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Seelsorge am Universitätsklinikum Leipzig Leipzig, im Februar 2013 „Es muss sich rechnen?“ Die Balance zwischen Ökonomie und Ethik im Krankenhaus Rolf-Michael Turek

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Seelsorge am Universitaumltsklinikum Leipzig

Leipzig im Februar 2013

bdquoEs muss sich rechnenldquo

Die Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

im Krankenhaus

Rolf-Michael Turek

- 1 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Inhaltsverzeichnis

1 Hinfuumlhrung - 2 -

2 Menschenbilder - 3 - 22 Abgrenzung Wer ist Mensch und wer nicht - 3 - 22 Das Bild vom Menschen im Laufe der Geschichte - 3 -

221 Vorzeit - 3 - 222 Schoumlpfung - 3 -

223 Mensch und Gottheit - 3 - 224 Mittelalter - 4 - 225 Das Menschenbild der Aufklaumlrung - 4 -

226 Moderne - 5 - 227 Das Menschenbild des Grundgesetzes - 5 - 228 Postmoderne - 5 -

23 Was macht den Menschen aus - 6 -

231 Mensch und Tier - 6 - 232 Mensch geschlechtsspezifisch - 6 -

233 Entmenschlichung - 6 - 234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein - 7 -

235 Wann endet der Mensch - 8 - 24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille - 8 - 25 Gleichheit oder Ungleichheit - 9 -

26 Psychologie der Menschenbilder - 9 -

261 Definition - 9 - 262 Psychologie der Menschenbilder - 10 - 263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien - 10 -

264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder - 11 - 265 Erkundung des Menschenbildes - 11 - 266 Menschenbilder in der Psychotherapie - 12 -

267 Weitere Modelle - 12 - 3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo) - 13 -

31 Definition und Bedeutung - 13 -

32 Begriffsgeschichte - 13 -

33 Kritik und neuere Ansaumltze - 13 -

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen - 14 - 35 Homo oeconomicus in der Theologie - 15 - 36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften - 15 - 4 Der Siegeszug des Utilitarismus - 16 - 5 Oumlkonomisierung der Medizin - 19 -

51 Verschiebungen - 19 - 511 bdquoGesundheitldquo - 19 - 512 Krankheit - 20 - 513 Therapie - 20 -

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik - 22 -

6 Thesen und Forderungen - 24 - 7 Literatur - 25 -

- 2 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

1 Hinfuumlhrung

Die Klage daruumlber dass immer mehr Lebensbereiche von Kostenfragen uumlberschattet werden ist allge-

genwaumlrtig Das Leitmotiv unserer Epoche scheint sich in dem Satz zu buumlndeln Es muss sich rechnen

Absichten und Handlungen werden danach beurteilt wie und ob sie Kosten einsparen bzw Gewinne

generieren Rote Zahlen zu erwirtschaften gilt als Teufelswerk ndash eine Null ist gerade noch so hinzu-

nehmen

Solche Art von Oumlkonomisierung hat nun schon seit laumlngerer Zeit auch die Krankenhaumluser erreicht

Mitarbeiter Patienten und Angehoumlrige beklagen dass die Frage nach der Wirtschaftlichkeit nicht nur

bisherige medizinische1 und pflegerische2 Standards durchdringt sondern sie zunehmend dominiert

Nun wird in den Debatten um die Rolle ethischer Orientierung in der Medizin oft eine Trennung von

Oumlkonomie und Ethik in der Weise vorgenommen dass beide als unvereinbar gelten Gerade so als

muumlssten sich Medizin und Pflege von oumlkonomischen Fragen fernhalten um ihrem Heilungsauftrag

gerecht werden zu koumlnnen Solch eine Polarisierung ist allerdings nicht hilfreich Oumlkonomisches

Denken muss nicht im Gegensatz zur Ethik stehen Ganz im Gegenteil kann sie sogar ein konstituti-

ver Bestandteil von Ethik sein Ohne oumlkonomisches Denken wuumlrde die Medizin viele Ressourcen

unnoumltig verbrauchen und es wuumlrde zu noch groumlszligeren Engpaumlssen kommen

Und doch ist die Allianz von Oumlkonomie und Medizin nur so lange nicht unheilvoll wie man versucht

sie in ein gutes Verhaumlltnis zueinander zu bringen Angesichts dessen dass der Patient auf den genuin

sozialen Charakter der Medizin angewiesen ist muumlsste das Verhaumlltnis von Oumlkonomie und Medizin

idealerweise so gestaltet werden dass die Ziele der Oumlkonomie in den Dienst der Ziele der Medizin

gestellt werden Die Oumlkonomie haumltte demnach der Medizin zu dienen

Das dieser Zustand von unserer Realitaumlt weit entfernt ist zeigen nicht nur die Auswuumlchse der so ge-

nannten bdquoFinanzkriseldquo Spaumltestens hier muss allen deutlich geworden sei dass nicht etwa Politik und

Fachwissenschaften das Geschehen regulieren sondern ein ungezuumlgelter Markt das Ruder uumlbernom-

men hat

Im Gesundheitswesen gegenzusteuern hieszlige Oumlkonomie und Ethik (wieder) miteinander zu versoumlhnen

und vielleicht als ersten Schritt miteinander ins Gespraumlch zu bringen Dazu sollen diese Gedanken

hier anregen

Ausgehend von einem Blick auf die verschiedenen Konzepte die uumlber das Wesen des Menschen er-

arbeitet worden sind soll mit den folgenden Gedanken Lust geweckt werden hier im KHS ethisches

Denken und Handeln auf allen Ebenen zu etablieren bzw zu staumlrken

1 Als Grundlage aumlrztlicher Entscheidungsfindungen und medizinischen Tuns galt (bisher) der aumlrztliche bzw medi-

zinische Heilungsauftrag Dieser Heilauftrag basiert auf Vorstellungen die ihre Wurzeln in juumldisch-hellenistisch-

christlicher Tradition haben und wird in unserem Kulturkreis durchweg akzeptiert auch von Aumlrzten und Pflegenden

die sich sonst den genannten Traditionen nicht verpflichtet fuumlhlen Der medizinische (dh aumlrztliche und pflegerische)

Heilauftrag wird in der Literatur folgendermaszligen beschrieben Leben erhalten - Krankheiten heilen (oder vermeiden)

- Leiden lindern In der englischsprachigen Literatur aumlhnlichbdquoBeneficienceldquo (zum Wohl des Kranken handeln) -

bdquoNon-maleficienceldquo (keinen Schaden verursachen das bdquonihil nocereldquo der hippokratischen Medizin) - bdquoJusticeldquo (Ge-

rechtigkeit walten lassen) - bdquoAutonomyldquo (den Willen des Kranken respektieren) Diese Kriterien werden heute er-

gaumlnzt durch bdquoDignitiyldquo (die Wuumlrde des Kranken beachten) und bdquoCareldquo (Fuumlrsorge dem Kranken gegenuumlber) 2 bdquoPflege ist eine Praxisdisziplin und hat die Aufgabe einzelne Menschen und Gruppen von Menschen verschiedenen

Geschlechts Alters und kultureller Praumlgung in ihrer Gesundheit zu foumlrdern und zu beraten sie waumlhrend einer Krank-

heit im Genesungsprozess zu unterstuumltzen oder in chronischen nicht heilbaren Stadien Wohlbefinden zu ermoumlgli-

chen und Schmerzen zu lindernldquo (Kuumlhne-Ponesch Modelle und Theorien in der Pflege 2004 11)

- 3 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

2 Menschenbilder

Menschenbild ist ein in der philosophischen Anthropologie gebraumluchlicher Begriff fuumlr die Vor-

stellung das Bild das jemand vom Wesen des Menschen hat Insofern der Mensch Teil der Welt

ist ist das Menschenbild auch Teil des Weltbildes Menschenbild wie Weltbild sind immer in

eine bestimmte Uumlberzeugung oder Lehre eingebunden die jemand vertritt So gibt es unter ande-

rem zum Beispiel ein christliches ein buddhistisches ein humanistisches oder ein darwinistisches

Menschen- und Weltbild

Dem Einzelnen erscheint das eigene Menschenbild haumlufig als so selbstverstaumlndlich dass er kaum

daruumlber nachdenkt dass man sich den Menschen auch anders vorstellen kann Trifft man auf ein

anderes Menschenbild so wird dieses haumlufig als falsch das eigene als richtig angesehen Hier

geht es nicht um die Klaumlrung von Streitfragen also nicht darum was richtig und was falsch ist

sondern welche unterschiedlichen Vorstellungen die Menschen in unterschiedlichen Kulturen

haben und zu unterschiedlichen Zeiten uumlber sich hatten und welche Implikationen daraus folgen

22 Abgrenzung Wer ist Mensch und wer nicht

Die Frage was ein Mensch ist und was nicht ist grundlegender und vor allem strittiger als ge-

meinhin angenommen (z B die Frage wann das Leben beginnt ob eine befruchtete Eizelle oder

ein Embryo bereits ein Mensch ist)

Die Differenzierung des Menschen erfolgt durch die Annahme dass der Mensch sowohl Instinkte

als auch die Faumlhigkeit besitzt uumlber sich selbst zu reflektieren Dadurch unterscheidet er sich (in

seinem Verhalten) von anderen Lebewesen

22 Das Bild vom Menschen im Laufe der Geschichte

221 Vorzeit

Uumlber Menschenbild und Selbstverstaumlndnis des Menschen der Vorzeit ist wenig bekannt aller-

dings existieren kuumlnstlerische wohl religioumlse Zeugnisse wie Abbildungen von Menschen und

Goumlttern Nachgewiesene Begraumlbnis-Riten weisen auf Vorstellungen vom Jenseits und Sorge um

die Verstorbenen hin Religioumlse Vorstellungen waren wahrscheinlich animistisch inspiriert Re-

praumlsentativ fuumlr diese Phase ist der Schamanismus

222 Schoumlpfung

In fast allen Gesellschaften existieren Mythen der Schoumlpfung die Hinweise auf Weltbild aber

auch auf das Selbstverstaumlndnis der Menschen liefern

223 Mensch und Gottheit

In der griechischen und roumlmischen Antike wie auch im Zweistromland existiert eine Vielzahl von

Goumlttern die den Menschen uumlberlegen sind aber ihnen auch aumlhneln Der Mensch wird im Gegen-

satz zu den Goumlttern als sterblich angesehen weshalb bdquodie Sterblichenldquo als Umschreibung fuumlr

Menschen benutzt wurde Menschen und Goumltter pflegen untereinander und miteinander eine

Vielzahl von Lieb- oder Feindschaften und sind gleichermaszligen in Leidenschaften verstrickt (sie-

he z B die Sage von Odysseus) Ansonsten ist das Menschenbild der Antike auch durch Sklave-

rei Ungerechtigkeit und Ungleichheit gepraumlgt In Athen und spaumlter auch in Rom finden sich

zwar Ansaumltze der Demokratie Diese ist jedoch immer auf die sog Freien (vgl Oberschicht) be-

grenzt Die Philosophie erbluumlht in der Antike es werden weitreichende Betrachtungen uumlber den

Menschen und die Gesellschaft angestellt auf die man sich teilweise noch heute bezieht

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Im Monotheismus ist die Trennung zwischen Mensch und Gott weitaus praumlgnanter Der alleinige

Gott duldet keine weiteren Goumltter neben sich und verlangt nach Erfuumlllung seines Willens z B

Opfer (siehe Altes Testament)

Der Unterschied zwischen Mensch und Gott (Monotheismus)Goumlttern wird in religioumls gepraumlgten

Gesellschaft darin gesehen dass ein Gott das Uumlberwesen ist das - selber anderen keinen oder

undurchschaubaren Regeln unterworfen - den Menschen uumlberhaupt erst geschaffen hat das ihn

(wie z B im Christentum oder Islam) einst richten wird und das in der Zwischenzeit jede Macht

hat das Leben des Menschen auch existenziell zu beeinflussen Der Mensch erscheint - beson-

ders im Monotheismus - als abhaumlngig von Gott Im Christentum bekommt hierbei der Begriff der

Suumlnde etwa im Verhaumlltnis zum freien Willen groszlige Bedeutung

In verschiedenen Kulturen konnten Menschen zu Goumlttern werden und wurden auch als solche

verehrt Weltliche Herrscher wie manche der Pharaonen oder solche in den mittelamerikanischen

Kulturen der Maya oder Azteken beanspruchten als Menschen gleichzeitig Goumltter zu sein Herr-

scher uumlber Himmel und Erde Die Konquistadoren aus Europa wurden von den Indianern zu-

naumlchst als Goumltter wahrgenommen die alte Prophezeiungen erfuumlllten

Bei den Voodoo-Kulten und vergleichbaren Naturreligionen etwa in Afrika oder der Karibik ge-

raten (auch heute) gewoumlhnliche Menschen in Trance und Gottheiten ergreifen von ihnen zeitwei-

se Besitz sprechen durch sie oder druumlcken sich in Bewegungen und Handlungen aus

Im asiatischen Kulturkreis uumlberwiegt im Unterschied zu christlich gepraumlgten Gesellschaften eine

buddhistisch beeinflusste Sicht des Menschen die dadurch gekennzeichnet ist dass Gott und

Mensch in eins fallen Schoumlpfer und Geschoumlpf existieren nicht unabhaumlngig voneinander Gott

druumlckt sich als alles durchdringende Lebenskraft in der Schoumlpfung aus Aus diesem Grund hat der

Begriff bdquoGottldquo im Buddhismus keine Bedeutung da bdquoGottldquo im wesentlichen eine Abgrenzung

zum Menschen ausdruumlckt Fuumlr das Menschenbild hat diese Sicht entscheidende Bedeutung da sie

den Menschen auf sich selbst und die ihn umgebende Schoumlpfung zuruumlckwirft Er ist keinem au-

szligerhalb von sich befindlichen Uumlberwesen Rechenschaft schuldig (wie im Judentum Christentum

und Islam) sondern hat sein Tun und Lassen allein vor sich selbst zu verantworten Jede Aus-

uumlbung einer Wirkung auf die Umwelt kommt einer Auswirkung auf das eigene Selbst gleich da

das Schoumlpferische im Menschen (Gott) und der Mensch als Teil der Welt nicht voneinander ver-

schieden sind (vgl auch Pantheismus)

224 Mittelalter

Das Mittelalter ist gepraumlgt vom Glauben und vom Aberglauben von der Hinnahme des eigenen

Schicksals vom Fatalismus und der Furcht vor der Houmllle aber auch von der Wiederentdeckung

des Wissens der Antike in den Bibliotheken der Kloumlster Handel mit dem Orient bietet die Moumlg-

lichkeit der Verbreitung von Wissen und Erfindungen Die Kreuzzuumlge sollen die Uumlberlegenheit

des christlichen Glaubens demonstrieren weltliche und kirchliche Macht und Rechtsprechung

gehen Hand in Hand Die Herrschaft des Adels wird als gottgewollt dargestellt Ungleichheit

zwischen den Menschen meist hingenommen (siehe aber auch Habeas Corpus)

225 Das Menschenbild der Aufklaumlrung

Der Humanismus stellt einen Bruch mit den vormaligen Vorstellungen dar im Zentrum steht nun

der Mensch das Individuum Die Philosophie der Aufklaumlrung erreicht eine Synthese von antiken

und neueren Vorstellungen vom Menschen Das Licht der Aufklaumlrung soll dem vernunftbegabten

Menschen ermoumlglichen alten Aberglauben abzulegen sich selbst zu erkennen seine eigenen

Belange und die der Gesellschaft vernuumlnftig zu regeln Das naturwissenschaftlich-rationale Den-

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

ken haumllt Einzug Das Buumlrgertum uumlberwindet in Folge der franzoumlsischen Revolution die Herrschaft

von Kirche und Adel und entwickelt ein neues Selbstverstaumlndnis das sich in Kultur und Politik

niederschlaumlgt

226 Moderne

Die Industrialisierung muumlndet in die Moderne Die Moderne ist (in ihrer Selbstwahrnehmung)

gepraumlgt von technischen Erfindungen kulturellen Revolutionen und Fortschritt Saumlkularisierung

politisch von Marxismus Emanzipation von Frauen und der Arbeiterbewegung Liberalismus

Faschismus und den Katastrophen der beiden Weltkriege

Max Weber analysiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus die oumlkonomi-

schen Prozesse der Industriegesellschaft die zeitgenoumlssische Arbeitsethik ihre Verankerung im

Protestantismus In ihrem beruumlhmten Werk Dialektik der Aufklaumlrung kritisieren die Philosophen

Theodor W Adorno und Horkheimer die Unmenschlichkeiten des Nazi-Regimes und anderer

Systeme als Folge des uumlberbetont rationalen Denkens der Aufklaumlrung Die Konzentrationslager

funktionierten technisch perfekt organisiert nach rationalen Gesichtspunkten die den Wert des

Menschen auf seinen Materialwert bezifferten

In der zweiten Haumllfte des 20 Jahrhunderts entstehen die modernen kapitalistischen westlichen

Gesellschaften auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten Das Individuum tritt

als Buumlrger und Konsument als Waumlhler und als Arbeitnehmer auf Wohlstand und weitere Ratio-

nalisierung halten Einzug Im konkurrierenden Ostblock soll ein dogmatischer Sozialismus die

