch ist
sondern welche unterschiedlichen Vorstellungen die Menschen in unterschiedlichen Kulturen
haben und zu unterschiedlichen Zeiten uumlber sich hatten und welche Implikationen daraus folgen
22 Abgrenzung Wer ist Mensch und wer nicht
Die Frage was ein Mensch ist und was nicht ist grundlegender und vor allem strittiger als ge-
meinhin angenommen (z B die Frage wann das Leben beginnt ob eine befruchtete Eizelle oder
ein Embryo bereits ein Mensch ist)
Die Differenzierung des Menschen erfolgt durch die Annahme dass der Mensch sowohl Instinkte
als auch die Faumlhigkeit besitzt uumlber sich selbst zu reflektieren Dadurch unterscheidet er sich (in
seinem Verhalten) von anderen Lebewesen
22 Das Bild vom Menschen im Laufe der Geschichte
221 Vorzeit
Uumlber Menschenbild und Selbstverstaumlndnis des Menschen der Vorzeit ist wenig bekannt aller-
dings existieren kuumlnstlerische wohl religioumlse Zeugnisse wie Abbildungen von Menschen und
Goumlttern Nachgewiesene Begraumlbnis-Riten weisen auf Vorstellungen vom Jenseits und Sorge um
die Verstorbenen hin Religioumlse Vorstellungen waren wahrscheinlich animistisch inspiriert Re-
praumlsentativ fuumlr diese Phase ist der Schamanismus
222 Schoumlpfung
In fast allen Gesellschaften existieren Mythen der Schoumlpfung die Hinweise auf Weltbild aber
auch auf das Selbstverstaumlndnis der Menschen liefern
223 Mensch und Gottheit
In der griechischen und roumlmischen Antike wie auch im Zweistromland existiert eine Vielzahl von
Goumlttern die den Menschen uumlberlegen sind aber ihnen auch aumlhneln Der Mensch wird im Gegen-
satz zu den Goumlttern als sterblich angesehen weshalb bdquodie Sterblichenldquo als Umschreibung fuumlr
Menschen benutzt wurde Menschen und Goumltter pflegen untereinander und miteinander eine
Vielzahl von Lieb- oder Feindschaften und sind gleichermaszligen in Leidenschaften verstrickt (sie-
he z B die Sage von Odysseus) Ansonsten ist das Menschenbild der Antike auch durch Sklave-
rei Ungerechtigkeit und Ungleichheit gepraumlgt In Athen und spaumlter auch in Rom finden sich
zwar Ansaumltze der Demokratie Diese ist jedoch immer auf die sog Freien (vgl Oberschicht) be-
grenzt Die Philosophie erbluumlht in der Antike es werden weitreichende Betrachtungen uumlber den
Menschen und die Gesellschaft angestellt auf die man sich teilweise noch heute bezieht
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Im Monotheismus ist die Trennung zwischen Mensch und Gott weitaus praumlgnanter Der alleinige
Gott duldet keine weiteren Goumltter neben sich und verlangt nach Erfuumlllung seines Willens z B
Opfer (siehe Altes Testament)
Der Unterschied zwischen Mensch und Gott (Monotheismus)Goumlttern wird in religioumls gepraumlgten
Gesellschaft darin gesehen dass ein Gott das Uumlberwesen ist das - selber anderen keinen oder
undurchschaubaren Regeln unterworfen - den Menschen uumlberhaupt erst geschaffen hat das ihn
(wie z B im Christentum oder Islam) einst richten wird und das in der Zwischenzeit jede Macht
hat das Leben des Menschen auch existenziell zu beeinflussen Der Mensch erscheint - beson-
ders im Monotheismus - als abhaumlngig von Gott Im Christentum bekommt hierbei der Begriff der
Suumlnde etwa im Verhaumlltnis zum freien Willen groszlige Bedeutung
In verschiedenen Kulturen konnten Menschen zu Goumlttern werden und wurden auch als solche
verehrt Weltliche Herrscher wie manche der Pharaonen oder solche in den mittelamerikanischen
Kulturen der Maya oder Azteken beanspruchten als Menschen gleichzeitig Goumltter zu sein Herr-
scher uumlber Himmel und Erde Die Konquistadoren aus Europa wurden von den Indianern zu-
naumlchst als Goumltter wahrgenommen die alte Prophezeiungen erfuumlllten
Bei den Voodoo-Kulten und vergleichbaren Naturreligionen etwa in Afrika oder der Karibik ge-
raten (auch heute) gewoumlhnliche Menschen in Trance und Gottheiten ergreifen von ihnen zeitwei-
se Besitz sprechen durch sie oder druumlcken sich in Bewegungen und Handlungen aus
Im asiatischen Kulturkreis uumlberwiegt im Unterschied zu christlich gepraumlgten Gesellschaften eine
buddhistisch beeinflusste Sicht des Menschen die dadurch gekennzeichnet ist dass Gott und
Mensch in eins fallen Schoumlpfer und Geschoumlpf existieren nicht unabhaumlngig voneinander Gott
druumlckt sich als alles durchdringende Lebenskraft in der Schoumlpfung aus Aus diesem Grund hat der
Begriff bdquoGottldquo im Buddhismus keine Bedeutung da bdquoGottldquo im wesentlichen eine Abgrenzung
zum Menschen ausdruumlckt Fuumlr das Menschenbild hat diese Sicht entscheidende Bedeutung da sie
den Menschen auf sich selbst und die ihn umgebende Schoumlpfung zuruumlckwirft Er ist keinem au-
szligerhalb von sich befindlichen Uumlberwesen Rechenschaft schuldig (wie im Judentum Christentum
und Islam) sondern hat sein Tun und Lassen allein vor sich selbst zu verantworten Jede Aus-
uumlbung einer Wirkung auf die Umwelt kommt einer Auswirkung auf das eigene Selbst gleich da
das Schoumlpferische im Menschen (Gott) und der Mensch als Teil der Welt nicht voneinander ver-
schieden sind (vgl auch Pantheismus)
224 Mittelalter
Das Mittelalter ist gepraumlgt vom Glauben und vom Aberglauben von der Hinnahme des eigenen
Schicksals vom Fatalismus und der Furcht vor der Houmllle aber auch von der Wiederentdeckung
des Wissens der Antike in den Bibliotheken der Kloumlster Handel mit dem Orient bietet die Moumlg-
lichkeit der Verbreitung von Wissen und Erfindungen Die Kreuzzuumlge sollen die Uumlberlegenheit
des christlichen Glaubens demonstrieren weltliche und kirchliche Macht und Rechtsprechung
gehen Hand in Hand Die Herrschaft des Adels wird als gottgewollt dargestellt Ungleichheit
zwischen den Menschen meist hingenommen (siehe aber auch Habeas Corpus)
225 Das Menschenbild der Aufklaumlrung
Der Humanismus stellt einen Bruch mit den vormaligen Vorstellungen dar im Zentrum steht nun
der Mensch das Individuum Die Philosophie der Aufklaumlrung erreicht eine Synthese von antiken
und neueren Vorstellungen vom Menschen Das Licht der Aufklaumlrung soll dem vernunftbegabten
Menschen ermoumlglichen alten Aberglauben abzulegen sich selbst zu erkennen seine eigenen
Belange und die der Gesellschaft vernuumlnftig zu regeln Das naturwissenschaftlich-rationale Den-
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
ken haumllt Einzug Das Buumlrgertum uumlberwindet in Folge der franzoumlsischen Revolution die Herrschaft
von Kirche und Adel und entwickelt ein neues Selbstverstaumlndnis das sich in Kultur und Politik
niederschlaumlgt
226 Moderne
Die Industrialisierung muumlndet in die Moderne Die Moderne ist (in ihrer Selbstwahrnehmung)
gepraumlgt von technischen Erfindungen kulturellen Revolutionen und Fortschritt Saumlkularisierung
politisch von Marxismus Emanzipation von Frauen und der Arbeiterbewegung Liberalismus
Faschismus und den Katastrophen der beiden Weltkriege
Max Weber analysiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus die oumlkonomi-
schen Prozesse der Industriegesellschaft die zeitgenoumlssische Arbeitsethik ihre Verankerung im
Protestantismus In ihrem beruumlhmten Werk Dialektik der Aufklaumlrung kritisieren die Philosophen
Theodor W Adorno und Horkheimer die Unmenschlichkeiten des Nazi-Regimes und anderer
Systeme als Folge des uumlberbetont rationalen Denkens der Aufklaumlrung Die Konzentrationslager
funktionierten technisch perfekt organisiert nach rationalen Gesichtspunkten die den Wert des
Menschen auf seinen Materialwert bezifferten
In der zweiten Haumllfte des 20 Jahrhunderts entstehen die modernen kapitalistischen westlichen
Gesellschaften auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten Das Individuum tritt
als Buumlrger und Konsument als Waumlhler und als Arbeitnehmer auf Wohlstand und weitere Ratio-
nalisierung halten Einzug Im konkurrierenden Ostblock soll ein dogmatischer Sozialismus die
Lehren von Karl Marx verwirklichen Die Verfolgung von sog Abweichlern von der Parteilinie
autoritaumlre Regimes und Mangel an Freiheit sind jedoch die Folge
227 Das Menschenbild des Grundgesetzes
Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveraumlnen Individuums das
Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemein-
schaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden ohne dabei deren
Eigenwert anzutasten Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art 1 2 12 19
und 20 GG Dies heiszligt aber der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfrei-
heit gefallen lassen die der Gesetzgeber zur Pflege und Foumlrderung des sozialen Zusammenlebens
in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht vorausgesetzt
dass dabei die Eigenstaumlndigkeit der Person gewahrt bleibt (BVerfGE 4 7 15 f)
228 Postmoderne
Der Existenzialismus als populaumlre Denkschule der Avantgarde der 50er entwirft ein Bild vom
modernen Menschen der in eine sinnlose Welt geworfen ist Sinn muss von ihm selbst gestiftet
werden
Mit der Studentenbewegung von 1968 mit Umbruumlchen wie der machtvollen Popkultur haumllt wie-
derum ein neues Menschenbild Einzug Die 68er protestieren gegen eine vermeintlich erstarrte
Gesellschaft in West wie Ost eine Technokratie die dem Individuum keinen Raum einraumlumt
sondern angepasstes Verhalten verlangt Irrationale Seiten des Menschen wie Phantasie werden
von den 68ern dagegengehalten Esoterik Utopien aber auch Kunst und Kultur sind dabei Aus-
druck dieser Haltung
In der Philosophie entwerfen Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jacques Derrida Grundzuumlge
einer neuen Philosophie des Menschen Sie wenden sich gegen die scheinbar selbstverstaumlndlichen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Eindeutigkeiten binaumlren Entscheidungen Festschreibungen die das Denken uumlber Mensch und
Welt bisher praumlgten
Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom Nebeneinander einer Vielzahl von Ansichten uumlber den
Menschen von divergierenden neuen und alten Lebensstilen Gemein ist ihnen jedoch zumeist
der Wille zu Pluralismus und Toleranz Die Oumlkologie-Bewegung entwirft in den 70ern und 80ern
ein ganzheitliches Menschenbild bei dem besonders das Eingebundensein des Menschen in die
Natur betont wird Jugendbewegungen wie Punk oder New Wave propagieren einen melancholi-
schen bis pessimistisch-nihilistischen Blick auf den Menschen
23 Was macht den Menschen aus
231 Mensch und Tier
Im europaumlischen Weltbild scheint die Abgrenzung zum Tier eindeutig zu sein In anderen Kultu-
ren jedoch erfolgt die Abgrenzung anders In einigen suumldostasiatischen Sprachen beispielsweise
werden die Menschenaffen zu den Menschen gerechnet Orang Utan ist der Waldmensch und
Orang Asli ein Einheimischer Alle sind Menschen Umgekehrt werden gelegentlich voumlllig ande-
re Menschen nicht zu den Menschen gerechnet In Brasilien kommt es vor dass die dortigen Ur-
einwohner als bdquoWaldtiereldquo bezeichnet werden
In der klassischen Philosophie und im christlichen Menschenbild kommt dem Menschen auf-
grund seiner geistigen Seele (Geist) eine eindeutig herausgehobene Stellung gegenuumlber den Tie-
ren zu denn der Mensch gilt als Ebenbild Gottes (Gen 1 26-27) und ihm steht es zu uumlber die
Tiere wie die gesamte Schoumlpfung zu herrschen (Gen 1 28) Das moderne naturwissenschaftliche
Menschenbild verneint dagegen einen systematischen Unterschied zwischen Mensch und Tier
Haumlufig schmuumlcken sich jedoch in vielen Kulturen Menschen mit Bezeichnungen von Tieren Ad-
ler Loumlwe Fuchs Wolf usw sind beliebte Selbstbezeichnungen wie auch anhand von Vornamen
und Titeln erkennbar ist Analog gibt es Bezeichnungen die abwertend gesehen werden wie z B
Schwein Sau Ratte Hund Esel Manche Tiere wie z B Kamel werden in einigen Kulturkreisen
anerkennend in anderen abwertend gebraucht Wo der Unterschied zwischen Mensch und Tier
besonders betont wird werden Tiervergleiche uumlberhaupt nicht gerne gesehen
Teilweise umstritten sind die Bezeichnungen human (woumlrtlich menschlich) und bestialisch
(woumlrtlich tierisch) Hier wird unterstellt dass der Mensch mild waumlre waumlhrend das Tier roh ist
Haumlufig werden aber Handlungsweisen des Menschen als bestialisch bezeichnet die beim Tier
kaum oder gar nicht vorkommen Umgekehrt wird mit human haumlufig eine Verhaltensweise be-
zeichnet die bei Tieren in analoger Form vorkommen
Kritische Literatur zu dieser Problematik
Jobst Paul (2004) Das bdquoTierldquo - Konstrukt - und die Geburt des Rassismus Zur kulturellen Ge-
genwart eines vernichtenden Arguments ISBN 3-89771-731-X
232 Mensch geschlechtsspezifisch
Noch bis ins 19 Jahrhundert wurde in der Theologie aber auch in den Wissenschaften und der
Politik daruumlber debattiert ob Frauen als Menschen zu gelten haben oder nicht und wenn ja ob sie
bdquovollwertigeldquo Menschen seien oder nur eine minderwertige Sonderform
233 Entmenschlichung
Menschen mit Aussehen Verhalten oder Lebensweisen die nicht der Norm entsprachen etwa
geistiger Behinderung wurde gelegentlich das Attribut bdquoMenschldquo abgesprochen man spricht
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des
Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus
wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung
ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam
bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der
Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form
als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-
chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile
(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)
Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-
menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-
ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-
tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-
ziefer belegt
Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht
man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort
wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als
bdquotypisch menschlichldquo betrachtet
In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive
Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen
um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-
tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten
Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib
Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung
als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht
in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-
misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-
bracht wird Penner
Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-
chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt
234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein
Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme
ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-
tragen bekommen kann
Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern
ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-
katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das
Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-
schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen
keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und
mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den
Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-
ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger
Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt
Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-
ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal
uumlberlassen
235 Wann endet der Mensch
Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-
tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-
tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem
Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen
der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber
fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-
nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen
koumlnnen
24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille
Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind
ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung
des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula
rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-
ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen
Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung
von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-
den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-
weltbeeinflussung
Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion
uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch
Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der
Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass
der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt
Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung
In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von
einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann
muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht
angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren
Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und
versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-
keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-
scheint
Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-
de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei
bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die
man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit
der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-
tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt
gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-
cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-
muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-
einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann
die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung
Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt
voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch
Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-
zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen
25 Gleichheit oder Ungleichheit
Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das
Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon
rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in
ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist
Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-
ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-
schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob
die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen
Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen
26 Psychologie der Menschenbilder
261 Definition
Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von
Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele
sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen
oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-
ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-
pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-
entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-
scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen
unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich
den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und
Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und
bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist
das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-
theorien und Weltanschauungen ausmacht
Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-
tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-
freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-
ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-
hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-
pretationen der Welt
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
262 Psychologie der Menschenbilder
In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-
theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-
benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften
(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich
Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die
wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-
trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu
den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-
schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-
schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-
pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-
renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen
Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-
duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um
sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-
gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen
christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene
Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen
Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-
renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und
durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-
Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie
die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht
ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen
263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien
Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-
scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde
Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-
genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-
sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in
ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-
ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum
noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-
rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein
klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen
und Sinnfragen aus
Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-
mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-
den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen
Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-
tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt
bzw systematisches gesichertes Wissen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder
Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch
eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-
mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier
als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-
schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-
praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach
Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde
liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-
schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine
wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes
Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-
che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-
rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-
gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen
Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle
Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung
zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-
schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-
rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch
psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte
Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-
haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind
die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie
Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-
lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch
ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-
teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung
265 Erkundung des Menschenbildes
Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch
durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-
gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-
psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch
fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-
len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde
ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-
fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden
der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von
Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-
se auf das Menschenbild geben
Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen
waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen
religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung
von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-
nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-
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dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die
Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte
Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-
schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie
unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-
sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie
Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-
sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-
tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-
logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben
266 Menschenbilder in der Psychotherapie
Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-
schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und
pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen
uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-
rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der
bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-
kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-
rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-
graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung
Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen
richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie
auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie
der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In
wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die
Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden
267 Weitere Modelle
Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der
Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)
Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)
Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)
Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-
gicus)
Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen
nach Charles Elworthy)
Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)
Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)
Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)
Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3
3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt
Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer
Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn
versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung
betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)
hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-
traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge
31 Definition und Bedeutung
Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational
handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende
Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4
Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur
Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-
resse des Menschen5
Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten
erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-
treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden
wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder
Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten
wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig
beschreiben
Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw
einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung
bezeichnet
32 Begriffsgeschichte
Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-
tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten
Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-
nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform
des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-
ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles
wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-
nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die
Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7
33 Kritik und neuere Ansaumltze
Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-
maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-
reitschaft und Kooperation wider
4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-
versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)
5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X
6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage
Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus
in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter
gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-
nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-
ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung
des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig
erweitert
In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden
Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-
tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen
Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-
nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich
irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo
von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert
sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8
In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-
den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung
eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)
Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-
schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-
onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu
fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet
Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie
auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen
Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-
oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts
(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-
ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig
auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-
barldquo[6]
Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein
theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-
genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-
genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]
Der Oumlkonom
Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-
munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-
leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-
trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-
8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml
9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-
ka] 2005 (PDF 688 KB)
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13
Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am
Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14
Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump
Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven
Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15
Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16
Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-
furt-New York-Paris 1993 31-62
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
2 Menschenbilder
Menschenbild ist ein in der philosophischen Anthropologie gebraumluchlicher Begriff fuumlr die Vor-
stellung das Bild das jemand vom Wesen des Menschen hat Insofern der Mensch Teil der Welt
ist ist das Menschenbild auch Teil des Weltbildes Menschenbild wie Weltbild sind immer in
eine bestimmte Uumlberzeugung oder Lehre eingebunden die jemand vertritt So gibt es unter ande-
rem zum Beispiel ein christliches ein buddhistisches ein humanistisches oder ein darwinistisches
Menschen- und Weltbild
Dem Einzelnen erscheint das eigene Menschenbild haumlufig als so selbstverstaumlndlich dass er kaum
daruumlber nachdenkt dass man sich den Menschen auch anders vorstellen kann Trifft man auf ein
anderes Menschenbild so wird dieses haumlufig als falsch das eigene als richtig angesehen Hier
geht es nicht um die Klaumlrung von Streitfragen also nicht darum was richtig und was falsch ist
sondern welche unterschiedlichen Vorstellungen die Menschen in unterschiedlichen Kulturen
haben und zu unterschiedlichen Zeiten uumlber sich hatten und welche Implikationen daraus folgen
22 Abgrenzung Wer ist Mensch und wer nicht
Die Frage was ein Mensch ist und was nicht ist grundlegender und vor allem strittiger als ge-
meinhin angenommen (z B die Frage wann das Leben beginnt ob eine befruchtete Eizelle oder