Lehren von Karl Marx verwirklichen Die Verfolgung von sog Abweichlern von der Parteilinie

autoritaumlre Regimes und Mangel an Freiheit sind jedoch die Folge

227 Das Menschenbild des Grundgesetzes

Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveraumlnen Individuums das

Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemein-

schaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden ohne dabei deren

Eigenwert anzutasten Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art 1 2 12 19

und 20 GG Dies heiszligt aber der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfrei-

heit gefallen lassen die der Gesetzgeber zur Pflege und Foumlrderung des sozialen Zusammenlebens

in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht vorausgesetzt

dass dabei die Eigenstaumlndigkeit der Person gewahrt bleibt (BVerfGE 4 7 15 f)

228 Postmoderne

Der Existenzialismus als populaumlre Denkschule der Avantgarde der 50er entwirft ein Bild vom

modernen Menschen der in eine sinnlose Welt geworfen ist Sinn muss von ihm selbst gestiftet

werden

Mit der Studentenbewegung von 1968 mit Umbruumlchen wie der machtvollen Popkultur haumllt wie-

derum ein neues Menschenbild Einzug Die 68er protestieren gegen eine vermeintlich erstarrte

Gesellschaft in West wie Ost eine Technokratie die dem Individuum keinen Raum einraumlumt

sondern angepasstes Verhalten verlangt Irrationale Seiten des Menschen wie Phantasie werden

von den 68ern dagegengehalten Esoterik Utopien aber auch Kunst und Kultur sind dabei Aus-

druck dieser Haltung

In der Philosophie entwerfen Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jacques Derrida Grundzuumlge

einer neuen Philosophie des Menschen Sie wenden sich gegen die scheinbar selbstverstaumlndlichen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Eindeutigkeiten binaumlren Entscheidungen Festschreibungen die das Denken uumlber Mensch und

Welt bisher praumlgten

Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom Nebeneinander einer Vielzahl von Ansichten uumlber den

Menschen von divergierenden neuen und alten Lebensstilen Gemein ist ihnen jedoch zumeist

der Wille zu Pluralismus und Toleranz Die Oumlkologie-Bewegung entwirft in den 70ern und 80ern

ein ganzheitliches Menschenbild bei dem besonders das Eingebundensein des Menschen in die

Natur betont wird Jugendbewegungen wie Punk oder New Wave propagieren einen melancholi-

schen bis pessimistisch-nihilistischen Blick auf den Menschen

23 Was macht den Menschen aus

231 Mensch und Tier

Im europaumlischen Weltbild scheint die Abgrenzung zum Tier eindeutig zu sein In anderen Kultu-

ren jedoch erfolgt die Abgrenzung anders In einigen suumldostasiatischen Sprachen beispielsweise

werden die Menschenaffen zu den Menschen gerechnet Orang Utan ist der Waldmensch und

Orang Asli ein Einheimischer Alle sind Menschen Umgekehrt werden gelegentlich voumlllig ande-

re Menschen nicht zu den Menschen gerechnet In Brasilien kommt es vor dass die dortigen Ur-

einwohner als bdquoWaldtiereldquo bezeichnet werden

In der klassischen Philosophie und im christlichen Menschenbild kommt dem Menschen auf-

grund seiner geistigen Seele (Geist) eine eindeutig herausgehobene Stellung gegenuumlber den Tie-

ren zu denn der Mensch gilt als Ebenbild Gottes (Gen 1 26-27) und ihm steht es zu uumlber die

Tiere wie die gesamte Schoumlpfung zu herrschen (Gen 1 28) Das moderne naturwissenschaftliche

Menschenbild verneint dagegen einen systematischen Unterschied zwischen Mensch und Tier

Haumlufig schmuumlcken sich jedoch in vielen Kulturen Menschen mit Bezeichnungen von Tieren Ad-

ler Loumlwe Fuchs Wolf usw sind beliebte Selbstbezeichnungen wie auch anhand von Vornamen

und Titeln erkennbar ist Analog gibt es Bezeichnungen die abwertend gesehen werden wie z B

Schwein Sau Ratte Hund Esel Manche Tiere wie z B Kamel werden in einigen Kulturkreisen

anerkennend in anderen abwertend gebraucht Wo der Unterschied zwischen Mensch und Tier

besonders betont wird werden Tiervergleiche uumlberhaupt nicht gerne gesehen

Teilweise umstritten sind die Bezeichnungen human (woumlrtlich menschlich) und bestialisch

(woumlrtlich tierisch) Hier wird unterstellt dass der Mensch mild waumlre waumlhrend das Tier roh ist

Haumlufig werden aber Handlungsweisen des Menschen als bestialisch bezeichnet die beim Tier

kaum oder gar nicht vorkommen Umgekehrt wird mit human haumlufig eine Verhaltensweise be-

zeichnet die bei Tieren in analoger Form vorkommen

Kritische Literatur zu dieser Problematik

Jobst Paul (2004) Das bdquoTierldquo - Konstrukt - und die Geburt des Rassismus Zur kulturellen Ge-

genwart eines vernichtenden Arguments ISBN 3-89771-731-X

232 Mensch geschlechtsspezifisch

Noch bis ins 19 Jahrhundert wurde in der Theologie aber auch in den Wissenschaften und der

Politik daruumlber debattiert ob Frauen als Menschen zu gelten haben oder nicht und wenn ja ob sie

bdquovollwertigeldquo Menschen seien oder nur eine minderwertige Sonderform

233 Entmenschlichung

Menschen mit Aussehen Verhalten oder Lebensweisen die nicht der Norm entsprachen etwa

geistiger Behinderung wurde gelegentlich das Attribut bdquoMenschldquo abgesprochen man spricht

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des

Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus

wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung

ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam

bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der

Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form

als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-

chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile

(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)

Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-

menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-

ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-

tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-

ziefer belegt

Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht

man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort

wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als

bdquotypisch menschlichldquo betrachtet

In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive

Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen

um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-

tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten

Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib

Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung

als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht

in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-

misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-

bracht wird Penner

Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-

chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt

234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein

Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme

ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-

tragen bekommen kann

Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern

ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-

katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das

Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-

schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen

keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und

mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den

Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-

ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger

Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt

Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-

ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal

uumlberlassen

235 Wann endet der Mensch

Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-

tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-

tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem

Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen

der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber

fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-

nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen

koumlnnen

24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille

Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind

ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung

des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula

rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-

ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen

Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung

von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-

den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-

weltbeeinflussung

Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion

uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch

Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der

Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass

der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt

Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung

In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von

einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann

muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht

angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren

Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und

versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-

keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-

scheint

Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-

de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei

bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die

man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit

der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-

tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt

gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-

cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-

muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-

einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann

die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung

Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt

voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch

Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-

zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen

25 Gleichheit oder Ungleichheit

Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das

Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon

rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in

ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist

Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-

ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-

schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob

die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen

Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen

26 Psychologie der Menschenbilder

261 Definition

Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von

Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele

sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen

oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-

ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-

pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-

entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-

scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen

unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich

den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und

Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und

bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist

das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-

theorien und Weltanschauungen ausmacht

Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-

tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-

freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-

ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-

hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-

pretationen der Welt

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

262 Psychologie der Menschenbilder

In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-

theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-

benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften

(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich

Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die

wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-

trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu

den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-

schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-

schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-

pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-

renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen

Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-

duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um

sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-

gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen

christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene

Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen

Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-

renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und

durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-

Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie

die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht

ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen

263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien

Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-

scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde

Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-

genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-

sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in

ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-

ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum

noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-

rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein

klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen

und Sinnfragen aus

Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-

mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-

den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen

Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-

tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt

bzw systematisches gesichertes Wissen

- 11 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder

Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch

eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-

mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier

als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-

schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-

praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach

Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde

liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-

schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine

wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes

Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-

che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-

rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-

gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen

Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle

Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung

zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-

schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-

rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch

psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte

Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-

haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind

die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie

Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-

lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch

ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-

teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung

265 Erkundung des Menschenbildes

Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch

durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-

gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-

psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch

fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-

len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde

ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-

fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden

der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von

Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-

se auf das Menschenbild geben

Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen

waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen

religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung

von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-

nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-

- 12 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die

Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte

Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-

schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie

unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-

sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie

Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-

sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-

tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-

logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben

266 Menschenbilder in der Psychotherapie

Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-

schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und

pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen

uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-

rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der

bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-

kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-

rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-

graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung

Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen

richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie

auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie

der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In

wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die

Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden

267 Weitere Modelle

Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der

Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)

Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)

Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)

Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-

gicus)

Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen

nach Charles Elworthy)

Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)

Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)

Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)

Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3

3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt

Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer

Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn

versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung

betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten

- 13 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)

hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-

traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge

31 Definition und Bedeutung

Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational

handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende

Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4

Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur

Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-

resse des Menschen5

Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten

erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-

treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden

wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder

Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten

wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig

beschreiben

Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw

einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung

bezeichnet

32 Begriffsgeschichte

Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-

tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten

Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-

nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform

des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-

ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles

wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-

nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die

Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7

33 Kritik und neuere Ansaumltze

Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-

maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-

reitschaft und Kooperation wider

4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-

versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)

5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X

6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage

Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76

- 14 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus

in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter

gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-

nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-

ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung

des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig

erweitert

In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden

Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-

tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen

Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-

nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich

irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo

von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert

sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-

den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung

eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)

Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-

schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-

onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu

fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet

Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie

auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-

oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts

(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-

ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig

auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-

barldquo[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein

theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-

genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-

genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]

Der Oumlkonom

Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-

munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-

leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-

trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-

8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml

9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-

ka] 2005 (PDF 688 KB)

- 15 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12

Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13

Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am

Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump

Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven

Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15

Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16

Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-

furt-New York-Paris 1993 31-62

- 16 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Page 2: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Inhaltsverzeichnis

1 Hinfuumlhrung - 2 -

2 Menschenbilder - 3 - 22 Abgrenzung Wer ist Mensch und wer nicht - 3 - 22 Das Bild vom Menschen im Laufe der Geschichte - 3 -

221 Vorzeit - 3 - 222 Schoumlpfung - 3 -

223 Mensch und Gottheit - 3 - 224 Mittelalter - 4 - 225 Das Menschenbild der Aufklaumlrung - 4 -

226 Moderne - 5 - 227 Das Menschenbild des Grundgesetzes - 5 - 228 Postmoderne - 5 -

23 Was macht den Menschen aus - 6 -

231 Mensch und Tier - 6 - 232 Mensch geschlechtsspezifisch - 6 -

233 Entmenschlichung - 6 - 234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein - 7 -

235 Wann endet der Mensch - 8 - 24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille - 8 - 25 Gleichheit oder Ungleichheit - 9 -

26 Psychologie der Menschenbilder - 9 -

261 Definition - 9 - 262 Psychologie der Menschenbilder - 10 - 263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien - 10 -

264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder - 11 - 265 Erkundung des Menschenbildes - 11 - 266 Menschenbilder in der Psychotherapie - 12 -

267 Weitere Modelle - 12 - 3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo) - 13 -

31 Definition und Bedeutung - 13 -

32 Begriffsgeschichte - 13 -

33 Kritik und neuere Ansaumltze - 13 -

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen - 14 - 35 Homo oeconomicus in der Theologie - 15 - 36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften - 15 - 4 Der Siegeszug des Utilitarismus - 16 - 5 Oumlkonomisierung der Medizin - 19 -

51 Verschiebungen - 19 - 511 bdquoGesundheitldquo - 19 - 512 Krankheit - 20 - 513 Therapie - 20 -

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik - 22 -

6 Thesen und Forderungen - 24 - 7 Literatur - 25 -

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

1 Hinfuumlhrung

Die Klage daruumlber dass immer mehr Lebensbereiche von Kostenfragen uumlberschattet werden ist allge-

genwaumlrtig Das Leitmotiv unserer Epoche scheint sich in dem Satz zu buumlndeln Es muss sich rechnen

Absichten und Handlungen werden danach beurteilt wie und ob sie Kosten einsparen bzw Gewinne

generieren Rote Zahlen zu erwirtschaften gilt als Teufelswerk ndash eine Null ist gerade noch so hinzu-

nehmen

Solche Art von Oumlkonomisierung hat nun schon seit laumlngerer Zeit auch die Krankenhaumluser erreicht

Mitarbeiter Patienten und Angehoumlrige beklagen dass die Frage nach der Wirtschaftlichkeit nicht nur

bisherige medizinische1 und pflegerische2 Standards durchdringt sondern sie zunehmend dominiert

Nun wird in den Debatten um die Rolle ethischer Orientierung in der Medizin oft eine Trennung von

Oumlkonomie und Ethik in der Weise vorgenommen dass beide als unvereinbar gelten Gerade so als

muumlssten sich Medizin und Pflege von oumlkonomischen Fragen fernhalten um ihrem Heilungsauftrag

gerecht werden zu koumlnnen Solch eine Polarisierung ist allerdings nicht hilfreich Oumlkonomisches

Denken muss nicht im Gegensatz zur Ethik stehen Ganz im Gegenteil kann sie sogar ein konstituti-

ver Bestandteil von Ethik sein Ohne oumlkonomisches Denken wuumlrde die Medizin viele Ressourcen

unnoumltig verbrauchen und es wuumlrde zu noch groumlszligeren Engpaumlssen kommen

Und doch ist die Allianz von Oumlkonomie und Medizin nur so lange nicht unheilvoll wie man versucht

sie in ein gutes Verhaumlltnis zueinander zu bringen Angesichts dessen dass der Patient auf den genuin

sozialen Charakter der Medizin angewiesen ist muumlsste das Verhaumlltnis von Oumlkonomie und Medizin

idealerweise so gestaltet werden dass die Ziele der Oumlkonomie in den Dienst der Ziele der Medizin

gestellt werden Die Oumlkonomie haumltte demnach der Medizin zu dienen

Das dieser Zustand von unserer Realitaumlt weit entfernt ist zeigen nicht nur die Auswuumlchse der so ge-

nannten bdquoFinanzkriseldquo Spaumltestens hier muss allen deutlich geworden sei dass nicht etwa Politik und

Fachwissenschaften das Geschehen regulieren sondern ein ungezuumlgelter Markt das Ruder uumlbernom-

men hat

Im Gesundheitswesen gegenzusteuern hieszlige Oumlkonomie und Ethik (wieder) miteinander zu versoumlhnen

und vielleicht als ersten Schritt miteinander ins Gespraumlch zu bringen Dazu sollen diese Gedanken

hier anregen

Ausgehend von einem Blick auf die verschiedenen Konzepte die uumlber das Wesen des Menschen er-

arbeitet worden sind soll mit den folgenden Gedanken Lust geweckt werden hier im KHS ethisches

Denken und Handeln auf allen Ebenen zu etablieren bzw zu staumlrken

1 Als Grundlage aumlrztlicher Entscheidungsfindungen und medizinischen Tuns galt (bisher) der aumlrztliche bzw medi-

zinische Heilungsauftrag Dieser Heilauftrag basiert auf Vorstellungen die ihre Wurzeln in juumldisch-hellenistisch-

christlicher Tradition haben und wird in unserem Kulturkreis durchweg akzeptiert auch von Aumlrzten und Pflegenden

die sich sonst den genannten Traditionen nicht verpflichtet fuumlhlen Der medizinische (dh aumlrztliche und pflegerische)

Heilauftrag wird in der Literatur folgendermaszligen beschrieben Leben erhalten - Krankheiten heilen (oder vermeiden)

- Leiden lindern In der englischsprachigen Literatur aumlhnlichbdquoBeneficienceldquo (zum Wohl des Kranken handeln) -

bdquoNon-maleficienceldquo (keinen Schaden verursachen das bdquonihil nocereldquo der hippokratischen Medizin) - bdquoJusticeldquo (Ge-

rechtigkeit walten lassen) - bdquoAutonomyldquo (den Willen des Kranken respektieren) Diese Kriterien werden heute er-

gaumlnzt durch bdquoDignitiyldquo (die Wuumlrde des Kranken beachten) und bdquoCareldquo (Fuumlrsorge dem Kranken gegenuumlber) 2 bdquoPflege ist eine Praxisdisziplin und hat die Aufgabe einzelne Menschen und Gruppen von Menschen verschiedenen

Geschlechts Alters und kultureller Praumlgung in ihrer Gesundheit zu foumlrdern und zu beraten sie waumlhrend einer Krank-

heit im Genesungsprozess zu unterstuumltzen oder in chronischen nicht heilbaren Stadien Wohlbefinden zu ermoumlgli-

chen und Schmerzen zu lindernldquo (Kuumlhne-Ponesch Modelle und Theorien in der Pflege 2004 11)

- 3 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

2 Menschenbilder

Menschenbild ist ein in der philosophischen Anthropologie gebraumluchlicher Begriff fuumlr die Vor-

stellung das Bild das jemand vom Wesen des Menschen hat Insofern der Mensch Teil der Welt

ist ist das Menschenbild auch Teil des Weltbildes Menschenbild wie Weltbild sind immer in

eine bestimmte Uumlberzeugung oder Lehre eingebunden die jemand vertritt So gibt es unter ande-

rem zum Beispiel ein christliches ein buddhistisches ein humanistisches oder ein darwinistisches

Menschen- und Weltbild

Dem Einzelnen erscheint das eigene Menschenbild haumlufig als so selbstverstaumlndlich dass er kaum

daruumlber nachdenkt dass man sich den Menschen auch anders vorstellen kann Trifft man auf ein

anderes Menschenbild so wird dieses haumlufig als falsch das eigene als richtig angesehen Hier

geht es nicht um die Klaumlrung von Streitfragen also nicht darum was richtig und was falsch ist

sondern welche unterschiedlichen Vorstellungen die Menschen in unterschiedlichen Kulturen

haben und zu unterschiedlichen Zeiten uumlber sich hatten und welche Implikationen daraus folgen

22 Abgrenzung Wer ist Mensch und wer nicht

Die Frage was ein Mensch ist und was nicht ist grundlegender und vor allem strittiger als ge-

meinhin angenommen (z B die Frage wann das Leben beginnt ob eine befruchtete Eizelle oder

ein Embryo bereits ein Mensch ist)

Die Differenzierung des Menschen erfolgt durch die Annahme dass der Mensch sowohl Instinkte

als auch die Faumlhigkeit besitzt uumlber sich selbst zu reflektieren Dadurch unterscheidet er sich (in

seinem Verhalten) von anderen Lebewesen

22 Das Bild vom Menschen im Laufe der Geschichte

221 Vorzeit

Uumlber Menschenbild und Selbstverstaumlndnis des Menschen der Vorzeit ist wenig bekannt aller-

dings existieren kuumlnstlerische wohl religioumlse Zeugnisse wie Abbildungen von Menschen und

Goumlttern Nachgewiesene Begraumlbnis-Riten weisen auf Vorstellungen vom Jenseits und Sorge um

die Verstorbenen hin Religioumlse Vorstellungen waren wahrscheinlich animistisch inspiriert Re-

praumlsentativ fuumlr diese Phase ist der Schamanismus

222 Schoumlpfung

In fast allen Gesellschaften existieren Mythen der Schoumlpfung die Hinweise auf Weltbild aber

auch auf das Selbstverstaumlndnis der Menschen liefern

223 Mensch und Gottheit

In der griechischen und roumlmischen Antike wie auch im Zweistromland existiert eine Vielzahl von

Goumlttern die den Menschen uumlberlegen sind aber ihnen auch aumlhneln Der Mensch wird im Gegen-

satz zu den Goumlttern als sterblich angesehen weshalb bdquodie Sterblichenldquo als Umschreibung fuumlr

Menschen benutzt wurde Menschen und Goumltter pflegen untereinander und miteinander eine

Vielzahl von Lieb- oder Feindschaften und sind gleichermaszligen in Leidenschaften verstrickt (sie-

he z B die Sage von Odysseus) Ansonsten ist das Menschenbild der Antike auch durch Sklave-

rei Ungerechtigkeit und Ungleichheit gepraumlgt In Athen und spaumlter auch in Rom finden sich

zwar Ansaumltze der Demokratie Diese ist jedoch immer auf die sog Freien (vgl Oberschicht) be-

grenzt Die Philosophie erbluumlht in der Antike es werden weitreichende Betrachtungen uumlber den

Menschen und die Gesellschaft angestellt auf die man sich teilweise noch heute bezieht

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Im Monotheismus ist die Trennung zwischen Mensch und Gott weitaus praumlgnanter Der alleinige

Gott duldet keine weiteren Goumltter neben sich und verlangt nach Erfuumlllung seines Willens z B

Opfer (siehe Altes Testament)

Der Unterschied zwischen Mensch und Gott (Monotheismus)Goumlttern wird in religioumls gepraumlgten

Gesellschaft darin gesehen dass ein Gott das Uumlberwesen ist das - selber anderen keinen oder

undurchschaubaren Regeln unterworfen - den Menschen uumlberhaupt erst geschaffen hat das ihn

(wie z B im Christentum oder Islam) einst richten wird und das in der Zwischenzeit jede Macht

hat das Leben des Menschen auch existenziell zu beeinflussen Der Mensch erscheint - beson-

ders im Monotheismus - als abhaumlngig von Gott Im Christentum bekommt hierbei der Begriff der

Suumlnde etwa im Verhaumlltnis zum freien Willen groszlige Bedeutung

In verschiedenen Kulturen konnten Menschen zu Goumlttern werden und wurden auch als solche

verehrt Weltliche Herrscher wie manche der Pharaonen oder solche in den mittelamerikanischen

Kulturen der Maya oder Azteken beanspruchten als Menschen gleichzeitig Goumltter zu sein Herr-

scher uumlber Himmel und Erde Die Konquistadoren aus Europa wurden von den Indianern zu-

naumlchst als Goumltter wahrgenommen die alte Prophezeiungen erfuumlllten

Bei den Voodoo-Kulten und vergleichbaren Naturreligionen etwa in Afrika oder der Karibik ge-

raten (auch heute) gewoumlhnliche Menschen in Trance und Gottheiten ergreifen von ihnen zeitwei-

se Besitz sprechen durch sie oder druumlcken sich in Bewegungen und Handlungen aus

Im asiatischen Kulturkreis uumlberwiegt im Unterschied zu christlich gepraumlgten Gesellschaften eine

buddhistisch beeinflusste Sicht des Menschen die dadurch gekennzeichnet ist dass Gott und

Mensch in eins fallen Schoumlpfer und Geschoumlpf existieren nicht unabhaumlngig voneinander Gott

druumlckt sich als alles durchdringende Lebenskraft in der Schoumlpfung aus Aus diesem Grund hat der

Begriff bdquoGottldquo im Buddhismus keine Bedeutung da bdquoGottldquo im wesentlichen eine Abgrenzung

zum Menschen ausdruumlckt Fuumlr das Menschenbild hat diese Sicht entscheidende Bedeutung da sie

den Menschen auf sich selbst und die ihn umgebende Schoumlpfung zuruumlckwirft Er ist keinem au-

szligerhalb von sich befindlichen Uumlberwesen Rechenschaft schuldig (wie im Judentum Christentum

und Islam) sondern hat sein Tun und Lassen allein vor sich selbst zu verantworten Jede Aus-

uumlbung einer Wirkung auf die Umwelt kommt einer Auswirkung auf das eigene Selbst gleich da

das Schoumlpferische im Menschen (Gott) und der Mensch als Teil der Welt nicht voneinander ver-

schieden sind (vgl auch Pantheismus)

224 Mittelalter

Das Mittelalter ist gepraumlgt vom Glauben und vom Aberglauben von der Hinnahme des eigenen

Schicksals vom Fatalismus und der Furcht vor der Houmllle aber auch von der Wiederentdeckung

des Wissens der Antike in den Bibliotheken der Kloumlster Handel mit dem Orient bietet die Moumlg-

lichkeit der Verbreitung von Wissen und Erfindungen Die Kreuzzuumlge sollen die Uumlberlegenheit

des christlichen Glaubens demonstrieren weltliche und kirchliche Macht und Rechtsprechung

gehen Hand in Hand Die Herrschaft des Adels wird als gottgewollt dargestellt Ungleichheit

zwischen den Menschen meist hingenommen (siehe aber auch Habeas Corpus)

225 Das Menschenbild der Aufklaumlrung

Der Humanismus stellt einen Bruch mit den vormaligen Vorstellungen dar im Zentrum steht nun

der Mensch das Individuum Die Philosophie der Aufklaumlrung erreicht eine Synthese von antiken

und neueren Vorstellungen vom Menschen Das Licht der Aufklaumlrung soll dem vernunftbegabten

Menschen ermoumlglichen alten Aberglauben abzulegen sich selbst zu erkennen seine eigenen

Belange und die der Gesellschaft vernuumlnftig zu regeln Das naturwissenschaftlich-rationale Den-

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

ken haumllt Einzug Das Buumlrgertum uumlberwindet in Folge der franzoumlsischen Revolution die Herrschaft

von Kirche und Adel und entwickelt ein neues Selbstverstaumlndnis das sich in Kultur und Politik

niederschlaumlgt

226 Moderne

Die Industrialisierung muumlndet in die Moderne Die Moderne ist (in ihrer Selbstwahrnehmung)

gepraumlgt von technischen Erfindungen kulturellen Revolutionen und Fortschritt Saumlkularisierung

politisch von Marxismus Emanzipation von Frauen und der Arbeiterbewegung Liberalismus

Faschismus und den Katastrophen der beiden Weltkriege

Max Weber analysiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus die oumlkonomi-

schen Prozesse der Industriegesellschaft die zeitgenoumlssische Arbeitsethik ihre Verankerung im

Protestantismus In ihrem beruumlhmten Werk Dialektik der Aufklaumlrung kritisieren die Philosophen

Theodor W Adorno und Horkheimer die Unmenschlichkeiten des Nazi-Regimes und anderer

Systeme als Folge des uumlberbetont rationalen Denkens der Aufklaumlrung Die Konzentrationslager

funktionierten technisch perfekt organisiert nach rationalen Gesichtspunkten die den Wert des

Menschen auf seinen Materialwert bezifferten

In der zweiten Haumllfte des 20 Jahrhunderts entstehen die modernen kapitalistischen westlichen

Gesellschaften auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten Das Individuum tritt

als Buumlrger und Konsument als Waumlhler und als Arbeitnehmer auf Wohlstand und weitere Ratio-

nalisierung halten Einzug Im konkurrierenden Ostblock soll ein dogmatischer Sozialismus die

Lehren von Karl Marx verwirklichen Die Verfolgung von sog Abweichlern von der Parteilinie

autoritaumlre Regimes und Mangel an Freiheit sind jedoch die Folge

227 Das Menschenbild des Grundgesetzes

Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveraumlnen Individuums das

Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemein-

schaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden ohne dabei deren

Eigenwert anzutasten Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art 1 2 12 19

und 20 GG Dies heiszligt aber der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfrei-

heit gefallen lassen die der Gesetzgeber zur Pflege und Foumlrderung des sozialen Zusammenlebens

in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht vorausgesetzt

dass dabei die Eigenstaumlndigkeit der Person gewahrt bleibt (BVerfGE 4 7 15 f)

228 Postmoderne

Der Existenzialismus als populaumlre Denkschule der Avantgarde der 50er entwirft ein Bild vom

modernen Menschen der in eine sinnlose Welt geworfen ist Sinn muss von ihm selbst gestiftet

werden

Mit der Studentenbewegung von 1968 mit Umbruumlchen wie der machtvollen Popkultur haumllt wie-

derum ein neues Menschenbild Einzug Die 68er protestieren gegen eine vermeintlich erstarrte

Gesellschaft in West wie Ost eine Technokratie die dem Individuum keinen Raum einraumlumt

sondern angepasstes Verhalten verlangt Irrationale Seiten des Menschen wie Phantasie werden

von den 68ern dagegengehalten Esoterik Utopien aber auch Kunst und Kultur sind dabei Aus-

druck dieser Haltung

In der Philosophie entwerfen Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jacques Derrida Grundzuumlge

einer neuen Philosophie des Menschen Sie wenden sich gegen die scheinbar selbstverstaumlndlichen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Eindeutigkeiten binaumlren Entscheidungen Festschreibungen die das Denken uumlber Mensch und

Welt bisher praumlgten

Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom Nebeneinander einer Vielzahl von Ansichten uumlber den

Menschen von divergierenden neuen und alten Lebensstilen Gemein ist ihnen jedoch zumeist

der Wille zu Pluralismus und Toleranz Die Oumlkologie-Bewegung entwirft in den 70ern und 80ern

ein ganzheitliches Menschenbild bei dem besonders das Eingebundensein des Menschen in die

Natur betont wird Jugendbewegungen wie Punk oder New Wave propagieren einen melancholi-

schen bis pessimistisch-nihilistischen Blick auf den Menschen

23 Was macht den Menschen aus

231 Mensch und Tier

Im europaumlischen Weltbild scheint die Abgrenzung zum Tier eindeutig zu sein In anderen Kultu-

ren jedoch erfolgt die Abgrenzung anders In einigen suumldostasiatischen Sprachen beispielsweise

werden die Menschenaffen zu den Menschen gerechnet Orang Utan ist der Waldmensch und

Orang Asli ein Einheimischer Alle sind Menschen Umgekehrt werden gelegentlich voumlllig ande-

re Menschen nicht zu den Menschen gerechnet In Brasilien kommt es vor dass die dortigen Ur-

einwohner als bdquoWaldtiereldquo bezeichnet werden

In der klassischen Philosophie und im christlichen Menschenbild kommt dem Menschen auf-

grund seiner geistigen Seele (Geist) eine eindeutig herausgehobene Stellung gegenuumlber den Tie-

ren zu denn der Mensch gilt als Ebenbild Gottes (Gen 1 26-27) und ihm steht es zu uumlber die

Tiere wie die gesamte Schoumlpfung zu herrschen (Gen 1 28) Das moderne naturwissenschaftliche

Menschenbild verneint dagegen einen systematischen Unterschied zwischen Mensch und Tier

Haumlufig schmuumlcken sich jedoch in vielen Kulturen Menschen mit Bezeichnungen von Tieren Ad-

ler Loumlwe Fuchs Wolf usw sind beliebte Selbstbezeichnungen wie auch anhand von Vornamen

und Titeln erkennbar ist Analog gibt es Bezeichnungen die abwertend gesehen werden wie z B

Schwein Sau Ratte Hund Esel Manche Tiere wie z B Kamel werden in einigen Kulturkreisen

anerkennend in anderen abwertend gebraucht Wo der Unterschied zwischen Mensch und Tier

besonders betont wird werden Tiervergleiche uumlberhaupt nicht gerne gesehen

Teilweise umstritten sind die Bezeichnungen human (woumlrtlich menschlich) und bestialisch

(woumlrtlich tierisch) Hier wird unterstellt dass der Mensch mild waumlre waumlhrend das Tier roh ist

Haumlufig werden aber Handlungsweisen des Menschen als bestialisch bezeichnet die beim Tier

kaum oder gar nicht vorkommen Umgekehrt wird mit human haumlufig eine Verhaltensweise be-

zeichnet die bei Tieren in analoger Form vorkommen

Kritische Literatur zu dieser Problematik

Jobst Paul (2004) Das bdquoTierldquo - Konstrukt - und die Geburt des Rassismus Zur kulturellen Ge-

genwart eines vernichtenden Arguments ISBN 3-89771-731-X

232 Mensch geschlechtsspezifisch

Noch bis ins 19 Jahrhundert wurde in der Theologie aber auch in den Wissenschaften und der

Politik daruumlber debattiert ob Frauen als Menschen zu gelten haben oder nicht und wenn ja ob sie

bdquovollwertigeldquo Menschen seien oder nur eine minderwertige Sonderform

233 Entmenschlichung

Menschen mit Aussehen Verhalten oder Lebensweisen die nicht der Norm entsprachen etwa

geistiger Behinderung wurde gelegentlich das Attribut bdquoMenschldquo abgesprochen man spricht

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des

Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus

wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung

ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam

bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der

Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form

als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-

chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile

(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)

Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-

menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-

ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-

tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-

ziefer belegt

Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht

man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort

wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als

bdquotypisch menschlichldquo betrachtet

In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive

Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen

um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-

tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten

Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib

Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung

als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht

in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-

misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-

bracht wird Penner

Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-

chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt

234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein

Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme

ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-

tragen bekommen kann

Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern

ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-

katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das

Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-

schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen

keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und

mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den

Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-

ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger

Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt

Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-

ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal

uumlberlassen

235 Wann endet der Mensch

Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-

tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-

tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem

Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen

der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber

fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-

nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen

koumlnnen

24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille

Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind

ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung

des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula

rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-

ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen

Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung

von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-

den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-

weltbeeinflussung

Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion

uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch

Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der

Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass

der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt

Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung

In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von

einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann

muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht

angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren

Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und

versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-

keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-

scheint

Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-

de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei

bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die

man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit

der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-

tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt

gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-

cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-

muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-

einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann

die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung

Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt

voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch

Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-

zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen

25 Gleichheit oder Ungleichheit

Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das

Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon

rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in

ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist

Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-

ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-

schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob

die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen

Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen

26 Psychologie der Menschenbilder

261 Definition

Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von

Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele

sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen

oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-

ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-

pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-

entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-

scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen

unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich

den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und

Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und

bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist

das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-

theorien und Weltanschauungen ausmacht

Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-

tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-

freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-

ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-

hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-

pretationen der Welt

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

262 Psychologie der Menschenbilder

In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-

theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-

benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften

(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich

Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die

wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-

trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu

den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-

schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-

schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-

pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-

renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen

Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-

duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um

sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-

gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen

christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene

Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen

Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-

renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und

durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-

Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie

die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht

ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen

263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien

Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-

scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde

Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-

genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-

sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in

ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-

ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum

noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-

rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein

klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen

und Sinnfragen aus

Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-

mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-

den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen

Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-

tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt

bzw systematisches gesichertes Wissen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder

Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch

eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-

mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier

als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-

schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-

praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach

Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde

liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-

schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine

wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes

Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-

che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-

rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-

gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen

Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle

Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung

zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-

schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-

rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch

psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte

Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-

haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind

die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie

Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-

lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch

ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-

teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung

265 Erkundung des Menschenbildes

Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch

durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-

gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-

psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch

fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-

len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde

ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-

fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden

der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von

Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-

se auf das Menschenbild geben

Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen

waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen

religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung

von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-

nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-

- 12 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die

Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte

Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-

schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie

unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-

sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie

Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-

sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-

tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-

logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben

266 Menschenbilder in der Psychotherapie

Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-

schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und

pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen

uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-

rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der

bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-

kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-

rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-

graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung

Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen

richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie

auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie

der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In

wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die

Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden

267 Weitere Modelle

Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der

Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)

Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)

Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)

Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-

gicus)

Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen

nach Charles Elworthy)

Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)

Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)

Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)

Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3

3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt

Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer

Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn

versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung

betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten

- 13 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)

hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-

traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge

31 Definition und Bedeutung

Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational

handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende

Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4

Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur

Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-

resse des Menschen5

Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten

erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-

treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden

wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder

Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten

wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig

beschreiben

Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw

einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung

bezeichnet

32 Begriffsgeschichte

Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-

tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten

Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-

nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform

des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-

ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles

wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-

nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die

Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7

33 Kritik und neuere Ansaumltze

Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-

maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-

reitschaft und Kooperation wider

4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-

versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)