ein Embryo bereits ein Mensch ist)
Die Differenzierung des Menschen erfolgt durch die Annahme dass der Mensch sowohl Instinkte
als auch die Faumlhigkeit besitzt uumlber sich selbst zu reflektieren Dadurch unterscheidet er sich (in
seinem Verhalten) von anderen Lebewesen
22 Das Bild vom Menschen im Laufe der Geschichte
221 Vorzeit
Uumlber Menschenbild und Selbstverstaumlndnis des Menschen der Vorzeit ist wenig bekannt aller-
dings existieren kuumlnstlerische wohl religioumlse Zeugnisse wie Abbildungen von Menschen und
Goumlttern Nachgewiesene Begraumlbnis-Riten weisen auf Vorstellungen vom Jenseits und Sorge um
die Verstorbenen hin Religioumlse Vorstellungen waren wahrscheinlich animistisch inspiriert Re-
praumlsentativ fuumlr diese Phase ist der Schamanismus
222 Schoumlpfung
In fast allen Gesellschaften existieren Mythen der Schoumlpfung die Hinweise auf Weltbild aber
auch auf das Selbstverstaumlndnis der Menschen liefern
223 Mensch und Gottheit
In der griechischen und roumlmischen Antike wie auch im Zweistromland existiert eine Vielzahl von
Goumlttern die den Menschen uumlberlegen sind aber ihnen auch aumlhneln Der Mensch wird im Gegen-
satz zu den Goumlttern als sterblich angesehen weshalb bdquodie Sterblichenldquo als Umschreibung fuumlr
Menschen benutzt wurde Menschen und Goumltter pflegen untereinander und miteinander eine
Vielzahl von Lieb- oder Feindschaften und sind gleichermaszligen in Leidenschaften verstrickt (sie-
he z B die Sage von Odysseus) Ansonsten ist das Menschenbild der Antike auch durch Sklave-
rei Ungerechtigkeit und Ungleichheit gepraumlgt In Athen und spaumlter auch in Rom finden sich
zwar Ansaumltze der Demokratie Diese ist jedoch immer auf die sog Freien (vgl Oberschicht) be-
grenzt Die Philosophie erbluumlht in der Antike es werden weitreichende Betrachtungen uumlber den
Menschen und die Gesellschaft angestellt auf die man sich teilweise noch heute bezieht
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Im Monotheismus ist die Trennung zwischen Mensch und Gott weitaus praumlgnanter Der alleinige
Gott duldet keine weiteren Goumltter neben sich und verlangt nach Erfuumlllung seines Willens z B
Opfer (siehe Altes Testament)
Der Unterschied zwischen Mensch und Gott (Monotheismus)Goumlttern wird in religioumls gepraumlgten
Gesellschaft darin gesehen dass ein Gott das Uumlberwesen ist das - selber anderen keinen oder
undurchschaubaren Regeln unterworfen - den Menschen uumlberhaupt erst geschaffen hat das ihn
(wie z B im Christentum oder Islam) einst richten wird und das in der Zwischenzeit jede Macht
hat das Leben des Menschen auch existenziell zu beeinflussen Der Mensch erscheint - beson-
ders im Monotheismus - als abhaumlngig von Gott Im Christentum bekommt hierbei der Begriff der
Suumlnde etwa im Verhaumlltnis zum freien Willen groszlige Bedeutung
In verschiedenen Kulturen konnten Menschen zu Goumlttern werden und wurden auch als solche
verehrt Weltliche Herrscher wie manche der Pharaonen oder solche in den mittelamerikanischen
Kulturen der Maya oder Azteken beanspruchten als Menschen gleichzeitig Goumltter zu sein Herr-
scher uumlber Himmel und Erde Die Konquistadoren aus Europa wurden von den Indianern zu-
naumlchst als Goumltter wahrgenommen die alte Prophezeiungen erfuumlllten
Bei den Voodoo-Kulten und vergleichbaren Naturreligionen etwa in Afrika oder der Karibik ge-
raten (auch heute) gewoumlhnliche Menschen in Trance und Gottheiten ergreifen von ihnen zeitwei-
se Besitz sprechen durch sie oder druumlcken sich in Bewegungen und Handlungen aus
Im asiatischen Kulturkreis uumlberwiegt im Unterschied zu christlich gepraumlgten Gesellschaften eine
buddhistisch beeinflusste Sicht des Menschen die dadurch gekennzeichnet ist dass Gott und
Mensch in eins fallen Schoumlpfer und Geschoumlpf existieren nicht unabhaumlngig voneinander Gott
druumlckt sich als alles durchdringende Lebenskraft in der Schoumlpfung aus Aus diesem Grund hat der
Begriff bdquoGottldquo im Buddhismus keine Bedeutung da bdquoGottldquo im wesentlichen eine Abgrenzung
zum Menschen ausdruumlckt Fuumlr das Menschenbild hat diese Sicht entscheidende Bedeutung da sie
den Menschen auf sich selbst und die ihn umgebende Schoumlpfung zuruumlckwirft Er ist keinem au-
szligerhalb von sich befindlichen Uumlberwesen Rechenschaft schuldig (wie im Judentum Christentum
und Islam) sondern hat sein Tun und Lassen allein vor sich selbst zu verantworten Jede Aus-
uumlbung einer Wirkung auf die Umwelt kommt einer Auswirkung auf das eigene Selbst gleich da
das Schoumlpferische im Menschen (Gott) und der Mensch als Teil der Welt nicht voneinander ver-
schieden sind (vgl auch Pantheismus)
224 Mittelalter
Das Mittelalter ist gepraumlgt vom Glauben und vom Aberglauben von der Hinnahme des eigenen
Schicksals vom Fatalismus und der Furcht vor der Houmllle aber auch von der Wiederentdeckung
des Wissens der Antike in den Bibliotheken der Kloumlster Handel mit dem Orient bietet die Moumlg-
lichkeit der Verbreitung von Wissen und Erfindungen Die Kreuzzuumlge sollen die Uumlberlegenheit
des christlichen Glaubens demonstrieren weltliche und kirchliche Macht und Rechtsprechung
gehen Hand in Hand Die Herrschaft des Adels wird als gottgewollt dargestellt Ungleichheit
zwischen den Menschen meist hingenommen (siehe aber auch Habeas Corpus)
225 Das Menschenbild der Aufklaumlrung
Der Humanismus stellt einen Bruch mit den vormaligen Vorstellungen dar im Zentrum steht nun
der Mensch das Individuum Die Philosophie der Aufklaumlrung erreicht eine Synthese von antiken
und neueren Vorstellungen vom Menschen Das Licht der Aufklaumlrung soll dem vernunftbegabten
Menschen ermoumlglichen alten Aberglauben abzulegen sich selbst zu erkennen seine eigenen
Belange und die der Gesellschaft vernuumlnftig zu regeln Das naturwissenschaftlich-rationale Den-
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
ken haumllt Einzug Das Buumlrgertum uumlberwindet in Folge der franzoumlsischen Revolution die Herrschaft
von Kirche und Adel und entwickelt ein neues Selbstverstaumlndnis das sich in Kultur und Politik
niederschlaumlgt
226 Moderne
Die Industrialisierung muumlndet in die Moderne Die Moderne ist (in ihrer Selbstwahrnehmung)
gepraumlgt von technischen Erfindungen kulturellen Revolutionen und Fortschritt Saumlkularisierung
politisch von Marxismus Emanzipation von Frauen und der Arbeiterbewegung Liberalismus
Faschismus und den Katastrophen der beiden Weltkriege
Max Weber analysiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus die oumlkonomi-
schen Prozesse der Industriegesellschaft die zeitgenoumlssische Arbeitsethik ihre Verankerung im
Protestantismus In ihrem beruumlhmten Werk Dialektik der Aufklaumlrung kritisieren die Philosophen
Theodor W Adorno und Horkheimer die Unmenschlichkeiten des Nazi-Regimes und anderer
Systeme als Folge des uumlberbetont rationalen Denkens der Aufklaumlrung Die Konzentrationslager
funktionierten technisch perfekt organisiert nach rationalen Gesichtspunkten die den Wert des
Menschen auf seinen Materialwert bezifferten
In der zweiten Haumllfte des 20 Jahrhunderts entstehen die modernen kapitalistischen westlichen
Gesellschaften auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten Das Individuum tritt
als Buumlrger und Konsument als Waumlhler und als Arbeitnehmer auf Wohlstand und weitere Ratio-
nalisierung halten Einzug Im konkurrierenden Ostblock soll ein dogmatischer Sozialismus die
Lehren von Karl Marx verwirklichen Die Verfolgung von sog Abweichlern von der Parteilinie
autoritaumlre Regimes und Mangel an Freiheit sind jedoch die Folge
227 Das Menschenbild des Grundgesetzes
Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveraumlnen Individuums das
Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemein-
schaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden ohne dabei deren
Eigenwert anzutasten Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art 1 2 12 19
und 20 GG Dies heiszligt aber der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfrei-
heit gefallen lassen die der Gesetzgeber zur Pflege und Foumlrderung des sozialen Zusammenlebens
in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht vorausgesetzt
dass dabei die Eigenstaumlndigkeit der Person gewahrt bleibt (BVerfGE 4 7 15 f)
228 Postmoderne
Der Existenzialismus als populaumlre Denkschule der Avantgarde der 50er entwirft ein Bild vom
modernen Menschen der in eine sinnlose Welt geworfen ist Sinn muss von ihm selbst gestiftet
werden
Mit der Studentenbewegung von 1968 mit Umbruumlchen wie der machtvollen Popkultur haumllt wie-
derum ein neues Menschenbild Einzug Die 68er protestieren gegen eine vermeintlich erstarrte
Gesellschaft in West wie Ost eine Technokratie die dem Individuum keinen Raum einraumlumt
sondern angepasstes Verhalten verlangt Irrationale Seiten des Menschen wie Phantasie werden
von den 68ern dagegengehalten Esoterik Utopien aber auch Kunst und Kultur sind dabei Aus-
druck dieser Haltung
In der Philosophie entwerfen Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jacques Derrida Grundzuumlge
einer neuen Philosophie des Menschen Sie wenden sich gegen die scheinbar selbstverstaumlndlichen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Eindeutigkeiten binaumlren Entscheidungen Festschreibungen die das Denken uumlber Mensch und
Welt bisher praumlgten
Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom Nebeneinander einer Vielzahl von Ansichten uumlber den
Menschen von divergierenden neuen und alten Lebensstilen Gemein ist ihnen jedoch zumeist
der Wille zu Pluralismus und Toleranz Die Oumlkologie-Bewegung entwirft in den 70ern und 80ern
ein ganzheitliches Menschenbild bei dem besonders das Eingebundensein des Menschen in die
Natur betont wird Jugendbewegungen wie Punk oder New Wave propagieren einen melancholi-
schen bis pessimistisch-nihilistischen Blick auf den Menschen
23 Was macht den Menschen aus
231 Mensch und Tier
Im europaumlischen Weltbild scheint die Abgrenzung zum Tier eindeutig zu sein In anderen Kultu-
ren jedoch erfolgt die Abgrenzung anders In einigen suumldostasiatischen Sprachen beispielsweise
werden die Menschenaffen zu den Menschen gerechnet Orang Utan ist der Waldmensch und
Orang Asli ein Einheimischer Alle sind Menschen Umgekehrt werden gelegentlich voumlllig ande-
re Menschen nicht zu den Menschen gerechnet In Brasilien kommt es vor dass die dortigen Ur-
einwohner als bdquoWaldtiereldquo bezeichnet werden
In der klassischen Philosophie und im christlichen Menschenbild kommt dem Menschen auf-
grund seiner geistigen Seele (Geist) eine eindeutig herausgehobene Stellung gegenuumlber den Tie-
ren zu denn der Mensch gilt als Ebenbild Gottes (Gen 1 26-27) und ihm steht es zu uumlber die
Tiere wie die gesamte Schoumlpfung zu herrschen (Gen 1 28) Das moderne naturwissenschaftliche
Menschenbild verneint dagegen einen systematischen Unterschied zwischen Mensch und Tier
Haumlufig schmuumlcken sich jedoch in vielen Kulturen Menschen mit Bezeichnungen von Tieren Ad-
ler Loumlwe Fuchs Wolf usw sind beliebte Selbstbezeichnungen wie auch anhand von Vornamen
und Titeln erkennbar ist Analog gibt es Bezeichnungen die abwertend gesehen werden wie z B
Schwein Sau Ratte Hund Esel Manche Tiere wie z B Kamel werden in einigen Kulturkreisen
anerkennend in anderen abwertend gebraucht Wo der Unterschied zwischen Mensch und Tier
besonders betont wird werden Tiervergleiche uumlberhaupt nicht gerne gesehen
Teilweise umstritten sind die Bezeichnungen human (woumlrtlich menschlich) und bestialisch
(woumlrtlich tierisch) Hier wird unterstellt dass der Mensch mild waumlre waumlhrend das Tier roh ist
Haumlufig werden aber Handlungsweisen des Menschen als bestialisch bezeichnet die beim Tier
kaum oder gar nicht vorkommen Umgekehrt wird mit human haumlufig eine Verhaltensweise be-
zeichnet die bei Tieren in analoger Form vorkommen
Kritische Literatur zu dieser Problematik
Jobst Paul (2004) Das bdquoTierldquo - Konstrukt - und die Geburt des Rassismus Zur kulturellen Ge-
genwart eines vernichtenden Arguments ISBN 3-89771-731-X
232 Mensch geschlechtsspezifisch
Noch bis ins 19 Jahrhundert wurde in der Theologie aber auch in den Wissenschaften und der
Politik daruumlber debattiert ob Frauen als Menschen zu gelten haben oder nicht und wenn ja ob sie
bdquovollwertigeldquo Menschen seien oder nur eine minderwertige Sonderform
233 Entmenschlichung
Menschen mit Aussehen Verhalten oder Lebensweisen die nicht der Norm entsprachen etwa
geistiger Behinderung wurde gelegentlich das Attribut bdquoMenschldquo abgesprochen man spricht
- 7 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des
Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus
wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung
ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam
bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der
Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form
als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-
chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile
(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)
Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-
menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-
ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-
tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-
ziefer belegt
Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht
man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort
wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als
bdquotypisch menschlichldquo betrachtet
In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive
Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen
um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-
tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten
Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib
Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung
als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht
in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-
misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-
bracht wird Penner
Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-
chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt
234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein
Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme
ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-
tragen bekommen kann
Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern
ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-
katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das
Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-
schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen
keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und
mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den
Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-
ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger
Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt
Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-
ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal
uumlberlassen
235 Wann endet der Mensch
Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-
tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-
tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem
Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen
der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber
fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-
nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen
koumlnnen
24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille
Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind
ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung
des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula
rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-
ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen
Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung
von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-
den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-
weltbeeinflussung
Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion
uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch
Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der
Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass
der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt
Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung
In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von
einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann
muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht
angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren
Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und
versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-
keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-
scheint
Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-
de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei
bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die
man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit
der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-
tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt
gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-
cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-
muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-
einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann
die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung
Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt
voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch
Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-
zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen
25 Gleichheit oder Ungleichheit
Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das
Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon
rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in
ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist
Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-
ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-
schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob
die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen
Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen
26 Psychologie der Menschenbilder
261 Definition
Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von
Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele
sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen
oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-
ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-
pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-
entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-
scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen
unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich
den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und
Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und
bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist
das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-
theorien und Weltanschauungen ausmacht
Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-
tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-
freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-
ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-
hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-
pretationen der Welt
- 10 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
262 Psychologie der Menschenbilder
In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-
theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-
benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften
(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich
Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die
wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-
trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu
den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-
schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-
schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-
pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-
renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen
Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-
duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um
sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-
gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen
christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene
Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen
Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-
renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und
durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-
Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie
die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht
ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen
263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien
Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-
scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde
Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-
genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-
sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in
ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-
ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum
noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-
rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein
klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen
und Sinnfragen aus
Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-
mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-
den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen
Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-
tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt
bzw systematisches gesichertes Wissen
- 11 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder
Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch
eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-
mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier
als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-
schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-
praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach
Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde
liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-
schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine
wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes
Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-
che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-
rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-
gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen
Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle
Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung
zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-
schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-
rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch
psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte
Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-
haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind
die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie
Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-
lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch
ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-
teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung
265 Erkundung des Menschenbildes
Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch
durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-
gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-
psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch
fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-
len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde
ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-
fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden
der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von
Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-
se auf das Menschenbild geben
Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen
waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen
religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung
von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-
nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-
- 12 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die
Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte
Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-
schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie
unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-
sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie
Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-
sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-
tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-
logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben
266 Menschenbilder in der Psychotherapie
Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-
schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und
pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen
uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-
rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der
bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-
kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-
rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-
graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung
Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen
richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie
auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie
der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In
wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die
Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden
267 Weitere Modelle
Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der
Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)
Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)
Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)
Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-
gicus)
Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen
nach Charles Elworthy)
Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)
Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)
Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)
Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3
3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt
Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer
Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn
versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung
betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)
hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-
traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge
31 Definition und Bedeutung
Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational
handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende
Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4
Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur
Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-
resse des Menschen5
Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten
erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-
treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden
wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder
Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten
wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig
beschreiben
Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw
einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung
bezeichnet
32 Begriffsgeschichte
Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-
tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten
Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-
nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform
des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-
ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles
wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-
nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die
Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7
33 Kritik und neuere Ansaumltze
Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-
maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-
reitschaft und Kooperation wider
4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-
versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)
5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X
6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage
Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus
in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter
gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-
nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-
ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung
des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig
erweitert
In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden
Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-
tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen
Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-
nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich
irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo
von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert
sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8
In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-
den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung
eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)
Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-
schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-
onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu
fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet
Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie
auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen
Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-
oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts
(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-
ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig
auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-
barldquo[6]
Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein
theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-
genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-
genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]
Der Oumlkonom
Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-
munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-
leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-
trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-
8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml
9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-
ka] 2005 (PDF 688 KB)
- 15 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13
Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am
Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14
Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump
Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven
Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15
Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16
Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-
furt-New York-Paris 1993 31-62
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Im Monotheismus ist die Trennung zwischen Mensch und Gott weitaus praumlgnanter Der alleinige
Gott duldet keine weiteren Goumltter neben sich und verlangt nach Erfuumlllung seines Willens z B
Opfer (siehe Altes Testament)
Der Unterschied zwischen Mensch und Gott (Monotheismus)Goumlttern wird in religioumls gepraumlgten
Gesellschaft darin gesehen dass ein Gott das Uumlberwesen ist das - selber anderen keinen oder
undurchschaubaren Regeln unterworfen - den Menschen uumlberhaupt erst geschaffen hat das ihn
(wie z B im Christentum oder Islam) einst richten wird und das in der Zwischenzeit jede Macht
hat das Leben des Menschen auch existenziell zu beeinflussen Der Mensch erscheint - beson-
ders im Monotheismus - als abhaumlngig von Gott Im Christentum bekommt hierbei der Begriff der
Suumlnde etwa im Verhaumlltnis zum freien Willen groszlige Bedeutung
In verschiedenen Kulturen konnten Menschen zu Goumlttern werden und wurden auch als solche
verehrt Weltliche Herrscher wie manche der Pharaonen oder solche in den mittelamerikanischen
Kulturen der Maya oder Azteken beanspruchten als Menschen gleichzeitig Goumltter zu sein Herr-
scher uumlber Himmel und Erde Die Konquistadoren aus Europa wurden von den Indianern zu-
naumlchst als Goumltter wahrgenommen die alte Prophezeiungen erfuumlllten
Bei den Voodoo-Kulten und vergleichbaren Naturreligionen etwa in Afrika oder der Karibik ge-
raten (auch heute) gewoumlhnliche Menschen in Trance und Gottheiten ergreifen von ihnen zeitwei-
se Besitz sprechen durch sie oder druumlcken sich in Bewegungen und Handlungen aus
Im asiatischen Kulturkreis uumlberwiegt im Unterschied zu christlich gepraumlgten Gesellschaften eine