5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X

6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage

Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76

- 14 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus

in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter

gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-

nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-

ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung

des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig

erweitert

In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden

Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-

tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen

Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-

nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich

irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo

von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert

sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-

den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung

eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)

Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-

schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-

onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu

fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet

Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie

auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-

oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts

(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-

ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig

auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-

barldquo[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein

theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-

genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-

genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]

Der Oumlkonom

Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-

munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-

leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-

trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-

8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml

9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-

ka] 2005 (PDF 688 KB)

- 15 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12

Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13

Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am

Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump

Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven

Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15

Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16

Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-

furt-New York-Paris 1993 31-62

- 16 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Page 3: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

- 2 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

1 Hinfuumlhrung

Die Klage daruumlber dass immer mehr Lebensbereiche von Kostenfragen uumlberschattet werden ist allge-

genwaumlrtig Das Leitmotiv unserer Epoche scheint sich in dem Satz zu buumlndeln Es muss sich rechnen

Absichten und Handlungen werden danach beurteilt wie und ob sie Kosten einsparen bzw Gewinne

generieren Rote Zahlen zu erwirtschaften gilt als Teufelswerk ndash eine Null ist gerade noch so hinzu-

nehmen

Solche Art von Oumlkonomisierung hat nun schon seit laumlngerer Zeit auch die Krankenhaumluser erreicht

Mitarbeiter Patienten und Angehoumlrige beklagen dass die Frage nach der Wirtschaftlichkeit nicht nur

bisherige medizinische1 und pflegerische2 Standards durchdringt sondern sie zunehmend dominiert

Nun wird in den Debatten um die Rolle ethischer Orientierung in der Medizin oft eine Trennung von

Oumlkonomie und Ethik in der Weise vorgenommen dass beide als unvereinbar gelten Gerade so als

muumlssten sich Medizin und Pflege von oumlkonomischen Fragen fernhalten um ihrem Heilungsauftrag

gerecht werden zu koumlnnen Solch eine Polarisierung ist allerdings nicht hilfreich Oumlkonomisches

Denken muss nicht im Gegensatz zur Ethik stehen Ganz im Gegenteil kann sie sogar ein konstituti-

ver Bestandteil von Ethik sein Ohne oumlkonomisches Denken wuumlrde die Medizin viele Ressourcen

unnoumltig verbrauchen und es wuumlrde zu noch groumlszligeren Engpaumlssen kommen

Und doch ist die Allianz von Oumlkonomie und Medizin nur so lange nicht unheilvoll wie man versucht

sie in ein gutes Verhaumlltnis zueinander zu bringen Angesichts dessen dass der Patient auf den genuin

sozialen Charakter der Medizin angewiesen ist muumlsste das Verhaumlltnis von Oumlkonomie und Medizin

idealerweise so gestaltet werden dass die Ziele der Oumlkonomie in den Dienst der Ziele der Medizin

gestellt werden Die Oumlkonomie haumltte demnach der Medizin zu dienen

Das dieser Zustand von unserer Realitaumlt weit entfernt ist zeigen nicht nur die Auswuumlchse der so ge-

nannten bdquoFinanzkriseldquo Spaumltestens hier muss allen deutlich geworden sei dass nicht etwa Politik und

Fachwissenschaften das Geschehen regulieren sondern ein ungezuumlgelter Markt das Ruder uumlbernom-

men hat

Im Gesundheitswesen gegenzusteuern hieszlige Oumlkonomie und Ethik (wieder) miteinander zu versoumlhnen

und vielleicht als ersten Schritt miteinander ins Gespraumlch zu bringen Dazu sollen diese Gedanken

hier anregen

Ausgehend von einem Blick auf die verschiedenen Konzepte die uumlber das Wesen des Menschen er-

arbeitet worden sind soll mit den folgenden Gedanken Lust geweckt werden hier im KHS ethisches

Denken und Handeln auf allen Ebenen zu etablieren bzw zu staumlrken

1 Als Grundlage aumlrztlicher Entscheidungsfindungen und medizinischen Tuns galt (bisher) der aumlrztliche bzw medi-

zinische Heilungsauftrag Dieser Heilauftrag basiert auf Vorstellungen die ihre Wurzeln in juumldisch-hellenistisch-

christlicher Tradition haben und wird in unserem Kulturkreis durchweg akzeptiert auch von Aumlrzten und Pflegenden

die sich sonst den genannten Traditionen nicht verpflichtet fuumlhlen Der medizinische (dh aumlrztliche und pflegerische)

Heilauftrag wird in der Literatur folgendermaszligen beschrieben Leben erhalten - Krankheiten heilen (oder vermeiden)

- Leiden lindern In der englischsprachigen Literatur aumlhnlichbdquoBeneficienceldquo (zum Wohl des Kranken handeln) -

bdquoNon-maleficienceldquo (keinen Schaden verursachen das bdquonihil nocereldquo der hippokratischen Medizin) - bdquoJusticeldquo (Ge-

rechtigkeit walten lassen) - bdquoAutonomyldquo (den Willen des Kranken respektieren) Diese Kriterien werden heute er-

gaumlnzt durch bdquoDignitiyldquo (die Wuumlrde des Kranken beachten) und bdquoCareldquo (Fuumlrsorge dem Kranken gegenuumlber) 2 bdquoPflege ist eine Praxisdisziplin und hat die Aufgabe einzelne Menschen und Gruppen von Menschen verschiedenen

Geschlechts Alters und kultureller Praumlgung in ihrer Gesundheit zu foumlrdern und zu beraten sie waumlhrend einer Krank-

heit im Genesungsprozess zu unterstuumltzen oder in chronischen nicht heilbaren Stadien Wohlbefinden zu ermoumlgli-

chen und Schmerzen zu lindernldquo (Kuumlhne-Ponesch Modelle und Theorien in der Pflege 2004 11)

- 3 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

2 Menschenbilder

Menschenbild ist ein in der philosophischen Anthropologie gebraumluchlicher Begriff fuumlr die Vor-

stellung das Bild das jemand vom Wesen des Menschen hat Insofern der Mensch Teil der Welt

ist ist das Menschenbild auch Teil des Weltbildes Menschenbild wie Weltbild sind immer in

eine bestimmte Uumlberzeugung oder Lehre eingebunden die jemand vertritt So gibt es unter ande-

rem zum Beispiel ein christliches ein buddhistisches ein humanistisches oder ein darwinistisches

Menschen- und Weltbild

Dem Einzelnen erscheint das eigene Menschenbild haumlufig als so selbstverstaumlndlich dass er kaum

daruumlber nachdenkt dass man sich den Menschen auch anders vorstellen kann Trifft man auf ein

anderes Menschenbild so wird dieses haumlufig als falsch das eigene als richtig angesehen Hier

geht es nicht um die Klaumlrung von Streitfragen also nicht darum was richtig und was falsch ist

sondern welche unterschiedlichen Vorstellungen die Menschen in unterschiedlichen Kulturen

haben und zu unterschiedlichen Zeiten uumlber sich hatten und welche Implikationen daraus folgen

22 Abgrenzung Wer ist Mensch und wer nicht

Die Frage was ein Mensch ist und was nicht ist grundlegender und vor allem strittiger als ge-

meinhin angenommen (z B die Frage wann das Leben beginnt ob eine befruchtete Eizelle oder

ein Embryo bereits ein Mensch ist)

Die Differenzierung des Menschen erfolgt durch die Annahme dass der Mensch sowohl Instinkte

als auch die Faumlhigkeit besitzt uumlber sich selbst zu reflektieren Dadurch unterscheidet er sich (in

seinem Verhalten) von anderen Lebewesen

22 Das Bild vom Menschen im Laufe der Geschichte

221 Vorzeit

Uumlber Menschenbild und Selbstverstaumlndnis des Menschen der Vorzeit ist wenig bekannt aller-

dings existieren kuumlnstlerische wohl religioumlse Zeugnisse wie Abbildungen von Menschen und

Goumlttern Nachgewiesene Begraumlbnis-Riten weisen auf Vorstellungen vom Jenseits und Sorge um

die Verstorbenen hin Religioumlse Vorstellungen waren wahrscheinlich animistisch inspiriert Re-

praumlsentativ fuumlr diese Phase ist der Schamanismus

222 Schoumlpfung

In fast allen Gesellschaften existieren Mythen der Schoumlpfung die Hinweise auf Weltbild aber

auch auf das Selbstverstaumlndnis der Menschen liefern

223 Mensch und Gottheit

In der griechischen und roumlmischen Antike wie auch im Zweistromland existiert eine Vielzahl von

Goumlttern die den Menschen uumlberlegen sind aber ihnen auch aumlhneln Der Mensch wird im Gegen-

satz zu den Goumlttern als sterblich angesehen weshalb bdquodie Sterblichenldquo als Umschreibung fuumlr

Menschen benutzt wurde Menschen und Goumltter pflegen untereinander und miteinander eine

Vielzahl von Lieb- oder Feindschaften und sind gleichermaszligen in Leidenschaften verstrickt (sie-

he z B die Sage von Odysseus) Ansonsten ist das Menschenbild der Antike auch durch Sklave-

rei Ungerechtigkeit und Ungleichheit gepraumlgt In Athen und spaumlter auch in Rom finden sich

zwar Ansaumltze der Demokratie Diese ist jedoch immer auf die sog Freien (vgl Oberschicht) be-

grenzt Die Philosophie erbluumlht in der Antike es werden weitreichende Betrachtungen uumlber den

Menschen und die Gesellschaft angestellt auf die man sich teilweise noch heute bezieht

- 4 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Im Monotheismus ist die Trennung zwischen Mensch und Gott weitaus praumlgnanter Der alleinige

Gott duldet keine weiteren Goumltter neben sich und verlangt nach Erfuumlllung seines Willens z B

Opfer (siehe Altes Testament)

Der Unterschied zwischen Mensch und Gott (Monotheismus)Goumlttern wird in religioumls gepraumlgten

Gesellschaft darin gesehen dass ein Gott das Uumlberwesen ist das - selber anderen keinen oder

undurchschaubaren Regeln unterworfen - den Menschen uumlberhaupt erst geschaffen hat das ihn

(wie z B im Christentum oder Islam) einst richten wird und das in der Zwischenzeit jede Macht

hat das Leben des Menschen auch existenziell zu beeinflussen Der Mensch erscheint - beson-

ders im Monotheismus - als abhaumlngig von Gott Im Christentum bekommt hierbei der Begriff der

Suumlnde etwa im Verhaumlltnis zum freien Willen groszlige Bedeutung

In verschiedenen Kulturen konnten Menschen zu Goumlttern werden und wurden auch als solche

verehrt Weltliche Herrscher wie manche der Pharaonen oder solche in den mittelamerikanischen

Kulturen der Maya oder Azteken beanspruchten als Menschen gleichzeitig Goumltter zu sein Herr-

scher uumlber Himmel und Erde Die Konquistadoren aus Europa wurden von den Indianern zu-

naumlchst als Goumltter wahrgenommen die alte Prophezeiungen erfuumlllten

Bei den Voodoo-Kulten und vergleichbaren Naturreligionen etwa in Afrika oder der Karibik ge-

raten (auch heute) gewoumlhnliche Menschen in Trance und Gottheiten ergreifen von ihnen zeitwei-

se Besitz sprechen durch sie oder druumlcken sich in Bewegungen und Handlungen aus

Im asiatischen Kulturkreis uumlberwiegt im Unterschied zu christlich gepraumlgten Gesellschaften eine

buddhistisch beeinflusste Sicht des Menschen die dadurch gekennzeichnet ist dass Gott und

Mensch in eins fallen Schoumlpfer und Geschoumlpf existieren nicht unabhaumlngig voneinander Gott

druumlckt sich als alles durchdringende Lebenskraft in der Schoumlpfung aus Aus diesem Grund hat der

Begriff bdquoGottldquo im Buddhismus keine Bedeutung da bdquoGottldquo im wesentlichen eine Abgrenzung

zum Menschen ausdruumlckt Fuumlr das Menschenbild hat diese Sicht entscheidende Bedeutung da sie

den Menschen auf sich selbst und die ihn umgebende Schoumlpfung zuruumlckwirft Er ist keinem au-

szligerhalb von sich befindlichen Uumlberwesen Rechenschaft schuldig (wie im Judentum Christentum

und Islam) sondern hat sein Tun und Lassen allein vor sich selbst zu verantworten Jede Aus-

uumlbung einer Wirkung auf die Umwelt kommt einer Auswirkung auf das eigene Selbst gleich da

das Schoumlpferische im Menschen (Gott) und der Mensch als Teil der Welt nicht voneinander ver-

schieden sind (vgl auch Pantheismus)

224 Mittelalter

Das Mittelalter ist gepraumlgt vom Glauben und vom Aberglauben von der Hinnahme des eigenen

Schicksals vom Fatalismus und der Furcht vor der Houmllle aber auch von der Wiederentdeckung

des Wissens der Antike in den Bibliotheken der Kloumlster Handel mit dem Orient bietet die Moumlg-

lichkeit der Verbreitung von Wissen und Erfindungen Die Kreuzzuumlge sollen die Uumlberlegenheit

des christlichen Glaubens demonstrieren weltliche und kirchliche Macht und Rechtsprechung

gehen Hand in Hand Die Herrschaft des Adels wird als gottgewollt dargestellt Ungleichheit

zwischen den Menschen meist hingenommen (siehe aber auch Habeas Corpus)

225 Das Menschenbild der Aufklaumlrung

Der Humanismus stellt einen Bruch mit den vormaligen Vorstellungen dar im Zentrum steht nun

der Mensch das Individuum Die Philosophie der Aufklaumlrung erreicht eine Synthese von antiken

und neueren Vorstellungen vom Menschen Das Licht der Aufklaumlrung soll dem vernunftbegabten

Menschen ermoumlglichen alten Aberglauben abzulegen sich selbst zu erkennen seine eigenen

Belange und die der Gesellschaft vernuumlnftig zu regeln Das naturwissenschaftlich-rationale Den-

- 5 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

ken haumllt Einzug Das Buumlrgertum uumlberwindet in Folge der franzoumlsischen Revolution die Herrschaft

von Kirche und Adel und entwickelt ein neues Selbstverstaumlndnis das sich in Kultur und Politik

niederschlaumlgt

226 Moderne

Die Industrialisierung muumlndet in die Moderne Die Moderne ist (in ihrer Selbstwahrnehmung)

gepraumlgt von technischen Erfindungen kulturellen Revolutionen und Fortschritt Saumlkularisierung

politisch von Marxismus Emanzipation von Frauen und der Arbeiterbewegung Liberalismus

Faschismus und den Katastrophen der beiden Weltkriege

Max Weber analysiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus die oumlkonomi-

schen Prozesse der Industriegesellschaft die zeitgenoumlssische Arbeitsethik ihre Verankerung im

Protestantismus In ihrem beruumlhmten Werk Dialektik der Aufklaumlrung kritisieren die Philosophen

Theodor W Adorno und Horkheimer die Unmenschlichkeiten des Nazi-Regimes und anderer

Systeme als Folge des uumlberbetont rationalen Denkens der Aufklaumlrung Die Konzentrationslager

funktionierten technisch perfekt organisiert nach rationalen Gesichtspunkten die den Wert des

Menschen auf seinen Materialwert bezifferten

In der zweiten Haumllfte des 20 Jahrhunderts entstehen die modernen kapitalistischen westlichen

Gesellschaften auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten Das Individuum tritt

als Buumlrger und Konsument als Waumlhler und als Arbeitnehmer auf Wohlstand und weitere Ratio-

nalisierung halten Einzug Im konkurrierenden Ostblock soll ein dogmatischer Sozialismus die

Lehren von Karl Marx verwirklichen Die Verfolgung von sog Abweichlern von der Parteilinie

autoritaumlre Regimes und Mangel an Freiheit sind jedoch die Folge

227 Das Menschenbild des Grundgesetzes

Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveraumlnen Individuums das

Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemein-

schaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden ohne dabei deren

Eigenwert anzutasten Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art 1 2 12 19

und 20 GG Dies heiszligt aber der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfrei-

heit gefallen lassen die der Gesetzgeber zur Pflege und Foumlrderung des sozialen Zusammenlebens

in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht vorausgesetzt

dass dabei die Eigenstaumlndigkeit der Person gewahrt bleibt (BVerfGE 4 7 15 f)

228 Postmoderne

Der Existenzialismus als populaumlre Denkschule der Avantgarde der 50er entwirft ein Bild vom

modernen Menschen der in eine sinnlose Welt geworfen ist Sinn muss von ihm selbst gestiftet

werden

Mit der Studentenbewegung von 1968 mit Umbruumlchen wie der machtvollen Popkultur haumllt wie-

derum ein neues Menschenbild Einzug Die 68er protestieren gegen eine vermeintlich erstarrte

Gesellschaft in West wie Ost eine Technokratie die dem Individuum keinen Raum einraumlumt

sondern angepasstes Verhalten verlangt Irrationale Seiten des Menschen wie Phantasie werden

von den 68ern dagegengehalten Esoterik Utopien aber auch Kunst und Kultur sind dabei Aus-

druck dieser Haltung

In der Philosophie entwerfen Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jacques Derrida Grundzuumlge

einer neuen Philosophie des Menschen Sie wenden sich gegen die scheinbar selbstverstaumlndlichen

- 6 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Eindeutigkeiten binaumlren Entscheidungen Festschreibungen die das Denken uumlber Mensch und

Welt bisher praumlgten

Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom Nebeneinander einer Vielzahl von Ansichten uumlber den

Menschen von divergierenden neuen und alten Lebensstilen Gemein ist ihnen jedoch zumeist

der Wille zu Pluralismus und Toleranz Die Oumlkologie-Bewegung entwirft in den 70ern und 80ern

ein ganzheitliches Menschenbild bei dem besonders das Eingebundensein des Menschen in die

Natur betont wird Jugendbewegungen wie Punk oder New Wave propagieren einen melancholi-

schen bis pessimistisch-nihilistischen Blick auf den Menschen

23 Was macht den Menschen aus

231 Mensch und Tier

Im europaumlischen Weltbild scheint die Abgrenzung zum Tier eindeutig zu sein In anderen Kultu-

ren jedoch erfolgt die Abgrenzung anders In einigen suumldostasiatischen Sprachen beispielsweise

werden die Menschenaffen zu den Menschen gerechnet Orang Utan ist der Waldmensch und

Orang Asli ein Einheimischer Alle sind Menschen Umgekehrt werden gelegentlich voumlllig ande-

re Menschen nicht zu den Menschen gerechnet In Brasilien kommt es vor dass die dortigen Ur-

einwohner als bdquoWaldtiereldquo bezeichnet werden

In der klassischen Philosophie und im christlichen Menschenbild kommt dem Menschen auf-

grund seiner geistigen Seele (Geist) eine eindeutig herausgehobene Stellung gegenuumlber den Tie-

ren zu denn der Mensch gilt als Ebenbild Gottes (Gen 1 26-27) und ihm steht es zu uumlber die

Tiere wie die gesamte Schoumlpfung zu herrschen (Gen 1 28) Das moderne naturwissenschaftliche

Menschenbild verneint dagegen einen systematischen Unterschied zwischen Mensch und Tier

Haumlufig schmuumlcken sich jedoch in vielen Kulturen Menschen mit Bezeichnungen von Tieren Ad-

ler Loumlwe Fuchs Wolf usw sind beliebte Selbstbezeichnungen wie auch anhand von Vornamen

und Titeln erkennbar ist Analog gibt es Bezeichnungen die abwertend gesehen werden wie z B

Schwein Sau Ratte Hund Esel Manche Tiere wie z B Kamel werden in einigen Kulturkreisen

anerkennend in anderen abwertend gebraucht Wo der Unterschied zwischen Mensch und Tier

besonders betont wird werden Tiervergleiche uumlberhaupt nicht gerne gesehen

Teilweise umstritten sind die Bezeichnungen human (woumlrtlich menschlich) und bestialisch

(woumlrtlich tierisch) Hier wird unterstellt dass der Mensch mild waumlre waumlhrend das Tier roh ist

Haumlufig werden aber Handlungsweisen des Menschen als bestialisch bezeichnet die beim Tier

kaum oder gar nicht vorkommen Umgekehrt wird mit human haumlufig eine Verhaltensweise be-

zeichnet die bei Tieren in analoger Form vorkommen

Kritische Literatur zu dieser Problematik

Jobst Paul (2004) Das bdquoTierldquo - Konstrukt - und die Geburt des Rassismus Zur kulturellen Ge-

genwart eines vernichtenden Arguments ISBN 3-89771-731-X

232 Mensch geschlechtsspezifisch

Noch bis ins 19 Jahrhundert wurde in der Theologie aber auch in den Wissenschaften und der

Politik daruumlber debattiert ob Frauen als Menschen zu gelten haben oder nicht und wenn ja ob sie

bdquovollwertigeldquo Menschen seien oder nur eine minderwertige Sonderform

233 Entmenschlichung

Menschen mit Aussehen Verhalten oder Lebensweisen die nicht der Norm entsprachen etwa

geistiger Behinderung wurde gelegentlich das Attribut bdquoMenschldquo abgesprochen man spricht

- 7 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des

Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus

wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung

ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam

bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der

Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form

als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-

chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile

(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)

Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-

menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-

ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-

tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-

ziefer belegt

Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht

man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort

wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als

bdquotypisch menschlichldquo betrachtet

In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive

Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen

um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-

tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten

Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib

Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung

als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht

in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-

misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-

bracht wird Penner

Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-

chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt

234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein

Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme

ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-

tragen bekommen kann

Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern

ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-

katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das

Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-

schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen

keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und

mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den

Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-

ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen

- 8 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger

Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt

Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-

ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal

uumlberlassen

235 Wann endet der Mensch

Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-

tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-

tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem

Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen

der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber

fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-

nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen

koumlnnen

24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille

Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind

ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung

des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula

rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-

ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen

Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung

von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-

den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-

weltbeeinflussung

Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion

uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch

Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der

Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass

der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt

Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung

In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von

einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann

muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht

angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren

Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und

versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-

keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-

scheint

Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-

de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei

bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die

man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit

der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-

tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt

gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-

cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-

muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-

einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann

die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung

Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt

voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch

Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-

zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen

25 Gleichheit oder Ungleichheit

Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das

Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon

rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in

ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist

Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-

ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-

schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob

die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen

Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen

26 Psychologie der Menschenbilder

261 Definition

Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von

Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele

sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen

oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-

ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-

pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-

entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-

scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen

unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich

den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und

Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und

bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist

das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-

theorien und Weltanschauungen ausmacht

Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-

tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-

freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-

ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-

hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-

pretationen der Welt

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

262 Psychologie der Menschenbilder

In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-

theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-

benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften

(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich

Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die

wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-

trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu

den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-

schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-

schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-

pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-

renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen

Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-

duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um

sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-

gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen

christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene

Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen

Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-

renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und

durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-

Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie

die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht

ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen

263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien

Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-

scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde

Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-

genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-

sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in

ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-

ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum

noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-

rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein

klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen

und Sinnfragen aus

Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-

mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-

den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen

Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-

tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt

bzw systematisches gesichertes Wissen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder

Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch

eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-

mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier

als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-

schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-

praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach

Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde

liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-

schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine

wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes

Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-

che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-

rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-

gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen

Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle

Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung

zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-

schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-

rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch

psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte

Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-

haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind

die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie

Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-

lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch

ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-

teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung

265 Erkundung des Menschenbildes

Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch

durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-

gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-

psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch

fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-

len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde

ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-

fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden

der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von

Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-

se auf das Menschenbild geben

Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen

waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen

religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung

von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-

nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-

- 12 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die

Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte

Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-

schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie

unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-

sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie

Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-

sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-

tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-

logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben

266 Menschenbilder in der Psychotherapie

Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-

schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und

pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen

uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-

rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der

bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-

kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-

rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-

graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung

Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen

richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie

auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie

der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In

wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die

Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden

267 Weitere Modelle

Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der

Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)

Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)

Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)

Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-

gicus)

Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen

nach Charles Elworthy)

Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)

Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)

Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)

Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3

3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt

Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer

Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn

versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung

betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten

- 13 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)

hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-

traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge

31 Definition und Bedeutung

Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational

handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende

Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4

Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur

Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-

resse des Menschen5

Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten

erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-

treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden

wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder

Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten

wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig

beschreiben

Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw

einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung

bezeichnet

32 Begriffsgeschichte

Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-

tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten

Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-

nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform

des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-

ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles

wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-

nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die

Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7

33 Kritik und neuere Ansaumltze

Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-

maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-

reitschaft und Kooperation wider

4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-

versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)

5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X

6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage

Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76

- 14 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus

in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter

gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-

nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-

ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung

des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig

erweitert

In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden

Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-

tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen

Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-

nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich

irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo

von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert

sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-

den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung

eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)

Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-

schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-

onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu

fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet

Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie

auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-

oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts

(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-

ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig

auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-

barldquo[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein

theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-

genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-

genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]

Der Oumlkonom

Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-

munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-

leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-

trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-

8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml

9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-

ka] 2005 (PDF 688 KB)

- 15 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12

Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13

Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am

Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump

Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven

Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15

Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16

Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-

furt-New York-Paris 1993 31-62

- 16 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Page 4: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

- 3 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

2 Menschenbilder

Menschenbild ist ein in der philosophischen Anthropologie gebraumluchlicher Begriff fuumlr die Vor-

stellung das Bild das jemand vom Wesen des Menschen hat Insofern der Mensch Teil der Welt

ist ist das Menschenbild auch Teil des Weltbildes Menschenbild wie Weltbild sind immer in

eine bestimmte Uumlberzeugung oder Lehre eingebunden die jemand vertritt So gibt es unter ande-

rem zum Beispiel ein christliches ein buddhistisches ein humanistisches oder ein darwinistisches

Menschen- und Weltbild

Dem Einzelnen erscheint das eigene Menschenbild haumlufig als so selbstverstaumlndlich dass er kaum

daruumlber nachdenkt dass man sich den Menschen auch anders vorstellen kann Trifft man auf ein

anderes Menschenbild so wird dieses haumlufig als falsch das eigene als richtig angesehen Hier

geht es nicht um die Klaumlrung von Streitfragen also nicht darum was richtig und was falsch ist

sondern welche unterschiedlichen Vorstellungen die Menschen in unterschiedlichen Kulturen

haben und zu unterschiedlichen Zeiten uumlber sich hatten und welche Implikationen daraus folgen

22 Abgrenzung Wer ist Mensch und wer nicht

Die Frage was ein Mensch ist und was nicht ist grundlegender und vor allem strittiger als ge-

meinhin angenommen (z B die Frage wann das Leben beginnt ob eine befruchtete Eizelle oder

ein Embryo bereits ein Mensch ist)

Die Differenzierung des Menschen erfolgt durch die Annahme dass der Mensch sowohl Instinkte

als auch die Faumlhigkeit besitzt uumlber sich selbst zu reflektieren Dadurch unterscheidet er sich (in

seinem Verhalten) von anderen Lebewesen

22 Das Bild vom Menschen im Laufe der Geschichte

221 Vorzeit

Uumlber Menschenbild und Selbstverstaumlndnis des Menschen der Vorzeit ist wenig bekannt aller-

dings existieren kuumlnstlerische wohl religioumlse Zeugnisse wie Abbildungen von Menschen und

Goumlttern Nachgewiesene Begraumlbnis-Riten weisen auf Vorstellungen vom Jenseits und Sorge um

die Verstorbenen hin Religioumlse Vorstellungen waren wahrscheinlich animistisch inspiriert Re-

praumlsentativ fuumlr diese Phase ist der Schamanismus

222 Schoumlpfung

In fast allen Gesellschaften existieren Mythen der Schoumlpfung die Hinweise auf Weltbild aber

auch auf das Selbstverstaumlndnis der Menschen liefern

223 Mensch und Gottheit

In der griechischen und roumlmischen Antike wie auch im Zweistromland existiert eine Vielzahl von

Goumlttern die den Menschen uumlberlegen sind aber ihnen auch aumlhneln Der Mensch wird im Gegen-

satz zu den Goumlttern als sterblich angesehen weshalb bdquodie Sterblichenldquo als Umschreibung fuumlr

Menschen benutzt wurde Menschen und Goumltter pflegen untereinander und miteinander eine

Vielzahl von Lieb- oder Feindschaften und sind gleichermaszligen in Leidenschaften verstrickt (sie-

he z B die Sage von Odysseus) Ansonsten ist das Menschenbild der Antike auch durch Sklave-

rei Ungerechtigkeit und Ungleichheit gepraumlgt In Athen und spaumlter auch in Rom finden sich

zwar Ansaumltze der Demokratie Diese ist jedoch immer auf die sog Freien (vgl Oberschicht) be-

grenzt Die Philosophie erbluumlht in der Antike es werden weitreichende Betrachtungen uumlber den

Menschen und die Gesellschaft angestellt auf die man sich teilweise noch heute bezieht

- 4 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Im Monotheismus ist die Trennung zwischen Mensch und Gott weitaus praumlgnanter Der alleinige

Gott duldet keine weiteren Goumltter neben sich und verlangt nach Erfuumlllung seines Willens z B

Opfer (siehe Altes Testament)

Der Unterschied zwischen Mensch und Gott (Monotheismus)Goumlttern wird in religioumls gepraumlgten

Gesellschaft darin gesehen dass ein Gott das Uumlberwesen ist das - selber anderen keinen oder

undurchschaubaren Regeln unterworfen - den Menschen uumlberhaupt erst geschaffen hat das ihn

(wie z B im Christentum oder Islam) einst richten wird und das in der Zwischenzeit jede Macht

hat das Leben des Menschen auch existenziell zu beeinflussen Der Mensch erscheint - beson-

ders im Monotheismus - als abhaumlngig von Gott Im Christentum bekommt hierbei der Begriff der

Suumlnde etwa im Verhaumlltnis zum freien Willen groszlige Bedeutung

In verschiedenen Kulturen konnten Menschen zu Goumlttern werden und wurden auch als solche

verehrt Weltliche Herrscher wie manche der Pharaonen oder solche in den mittelamerikanischen

Kulturen der Maya oder Azteken beanspruchten als Menschen gleichzeitig Goumltter zu sein Herr-

scher uumlber Himmel und Erde Die Konquistadoren aus Europa wurden von den Indianern zu-

naumlchst als Goumltter wahrgenommen die alte Prophezeiungen erfuumlllten

Bei den Voodoo-Kulten und vergleichbaren Naturreligionen etwa in Afrika oder der Karibik ge-

raten (auch heute) gewoumlhnliche Menschen in Trance und Gottheiten ergreifen von ihnen zeitwei-

se Besitz sprechen durch sie oder druumlcken sich in Bewegungen und Handlungen aus

Im asiatischen Kulturkreis uumlberwiegt im Unterschied zu christlich gepraumlgten Gesellschaften eine

buddhistisch beeinflusste Sicht des Menschen die dadurch gekennzeichnet ist dass Gott und

Mensch in eins fallen Schoumlpfer und Geschoumlpf existieren nicht unabhaumlngig voneinander Gott

druumlckt sich als alles durchdringende Lebenskraft in der Schoumlpfung aus Aus diesem Grund hat der

Begriff bdquoGottldquo im Buddhismus keine Bedeutung da bdquoGottldquo im wesentlichen eine Abgrenzung

zum Menschen ausdruumlckt Fuumlr das Menschenbild hat diese Sicht entscheidende Bedeutung da sie

den Menschen auf sich selbst und die ihn umgebende Schoumlpfung zuruumlckwirft Er ist keinem au-

szligerhalb von sich befindlichen Uumlberwesen Rechenschaft schuldig (wie im Judentum Christentum

und Islam) sondern hat sein Tun und Lassen allein vor sich selbst zu verantworten Jede Aus-

uumlbung einer Wirkung auf die Umwelt kommt einer Auswirkung auf das eigene Selbst gleich da

das Schoumlpferische im Menschen (Gott) und der Mensch als Teil der Welt nicht voneinander ver-

schieden sind (vgl auch Pantheismus)

224 Mittelalter

Das Mittelalter ist gepraumlgt vom Glauben und vom Aberglauben von der Hinnahme des eigenen

Schicksals vom Fatalismus und der Furcht vor der Houmllle aber auch von der Wiederentdeckung

des Wissens der Antike in den Bibliotheken der Kloumlster Handel mit dem Orient bietet die Moumlg-

lichkeit der Verbreitung von Wissen und Erfindungen Die Kreuzzuumlge sollen die Uumlberlegenheit

des christlichen Glaubens demonstrieren weltliche und kirchliche Macht und Rechtsprechung

gehen Hand in Hand Die Herrschaft des Adels wird als gottgewollt dargestellt Ungleichheit

zwischen den Menschen meist hingenommen (siehe aber auch Habeas Corpus)

225 Das Menschenbild der Aufklaumlrung

Der Humanismus stellt einen Bruch mit den vormaligen Vorstellungen dar im Zentrum steht nun

der Mensch das Individuum Die Philosophie der Aufklaumlrung erreicht eine Synthese von antiken

und neueren Vorstellungen vom Menschen Das Licht der Aufklaumlrung soll dem vernunftbegabten

Menschen ermoumlglichen alten Aberglauben abzulegen sich selbst zu erkennen seine eigenen

Belange und die der Gesellschaft vernuumlnftig zu regeln Das naturwissenschaftlich-rationale Den-

- 5 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

ken haumllt Einzug Das Buumlrgertum uumlberwindet in Folge der franzoumlsischen Revolution die Herrschaft

von Kirche und Adel und entwickelt ein neues Selbstverstaumlndnis das sich in Kultur und Politik

niederschlaumlgt

226 Moderne

Die Industrialisierung muumlndet in die Moderne Die Moderne ist (in ihrer Selbstwahrnehmung)

gepraumlgt von technischen Erfindungen kulturellen Revolutionen und Fortschritt Saumlkularisierung

politisch von Marxismus Emanzipation von Frauen und der Arbeiterbewegung Liberalismus

Faschismus und den Katastrophen der beiden Weltkriege

Max Weber analysiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus die oumlkonomi-

schen Prozesse der Industriegesellschaft die zeitgenoumlssische Arbeitsethik ihre Verankerung im

Protestantismus In ihrem beruumlhmten Werk Dialektik der Aufklaumlrung kritisieren die Philosophen

Theodor W Adorno und Horkheimer die Unmenschlichkeiten des Nazi-Regimes und anderer

Systeme als Folge des uumlberbetont rationalen Denkens der Aufklaumlrung Die Konzentrationslager

funktionierten technisch perfekt organisiert nach rationalen Gesichtspunkten die den Wert des