buddhistisch beeinflusste Sicht des Menschen die dadurch gekennzeichnet ist dass Gott und
Mensch in eins fallen Schoumlpfer und Geschoumlpf existieren nicht unabhaumlngig voneinander Gott
druumlckt sich als alles durchdringende Lebenskraft in der Schoumlpfung aus Aus diesem Grund hat der
Begriff bdquoGottldquo im Buddhismus keine Bedeutung da bdquoGottldquo im wesentlichen eine Abgrenzung
zum Menschen ausdruumlckt Fuumlr das Menschenbild hat diese Sicht entscheidende Bedeutung da sie
den Menschen auf sich selbst und die ihn umgebende Schoumlpfung zuruumlckwirft Er ist keinem au-
szligerhalb von sich befindlichen Uumlberwesen Rechenschaft schuldig (wie im Judentum Christentum
und Islam) sondern hat sein Tun und Lassen allein vor sich selbst zu verantworten Jede Aus-
uumlbung einer Wirkung auf die Umwelt kommt einer Auswirkung auf das eigene Selbst gleich da
das Schoumlpferische im Menschen (Gott) und der Mensch als Teil der Welt nicht voneinander ver-
schieden sind (vgl auch Pantheismus)
224 Mittelalter
Das Mittelalter ist gepraumlgt vom Glauben und vom Aberglauben von der Hinnahme des eigenen
Schicksals vom Fatalismus und der Furcht vor der Houmllle aber auch von der Wiederentdeckung
des Wissens der Antike in den Bibliotheken der Kloumlster Handel mit dem Orient bietet die Moumlg-
lichkeit der Verbreitung von Wissen und Erfindungen Die Kreuzzuumlge sollen die Uumlberlegenheit
des christlichen Glaubens demonstrieren weltliche und kirchliche Macht und Rechtsprechung
gehen Hand in Hand Die Herrschaft des Adels wird als gottgewollt dargestellt Ungleichheit
zwischen den Menschen meist hingenommen (siehe aber auch Habeas Corpus)
225 Das Menschenbild der Aufklaumlrung
Der Humanismus stellt einen Bruch mit den vormaligen Vorstellungen dar im Zentrum steht nun
der Mensch das Individuum Die Philosophie der Aufklaumlrung erreicht eine Synthese von antiken
und neueren Vorstellungen vom Menschen Das Licht der Aufklaumlrung soll dem vernunftbegabten
Menschen ermoumlglichen alten Aberglauben abzulegen sich selbst zu erkennen seine eigenen
Belange und die der Gesellschaft vernuumlnftig zu regeln Das naturwissenschaftlich-rationale Den-
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
ken haumllt Einzug Das Buumlrgertum uumlberwindet in Folge der franzoumlsischen Revolution die Herrschaft
von Kirche und Adel und entwickelt ein neues Selbstverstaumlndnis das sich in Kultur und Politik
niederschlaumlgt
226 Moderne
Die Industrialisierung muumlndet in die Moderne Die Moderne ist (in ihrer Selbstwahrnehmung)
gepraumlgt von technischen Erfindungen kulturellen Revolutionen und Fortschritt Saumlkularisierung
politisch von Marxismus Emanzipation von Frauen und der Arbeiterbewegung Liberalismus
Faschismus und den Katastrophen der beiden Weltkriege
Max Weber analysiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus die oumlkonomi-
schen Prozesse der Industriegesellschaft die zeitgenoumlssische Arbeitsethik ihre Verankerung im
Protestantismus In ihrem beruumlhmten Werk Dialektik der Aufklaumlrung kritisieren die Philosophen
Theodor W Adorno und Horkheimer die Unmenschlichkeiten des Nazi-Regimes und anderer
Systeme als Folge des uumlberbetont rationalen Denkens der Aufklaumlrung Die Konzentrationslager
funktionierten technisch perfekt organisiert nach rationalen Gesichtspunkten die den Wert des
Menschen auf seinen Materialwert bezifferten
In der zweiten Haumllfte des 20 Jahrhunderts entstehen die modernen kapitalistischen westlichen
Gesellschaften auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten Das Individuum tritt
als Buumlrger und Konsument als Waumlhler und als Arbeitnehmer auf Wohlstand und weitere Ratio-
nalisierung halten Einzug Im konkurrierenden Ostblock soll ein dogmatischer Sozialismus die
Lehren von Karl Marx verwirklichen Die Verfolgung von sog Abweichlern von der Parteilinie
autoritaumlre Regimes und Mangel an Freiheit sind jedoch die Folge
227 Das Menschenbild des Grundgesetzes
Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveraumlnen Individuums das
Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemein-
schaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden ohne dabei deren
Eigenwert anzutasten Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art 1 2 12 19
und 20 GG Dies heiszligt aber der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfrei-
heit gefallen lassen die der Gesetzgeber zur Pflege und Foumlrderung des sozialen Zusammenlebens
in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht vorausgesetzt
dass dabei die Eigenstaumlndigkeit der Person gewahrt bleibt (BVerfGE 4 7 15 f)
228 Postmoderne
Der Existenzialismus als populaumlre Denkschule der Avantgarde der 50er entwirft ein Bild vom
modernen Menschen der in eine sinnlose Welt geworfen ist Sinn muss von ihm selbst gestiftet
werden
Mit der Studentenbewegung von 1968 mit Umbruumlchen wie der machtvollen Popkultur haumllt wie-
derum ein neues Menschenbild Einzug Die 68er protestieren gegen eine vermeintlich erstarrte
Gesellschaft in West wie Ost eine Technokratie die dem Individuum keinen Raum einraumlumt
sondern angepasstes Verhalten verlangt Irrationale Seiten des Menschen wie Phantasie werden
von den 68ern dagegengehalten Esoterik Utopien aber auch Kunst und Kultur sind dabei Aus-
druck dieser Haltung
In der Philosophie entwerfen Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jacques Derrida Grundzuumlge
einer neuen Philosophie des Menschen Sie wenden sich gegen die scheinbar selbstverstaumlndlichen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Eindeutigkeiten binaumlren Entscheidungen Festschreibungen die das Denken uumlber Mensch und
Welt bisher praumlgten
Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom Nebeneinander einer Vielzahl von Ansichten uumlber den
Menschen von divergierenden neuen und alten Lebensstilen Gemein ist ihnen jedoch zumeist
der Wille zu Pluralismus und Toleranz Die Oumlkologie-Bewegung entwirft in den 70ern und 80ern
ein ganzheitliches Menschenbild bei dem besonders das Eingebundensein des Menschen in die
Natur betont wird Jugendbewegungen wie Punk oder New Wave propagieren einen melancholi-
schen bis pessimistisch-nihilistischen Blick auf den Menschen
23 Was macht den Menschen aus
231 Mensch und Tier
Im europaumlischen Weltbild scheint die Abgrenzung zum Tier eindeutig zu sein In anderen Kultu-
ren jedoch erfolgt die Abgrenzung anders In einigen suumldostasiatischen Sprachen beispielsweise
werden die Menschenaffen zu den Menschen gerechnet Orang Utan ist der Waldmensch und
Orang Asli ein Einheimischer Alle sind Menschen Umgekehrt werden gelegentlich voumlllig ande-
re Menschen nicht zu den Menschen gerechnet In Brasilien kommt es vor dass die dortigen Ur-
einwohner als bdquoWaldtiereldquo bezeichnet werden
In der klassischen Philosophie und im christlichen Menschenbild kommt dem Menschen auf-
grund seiner geistigen Seele (Geist) eine eindeutig herausgehobene Stellung gegenuumlber den Tie-
ren zu denn der Mensch gilt als Ebenbild Gottes (Gen 1 26-27) und ihm steht es zu uumlber die
Tiere wie die gesamte Schoumlpfung zu herrschen (Gen 1 28) Das moderne naturwissenschaftliche
Menschenbild verneint dagegen einen systematischen Unterschied zwischen Mensch und Tier
Haumlufig schmuumlcken sich jedoch in vielen Kulturen Menschen mit Bezeichnungen von Tieren Ad-
ler Loumlwe Fuchs Wolf usw sind beliebte Selbstbezeichnungen wie auch anhand von Vornamen
und Titeln erkennbar ist Analog gibt es Bezeichnungen die abwertend gesehen werden wie z B
Schwein Sau Ratte Hund Esel Manche Tiere wie z B Kamel werden in einigen Kulturkreisen
anerkennend in anderen abwertend gebraucht Wo der Unterschied zwischen Mensch und Tier
besonders betont wird werden Tiervergleiche uumlberhaupt nicht gerne gesehen
Teilweise umstritten sind die Bezeichnungen human (woumlrtlich menschlich) und bestialisch
(woumlrtlich tierisch) Hier wird unterstellt dass der Mensch mild waumlre waumlhrend das Tier roh ist
Haumlufig werden aber Handlungsweisen des Menschen als bestialisch bezeichnet die beim Tier
kaum oder gar nicht vorkommen Umgekehrt wird mit human haumlufig eine Verhaltensweise be-
zeichnet die bei Tieren in analoger Form vorkommen
Kritische Literatur zu dieser Problematik
Jobst Paul (2004) Das bdquoTierldquo - Konstrukt - und die Geburt des Rassismus Zur kulturellen Ge-
genwart eines vernichtenden Arguments ISBN 3-89771-731-X
232 Mensch geschlechtsspezifisch
Noch bis ins 19 Jahrhundert wurde in der Theologie aber auch in den Wissenschaften und der
Politik daruumlber debattiert ob Frauen als Menschen zu gelten haben oder nicht und wenn ja ob sie
bdquovollwertigeldquo Menschen seien oder nur eine minderwertige Sonderform
233 Entmenschlichung
Menschen mit Aussehen Verhalten oder Lebensweisen die nicht der Norm entsprachen etwa
geistiger Behinderung wurde gelegentlich das Attribut bdquoMenschldquo abgesprochen man spricht
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des
Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus
wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung
ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam
bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der
Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form
als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-
chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile
(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)
Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-
menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-
ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-
tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-
ziefer belegt
Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht
man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort
wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als
bdquotypisch menschlichldquo betrachtet
In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive
Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen
um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-
tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten
Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib
Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung
als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht
in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-
misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-
bracht wird Penner
Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-
chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt
234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein
Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme
ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-
tragen bekommen kann
Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern
ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-
katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das
Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-
schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen
keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und
mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den
Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-
ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger
Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt
Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-
ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal
uumlberlassen
235 Wann endet der Mensch
Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-
tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-
tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem
Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen
der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber
fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-
nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen
koumlnnen
24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille
Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind
ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung
des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula
rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-
ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen
Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung
von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-
den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-
weltbeeinflussung
Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion
uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch
Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der
Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass
der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt
Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung
In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von
einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann
muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht
angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren
Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und
versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-
keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-
scheint
Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-
de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei
bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die
man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit
der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-
tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt
gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-
cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-
muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-
einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann
die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung
Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt
voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch
Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-
zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen
25 Gleichheit oder Ungleichheit
Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das
Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon
rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in
ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist
Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-
ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-
schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob
die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen
Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen
26 Psychologie der Menschenbilder
261 Definition
Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von
Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele
sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen
oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-
ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-
pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-
entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-
scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen
unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich
den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und
Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und
bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist
das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-
theorien und Weltanschauungen ausmacht
Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-
tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-
freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-
ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-
hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-
pretationen der Welt
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262 Psychologie der Menschenbilder
In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-
theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-
benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften
(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich
Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die
wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-
trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu
den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-
schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-
schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-
pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-
renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen
Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-
duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um
sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-
gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen
christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene
Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen
Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-
renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und
durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-
Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie
die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht
ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen
263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien
Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-
scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde
Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-
genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-
sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in
ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-
ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum
noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-
rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein
klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen
und Sinnfragen aus
Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-
mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-
den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen
Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-
tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt
bzw systematisches gesichertes Wissen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder
Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch
eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-
mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier
als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-
schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-
praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach
Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde
liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-
schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine
wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes
Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-
che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-
rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-
gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen
Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle
Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung
zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-
schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-
rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch
psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte
Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-
haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind
die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie
Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-
lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch
ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-
teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung
265 Erkundung des Menschenbildes
Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch
durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-
gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-
psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch
fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-
len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde
ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-
fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden
der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von
Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-
se auf das Menschenbild geben
Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen
waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen
religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung
von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-
nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die
Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte
Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-
schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie
unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-
sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie
Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-
sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-
tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-
logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben
266 Menschenbilder in der Psychotherapie
Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-
schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und
pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen
uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-
rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der
bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-
kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-
rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-
graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung
Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen
richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie
auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie
der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In
wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die
Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden
267 Weitere Modelle
Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der
Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)
Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)
Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)
Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-
gicus)
Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen
nach Charles Elworthy)
Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)
Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)
Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)
Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3
3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt
Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer
Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn
versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung
betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)
hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-
traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge
31 Definition und Bedeutung
Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational
handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende
Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4
Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur
Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-
resse des Menschen5
Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten
erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-
treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden
wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder
Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten
wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig
beschreiben
Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw
einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung
bezeichnet
32 Begriffsgeschichte
Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-
tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten
Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-
nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform
des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-
ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles
wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-
nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die
Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7
33 Kritik und neuere Ansaumltze
Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-
maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-
reitschaft und Kooperation wider
4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-
versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)
5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X
6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage
Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus
in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter
gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-
nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-
ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung
des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig
erweitert
In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden
Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-
tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen
Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-
nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich
irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo
von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert
sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8
In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-
den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung
eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)
Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-
schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-
onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu
fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet
Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie
auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen
Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-
oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts
(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-
ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig
auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-
barldquo[6]
Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein
theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-
genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-
genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]
Der Oumlkonom
Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-
munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-
leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-
trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-
8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml
9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-
ka] 2005 (PDF 688 KB)
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13
Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am
Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14
Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump
Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven
Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15
Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16
Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-
furt-New York-Paris 1993 31-62
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
- 20 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
- 21 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
ken haumllt Einzug Das Buumlrgertum uumlberwindet in Folge der franzoumlsischen Revolution die Herrschaft
von Kirche und Adel und entwickelt ein neues Selbstverstaumlndnis das sich in Kultur und Politik
niederschlaumlgt
226 Moderne
Die Industrialisierung muumlndet in die Moderne Die Moderne ist (in ihrer Selbstwahrnehmung)
gepraumlgt von technischen Erfindungen kulturellen Revolutionen und Fortschritt Saumlkularisierung
politisch von Marxismus Emanzipation von Frauen und der Arbeiterbewegung Liberalismus
Faschismus und den Katastrophen der beiden Weltkriege
Max Weber analysiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus die oumlkonomi-
schen Prozesse der Industriegesellschaft die zeitgenoumlssische Arbeitsethik ihre Verankerung im
Protestantismus In ihrem beruumlhmten Werk Dialektik der Aufklaumlrung kritisieren die Philosophen
Theodor W Adorno und Horkheimer die Unmenschlichkeiten des Nazi-Regimes und anderer
Systeme als Folge des uumlberbetont rationalen Denkens der Aufklaumlrung Die Konzentrationslager
funktionierten technisch perfekt organisiert nach rationalen Gesichtspunkten die den Wert des
Menschen auf seinen Materialwert bezifferten
In der zweiten Haumllfte des 20 Jahrhunderts entstehen die modernen kapitalistischen westlichen
Gesellschaften auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten Das Individuum tritt
als Buumlrger und Konsument als Waumlhler und als Arbeitnehmer auf Wohlstand und weitere Ratio-
nalisierung halten Einzug Im konkurrierenden Ostblock soll ein dogmatischer Sozialismus die
Lehren von Karl Marx verwirklichen Die Verfolgung von sog Abweichlern von der Parteilinie
autoritaumlre Regimes und Mangel an Freiheit sind jedoch die Folge
227 Das Menschenbild des Grundgesetzes
Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveraumlnen Individuums das
Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemein-
schaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden ohne dabei deren
Eigenwert anzutasten Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art 1 2 12 19
und 20 GG Dies heiszligt aber der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfrei-
heit gefallen lassen die der Gesetzgeber zur Pflege und Foumlrderung des sozialen Zusammenlebens
in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht vorausgesetzt
dass dabei die Eigenstaumlndigkeit der Person gewahrt bleibt (BVerfGE 4 7 15 f)
228 Postmoderne
Der Existenzialismus als populaumlre Denkschule der Avantgarde der 50er entwirft ein Bild vom
modernen Menschen der in eine sinnlose Welt geworfen ist Sinn muss von ihm selbst gestiftet
werden
Mit der Studentenbewegung von 1968 mit Umbruumlchen wie der machtvollen Popkultur haumllt wie-
derum ein neues Menschenbild Einzug Die 68er protestieren gegen eine vermeintlich erstarrte
Gesellschaft in West wie Ost eine Technokratie die dem Individuum keinen Raum einraumlumt
sondern angepasstes Verhalten verlangt Irrationale Seiten des Menschen wie Phantasie werden
von den 68ern dagegengehalten Esoterik Utopien aber auch Kunst und Kultur sind dabei Aus-
druck dieser Haltung
In der Philosophie entwerfen Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jacques Derrida Grundzuumlge
einer neuen Philosophie des Menschen Sie wenden sich gegen die scheinbar selbstverstaumlndlichen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Eindeutigkeiten binaumlren Entscheidungen Festschreibungen die das Denken uumlber Mensch und
Welt bisher praumlgten
Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom Nebeneinander einer Vielzahl von Ansichten uumlber den
Menschen von divergierenden neuen und alten Lebensstilen Gemein ist ihnen jedoch zumeist
der Wille zu Pluralismus und Toleranz Die Oumlkologie-Bewegung entwirft in den 70ern und 80ern
ein ganzheitliches Menschenbild bei dem besonders das Eingebundensein des Menschen in die
Natur betont wird Jugendbewegungen wie Punk oder New Wave propagieren einen melancholi-
schen bis pessimistisch-nihilistischen Blick auf den Menschen
23 Was macht den Menschen aus
231 Mensch und Tier
Im europaumlischen Weltbild scheint die Abgrenzung zum Tier eindeutig zu sein In anderen Kultu-
ren jedoch erfolgt die Abgrenzung anders In einigen suumldostasiatischen Sprachen beispielsweise
werden die Menschenaffen zu den Menschen gerechnet Orang Utan ist der Waldmensch und
Orang Asli ein Einheimischer Alle sind Menschen Umgekehrt werden gelegentlich voumlllig ande-
re Menschen nicht zu den Menschen gerechnet In Brasilien kommt es vor dass die dortigen Ur-
einwohner als bdquoWaldtiereldquo bezeichnet werden
In der klassischen Philosophie und im christlichen Menschenbild kommt dem Menschen auf-
grund seiner geistigen Seele (Geist) eine eindeutig herausgehobene Stellung gegenuumlber den Tie-
ren zu denn der Mensch gilt als Ebenbild Gottes (Gen 1 26-27) und ihm steht es zu uumlber die
Tiere wie die gesamte Schoumlpfung zu herrschen (Gen 1 28) Das moderne naturwissenschaftliche
Menschenbild verneint dagegen einen systematischen Unterschied zwischen Mensch und Tier
Haumlufig schmuumlcken sich jedoch in vielen Kulturen Menschen mit Bezeichnungen von Tieren Ad-
ler Loumlwe Fuchs Wolf usw sind beliebte Selbstbezeichnungen wie auch anhand von Vornamen
und Titeln erkennbar ist Analog gibt es Bezeichnungen die abwertend gesehen werden wie z B
Schwein Sau Ratte Hund Esel Manche Tiere wie z B Kamel werden in einigen Kulturkreisen