Menschen auf seinen Materialwert bezifferten

In der zweiten Haumllfte des 20 Jahrhunderts entstehen die modernen kapitalistischen westlichen

Gesellschaften auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten Das Individuum tritt

als Buumlrger und Konsument als Waumlhler und als Arbeitnehmer auf Wohlstand und weitere Ratio-

nalisierung halten Einzug Im konkurrierenden Ostblock soll ein dogmatischer Sozialismus die

Lehren von Karl Marx verwirklichen Die Verfolgung von sog Abweichlern von der Parteilinie

autoritaumlre Regimes und Mangel an Freiheit sind jedoch die Folge

227 Das Menschenbild des Grundgesetzes

Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveraumlnen Individuums das

Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemein-

schaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden ohne dabei deren

Eigenwert anzutasten Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art 1 2 12 19

und 20 GG Dies heiszligt aber der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfrei-

heit gefallen lassen die der Gesetzgeber zur Pflege und Foumlrderung des sozialen Zusammenlebens

in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht vorausgesetzt

dass dabei die Eigenstaumlndigkeit der Person gewahrt bleibt (BVerfGE 4 7 15 f)

228 Postmoderne

Der Existenzialismus als populaumlre Denkschule der Avantgarde der 50er entwirft ein Bild vom

modernen Menschen der in eine sinnlose Welt geworfen ist Sinn muss von ihm selbst gestiftet

werden

Mit der Studentenbewegung von 1968 mit Umbruumlchen wie der machtvollen Popkultur haumllt wie-

derum ein neues Menschenbild Einzug Die 68er protestieren gegen eine vermeintlich erstarrte

Gesellschaft in West wie Ost eine Technokratie die dem Individuum keinen Raum einraumlumt

sondern angepasstes Verhalten verlangt Irrationale Seiten des Menschen wie Phantasie werden

von den 68ern dagegengehalten Esoterik Utopien aber auch Kunst und Kultur sind dabei Aus-

druck dieser Haltung

In der Philosophie entwerfen Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jacques Derrida Grundzuumlge

einer neuen Philosophie des Menschen Sie wenden sich gegen die scheinbar selbstverstaumlndlichen

- 6 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Eindeutigkeiten binaumlren Entscheidungen Festschreibungen die das Denken uumlber Mensch und

Welt bisher praumlgten

Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom Nebeneinander einer Vielzahl von Ansichten uumlber den

Menschen von divergierenden neuen und alten Lebensstilen Gemein ist ihnen jedoch zumeist

der Wille zu Pluralismus und Toleranz Die Oumlkologie-Bewegung entwirft in den 70ern und 80ern

ein ganzheitliches Menschenbild bei dem besonders das Eingebundensein des Menschen in die

Natur betont wird Jugendbewegungen wie Punk oder New Wave propagieren einen melancholi-

schen bis pessimistisch-nihilistischen Blick auf den Menschen

23 Was macht den Menschen aus

231 Mensch und Tier

Im europaumlischen Weltbild scheint die Abgrenzung zum Tier eindeutig zu sein In anderen Kultu-

ren jedoch erfolgt die Abgrenzung anders In einigen suumldostasiatischen Sprachen beispielsweise

werden die Menschenaffen zu den Menschen gerechnet Orang Utan ist der Waldmensch und

Orang Asli ein Einheimischer Alle sind Menschen Umgekehrt werden gelegentlich voumlllig ande-

re Menschen nicht zu den Menschen gerechnet In Brasilien kommt es vor dass die dortigen Ur-

einwohner als bdquoWaldtiereldquo bezeichnet werden

In der klassischen Philosophie und im christlichen Menschenbild kommt dem Menschen auf-

grund seiner geistigen Seele (Geist) eine eindeutig herausgehobene Stellung gegenuumlber den Tie-

ren zu denn der Mensch gilt als Ebenbild Gottes (Gen 1 26-27) und ihm steht es zu uumlber die

Tiere wie die gesamte Schoumlpfung zu herrschen (Gen 1 28) Das moderne naturwissenschaftliche

Menschenbild verneint dagegen einen systematischen Unterschied zwischen Mensch und Tier

Haumlufig schmuumlcken sich jedoch in vielen Kulturen Menschen mit Bezeichnungen von Tieren Ad-

ler Loumlwe Fuchs Wolf usw sind beliebte Selbstbezeichnungen wie auch anhand von Vornamen

und Titeln erkennbar ist Analog gibt es Bezeichnungen die abwertend gesehen werden wie z B

Schwein Sau Ratte Hund Esel Manche Tiere wie z B Kamel werden in einigen Kulturkreisen

anerkennend in anderen abwertend gebraucht Wo der Unterschied zwischen Mensch und Tier

besonders betont wird werden Tiervergleiche uumlberhaupt nicht gerne gesehen

Teilweise umstritten sind die Bezeichnungen human (woumlrtlich menschlich) und bestialisch

(woumlrtlich tierisch) Hier wird unterstellt dass der Mensch mild waumlre waumlhrend das Tier roh ist

Haumlufig werden aber Handlungsweisen des Menschen als bestialisch bezeichnet die beim Tier

kaum oder gar nicht vorkommen Umgekehrt wird mit human haumlufig eine Verhaltensweise be-

zeichnet die bei Tieren in analoger Form vorkommen

Kritische Literatur zu dieser Problematik

Jobst Paul (2004) Das bdquoTierldquo - Konstrukt - und die Geburt des Rassismus Zur kulturellen Ge-

genwart eines vernichtenden Arguments ISBN 3-89771-731-X

232 Mensch geschlechtsspezifisch

Noch bis ins 19 Jahrhundert wurde in der Theologie aber auch in den Wissenschaften und der

Politik daruumlber debattiert ob Frauen als Menschen zu gelten haben oder nicht und wenn ja ob sie

bdquovollwertigeldquo Menschen seien oder nur eine minderwertige Sonderform

233 Entmenschlichung

Menschen mit Aussehen Verhalten oder Lebensweisen die nicht der Norm entsprachen etwa

geistiger Behinderung wurde gelegentlich das Attribut bdquoMenschldquo abgesprochen man spricht

- 7 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des

Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus

wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung

ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam

bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der

Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form

als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-

chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile

(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)

Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-

menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-

ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-

tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-

ziefer belegt

Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht

man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort

wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als

bdquotypisch menschlichldquo betrachtet

In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive

Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen

um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-

tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten

Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib

Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung

als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht

in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-

misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-

bracht wird Penner

Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-

chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt

234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein

Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme

ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-

tragen bekommen kann

Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern

ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-

katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das

Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-

schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen

keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und

mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den

Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-

ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen

- 8 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger

Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt

Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-

ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal

uumlberlassen

235 Wann endet der Mensch

Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-

tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-

tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem

Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen

der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber

fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-

nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen

koumlnnen

24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille

Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind

ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung

des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula

rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-

ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen

Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung

von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-

den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-

weltbeeinflussung

Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion

uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch

Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der

Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass

der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt

Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung

In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von

einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann

muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht

angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren

Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und

versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-

keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-

scheint

Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-

de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei

bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die

man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss

- 9 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit

der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-

tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt

gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-

cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-

muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-

einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann

die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung

Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt

voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch

Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-

zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen

25 Gleichheit oder Ungleichheit

Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das

Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon

rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in

ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist

Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-

ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-

schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob

die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen

Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen

26 Psychologie der Menschenbilder

261 Definition

Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von

Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele

sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen

oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-

ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-

pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-

entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-

scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen

unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich

den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und

Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und

bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist

das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-

theorien und Weltanschauungen ausmacht

Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-

tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-

freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-

ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-

hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-

pretationen der Welt

- 10 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

262 Psychologie der Menschenbilder

In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-

theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-

benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften

(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich

Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die

wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-

trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu

den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-

schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-

schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-

pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-

renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen

Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-

duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um

sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-

gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen

christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene

Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen

Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-

renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und

durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-

Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie

die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht

ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen

263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien

Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-

scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde

Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-

genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-

sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in

ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-

ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum

noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-

rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein

klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen

und Sinnfragen aus

Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-

mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-

den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen

Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-

tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt

bzw systematisches gesichertes Wissen

- 11 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder

Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch

eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-

mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier

als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-

schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-

praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach

Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde

liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-

schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine

wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes

Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-

che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-

rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-

gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen

Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle

Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung

zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-

schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-

rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch

psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte

Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-

haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind

die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie

Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-

lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch

ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-

teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung

265 Erkundung des Menschenbildes

Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch

durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-

gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-

psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch

fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-

len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde

ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-

fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden

der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von

Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-

se auf das Menschenbild geben

Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen

waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen

religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung

von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-

nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-

- 12 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die

Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte

Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-

schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie

unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-

sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie

Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-

sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-

tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-

logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben

266 Menschenbilder in der Psychotherapie

Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-

schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und

pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen

uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-

rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der

bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-

kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-

rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-

graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung

Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen

richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie

auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie

der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In

wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die

Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden

267 Weitere Modelle

Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der

Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)

Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)

Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)

Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-

gicus)

Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen

nach Charles Elworthy)

Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)

Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)

Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)

Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3

3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt

Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer

Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn

versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung

betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten

- 13 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)

hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-

traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge

31 Definition und Bedeutung

Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational

handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende

Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4

Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur

Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-

resse des Menschen5

Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten

erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-

treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden

wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder

Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten

wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig

beschreiben

Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw

einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung

bezeichnet

32 Begriffsgeschichte

Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-

tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten

Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-

nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform

des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-

ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles

wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-

nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die

Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7

33 Kritik und neuere Ansaumltze

Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-

maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-

reitschaft und Kooperation wider

4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-

versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)

5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X

6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage

Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus

in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter

gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-

nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-

ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung

des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig

erweitert

In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden

Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-

tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen

Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-

nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich

irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo

von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert

sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-

den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung

eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)

Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-

schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-

onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu

fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet

Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie

auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-

oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts

(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-

ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig

auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-

barldquo[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein

theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-

genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-

genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]

Der Oumlkonom

Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-

munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-

leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-

trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-

8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml

9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-

ka] 2005 (PDF 688 KB)

- 15 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12

Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13

Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am

Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump

Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven

Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15

Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16

Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-

furt-New York-Paris 1993 31-62

- 16 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Page 5: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Im Monotheismus ist die Trennung zwischen Mensch und Gott weitaus praumlgnanter Der alleinige

Gott duldet keine weiteren Goumltter neben sich und verlangt nach Erfuumlllung seines Willens z B

Opfer (siehe Altes Testament)

Der Unterschied zwischen Mensch und Gott (Monotheismus)Goumlttern wird in religioumls gepraumlgten

Gesellschaft darin gesehen dass ein Gott das Uumlberwesen ist das - selber anderen keinen oder

undurchschaubaren Regeln unterworfen - den Menschen uumlberhaupt erst geschaffen hat das ihn

(wie z B im Christentum oder Islam) einst richten wird und das in der Zwischenzeit jede Macht

hat das Leben des Menschen auch existenziell zu beeinflussen Der Mensch erscheint - beson-

ders im Monotheismus - als abhaumlngig von Gott Im Christentum bekommt hierbei der Begriff der

Suumlnde etwa im Verhaumlltnis zum freien Willen groszlige Bedeutung

In verschiedenen Kulturen konnten Menschen zu Goumlttern werden und wurden auch als solche

verehrt Weltliche Herrscher wie manche der Pharaonen oder solche in den mittelamerikanischen

Kulturen der Maya oder Azteken beanspruchten als Menschen gleichzeitig Goumltter zu sein Herr-

scher uumlber Himmel und Erde Die Konquistadoren aus Europa wurden von den Indianern zu-

naumlchst als Goumltter wahrgenommen die alte Prophezeiungen erfuumlllten

Bei den Voodoo-Kulten und vergleichbaren Naturreligionen etwa in Afrika oder der Karibik ge-

raten (auch heute) gewoumlhnliche Menschen in Trance und Gottheiten ergreifen von ihnen zeitwei-

se Besitz sprechen durch sie oder druumlcken sich in Bewegungen und Handlungen aus

Im asiatischen Kulturkreis uumlberwiegt im Unterschied zu christlich gepraumlgten Gesellschaften eine

buddhistisch beeinflusste Sicht des Menschen die dadurch gekennzeichnet ist dass Gott und

Mensch in eins fallen Schoumlpfer und Geschoumlpf existieren nicht unabhaumlngig voneinander Gott

druumlckt sich als alles durchdringende Lebenskraft in der Schoumlpfung aus Aus diesem Grund hat der

Begriff bdquoGottldquo im Buddhismus keine Bedeutung da bdquoGottldquo im wesentlichen eine Abgrenzung

zum Menschen ausdruumlckt Fuumlr das Menschenbild hat diese Sicht entscheidende Bedeutung da sie

den Menschen auf sich selbst und die ihn umgebende Schoumlpfung zuruumlckwirft Er ist keinem au-

szligerhalb von sich befindlichen Uumlberwesen Rechenschaft schuldig (wie im Judentum Christentum

und Islam) sondern hat sein Tun und Lassen allein vor sich selbst zu verantworten Jede Aus-

uumlbung einer Wirkung auf die Umwelt kommt einer Auswirkung auf das eigene Selbst gleich da

das Schoumlpferische im Menschen (Gott) und der Mensch als Teil der Welt nicht voneinander ver-

schieden sind (vgl auch Pantheismus)

224 Mittelalter

Das Mittelalter ist gepraumlgt vom Glauben und vom Aberglauben von der Hinnahme des eigenen

Schicksals vom Fatalismus und der Furcht vor der Houmllle aber auch von der Wiederentdeckung

des Wissens der Antike in den Bibliotheken der Kloumlster Handel mit dem Orient bietet die Moumlg-

lichkeit der Verbreitung von Wissen und Erfindungen Die Kreuzzuumlge sollen die Uumlberlegenheit

des christlichen Glaubens demonstrieren weltliche und kirchliche Macht und Rechtsprechung

gehen Hand in Hand Die Herrschaft des Adels wird als gottgewollt dargestellt Ungleichheit

zwischen den Menschen meist hingenommen (siehe aber auch Habeas Corpus)

225 Das Menschenbild der Aufklaumlrung

Der Humanismus stellt einen Bruch mit den vormaligen Vorstellungen dar im Zentrum steht nun

der Mensch das Individuum Die Philosophie der Aufklaumlrung erreicht eine Synthese von antiken

und neueren Vorstellungen vom Menschen Das Licht der Aufklaumlrung soll dem vernunftbegabten

Menschen ermoumlglichen alten Aberglauben abzulegen sich selbst zu erkennen seine eigenen

Belange und die der Gesellschaft vernuumlnftig zu regeln Das naturwissenschaftlich-rationale Den-

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

ken haumllt Einzug Das Buumlrgertum uumlberwindet in Folge der franzoumlsischen Revolution die Herrschaft

von Kirche und Adel und entwickelt ein neues Selbstverstaumlndnis das sich in Kultur und Politik

niederschlaumlgt

226 Moderne

Die Industrialisierung muumlndet in die Moderne Die Moderne ist (in ihrer Selbstwahrnehmung)

gepraumlgt von technischen Erfindungen kulturellen Revolutionen und Fortschritt Saumlkularisierung

politisch von Marxismus Emanzipation von Frauen und der Arbeiterbewegung Liberalismus

Faschismus und den Katastrophen der beiden Weltkriege

Max Weber analysiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus die oumlkonomi-

schen Prozesse der Industriegesellschaft die zeitgenoumlssische Arbeitsethik ihre Verankerung im

Protestantismus In ihrem beruumlhmten Werk Dialektik der Aufklaumlrung kritisieren die Philosophen

Theodor W Adorno und Horkheimer die Unmenschlichkeiten des Nazi-Regimes und anderer

Systeme als Folge des uumlberbetont rationalen Denkens der Aufklaumlrung Die Konzentrationslager

funktionierten technisch perfekt organisiert nach rationalen Gesichtspunkten die den Wert des

Menschen auf seinen Materialwert bezifferten

In der zweiten Haumllfte des 20 Jahrhunderts entstehen die modernen kapitalistischen westlichen

Gesellschaften auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten Das Individuum tritt

als Buumlrger und Konsument als Waumlhler und als Arbeitnehmer auf Wohlstand und weitere Ratio-

nalisierung halten Einzug Im konkurrierenden Ostblock soll ein dogmatischer Sozialismus die

Lehren von Karl Marx verwirklichen Die Verfolgung von sog Abweichlern von der Parteilinie

autoritaumlre Regimes und Mangel an Freiheit sind jedoch die Folge

227 Das Menschenbild des Grundgesetzes

Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveraumlnen Individuums das

Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemein-

schaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden ohne dabei deren

Eigenwert anzutasten Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art 1 2 12 19

und 20 GG Dies heiszligt aber der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfrei-

heit gefallen lassen die der Gesetzgeber zur Pflege und Foumlrderung des sozialen Zusammenlebens

in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht vorausgesetzt

dass dabei die Eigenstaumlndigkeit der Person gewahrt bleibt (BVerfGE 4 7 15 f)

228 Postmoderne

Der Existenzialismus als populaumlre Denkschule der Avantgarde der 50er entwirft ein Bild vom

modernen Menschen der in eine sinnlose Welt geworfen ist Sinn muss von ihm selbst gestiftet

werden

Mit der Studentenbewegung von 1968 mit Umbruumlchen wie der machtvollen Popkultur haumllt wie-

derum ein neues Menschenbild Einzug Die 68er protestieren gegen eine vermeintlich erstarrte