anerkennend in anderen abwertend gebraucht Wo der Unterschied zwischen Mensch und Tier
besonders betont wird werden Tiervergleiche uumlberhaupt nicht gerne gesehen
Teilweise umstritten sind die Bezeichnungen human (woumlrtlich menschlich) und bestialisch
(woumlrtlich tierisch) Hier wird unterstellt dass der Mensch mild waumlre waumlhrend das Tier roh ist
Haumlufig werden aber Handlungsweisen des Menschen als bestialisch bezeichnet die beim Tier
kaum oder gar nicht vorkommen Umgekehrt wird mit human haumlufig eine Verhaltensweise be-
zeichnet die bei Tieren in analoger Form vorkommen
Kritische Literatur zu dieser Problematik
Jobst Paul (2004) Das bdquoTierldquo - Konstrukt - und die Geburt des Rassismus Zur kulturellen Ge-
genwart eines vernichtenden Arguments ISBN 3-89771-731-X
232 Mensch geschlechtsspezifisch
Noch bis ins 19 Jahrhundert wurde in der Theologie aber auch in den Wissenschaften und der
Politik daruumlber debattiert ob Frauen als Menschen zu gelten haben oder nicht und wenn ja ob sie
bdquovollwertigeldquo Menschen seien oder nur eine minderwertige Sonderform
233 Entmenschlichung
Menschen mit Aussehen Verhalten oder Lebensweisen die nicht der Norm entsprachen etwa
geistiger Behinderung wurde gelegentlich das Attribut bdquoMenschldquo abgesprochen man spricht
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des
Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus
wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung
ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam
bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der
Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form
als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-
chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile
(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)
Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-
menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-
ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-
tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-
ziefer belegt
Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht
man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort
wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als
bdquotypisch menschlichldquo betrachtet
In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive
Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen
um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-
tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten
Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib
Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung
als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht
in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-
misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-
bracht wird Penner
Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-
chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt
234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein
Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme
ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-
tragen bekommen kann
Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern
ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-
katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das
Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-
schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen
keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und
mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den
Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-
ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger
Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt
Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-
ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal
uumlberlassen
235 Wann endet der Mensch
Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-
tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-
tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem
Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen
der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber
fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-
nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen
koumlnnen
24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille
Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind
ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung
des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula
rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-
ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen
Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung
von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-
den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-
weltbeeinflussung
Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion
uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch
Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der
Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass
der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt
Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung
In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von
einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann
muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht
angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren
Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und
versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-
keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-
scheint
Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-
de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei
bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die
man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit
der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-
tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt
gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-
cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-
muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-
einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann
die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung
Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt
voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch
Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-
zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen
25 Gleichheit oder Ungleichheit
Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das
Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon
rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in
ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist
Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-
ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-
schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob
die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen
Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen
26 Psychologie der Menschenbilder
261 Definition
Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von
Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele
sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen
oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-
ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-
pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-
entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-
scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen
unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich
den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und
Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und
bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist
das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-
theorien und Weltanschauungen ausmacht
Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-
tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-
freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-
ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-
hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-
pretationen der Welt
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
262 Psychologie der Menschenbilder
In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-
theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-
benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften
(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich
Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die
wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-
trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu
den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-
schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-
schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-
pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-
renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen
Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-
duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um
sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-
gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen
christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene
Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen
Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-
renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und
durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-
Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie
die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht
ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen
263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien
Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-
scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde
Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-
genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-
sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in
ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-
ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum
noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-
rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein
klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen
und Sinnfragen aus
Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-
mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-
den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen
Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-
tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt
bzw systematisches gesichertes Wissen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder
Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch
eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-
mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier
als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-
schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-
praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach
Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde
liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-
schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine
wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes
Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-
che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-
rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-
gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen
Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle
Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung
zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-
schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-
rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch
psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte
Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-
haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind
die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie
Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-
lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch
ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-
teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung
265 Erkundung des Menschenbildes
Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch
durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-
gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-
psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch
fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-
len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde
ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-
fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden
der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von
Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-
se auf das Menschenbild geben
Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen
waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen
religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung
von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-
nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die
Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte
Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-
schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie
unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-
sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie
Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-
sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-
tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-
logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben
266 Menschenbilder in der Psychotherapie
Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-
schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und
pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen
uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-
rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der
bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-
kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-
rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-
graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung
Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen
richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie
auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie
der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In
wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die
Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden
267 Weitere Modelle
Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der
Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)
Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)
Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)
Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-
gicus)
Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen
nach Charles Elworthy)
Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)
Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)
Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)
Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3
3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt
Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer
Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn
versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung
betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)
hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-
traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge
31 Definition und Bedeutung
Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational
handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende
Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4
Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur
Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-
resse des Menschen5
Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten
erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-
treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden
wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder
Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten
wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig
beschreiben
Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw
einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung
bezeichnet
32 Begriffsgeschichte
Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-
tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten
Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-
nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform
des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-
ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles
wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-
nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die
Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7
33 Kritik und neuere Ansaumltze
Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-
maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-
reitschaft und Kooperation wider
4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-
versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)
5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X
6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage
Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus
in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter
gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-
nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-
ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung
des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig
erweitert
In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden
Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-
tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen
Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-
nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich
irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo
von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert
sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8
In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-
den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung
eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)
Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-
schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-
onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu
fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet
Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie
auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen
Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-
oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts
(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-
ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig
auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-
barldquo[6]
Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein
theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-
genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-
genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]
Der Oumlkonom
Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-
munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-
leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-
trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-
8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml
9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-
ka] 2005 (PDF 688 KB)
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13
Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am
Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14
Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump
Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven
Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15
Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16
Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-
furt-New York-Paris 1993 31-62
- 16 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Eindeutigkeiten binaumlren Entscheidungen Festschreibungen die das Denken uumlber Mensch und
Welt bisher praumlgten
Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom Nebeneinander einer Vielzahl von Ansichten uumlber den
Menschen von divergierenden neuen und alten Lebensstilen Gemein ist ihnen jedoch zumeist
der Wille zu Pluralismus und Toleranz Die Oumlkologie-Bewegung entwirft in den 70ern und 80ern
ein ganzheitliches Menschenbild bei dem besonders das Eingebundensein des Menschen in die
Natur betont wird Jugendbewegungen wie Punk oder New Wave propagieren einen melancholi-
schen bis pessimistisch-nihilistischen Blick auf den Menschen
23 Was macht den Menschen aus
231 Mensch und Tier
Im europaumlischen Weltbild scheint die Abgrenzung zum Tier eindeutig zu sein In anderen Kultu-
ren jedoch erfolgt die Abgrenzung anders In einigen suumldostasiatischen Sprachen beispielsweise
werden die Menschenaffen zu den Menschen gerechnet Orang Utan ist der Waldmensch und
Orang Asli ein Einheimischer Alle sind Menschen Umgekehrt werden gelegentlich voumlllig ande-
re Menschen nicht zu den Menschen gerechnet In Brasilien kommt es vor dass die dortigen Ur-
einwohner als bdquoWaldtiereldquo bezeichnet werden
In der klassischen Philosophie und im christlichen Menschenbild kommt dem Menschen auf-
grund seiner geistigen Seele (Geist) eine eindeutig herausgehobene Stellung gegenuumlber den Tie-
ren zu denn der Mensch gilt als Ebenbild Gottes (Gen 1 26-27) und ihm steht es zu uumlber die
Tiere wie die gesamte Schoumlpfung zu herrschen (Gen 1 28) Das moderne naturwissenschaftliche
Menschenbild verneint dagegen einen systematischen Unterschied zwischen Mensch und Tier
Haumlufig schmuumlcken sich jedoch in vielen Kulturen Menschen mit Bezeichnungen von Tieren Ad-
ler Loumlwe Fuchs Wolf usw sind beliebte Selbstbezeichnungen wie auch anhand von Vornamen
und Titeln erkennbar ist Analog gibt es Bezeichnungen die abwertend gesehen werden wie z B
Schwein Sau Ratte Hund Esel Manche Tiere wie z B Kamel werden in einigen Kulturkreisen
anerkennend in anderen abwertend gebraucht Wo der Unterschied zwischen Mensch und Tier
besonders betont wird werden Tiervergleiche uumlberhaupt nicht gerne gesehen
Teilweise umstritten sind die Bezeichnungen human (woumlrtlich menschlich) und bestialisch
(woumlrtlich tierisch) Hier wird unterstellt dass der Mensch mild waumlre waumlhrend das Tier roh ist
Haumlufig werden aber Handlungsweisen des Menschen als bestialisch bezeichnet die beim Tier
kaum oder gar nicht vorkommen Umgekehrt wird mit human haumlufig eine Verhaltensweise be-
zeichnet die bei Tieren in analoger Form vorkommen
Kritische Literatur zu dieser Problematik
Jobst Paul (2004) Das bdquoTierldquo - Konstrukt - und die Geburt des Rassismus Zur kulturellen Ge-
genwart eines vernichtenden Arguments ISBN 3-89771-731-X
232 Mensch geschlechtsspezifisch
Noch bis ins 19 Jahrhundert wurde in der Theologie aber auch in den Wissenschaften und der
Politik daruumlber debattiert ob Frauen als Menschen zu gelten haben oder nicht und wenn ja ob sie
bdquovollwertigeldquo Menschen seien oder nur eine minderwertige Sonderform
233 Entmenschlichung
Menschen mit Aussehen Verhalten oder Lebensweisen die nicht der Norm entsprachen etwa
geistiger Behinderung wurde gelegentlich das Attribut bdquoMenschldquo abgesprochen man spricht
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des
Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus
wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung
ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam
bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der
Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form
als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-
chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile
(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)
Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-
menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-
ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-
tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-
ziefer belegt
Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht
man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort
wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als
bdquotypisch menschlichldquo betrachtet
In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive
Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen
um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-
tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten
Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib
Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung
als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht
in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-
misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-
bracht wird Penner
Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-
chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt
234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein
Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme
ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-
tragen bekommen kann
Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern
ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-
katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das
Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-
schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen
keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und
mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den
Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-
ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger
Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt
Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-
ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal
uumlberlassen
235 Wann endet der Mensch
Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-
tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-
tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem
Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen
der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber
fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-
nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen
koumlnnen
24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille
Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind
ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung
des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula
rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-
ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen
Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung
von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-
den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-
weltbeeinflussung
Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion
uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch
Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der
Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass
der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt
Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung
In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von
einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann
muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht
angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren
Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und
versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-
keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-
scheint
Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-
de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei
bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die
man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit
der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-
tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt
gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-
cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-
muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-
einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann
die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung
Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt
voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch
Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-
zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen
25 Gleichheit oder Ungleichheit
Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das
Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon
rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in
ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist
Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-
ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-
schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob
die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen
Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen
26 Psychologie der Menschenbilder
261 Definition
Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von
Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele
sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen
oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-
ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-
pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-
entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-
scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen
unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich
den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und
Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und
bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist
das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-
theorien und Weltanschauungen ausmacht
Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-
tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-
freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-
ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-
hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-
pretationen der Welt
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
262 Psychologie der Menschenbilder
In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-
theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-
benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften
(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich
Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die
wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-
trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu
den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-
schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-
schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-
pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-
renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen
Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-
duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um
sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-
gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen
christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene
Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen
Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-
renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und
durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-
Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie
die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht
ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen
263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien
Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-
scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde
Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-
genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-
sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in
ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-
ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum
noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-
rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein
klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen
und Sinnfragen aus
Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-
mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-
den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen
Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-
tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt
bzw systematisches gesichertes Wissen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder
Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch
eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-
mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier
als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-
schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-
praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach
Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde
liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-
schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine
wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes
Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-
che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-
rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-
gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen
Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle
Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung
zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-
schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-
rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch
psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte
Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-
haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind
die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie
Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-
lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch
ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-
teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung
265 Erkundung des Menschenbildes
Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch
durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-
gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-
psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch
fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-
len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde
ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-
fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden
der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von
Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-
se auf das Menschenbild geben
Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen
waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen
religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung
von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-
nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-
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dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die
Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte
Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-
schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie
unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-
sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie
Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-
sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-
tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-
logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben
266 Menschenbilder in der Psychotherapie
Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-
schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und
pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen
uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-
rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der
bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-
kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-
rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-
graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung
Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen
richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie
auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie
der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In
wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die
Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden
267 Weitere Modelle
Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der
Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)
Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)
Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)
Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-
gicus)
Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen
nach Charles Elworthy)
Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)
Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)
Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)
Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3
3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt
Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer
Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn
versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung
betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten
- 13 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)
hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-
traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge
31 Definition und Bedeutung
Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational
handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende
Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4
Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur
Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-
resse des Menschen5
Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten
erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-
treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden
wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder
Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten
wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig
beschreiben
Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw
einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung
bezeichnet
32 Begriffsgeschichte
Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-
tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten
Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-
nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform
des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-
ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles
wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-
nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die
Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7
33 Kritik und neuere Ansaumltze
Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-
maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-
reitschaft und Kooperation wider
4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-
versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)
5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X
6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage
Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus
in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter
gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-
nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-
ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung
des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig
erweitert
In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden
Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-
tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen
Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-
nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich
irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo
von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert
sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8
In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-
den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung
eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)
Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-
schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-
onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu
fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet
Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie
auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen
Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-
oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts
(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-
ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig
auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-
barldquo[6]
Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein
theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-
genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-
genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]
Der Oumlkonom
Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-
munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-
leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-
trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-
8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml
9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-
ka] 2005 (PDF 688 KB)
- 15 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13
Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am
Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14
Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump
Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven
Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15
Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16
Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-
furt-New York-Paris 1993 31-62
- 16 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
- 17 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
- 20 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
- 21 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
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- 7 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des
Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus
wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung
ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam
bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der
Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form
als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-
chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile
(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)
Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-
menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-
ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-
tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-
ziefer belegt
Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht
man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort
wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als
bdquotypisch menschlichldquo betrachtet
In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive
Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen
um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-
tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten
Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib
Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung
als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht
in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-
misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-
bracht wird Penner
Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-
chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt
234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein
Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme
ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-
tragen bekommen kann
Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern
ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-
katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das
Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-
schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen
keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und
mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den
Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-
ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger
Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt
Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-
ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal
uumlberlassen
235 Wann endet der Mensch
Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-
tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-
tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem
Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen
der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber
fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-
nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen
koumlnnen
24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille
Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind
ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung
des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula
rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-
ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen
Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung
von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-
den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-
weltbeeinflussung
Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion
uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch
Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der
Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass
der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt
Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung
In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von
einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann
muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht
angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren
Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und
versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-
keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-
scheint
Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-
de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei
bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die
man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit
der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-
tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt
gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-
cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-
muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-
einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann
die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung
Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt
voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch
Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-
zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen
25 Gleichheit oder Ungleichheit
Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das
Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon
rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in
ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist
Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-
ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-
schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob
die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen
Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen
26 Psychologie der Menschenbilder
261 Definition
Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von
Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele
sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen
oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-
ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-
pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-
entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-
scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen
unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich
den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und
Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und
bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist
das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-
theorien und Weltanschauungen ausmacht
Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-
tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-
freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-
ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-
hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-
pretationen der Welt
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
262 Psychologie der Menschenbilder
In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-
theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-
benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften
(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich
Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die
wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-
trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu
den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-
schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-
schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-
pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-
renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen
Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-
duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um
sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-
gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen
christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene
Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen
Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-
renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und
durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-
Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie
die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht
ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen
263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien
Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-
scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde
Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-
genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-
sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in
ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-
ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum
noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-
rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein
klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen
und Sinnfragen aus
Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-
mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-
den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen
Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-
tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt
bzw systematisches gesichertes Wissen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder
Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch
eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-
mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier
als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-
schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-
praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach
Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde
liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-
schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine
wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes
Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-
che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-
rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-
gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen
Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle
Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung
zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-
schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-
rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch
psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte
Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-
haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind
die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie
Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-
lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch
ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-
teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung
265 Erkundung des Menschenbildes
Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch
durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-
gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-
psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch
fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-
len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde
ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-
fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden
der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von
Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-
se auf das Menschenbild geben
Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen
waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen
religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung
von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-
nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die
Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte
Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-
schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie
unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-
sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie
Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-
sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-
tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-
logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben
266 Menschenbilder in der Psychotherapie
Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-
schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und
pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen
uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-
rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der
bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-
kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-
rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-
graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung
Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen
richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie
auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie
der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In
wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die
Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden
267 Weitere Modelle
Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der
Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)
Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)
Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)
Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-
gicus)
Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen
nach Charles Elworthy)
Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)
Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)
Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)
Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3
3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt
Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer
Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn
versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung
betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)
hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-
traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge
31 Definition und Bedeutung
Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational
handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende
Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4
Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur
Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-
resse des Menschen5
Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten
erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-
treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden
wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder
Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten
wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig
beschreiben
Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw
einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung
bezeichnet
32 Begriffsgeschichte
Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-
tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten
Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-
nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform
des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-
ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles
wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-
nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die
Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7
33 Kritik und neuere Ansaumltze
Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-
maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-
reitschaft und Kooperation wider
4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-
versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)
5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X
6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage
Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus
in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter
gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-
nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-
ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung
des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig
erweitert
In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden
Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-
tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen
Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-
nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich
irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo
von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert
sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8
In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-
den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung
eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)
Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-
schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-
onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu
fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet
Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie
auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen
Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-
oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts
(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-
ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig
auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-
barldquo[6]
Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein
theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-
genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-
genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]
Der Oumlkonom
Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-
munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-
leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-
trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-
8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml
9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-
ka] 2005 (PDF 688 KB)
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13
Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am
Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14
Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump
Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven
Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15
Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16
Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-
furt-New York-Paris 1993 31-62
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
- 21 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger
Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt
Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-
ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal
uumlberlassen
235 Wann endet der Mensch
Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-
tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-
tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem
Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen
der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber
fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-
nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen
koumlnnen
24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille
Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind
ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung
des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula
rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-
ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen
Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung
von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-
den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-
weltbeeinflussung
Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion
uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch
Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der
Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass
der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt
Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung
In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von
einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann
muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht
angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren
Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und
versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-
keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-
scheint
Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-
de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei
bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die
man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss
- 9 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit
der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-
tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt
gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-
cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-
muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-
einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann
die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung
Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt
voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch
Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-
zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen
25 Gleichheit oder Ungleichheit
Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das
Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon
rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in
ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist
Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-
ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-
schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob
die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen
Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen
26 Psychologie der Menschenbilder
261 Definition
Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von
Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele
sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen
oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-
ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-
pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-
entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-
scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen
unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich
den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und
Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und
bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist
das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-
theorien und Weltanschauungen ausmacht
Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-
tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-
freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-
ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-
hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-
pretationen der Welt
- 10 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
262 Psychologie der Menschenbilder
In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-
theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-
benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften
(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich
Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die
wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-
trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu
den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-
schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-
schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-
pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-
renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen
Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-
duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um
sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-
gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen
christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene
Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen
Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-
renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und
durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-
Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie
die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht
ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen
263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien
Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-
scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde
Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-
genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-
sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in
ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-
ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum
noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-
rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein
klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen
und Sinnfragen aus
Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-
mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-
den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen
Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-
tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt
bzw systematisches gesichertes Wissen
- 11 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder
Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch
eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-
mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier
als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-
schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-
praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach
Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde
liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-
schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine
wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes
Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-
che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-
rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-
gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen
Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle
Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung
zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-
schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-
rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch
psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte
Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-
haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind
die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie
Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-
lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch
ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-
teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung
265 Erkundung des Menschenbildes
Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch
durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-
gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-
psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch
fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-
len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde
ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-
fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden
der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von
Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-
se auf das Menschenbild geben
Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen
waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen
religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung
von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-
nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-
- 12 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die
Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte
Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-
schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie
unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-
sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie
Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-
sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-
tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-
logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben
266 Menschenbilder in der Psychotherapie
Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-
schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und
pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen
uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-
rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der
bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-
kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-
rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-
graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung
Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen
richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie
auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie
der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In
wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die
Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden
267 Weitere Modelle
Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der
Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)
Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)
Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)
Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-
gicus)
Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen
nach Charles Elworthy)
Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)
Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)
Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)
Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3
3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt
Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer
Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn
versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung
betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)
hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-
traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge
31 Definition und Bedeutung
Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational
handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende
Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4
Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur
Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-
resse des Menschen5
Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten
erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-
treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden
wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder
Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten
wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig
beschreiben
Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw
einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung
bezeichnet
32 Begriffsgeschichte
Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-
tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten
Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-
nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform
des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-
ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles
wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-
nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die
Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7
33 Kritik und neuere Ansaumltze
Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-
maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-
reitschaft und Kooperation wider
4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-
versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)
5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X
6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage
Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus
in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter
gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-
nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-
ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung
des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig
erweitert
In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden
Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-
tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen
Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-
nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich
irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo
von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert
sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8
In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-
den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung
eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)
Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-
schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-
onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu
fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet
Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie
auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen
Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-
oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts
(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-
ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig
auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-
barldquo[6]
Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein
theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-
genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-
genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]
Der Oumlkonom
Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-
munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-
leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-
trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-
8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml
9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-
ka] 2005 (PDF 688 KB)
- 15 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13
Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am
Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14
Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump
Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven
Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15
Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16
Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-
furt-New York-Paris 1993 31-62
- 16 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
- 18 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
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3 ergaumlnzte und erweiterte Aufl ebd 2008 ISBN 978-3-16-149834-3
Reiner Manstetten Das Menschenbild in der Oumlkonomie Der homo oeconomicus und die Anthropologie
von Adam Smith Alber FreiburgMuumlnchen 2000 ISBN 3-495-47980-5
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schaftslehre Faktortheoretischer Ansatz entscheidungsorientierter Ansatz und Systemansatz im Ver-
gleich Haupt Verlag BernStuttgart 1980 ISBN 3-258-02949-0 2 Aufl ebd 1989 ISBN 3-258-04084-2
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Stefan Zabieglik The Origins of the Term Homo Oeconomicus In Janina Kubka (Hrsgn) Economics
and Values PG Gdańsk 2002 ISBN 83-915729-2-7 S 123-131
- 9 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit
der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-
tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt
gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-
cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-
muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-
einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann
die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung
Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt
voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch
Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-
zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen
25 Gleichheit oder Ungleichheit
Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das
Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon
rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in
ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist
Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-
ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-
schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob
die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen
Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen
26 Psychologie der Menschenbilder
261 Definition
Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von
Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele
sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen
oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-
ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-
pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-
entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-
scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen
unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich
den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und
Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und
bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist
das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-
theorien und Weltanschauungen ausmacht
Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-
tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-
freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-
ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-
hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-
pretationen der Welt
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
262 Psychologie der Menschenbilder
In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-
theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-
benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften
(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich
Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die
wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-
trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu
den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-
schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-
schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-
pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-
renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen
Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-
duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um
sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-
gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen
christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene
Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen
Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-
renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und
durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-
Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie
die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht
ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen
263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien
Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-
scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde
Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-
genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-
sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in
ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-
ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum
noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-
rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein
klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen
und Sinnfragen aus
Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-
mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-
den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen
Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-
tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt
bzw systematisches gesichertes Wissen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder
Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch
eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-
mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier
als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-
schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-
praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach
Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde
liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-
schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine
wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes
Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-
che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-
rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-
gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen
Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle
Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung
zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-
schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-
rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch
psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte
Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-
haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind
die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie
Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-
lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch
ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-
teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung
265 Erkundung des Menschenbildes
Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch
durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-
gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-
psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch
fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-
len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde
ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-
fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden
der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von
Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-
se auf das Menschenbild geben
Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen
waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen
religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung
von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-
nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die
Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte
Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-
schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie
unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-
sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie
Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-
sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-
tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-
logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben
266 Menschenbilder in der Psychotherapie
Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-
schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und
pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen
uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-
rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der
bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-
kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-
rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-
graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung
Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen
richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie
auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie
der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In
wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die
Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden
267 Weitere Modelle
Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der
Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)
Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)
Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)
Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-
gicus)
Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen
nach Charles Elworthy)
Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)
Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)
Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)
Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3
3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt
Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer
Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn
versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung
betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)
hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-
traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge
31 Definition und Bedeutung
Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational
handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende
Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4
Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur
Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-
resse des Menschen5
Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten
erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-
treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden
wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder
Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten
wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig
beschreiben
Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw
einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung
bezeichnet
32 Begriffsgeschichte
Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-
tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten
Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-
nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform
des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-
ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles
wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-
nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die
Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7
33 Kritik und neuere Ansaumltze
Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-
maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-
reitschaft und Kooperation wider
4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-
versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)
5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X
6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage
Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus
in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter
gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-
nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-
ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung
des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig
erweitert
In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden
Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-
tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen
Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-
nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich
irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo
von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert
sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8
In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-
den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung
eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)
Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-
schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-
onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu
fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet
Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie
auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen
Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-
oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts
(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-
ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig
auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-
barldquo[6]
Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein
theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-
genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-
genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]
Der Oumlkonom
Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-
munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-
leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-
trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-
8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml
9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-
ka] 2005 (PDF 688 KB)
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13
Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am
Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14
Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump
Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven
Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15
Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16
Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-
furt-New York-Paris 1993 31-62
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
- 18 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
- 19 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
- 22 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Uwe Springfeld MENSCHMASCHINE - maschinenmensch S Hirzel Verlag Stuttgart 2009 ISBN 978-
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Darmstadt 2004 ISBN 3-534-15470-3
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Alexander Dietz Der homo oeconomicus Theologische und wirtschaftsethische Perspektiven auf ein oumlko-
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Peter H Werhahn Menschenbild Gesellschaftsbild und Wissenschaftsbegriff in der neueren Betriebswirt-
schaftslehre Faktortheoretischer Ansatz entscheidungsorientierter Ansatz und Systemansatz im Ver-
gleich Haupt Verlag BernStuttgart 1980 ISBN 3-258-02949-0 2 Aufl ebd 1989 ISBN 3-258-04084-2
Helmut Woll Menschenbilder in der Oumlkonomie Oldenbourg MuumlnchenWien 1994 ISBN 3-486-23056-5
Stefan Zabieglik The Origins of the Term Homo Oeconomicus In Janina Kubka (Hrsgn) Economics
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- 10 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
262 Psychologie der Menschenbilder
In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-
theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-
benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften
(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich
Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die
wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-
trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu
den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-
schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-
schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-
pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-
renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen
Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-
duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um
sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-
gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen
christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene
Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen
Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-
renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und
durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-
Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie
die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht
ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen
263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien
Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-
scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde
Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-
genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-
sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in
ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-
ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum
noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-
rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein
klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen
und Sinnfragen aus
Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-
mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-
den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen
Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-
tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt
bzw systematisches gesichertes Wissen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder
Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch
eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-
mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier
als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-
schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-
praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach
Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde
liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-
schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine
wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes
Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-
che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-
rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-
gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen
Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle
Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung
zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-
schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-
rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch
psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte
Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-
haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind
die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie
Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-
lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch
ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-
teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung
265 Erkundung des Menschenbildes
Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch
durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-
gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-
psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch
fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-
len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde
ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-
fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden
der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von
Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-
se auf das Menschenbild geben
Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen
waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen
religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung
von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-
nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die
Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte
Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-
schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie
unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-
sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie
Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-
sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-
tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-
logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben
266 Menschenbilder in der Psychotherapie
Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-
schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und
pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen
uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-
rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der
bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-
kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-
rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-
graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung
Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen
richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie
auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie
der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In
wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die
Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden
267 Weitere Modelle
Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der
Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)
Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)
Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)
Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-
gicus)
Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen
nach Charles Elworthy)
Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)
Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)
Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)
Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3
3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt
Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer
Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn
versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung
betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)
hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-
traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge
31 Definition und Bedeutung
Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational
handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende
Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4
Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur
Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-
resse des Menschen5
Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten
erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-
treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden
wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder
Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten
wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig
beschreiben
Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw
einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung
bezeichnet
32 Begriffsgeschichte
Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-
tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten
Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-
nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform
des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-
ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles
wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-
nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die
Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7
33 Kritik und neuere Ansaumltze
Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-
maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-
reitschaft und Kooperation wider
4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-
versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)
5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X
6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage
Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus
in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter
gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-
nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-
ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung
des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig
erweitert
In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden
Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-
tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen
Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-
nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich
irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo
von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert
sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8
In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-
den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung
eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)
Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-
schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-
onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu
fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet
Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie
auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen
Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-
oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts
(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-
ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig
auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-
barldquo[6]
Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein
theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-
genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-
genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]
Der Oumlkonom
Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-
munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-
leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-
trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-
8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml
9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-
ka] 2005 (PDF 688 KB)
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13
Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am
Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14
Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump
Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven
Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15
Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16
Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-
furt-New York-Paris 1993 31-62
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
- 18 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
- 19 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
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Gebhard Kirchgaumlssner Homo oeconomicus Das oumlkonomische Modell individuellen Verhaltens und seine
Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Mohr Tuumlbingen 1991 ISBN 3-16-145829-X
3 ergaumlnzte und erweiterte Aufl ebd 2008 ISBN 978-3-16-149834-3
Reiner Manstetten Das Menschenbild in der Oumlkonomie Der homo oeconomicus und die Anthropologie
von Adam Smith Alber FreiburgMuumlnchen 2000 ISBN 3-495-47980-5
Joseph Persky Retrospectives The ethology of Homo economicus In Journal of Economic Perspectives
9 (2) 1995 S 221-231
Norbert Rost Homo oeconomicus Eine Fiktion der Standardoumlkonomie In Humane Wirtschaft 012009
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Ekkehart Schlicht Der homo oeconomicus unter experimentellem Beschuszlig In Martin Held Gisela Ku-
bon-Gilke amp Richard Sturn (Hrsg) Experimente in der Oumlkonomik Jahrbuch normative und institutionelle
Grundfragen der Oumlkonomik 2 Metropolis-Verlag Marburg 2003 ISBN 3-89518-414-4 (PDF 278 KB)
Peter H Werhahn Menschenbild Gesellschaftsbild und Wissenschaftsbegriff in der neueren Betriebswirt-
schaftslehre Faktortheoretischer Ansatz entscheidungsorientierter Ansatz und Systemansatz im Ver-
gleich Haupt Verlag BernStuttgart 1980 ISBN 3-258-02949-0 2 Aufl ebd 1989 ISBN 3-258-04084-2
Helmut Woll Menschenbilder in der Oumlkonomie Oldenbourg MuumlnchenWien 1994 ISBN 3-486-23056-5
Stefan Zabieglik The Origins of the Term Homo Oeconomicus In Janina Kubka (Hrsgn) Economics
and Values PG Gdańsk 2002 ISBN 83-915729-2-7 S 123-131
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder
Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch
eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-
mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier
als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-
schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-
praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach
Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde
liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-
schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine
wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes
Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-
che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-
rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-
gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen
Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle
Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung
zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-
schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-
rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch
psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte
Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-
haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind
die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie
Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-
lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch
ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-
teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung
265 Erkundung des Menschenbildes
Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch
durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-
gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-
psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch
fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-
len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde
ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-
fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden
der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von
Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-
se auf das Menschenbild geben
Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen
waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen
religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung
von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-
nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die
Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte
Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-
schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie
unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-
sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie
Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-
sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-
tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-
logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben
266 Menschenbilder in der Psychotherapie
Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-
schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und
pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen
uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-
rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der
bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-
kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-
rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-
graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung
Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen
richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie
auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie
der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In
wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die
Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden
267 Weitere Modelle
Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der
Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)
Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)
Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)
Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-
gicus)
Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen
nach Charles Elworthy)
Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)
Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)
Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)
Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3
3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt
Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer
Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn
versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung
betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)
hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-
traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge
31 Definition und Bedeutung
Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational
handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende
Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4
Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur
Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-
resse des Menschen5
Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten
erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-
treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden
wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder
Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten
wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig
beschreiben
Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw
einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung
bezeichnet
32 Begriffsgeschichte
Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-
tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten
Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-
nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform
des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-
ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles
wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-
nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die
Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7
33 Kritik und neuere Ansaumltze
Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-
maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-
reitschaft und Kooperation wider
4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-
versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)
5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X
6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage
Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus
in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter
gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-
nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-
ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung
des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig
erweitert
In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden
Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-
tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen
Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-
nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich
irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo
von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert
sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8
In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-
den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung
eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)
Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-
schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-
onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu
fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet
Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie
auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen
Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-
oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts
(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-
ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig
auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-
barldquo[6]
Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein
theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-
genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-
genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]
Der Oumlkonom
Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-
munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-
leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-
trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-
8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml
9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-
ka] 2005 (PDF 688 KB)
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13
Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am
Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14
Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump
Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven
Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15
Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16
Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-
furt-New York-Paris 1993 31-62
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
- 20 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
- 21 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die
Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte
Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-
schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie
unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-
sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie
Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-
sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-
tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-
logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben
266 Menschenbilder in der Psychotherapie
Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-
schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und
pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen
uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-
rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der
bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-
kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-
rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-
graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung
Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen
richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie
auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie
der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In
wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die
Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden
267 Weitere Modelle
Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der
Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)
Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)
Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)
Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-
gicus)
Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen
nach Charles Elworthy)
Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)
Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)
Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)
Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3
3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt
Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer
Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn
versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung
betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten
- 13 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)
hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-
traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge
31 Definition und Bedeutung
Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational
handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende
Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4
Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur
Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-
resse des Menschen5
Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten
erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-
treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden
wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder
Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten
wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig
beschreiben
Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw
einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung
bezeichnet
32 Begriffsgeschichte
Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-
tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten
Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-
nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform
des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-
ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles
wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-
nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die
Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7
33 Kritik und neuere Ansaumltze
Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-
maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-
reitschaft und Kooperation wider
4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-
versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)
5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X
6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage
Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus
in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter
gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-
nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-
ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung
des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig
erweitert
In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden
Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-
tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen
Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-
nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich
irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo
von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert
sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8
In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-
den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung
eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)
Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-
schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-
onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu
fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet
Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie
auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen
Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-
oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts
(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-
ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig
auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-
barldquo[6]
Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein
theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-
genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-
genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]
Der Oumlkonom
Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-
munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-
leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-
trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-
8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml
9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-
ka] 2005 (PDF 688 KB)
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13
Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am
Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14
Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump
Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven
Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15
Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16
Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-
furt-New York-Paris 1993 31-62
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
- 17 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
- 19 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
- 20 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
- 21 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)
hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-
traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge
31 Definition und Bedeutung
Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational
handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende
Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4
Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur
Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-
resse des Menschen5
Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten
erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-
treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden
wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder
Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten
wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig
beschreiben
Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw
einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung
bezeichnet
32 Begriffsgeschichte
Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-
tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten
Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-
nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform
des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-
ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles
wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-
nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die
Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7
33 Kritik und neuere Ansaumltze
Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-
maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-
reitschaft und Kooperation wider
4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus
in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter
gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-
nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-
ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung
des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig
erweitert
In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden
Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-
tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen
Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-
nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich
irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo
von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert
sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8
In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-
den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung
eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)
Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-
schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-
onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu
fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet
Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie
auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen
Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-
oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts
(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-
ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig
auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-
barldquo[6]
Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein
theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-
genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-
genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]
Der Oumlkonom
Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-
munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-
leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-
trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-
8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml
9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-
ka] 2005 (PDF 688 KB)
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
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- 14 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus
in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter
gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-
nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-
ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung
des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig
erweitert
In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden
Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-
tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen
Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-
nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich
irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo
von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert
sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8
In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-
den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung
eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)
Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-
schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-
onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu
fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet
Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie
auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren
34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen
Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-
oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts
(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-
ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig
auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-
barldquo[6]
Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein
theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-
genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-
genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]
Der Oumlkonom
Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-
munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-
leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-
trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-
8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml
9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-
ka] 2005 (PDF 688 KB)
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13
Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am
Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14
Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump
Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven
Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15
Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16
Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-
furt-New York-Paris 1993 31-62
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
- 18 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
- 19 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
- 21 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10
Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo
oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-
cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-
niger tauglich sein kannldquo11
Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses
Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein
theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der
Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet
sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12
Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus
mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13
Ulli Gu-
ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-
staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14
35 Homo oeconomicus in der Theologie
In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter
Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)
36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften
In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-
scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-
wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter
Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-
schenbild anstelle von Modell benutzt15
Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten
Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-
schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16
10
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In
Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11
Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12
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Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
- 18 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
- 19 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
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Reiner Manstetten Das Menschenbild in der Oumlkonomie Der homo oeconomicus und die Anthropologie
von Adam Smith Alber FreiburgMuumlnchen 2000 ISBN 3-495-47980-5
Joseph Persky Retrospectives The ethology of Homo economicus In Journal of Economic Perspectives
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Norbert Rost Homo oeconomicus Eine Fiktion der Standardoumlkonomie In Humane Wirtschaft 012009
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bon-Gilke amp Richard Sturn (Hrsg) Experimente in der Oumlkonomik Jahrbuch normative und institutionelle
Grundfragen der Oumlkonomik 2 Metropolis-Verlag Marburg 2003 ISBN 3-89518-414-4 (PDF 278 KB)
Peter H Werhahn Menschenbild Gesellschaftsbild und Wissenschaftsbegriff in der neueren Betriebswirt-
schaftslehre Faktortheoretischer Ansatz entscheidungsorientierter Ansatz und Systemansatz im Ver-
gleich Haupt Verlag BernStuttgart 1980 ISBN 3-258-02949-0 2 Aufl ebd 1989 ISBN 3-258-04084-2
Helmut Woll Menschenbilder in der Oumlkonomie Oldenbourg MuumlnchenWien 1994 ISBN 3-486-23056-5
Stefan Zabieglik The Origins of the Term Homo Oeconomicus In Janina Kubka (Hrsgn) Economics
and Values PG Gdańsk 2002 ISBN 83-915729-2-7 S 123-131
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
4 Der Siegeszug des Utilitarismus
In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet
die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung
bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich
Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm
das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und
zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt
Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher
kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung
diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-
zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist
Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die
Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute
Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den
Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-
sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der
Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit
Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen
typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war
eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-
ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz
den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem
raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann
Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich
bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-
fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die
beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-
setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle
Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum
Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-
mus
Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut
Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von
Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit
nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-
fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der
Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in
der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der
Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-
nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-
rung des menschlichen Lebens zusammen
Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus
und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat
dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man
sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen
Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-
gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-
grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff
der Neuzeit werden
Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch
schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-
rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-
nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der
mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12
ldquo Das Selbstver-
staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt
Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-
derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-
schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer
Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung
Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren
wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht
so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch
zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz
fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-
lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere
Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt
Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken
inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-
ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der
Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz
hilft am Ende auch den anderen
Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern
Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den
Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14
Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde
wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-
bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt
Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-
de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie
Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht
War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen
Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen
begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15
ldquo lautet
die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit
seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der
den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
- 24 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
- 25 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
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- 18 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-
ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16
Jetzt aber ist es an der Zeit
dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-
taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr
den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu
da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17
Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-
sche(n) Denker der Moderneldquo18
bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk
bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu
finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19
Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-
lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter
Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20
die vor einem Jahr bundesweites Aufse-
hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-
tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus
Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-
terldquo21
Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie
Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-
dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22
erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr
eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden
- 19 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
- 20 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
- 21 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
- 22 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
- 23 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
- 24 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
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- 19 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
5 Oumlkonomisierung der Medizin
51 Verschiebungen
Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten
zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken
und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen
die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass
gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen
sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten
Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-
mik sprechen
Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon
vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-
schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17
Die verschiedenen
Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der
Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18
Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung
von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-
logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie
haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-
werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von
Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren
Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche
Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt
und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus
An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-
heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-
fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert
511 bdquoGesundheitldquo
Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-
dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch
kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber
ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19
Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das
Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20
folgen dann ist
Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und
nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21
17
Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-
mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18
Ebd 19
Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20
im Jahre 1947 21
Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
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Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
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Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
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Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
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Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
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Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
- 24 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
- 25 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
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uumlber Willensfreiheit Transzendenz und den Einfluss philosophischer Vorentscheidungen auf die Berufs-
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Psychologische und Interdisziplinaumlre Anthropologie (access e-book print on demand pdf 20 MB 5
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taumlglichen Lebensvollzug das Verhalten der Mitmenschen erklaumlrt und vorhergesagt wird Klett Stuttgart
1973
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- 26 -
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- 20 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so
nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches
Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)
krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-
tet
So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22
zu der Schlussfolgerung
bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent
der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent
uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass
viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch
den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23
Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die
theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben
richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-
men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft
Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart
utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-
len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer
schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)
als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann
bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo
512 Krankheit
Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-
staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht
mehr erbringen kannldquo24
Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-
sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt
worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit
einer Krankheit begruumlndet wird25
Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer
Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-
nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des
Utilitarismusldquo)
513 Therapie
Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-
flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-
in WHOChronicle 1 (1947) 29 22
Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 16 August 2000 5 23
Ebd 24
So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands
(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25
Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash
Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft
Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt
a M 1972 11ndash46
- 21 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
- 22 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
- 23 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
- 24 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
7 Literatur
Jens Asendorpf Psychologie der Persoumlnlichkeit Springer Heidelberg 2003 (3 Aufl) ISBN 978-3-540-
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- 26 -
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- 21 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen
Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-
mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider
wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)
Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl
doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren
Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung
und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-
onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz
zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-
digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26
Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-
nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung
die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27
Dies fuumlhre so Taylor weiter zur
bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen
Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28
Die
gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die
Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder
uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man
jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29
Eine zent-
rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu
einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-
dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick
auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen
Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30
Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe
von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-
weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999
zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-
rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-
darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-
tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich
(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel
beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht
des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken
bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet
Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die
Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung
bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck
den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden
nimmt
26
Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM
31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27
Ebd 28
Ebd 29
Ebd 877 30
Ebd 878
- 22 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
7 Literatur
Jens Asendorpf Psychologie der Persoumlnlichkeit Springer Heidelberg 2003 (3 Aufl) ISBN 978-3-540-
71684-6
Charles S Carver Michael F Scheier Perspectives on personality Allyn and Bacon Boston MA 1996
(5 th ed) ISBN 0-205-37576-6
Alwin Diemer Elementarkurs Philosophie Philosophische Anthropologie Econ Duumlsseldorf 1978 S 57-
72 ISBN 3-430-12068-3
Jochen Fahrenberg Annahmen uumlber den Menschen Menschenbilder aus psychologischer biologischer
religioumlser und interkultureller Sicht Asanger Heidelberg 2004 ISBN 3-89334-416-0
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gie Nr 5 2006 S 1-20 ( pdf) 199 KB)
Jochen Fahrenberg Menschenbilder Psychologische biologische interkulturelle und religioumlse Ansichten
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Maumlrz 2008)
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schaftslehre Faktortheoretischer Ansatz entscheidungsorientierter Ansatz und Systemansatz im Ver-
gleich Haupt Verlag BernStuttgart 1980 ISBN 3-258-02949-0 2 Aufl ebd 1989 ISBN 3-258-04084-2
Helmut Woll Menschenbilder in der Oumlkonomie Oldenbourg MuumlnchenWien 1994 ISBN 3-486-23056-5
Stefan Zabieglik The Origins of the Term Homo Oeconomicus In Janina Kubka (Hrsgn) Economics
and Values PG Gdańsk 2002 ISBN 83-915729-2-7 S 123-131
- 22 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik
Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-
antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-
schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-
scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-
sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-
schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden
Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-
terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen
Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31
) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der
Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog
uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise
steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst
zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden
Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-
derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur
lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen
wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-
triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten
Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-
te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-
aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die
Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen
Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-
mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein
Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon
lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das
dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich
auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden
Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist
eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-
antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist
den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-
den
ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)
Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-
tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik
Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit
geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist
dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst
Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-
kutiert32
31
Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32
zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010
- 23 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
- 24 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
7 Literatur
Jens Asendorpf Psychologie der Persoumlnlichkeit Springer Heidelberg 2003 (3 Aufl) ISBN 978-3-540-
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Jochen Fahrenberg Annahmen uumlber den Menschen Menschenbilder aus psychologischer biologischer
religioumlser und interkultureller Sicht Asanger Heidelberg 2004 ISBN 3-89334-416-0
Jochen Fahrenberg Was denken Studierende der Psychologie uumlber das Gehirn-Bewusstsein-Problem
uumlber Willensfreiheit Transzendenz und den Einfluss philosophischer Vorentscheidungen auf die Berufs-
praxis Journal fuumlr Psychologie Bd 14 2006 S 302-330
Jochen Fahrenberg Psychologische Anthropologie ndash Eine Fragebogenstudie zum Menschenbild von 800
Studierenden der Psychologie Philosophie und Naturwissenschaften e-Journal Philosophie der Psycholo-
gie Nr 5 2006 S 1-20 ( pdf) 199 KB)
Jochen Fahrenberg Menschenbilder Psychologische biologische interkulturelle und religioumlse Ansichten
Psychologische und Interdisziplinaumlre Anthropologie (access e-book print on demand pdf 20 MB 5
Maumlrz 2008)
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Juumlrgen Kriz Grundkonzepte der Psychotherapie Eine Einfuumlhrung Beltz Weinheim 2007 (6 Aufl)
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1973
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Ernst Seidl ua KoumlrperWissen Erkenntnis zwischen Eros und Ekel Tuumlbingen MUT 2009 ISBN 978-3-
9812736-1-8
- 26 -
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Reneacute Thalmair Das Menschenbild des homo europaeus Menschenbildaspekte im Vertrag uumlber eine Ver-
fassung in Europa Peter Land Verlag Frankfurt aM 2007 ISBN 978-3-631-55731-0
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Homo oeconomicos
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ISBN 978-3-451-05789-2
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torismus Limburger Vereinsdruckerei Limburg 1936
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Reiner Manstetten Das Menschenbild in der Oumlkonomie Der homo oeconomicus und die Anthropologie
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S 18ndash23 (PDF 282 KB)
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Grundfragen der Oumlkonomik 2 Metropolis-Verlag Marburg 2003 ISBN 3-89518-414-4 (PDF 278 KB)
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and Values PG Gdańsk 2002 ISBN 83-915729-2-7 S 123-131
- 23 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen
die an Medizin und Pflege gestellt werden
Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens
relevant geworden ist
Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-
samkeit verstanden werden
Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken
Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung
Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-
gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den
sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf
den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen
Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das
auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33
Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-
tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat
Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des
Wohlwollens34
Von Beauchamp u Childress35
werden
- Empathie
- Urteilskraft
- Vertrauenswuumlrdigkeit
- Moralische Integritaumlt
- Gewissenhaftigkeit
als aumlrztlichen Tugenden beschrieben
Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen
die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-
zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste
medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der
Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-
keit medizinischer und pflegerischer Leistungen
33
Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34
bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-
mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des
anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch
hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage
danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem
normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die
Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35
2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch
bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-
amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-
hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine
Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische
Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-
rung an einer monistischen Moraltheorie vor
- 24 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
7 Literatur
Jens Asendorpf Psychologie der Persoumlnlichkeit Springer Heidelberg 2003 (3 Aufl) ISBN 978-3-540-
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uumlber Willensfreiheit Transzendenz und den Einfluss philosophischer Vorentscheidungen auf die Berufs-
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Jochen Fahrenberg Psychologische Anthropologie ndash Eine Fragebogenstudie zum Menschenbild von 800
Studierenden der Psychologie Philosophie und Naturwissenschaften e-Journal Philosophie der Psycholo-
gie Nr 5 2006 S 1-20 ( pdf) 199 KB)
Jochen Fahrenberg Menschenbilder Psychologische biologische interkulturelle und religioumlse Ansichten
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Maumlrz 2008)
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Juumlrgen Kriz Grundkonzepte der Psychotherapie Eine Einfuumlhrung Beltz Weinheim 2007 (6 Aufl)
Peter Kutter Rauacutel Paacuteramo-Ortega Thomas Muumlller (Hrsg) Weltanschauung und Menschenbild Einfluumlsse
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taumlglichen Lebensvollzug das Verhalten der Mitmenschen erklaumlrt und vorhergesagt wird Klett Stuttgart
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Walfried Linden Alfred Fleissner Geist Seele und Gehirn Entwurf eines gemeinsamen Menschenbildes
von Neurobiologen und Geisteswissenschaftlern LIT-Verlag Muumlnster 2004 ISBN 3825879739
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senschaft Bildung Kunst Wirtschaft und Politik Enke Stuttgart 1999 ISBN 3-432-30531-1
Lawrence A Pervin Persoumlnlichkeitstheorien Reinhardt Muumlnchen 1981 (4 Aufl) ISBN 3-8252-8035-7
Hilarion Petzold Ilse Orth (Hrsg) Die Mythen der Psychotherapie Ideologien Machtstrukturen und
Wege kritischer Praxis Junfermann Paderborn 1999
Bodo Rollka Friederike Schultz Kommunikationsinstrument Menschenbild Zur Verwendung von Men-
schenbildern in gesellschaftlichen Diskursen VS-Verlag Wiesbaden 2011 ISBN 978-3-531-17297-2
Ernst Seidl ua KoumlrperWissen Erkenntnis zwischen Eros und Ekel Tuumlbingen MUT 2009 ISBN 978-3-
9812736-1-8
- 26 -
Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
Uwe Springfeld MENSCHMASCHINE - maschinenmensch S Hirzel Verlag Stuttgart 2009 ISBN 978-
3-7776-1646-9
Reneacute Thalmair Das Menschenbild des homo europaeus Menschenbildaspekte im Vertrag uumlber eine Ver-
fassung in Europa Peter Land Verlag Frankfurt aM 2007 ISBN 978-3-631-55731-0
Christian Thies Einfuumlhrung in die philosophische Anthropologie Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Darmstadt 2004 ISBN 3-534-15470-3
Lawrence S Wrightsman Assumptions about human nature Sage Publisher Newbury Park Ca 2nd ed
1992 ISBN 0-8039-2775-4
Homo oeconomicos
Norbert Bluumlm Gerechtigkeit Eine Kritik des Homo oeconomicus Herder FreiburgBaselWien 2003
ISBN 978-3-451-05789-2
Alexander Dietz Der homo oeconomicus Theologische und wirtschaftsethische Perspektiven auf ein oumlko-
nomisches Modell Guumltersloher Verlags-Haus Guumltersloh 2005 ISBN 3-579-05310-8
Alfred Fey Der homo oeconomicus in der klassischen Nationaloumlkonomie und seine Kritik durch den His-
torismus Limburger Vereinsdruckerei Limburg 1936
Armin Falk Homo Oeconomicus Versus Homo Reciprocans Ansaumltze fuumlr ein Neues Wirtschaftspolitisches
Leitbild In Institut fuumlr Empirische Wirtschaftsforschung der Universitaumlt Zuumlrich (Hrsg) Working Paper
No 79 Juli 2001 (PDF 220 KB)
Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus
In Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 (PDF 69 KB)
Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta
Rump Thomas Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte
Perspektiven Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC)
Gebhard Kirchgaumlssner Homo oeconomicus Das oumlkonomische Modell individuellen Verhaltens und seine
Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Mohr Tuumlbingen 1991 ISBN 3-16-145829-X
3 ergaumlnzte und erweiterte Aufl ebd 2008 ISBN 978-3-16-149834-3
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von Adam Smith Alber FreiburgMuumlnchen 2000 ISBN 3-495-47980-5
Joseph Persky Retrospectives The ethology of Homo economicus In Journal of Economic Perspectives
9 (2) 1995 S 221-231
Norbert Rost Homo oeconomicus Eine Fiktion der Standardoumlkonomie In Humane Wirtschaft 012009
S 18ndash23 (PDF 282 KB)
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bon-Gilke amp Richard Sturn (Hrsg) Experimente in der Oumlkonomik Jahrbuch normative und institutionelle
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and Values PG Gdańsk 2002 ISBN 83-915729-2-7 S 123-131
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
6 Thesen und Forderungen
einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt
Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung
von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-
zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-
se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-
schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte
Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet
der Vorwurf
Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen
Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-
te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und
emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und
Mitmenschen
Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-
schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen
abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen
Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik
(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004
vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)
Thesen
1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-
schen bestimmen ebenfalls sein Handeln
2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig
3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen
4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()
5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()
6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt
7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-
schaftswissenschaften sein ()
Forderungen
1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()
2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden
3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die
Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()
4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-
stellen ()
wwwpaeconde
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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo
7 Literatur
Jens Asendorpf Psychologie der Persoumlnlichkeit Springer Heidelberg 2003 (3 Aufl) ISBN 978-3-540-
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