Gesellschaft in West wie Ost eine Technokratie die dem Individuum keinen Raum einraumlumt

sondern angepasstes Verhalten verlangt Irrationale Seiten des Menschen wie Phantasie werden

von den 68ern dagegengehalten Esoterik Utopien aber auch Kunst und Kultur sind dabei Aus-

druck dieser Haltung

In der Philosophie entwerfen Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jacques Derrida Grundzuumlge

einer neuen Philosophie des Menschen Sie wenden sich gegen die scheinbar selbstverstaumlndlichen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Eindeutigkeiten binaumlren Entscheidungen Festschreibungen die das Denken uumlber Mensch und

Welt bisher praumlgten

Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom Nebeneinander einer Vielzahl von Ansichten uumlber den

Menschen von divergierenden neuen und alten Lebensstilen Gemein ist ihnen jedoch zumeist

der Wille zu Pluralismus und Toleranz Die Oumlkologie-Bewegung entwirft in den 70ern und 80ern

ein ganzheitliches Menschenbild bei dem besonders das Eingebundensein des Menschen in die

Natur betont wird Jugendbewegungen wie Punk oder New Wave propagieren einen melancholi-

schen bis pessimistisch-nihilistischen Blick auf den Menschen

23 Was macht den Menschen aus

231 Mensch und Tier

Im europaumlischen Weltbild scheint die Abgrenzung zum Tier eindeutig zu sein In anderen Kultu-

ren jedoch erfolgt die Abgrenzung anders In einigen suumldostasiatischen Sprachen beispielsweise

werden die Menschenaffen zu den Menschen gerechnet Orang Utan ist der Waldmensch und

Orang Asli ein Einheimischer Alle sind Menschen Umgekehrt werden gelegentlich voumlllig ande-

re Menschen nicht zu den Menschen gerechnet In Brasilien kommt es vor dass die dortigen Ur-

einwohner als bdquoWaldtiereldquo bezeichnet werden

In der klassischen Philosophie und im christlichen Menschenbild kommt dem Menschen auf-

grund seiner geistigen Seele (Geist) eine eindeutig herausgehobene Stellung gegenuumlber den Tie-

ren zu denn der Mensch gilt als Ebenbild Gottes (Gen 1 26-27) und ihm steht es zu uumlber die

Tiere wie die gesamte Schoumlpfung zu herrschen (Gen 1 28) Das moderne naturwissenschaftliche

Menschenbild verneint dagegen einen systematischen Unterschied zwischen Mensch und Tier

Haumlufig schmuumlcken sich jedoch in vielen Kulturen Menschen mit Bezeichnungen von Tieren Ad-

ler Loumlwe Fuchs Wolf usw sind beliebte Selbstbezeichnungen wie auch anhand von Vornamen

und Titeln erkennbar ist Analog gibt es Bezeichnungen die abwertend gesehen werden wie z B

Schwein Sau Ratte Hund Esel Manche Tiere wie z B Kamel werden in einigen Kulturkreisen

anerkennend in anderen abwertend gebraucht Wo der Unterschied zwischen Mensch und Tier

besonders betont wird werden Tiervergleiche uumlberhaupt nicht gerne gesehen

Teilweise umstritten sind die Bezeichnungen human (woumlrtlich menschlich) und bestialisch

(woumlrtlich tierisch) Hier wird unterstellt dass der Mensch mild waumlre waumlhrend das Tier roh ist

Haumlufig werden aber Handlungsweisen des Menschen als bestialisch bezeichnet die beim Tier

kaum oder gar nicht vorkommen Umgekehrt wird mit human haumlufig eine Verhaltensweise be-

zeichnet die bei Tieren in analoger Form vorkommen

Kritische Literatur zu dieser Problematik

Jobst Paul (2004) Das bdquoTierldquo - Konstrukt - und die Geburt des Rassismus Zur kulturellen Ge-

genwart eines vernichtenden Arguments ISBN 3-89771-731-X

232 Mensch geschlechtsspezifisch

Noch bis ins 19 Jahrhundert wurde in der Theologie aber auch in den Wissenschaften und der

Politik daruumlber debattiert ob Frauen als Menschen zu gelten haben oder nicht und wenn ja ob sie

bdquovollwertigeldquo Menschen seien oder nur eine minderwertige Sonderform

233 Entmenschlichung

Menschen mit Aussehen Verhalten oder Lebensweisen die nicht der Norm entsprachen etwa

geistiger Behinderung wurde gelegentlich das Attribut bdquoMenschldquo abgesprochen man spricht

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des

Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus

wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung

ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam

bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der

Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form

als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-

chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile

(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)

Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-

menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-

ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-

tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-

ziefer belegt

Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht

man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort

wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als

bdquotypisch menschlichldquo betrachtet

In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive

Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen

um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-

tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten

Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib

Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung

als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht

in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-

misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-

bracht wird Penner

Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-

chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt

234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein

Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme

ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-

tragen bekommen kann

Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern

ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-

katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das

Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-

schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen

keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und

mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den

Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-

ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger

Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt

Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-

ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal

uumlberlassen

235 Wann endet der Mensch

Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-

tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-

tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem

Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen

der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber

fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-

nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen

koumlnnen

24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille

Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind

ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung

des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula

rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-

ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen

Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung

von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-

den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-

weltbeeinflussung

Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion

uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch

Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der

Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass

der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt

Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung

In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von

einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann

muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht

angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren

Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und

versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-

keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-

scheint

Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-

de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei

bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die

man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit

der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-

tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt

gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-

cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-

muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-

einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann

die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung

Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt

voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch

Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-

zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen

25 Gleichheit oder Ungleichheit

Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das

Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon

rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in

ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist

Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-

ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-

schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob

die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen

Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen

26 Psychologie der Menschenbilder

261 Definition

Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von

Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele

sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen

oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-

ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-

pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-

entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-

scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen

unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich

den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und

Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und

bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist

das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-

theorien und Weltanschauungen ausmacht

Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-

tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-

freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-

ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-

hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-

pretationen der Welt

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

262 Psychologie der Menschenbilder

In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-

theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-

benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften

(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich

Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die

wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-

trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu

den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-

schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-

schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-

pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-

renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen

Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-

duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um

sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-

gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen

christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene

Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen

Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-

renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und

durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-

Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie

die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht

ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen

263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien

Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-

scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde

Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-

genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-

sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in

ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-

ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum

noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-

rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein

klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen

und Sinnfragen aus

Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-

mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-

den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen

Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-

tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt

bzw systematisches gesichertes Wissen

- 11 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder

Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch

eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-

mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier

als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-

schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-

praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach

Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde

liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-

schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine

wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes

Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-

che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-

rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-

gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen

Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle

Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung

zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-

schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-

rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch

psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte

Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-

haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind

die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie

Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-

lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch

ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-

teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung

265 Erkundung des Menschenbildes

Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch

durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-

gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-

psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch

fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-

len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde

ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-

fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden

der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von

Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-

se auf das Menschenbild geben

Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen

waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen

religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung

von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-

nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-

- 12 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die

Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte

Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-

schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie

unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-

sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie

Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-

sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-

tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-

logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben

266 Menschenbilder in der Psychotherapie

Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-

schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und

pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen

uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-

rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der

bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-

kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-

rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-

graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung

Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen

richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie

auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie

der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In

wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die

Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden

267 Weitere Modelle

Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der

Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)

Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)

Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)

Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-

gicus)

Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen

nach Charles Elworthy)

Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)

Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)

Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)

Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3

3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt

Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer

Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn

versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung

betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten

- 13 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)

hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-

traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge

31 Definition und Bedeutung

Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational

handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende

Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4

Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur

Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-

resse des Menschen5

Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten

erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-

treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden

wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder

Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten

wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig

beschreiben

Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw

einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung

bezeichnet

32 Begriffsgeschichte

Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-

tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten

Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-

nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform

des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-

ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles

wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-

nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die

Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7

33 Kritik und neuere Ansaumltze

Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-

maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-

reitschaft und Kooperation wider

4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-

versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)

5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X

6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage

Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76

- 14 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus

in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter

gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-

nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-

ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung

des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig

erweitert

In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden

Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-

tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen

Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-

nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich

irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo

von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert

sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-

den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung

eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)

Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-

schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-

onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu

fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet

Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie

auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-

oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts

(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-

ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig

auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-

barldquo[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein

theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-

genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-

genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]

Der Oumlkonom

Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-

munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-

leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-

trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-

8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml

9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-

ka] 2005 (PDF 688 KB)

- 15 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12

Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13

Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am

Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump

Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven

Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15

Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16

Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-

furt-New York-Paris 1993 31-62

- 16 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Page 6: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

- 5 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

ken haumllt Einzug Das Buumlrgertum uumlberwindet in Folge der franzoumlsischen Revolution die Herrschaft

von Kirche und Adel und entwickelt ein neues Selbstverstaumlndnis das sich in Kultur und Politik

niederschlaumlgt

226 Moderne

Die Industrialisierung muumlndet in die Moderne Die Moderne ist (in ihrer Selbstwahrnehmung)

gepraumlgt von technischen Erfindungen kulturellen Revolutionen und Fortschritt Saumlkularisierung

politisch von Marxismus Emanzipation von Frauen und der Arbeiterbewegung Liberalismus

Faschismus und den Katastrophen der beiden Weltkriege

Max Weber analysiert in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus die oumlkonomi-

schen Prozesse der Industriegesellschaft die zeitgenoumlssische Arbeitsethik ihre Verankerung im

Protestantismus In ihrem beruumlhmten Werk Dialektik der Aufklaumlrung kritisieren die Philosophen

Theodor W Adorno und Horkheimer die Unmenschlichkeiten des Nazi-Regimes und anderer

Systeme als Folge des uumlberbetont rationalen Denkens der Aufklaumlrung Die Konzentrationslager

funktionierten technisch perfekt organisiert nach rationalen Gesichtspunkten die den Wert des

Menschen auf seinen Materialwert bezifferten

In der zweiten Haumllfte des 20 Jahrhunderts entstehen die modernen kapitalistischen westlichen

Gesellschaften auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten Das Individuum tritt

als Buumlrger und Konsument als Waumlhler und als Arbeitnehmer auf Wohlstand und weitere Ratio-

nalisierung halten Einzug Im konkurrierenden Ostblock soll ein dogmatischer Sozialismus die

Lehren von Karl Marx verwirklichen Die Verfolgung von sog Abweichlern von der Parteilinie

autoritaumlre Regimes und Mangel an Freiheit sind jedoch die Folge

227 Das Menschenbild des Grundgesetzes

Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveraumlnen Individuums das

Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemein-

schaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden ohne dabei deren

Eigenwert anzutasten Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art 1 2 12 19

und 20 GG Dies heiszligt aber der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfrei-

heit gefallen lassen die der Gesetzgeber zur Pflege und Foumlrderung des sozialen Zusammenlebens

in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht vorausgesetzt

dass dabei die Eigenstaumlndigkeit der Person gewahrt bleibt (BVerfGE 4 7 15 f)

228 Postmoderne

Der Existenzialismus als populaumlre Denkschule der Avantgarde der 50er entwirft ein Bild vom

modernen Menschen der in eine sinnlose Welt geworfen ist Sinn muss von ihm selbst gestiftet

werden

Mit der Studentenbewegung von 1968 mit Umbruumlchen wie der machtvollen Popkultur haumllt wie-

derum ein neues Menschenbild Einzug Die 68er protestieren gegen eine vermeintlich erstarrte

Gesellschaft in West wie Ost eine Technokratie die dem Individuum keinen Raum einraumlumt

sondern angepasstes Verhalten verlangt Irrationale Seiten des Menschen wie Phantasie werden

von den 68ern dagegengehalten Esoterik Utopien aber auch Kunst und Kultur sind dabei Aus-

druck dieser Haltung

In der Philosophie entwerfen Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jacques Derrida Grundzuumlge

einer neuen Philosophie des Menschen Sie wenden sich gegen die scheinbar selbstverstaumlndlichen

- 6 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Eindeutigkeiten binaumlren Entscheidungen Festschreibungen die das Denken uumlber Mensch und

Welt bisher praumlgten

Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom Nebeneinander einer Vielzahl von Ansichten uumlber den

Menschen von divergierenden neuen und alten Lebensstilen Gemein ist ihnen jedoch zumeist

der Wille zu Pluralismus und Toleranz Die Oumlkologie-Bewegung entwirft in den 70ern und 80ern

ein ganzheitliches Menschenbild bei dem besonders das Eingebundensein des Menschen in die

Natur betont wird Jugendbewegungen wie Punk oder New Wave propagieren einen melancholi-

schen bis pessimistisch-nihilistischen Blick auf den Menschen

23 Was macht den Menschen aus

231 Mensch und Tier

Im europaumlischen Weltbild scheint die Abgrenzung zum Tier eindeutig zu sein In anderen Kultu-

ren jedoch erfolgt die Abgrenzung anders In einigen suumldostasiatischen Sprachen beispielsweise

werden die Menschenaffen zu den Menschen gerechnet Orang Utan ist der Waldmensch und

Orang Asli ein Einheimischer Alle sind Menschen Umgekehrt werden gelegentlich voumlllig ande-

re Menschen nicht zu den Menschen gerechnet In Brasilien kommt es vor dass die dortigen Ur-

einwohner als bdquoWaldtiereldquo bezeichnet werden

In der klassischen Philosophie und im christlichen Menschenbild kommt dem Menschen auf-

grund seiner geistigen Seele (Geist) eine eindeutig herausgehobene Stellung gegenuumlber den Tie-

ren zu denn der Mensch gilt als Ebenbild Gottes (Gen 1 26-27) und ihm steht es zu uumlber die

Tiere wie die gesamte Schoumlpfung zu herrschen (Gen 1 28) Das moderne naturwissenschaftliche

Menschenbild verneint dagegen einen systematischen Unterschied zwischen Mensch und Tier

Haumlufig schmuumlcken sich jedoch in vielen Kulturen Menschen mit Bezeichnungen von Tieren Ad-

ler Loumlwe Fuchs Wolf usw sind beliebte Selbstbezeichnungen wie auch anhand von Vornamen

und Titeln erkennbar ist Analog gibt es Bezeichnungen die abwertend gesehen werden wie z B

Schwein Sau Ratte Hund Esel Manche Tiere wie z B Kamel werden in einigen Kulturkreisen

anerkennend in anderen abwertend gebraucht Wo der Unterschied zwischen Mensch und Tier

besonders betont wird werden Tiervergleiche uumlberhaupt nicht gerne gesehen

Teilweise umstritten sind die Bezeichnungen human (woumlrtlich menschlich) und bestialisch

(woumlrtlich tierisch) Hier wird unterstellt dass der Mensch mild waumlre waumlhrend das Tier roh ist

Haumlufig werden aber Handlungsweisen des Menschen als bestialisch bezeichnet die beim Tier

kaum oder gar nicht vorkommen Umgekehrt wird mit human haumlufig eine Verhaltensweise be-

zeichnet die bei Tieren in analoger Form vorkommen

Kritische Literatur zu dieser Problematik

Jobst Paul (2004) Das bdquoTierldquo - Konstrukt - und die Geburt des Rassismus Zur kulturellen Ge-

genwart eines vernichtenden Arguments ISBN 3-89771-731-X

232 Mensch geschlechtsspezifisch

Noch bis ins 19 Jahrhundert wurde in der Theologie aber auch in den Wissenschaften und der

Politik daruumlber debattiert ob Frauen als Menschen zu gelten haben oder nicht und wenn ja ob sie

bdquovollwertigeldquo Menschen seien oder nur eine minderwertige Sonderform

233 Entmenschlichung

Menschen mit Aussehen Verhalten oder Lebensweisen die nicht der Norm entsprachen etwa

geistiger Behinderung wurde gelegentlich das Attribut bdquoMenschldquo abgesprochen man spricht

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des

Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus

wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung

ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam

bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der

Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form

als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-

chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile

(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)

Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-

menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-

ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-

tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-

ziefer belegt

Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht

man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort

wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als

bdquotypisch menschlichldquo betrachtet

In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive

Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen

um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-

tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten

Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib

Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung

als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht

in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-

misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-

bracht wird Penner

Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-

chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt

234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein

Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme

ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-

tragen bekommen kann

Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern

ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-

katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das

Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-

schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen

keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und

mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den

Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-

ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger

Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt

Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-

ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal

uumlberlassen

235 Wann endet der Mensch

Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-

tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-

tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem

Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen

der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber

fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-

nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen

koumlnnen

24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille

Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind

ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung

des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula

rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-

ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen

Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung

von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-

den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-

weltbeeinflussung

Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion

uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch

Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der

Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass

der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt

Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung

In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von

einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann

muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht

angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren

Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und

versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-

keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-

scheint

Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-

de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei

bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die

man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit

der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-

tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt

gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-

cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-

muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-

einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann

die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung

Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt

voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch

Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-

zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen

25 Gleichheit oder Ungleichheit

Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das

Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon

rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in

ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist

Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-

ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-

schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob

die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen

Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen

26 Psychologie der Menschenbilder

261 Definition

Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von

Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele

sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen

oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-

ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-

pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-

entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-

scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen

unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich

den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und

Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und

bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist

das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-

theorien und Weltanschauungen ausmacht

Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-

tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-

freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-

ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-

hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-

pretationen der Welt

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

262 Psychologie der Menschenbilder

In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-

theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-

benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften

(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich

Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die

wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-

trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu

den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-

schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-

schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-

pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-

renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen

Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-

duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um

sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-

gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen

christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene

Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen

Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-

renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und

durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-

Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie

die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht

ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen

263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien

Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-

scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde

Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-

genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-

sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in

ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-

ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum

noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-

rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein

klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen

und Sinnfragen aus

Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-

mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-

den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen

Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-

tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt

bzw systematisches gesichertes Wissen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder

Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch

eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-

mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier

als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-

schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-

praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach

Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde

liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-

schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine

wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes

Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-

che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-

rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-

gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen

Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle

Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung

zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-

schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-

rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch

psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte

Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-

haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind

die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie

Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-

lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch

ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-

teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung

265 Erkundung des Menschenbildes

Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch

durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-

gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-

psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch

fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-

len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde

ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-

fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden

der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von

Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-

se auf das Menschenbild geben

Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen

waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen

religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung

von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-

nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die

Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte

Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-

schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie

unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-

sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie

Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-

sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-

tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-

logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben

266 Menschenbilder in der Psychotherapie

Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-

schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und

pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen

uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-

rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der

bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-

kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-

rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-

graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung

Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen

richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie

auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie

der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In

wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die

Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden

267 Weitere Modelle

Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der

Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)

Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)

Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)

Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-

gicus)

Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen

nach Charles Elworthy)

Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)

Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)

Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)

Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3

3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt

Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer

Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn

versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung

betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)

hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-

traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge

31 Definition und Bedeutung

Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational

handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende

Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4

Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur

Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-

resse des Menschen5

Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten

erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-

treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden

wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder

Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten

wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig

beschreiben

Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw

einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung

bezeichnet

32 Begriffsgeschichte

Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-

tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten

Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-

nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform

des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-

ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles

wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-

nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die

Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7

33 Kritik und neuere Ansaumltze

Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-

maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-

reitschaft und Kooperation wider

4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-

versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)

5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X

6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage

Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus

in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter

gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-

nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-

ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung

des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig

erweitert

In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden

Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-

tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen

Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-

nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich

irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo

von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert

sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-

den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung

eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)

Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-

schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-

onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu

fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet

Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie

auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-

oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts

(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-

ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig

auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-

barldquo[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein

theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-

genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-

genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]

Der Oumlkonom

Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-

munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-

leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-

trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-

8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml

9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-

ka] 2005 (PDF 688 KB)

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12

Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13

Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am

Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump

Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven

Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15

Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16

Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-

furt-New York-Paris 1993 31-62

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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gie Nr 5 2006 S 1-20 ( pdf) 199 KB)

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schaftslehre Faktortheoretischer Ansatz entscheidungsorientierter Ansatz und Systemansatz im Ver-

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Page 7: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Eindeutigkeiten binaumlren Entscheidungen Festschreibungen die das Denken uumlber Mensch und

Welt bisher praumlgten

Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom Nebeneinander einer Vielzahl von Ansichten uumlber den

Menschen von divergierenden neuen und alten Lebensstilen Gemein ist ihnen jedoch zumeist

der Wille zu Pluralismus und Toleranz Die Oumlkologie-Bewegung entwirft in den 70ern und 80ern

ein ganzheitliches Menschenbild bei dem besonders das Eingebundensein des Menschen in die

Natur betont wird Jugendbewegungen wie Punk oder New Wave propagieren einen melancholi-

schen bis pessimistisch-nihilistischen Blick auf den Menschen

23 Was macht den Menschen aus

231 Mensch und Tier

Im europaumlischen Weltbild scheint die Abgrenzung zum Tier eindeutig zu sein In anderen Kultu-

ren jedoch erfolgt die Abgrenzung anders In einigen suumldostasiatischen Sprachen beispielsweise

werden die Menschenaffen zu den Menschen gerechnet Orang Utan ist der Waldmensch und

Orang Asli ein Einheimischer Alle sind Menschen Umgekehrt werden gelegentlich voumlllig ande-

re Menschen nicht zu den Menschen gerechnet In Brasilien kommt es vor dass die dortigen Ur-

einwohner als bdquoWaldtiereldquo bezeichnet werden

In der klassischen Philosophie und im christlichen Menschenbild kommt dem Menschen auf-

grund seiner geistigen Seele (Geist) eine eindeutig herausgehobene Stellung gegenuumlber den Tie-

ren zu denn der Mensch gilt als Ebenbild Gottes (Gen 1 26-27) und ihm steht es zu uumlber die

Tiere wie die gesamte Schoumlpfung zu herrschen (Gen 1 28) Das moderne naturwissenschaftliche

Menschenbild verneint dagegen einen systematischen Unterschied zwischen Mensch und Tier

Haumlufig schmuumlcken sich jedoch in vielen Kulturen Menschen mit Bezeichnungen von Tieren Ad-

ler Loumlwe Fuchs Wolf usw sind beliebte Selbstbezeichnungen wie auch anhand von Vornamen

und Titeln erkennbar ist Analog gibt es Bezeichnungen die abwertend gesehen werden wie z B

Schwein Sau Ratte Hund Esel Manche Tiere wie z B Kamel werden in einigen Kulturkreisen

anerkennend in anderen abwertend gebraucht Wo der Unterschied zwischen Mensch und Tier

besonders betont wird werden Tiervergleiche uumlberhaupt nicht gerne gesehen

Teilweise umstritten sind die Bezeichnungen human (woumlrtlich menschlich) und bestialisch

(woumlrtlich tierisch) Hier wird unterstellt dass der Mensch mild waumlre waumlhrend das Tier roh ist

Haumlufig werden aber Handlungsweisen des Menschen als bestialisch bezeichnet die beim Tier

kaum oder gar nicht vorkommen Umgekehrt wird mit human haumlufig eine Verhaltensweise be-

zeichnet die bei Tieren in analoger Form vorkommen

Kritische Literatur zu dieser Problematik

Jobst Paul (2004) Das bdquoTierldquo - Konstrukt - und die Geburt des Rassismus Zur kulturellen Ge-

genwart eines vernichtenden Arguments ISBN 3-89771-731-X

232 Mensch geschlechtsspezifisch

Noch bis ins 19 Jahrhundert wurde in der Theologie aber auch in den Wissenschaften und der

Politik daruumlber debattiert ob Frauen als Menschen zu gelten haben oder nicht und wenn ja ob sie

bdquovollwertigeldquo Menschen seien oder nur eine minderwertige Sonderform

233 Entmenschlichung

Menschen mit Aussehen Verhalten oder Lebensweisen die nicht der Norm entsprachen etwa

geistiger Behinderung wurde gelegentlich das Attribut bdquoMenschldquo abgesprochen man spricht

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des

Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus

wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung

ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam

bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der

Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form

als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-

chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile

(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)

Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-

menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-

ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-

tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-

ziefer belegt

Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht

man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort

wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als

bdquotypisch menschlichldquo betrachtet

In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive

Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen

um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-

tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten

Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib

Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung

als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht

in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-

misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-

bracht wird Penner

Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-

chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt

234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein

Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme

ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-

tragen bekommen kann

Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern

ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-

katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das

Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-

schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen

keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und

mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den

Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-

ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger

Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt

Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-

ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal

uumlberlassen

235 Wann endet der Mensch

Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-

tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-

tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem

Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen

der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber

fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-

nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen

koumlnnen

24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille

Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind

ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung

des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula

rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-

ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen

Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung

von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-

den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-

weltbeeinflussung

Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion

uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch

Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der

Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass

der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt

Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung

In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von

einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann

muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht

angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren

Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und

versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-

keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-

scheint

Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-

de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei

bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die

man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit

der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-

tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt

gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-

cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-

muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-

einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann

die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung

Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt

voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch

Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-

zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen

25 Gleichheit oder Ungleichheit

Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das

Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon

rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in

ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist

Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-

ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-

schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob

die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen

Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen

26 Psychologie der Menschenbilder

261 Definition

Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von

Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele

sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen

oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-

ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-

pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-

entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-

scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen

unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich

den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und

Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und

bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist

das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-

theorien und Weltanschauungen ausmacht

Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-

tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-

freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-

ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-

hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-

pretationen der Welt

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

262 Psychologie der Menschenbilder

In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-

theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-

benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften

(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich

Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die

wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-

trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu

den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-

schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-

schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-

pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-

renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen

Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-

duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um

sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-

gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen

christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene

Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen

Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-

renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und

durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-

Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie

die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht

ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen

263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien

Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-

scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde

Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-

genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-

sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in

ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-

ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum

noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-

rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein

klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen

und Sinnfragen aus

Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-

mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-

den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen

Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-

tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt

bzw systematisches gesichertes Wissen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder

Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch

eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-

mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier

als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-

schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-

praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach

Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde

liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-

schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine

wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes

Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-

che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-

rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-

gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen

Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle

Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung

zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-

schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-

rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch

psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte

Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-

haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind

die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie

Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-

lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch

ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-

teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung

265 Erkundung des Menschenbildes

Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch

durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-

gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-

psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch

fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-

len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde

ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-

fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden

der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von

Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-

se auf das Menschenbild geben

Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen

waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen

religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung

von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-

nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-

- 12 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die

Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte

Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-

schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie

unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-

sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie

Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-

sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-

tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-

logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben

266 Menschenbilder in der Psychotherapie

Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-

schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und

pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen

uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-

rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der

bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-

kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-

rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-

graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung

Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen

richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie

auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie

der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In

wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die

Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden

267 Weitere Modelle

Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der

Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)

Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)

Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)

Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-

gicus)

Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen

nach Charles Elworthy)

Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)

Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)

Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)

Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3

3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt

Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer

Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn

versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung

betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten

- 13 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)

hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-

traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge

31 Definition und Bedeutung

Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational

handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende

Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4

Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur

Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-

resse des Menschen5

Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten

erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-

treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden

wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder

Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten

wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig

beschreiben

Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw

einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung

bezeichnet

32 Begriffsgeschichte

Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-

tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten

Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-

nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform

des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-

ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles

wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-

nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die

Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7

33 Kritik und neuere Ansaumltze

Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-

maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-

reitschaft und Kooperation wider

4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-

versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)

5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X

6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage

Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76

- 14 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus

in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter

gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-

nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-

ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung

des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig

erweitert

In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden

Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-

tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen

Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-

nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich

irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo

von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert

sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-

den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung

eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)

Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-

schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-

onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu

fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet

Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie

auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-

oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts

(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-

ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig

auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-

barldquo[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein

theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-

genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-

genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]

Der Oumlkonom

Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-

munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-

leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-

trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-

8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml

9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-

ka] 2005 (PDF 688 KB)

- 15 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12

Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13

Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am

Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump

Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven

Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15

Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16

Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-

furt-New York-Paris 1993 31-62

- 16 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Page 8: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

hierbei von Entmenschlichung Dies hat z B in der bdquoNS-Rassenhygieneldquo waumlhrend der Zeit des

Nationalsozialismus zum Begriff des bdquolebensunwerten Lebensldquo gefuumlhrt Im Nationalsozialismus

wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begruumlndung

ermordet (Euthanasie und Aktion T4) Der Maszligstab von Wert der dabei zum Ausdruck kam

bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung fuumlr die Gemeinschaft) der

Opfer aber auch auf auszurottendes Erbgut Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form

als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Kuumlnstlern (Entartete Kunst) Ausdruck Abwei-

chung vom Normalen wurde nicht geduldet Ideal war das Gesunde Saubere Ordentliche Heile

(wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet siehe auch Kitsch)

Auch die Kommunisten kannten die Entmenschlichung ihrer Gegner die Nazis wurden als Un-

menschen und als vertiert dargestellt Im Kalten Krieg galten die Westeuropaumler und ganz beson-

ders die Amerikaner als dekadent bourgeois und im Verfall begriffen Fuumlr eine Umsiedlungsak-

tion von mehreren tausend DDR-Buumlrgern aus grenznahen Orten ist der Tarnname Aktion Unge-

ziefer belegt

Bei Schwerverbrechern wird eine aumlhnliche Ausgrenzung vorgenommen In einer Vorform spricht

man vom bdquoUnmenschenldquo oder von Bestialitaumlt Man bdquowerde zum Tierldquo ist ein gefluumlgeltes Wort

wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht die man als

bdquotypisch menschlichldquo betrachtet

In Kriegen wurden haumlufig Gegner daumlmonisiert und verteufelt Sie sollen dadurch als kollektive

Bedrohung als Masse als das Boumlse wahrgenommen werden nicht als menschliche Individuen

um die eigenen Soldaten zu enthemmen und die Anwendung von militaumlrischer Gewalt zu erleich-

tern Dabei waumlchst die Gefahr von Exzessen und brutalen Entgleisungen wie etwa im Zweiten

Weltkrieg oder im irakischen Gefaumlngnis Abu Ghraib

Neben allen Gesellschaftsgruppen kennt auch die gutbuumlrgerliche Gesellschaft die Ausgrenzung

als Folge von Vorurteilen (bisweilen auch die Diskriminierung) Dies betrifft Menschen die nicht

in ihr Weltbild passt beispielsweise Menschen mit kriminellen Hintergrund Radikale Extre-

misten oder Personen die aufgrund ihrer Lebensweise wenig oder keine Akzeptanz entgegenge-

bracht wird Penner

Eine Erklaumlrung fuumlr die Entmenschlichung neben kalkulierter Propoganda liefert die Sozialpsy-

chologie mit dem Benjamin-Franklin-Effekt

234 Wann beginnt der Mensch Mensch zu sein

Seine Rechtsfaumlhigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt Eine Ausnahme

ist im Erbrecht zu finden da bereits ein Ungeborener als Erbe fungieren und somit Rechte uumlber-

tragen bekommen kann

Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins sondern

ist nur fuumlr rechtliche Zwecke recht praktisch weil im Allgemeinen gut datierbar Nach roumlmisch-

katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung da bereits dort das

Erbgut vollstaumlndig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Wuumlrde samt aller Men-

schenrechte verleiht Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an Wieder andere erkennen

keinen Zeitpunkt der Menschwerdung sondern eine Entwicklung in der der Foumltus mehr und

mehr Mensch wird Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung Von den

Verfechtern eines fruumlhen Menschen wird daher von Mord gesprochen waumlhrend andere keine mo-

ralischen Probleme haben den Foumltus abzutoumlten weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger

Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt

Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-

ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal

uumlberlassen

235 Wann endet der Mensch

Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-

tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-

tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem

Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen

der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber

fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-

nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen

koumlnnen

24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille

Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind

ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung

des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula

rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-

ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen

Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung

von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-

den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-

weltbeeinflussung

Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion

uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch

Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der

Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass

der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt

Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung

In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von

einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann

muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht

angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren

Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und

versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-

keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-

scheint

Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-

de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei

bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die

man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss

- 9 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit

der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-

tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt

gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-

cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-

muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-

einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann

die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung

Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt

voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch

Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-

zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen

25 Gleichheit oder Ungleichheit

Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das

Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon

rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in

ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist

Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-

ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-

schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob

die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen

Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen

26 Psychologie der Menschenbilder

261 Definition

Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von

Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele

sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen

oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-

ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-

pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-

entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-

scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen

unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich

den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und

Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und

bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist

das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-

theorien und Weltanschauungen ausmacht

Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-

tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-

freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-

ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-

hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-

pretationen der Welt

- 10 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

262 Psychologie der Menschenbilder

In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-

theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-

benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften

(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich

Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die

wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-

trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu

den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-

schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-

schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-

pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-

renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen

Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-

duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um

sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-

gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen

christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene

Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen

Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-

renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und

durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-

Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie

die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht

ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen

263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien

Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-

scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde

Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-

genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-

sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in

ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-

ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum

noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-

rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein

klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen

und Sinnfragen aus

Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-

mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-

den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen

Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-

tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt

bzw systematisches gesichertes Wissen

- 11 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder

Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch

eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-

mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier

als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-

schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-

praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach

Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde

liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-

schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine

wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes

Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-

che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-

rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-

gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen

Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle

Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung

zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-

schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-

rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch

psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte

Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-

haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind

die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie

Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-

lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch

ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-

teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung

265 Erkundung des Menschenbildes

Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch

durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-

gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-

psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch

fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-

len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde

ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-

fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden

der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von

Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-

se auf das Menschenbild geben

Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen

waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen

religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung

von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-

nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-

- 12 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die

Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte

Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-

schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie

unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-

sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie

Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-

sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-

tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-

logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben

266 Menschenbilder in der Psychotherapie

Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-

schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und

pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen

uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-

rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der

bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-

kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-

rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-

graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung

Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen

richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie

auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie

der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In

wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die

Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden

267 Weitere Modelle

Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der

Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)

Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)

Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)

Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-

gicus)

Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen

nach Charles Elworthy)

Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)

Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)

Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)

Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3

3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt

Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer

Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn

versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung

betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten

- 13 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)

hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-

traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge

31 Definition und Bedeutung

Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational

handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende

Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4

Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur

Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-

resse des Menschen5

Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten

erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-

treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden

wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder

Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten

wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig

beschreiben

Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw

einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung

bezeichnet

32 Begriffsgeschichte

Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-

tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten

Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-

nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform

des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-

ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles

wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-

nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die

Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7

33 Kritik und neuere Ansaumltze

Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-

maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-

reitschaft und Kooperation wider

4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-

versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)

5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X

6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage

Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76

- 14 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus

in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter

gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-

nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-

ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung

des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig

erweitert

In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden

Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-

tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen

Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-

nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich

irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo

von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert

sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-

den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung

eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)

Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-

schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-

onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu

fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet

Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie

auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-

oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts

(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-

ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig

auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-

barldquo[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein

theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-

genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-

genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]

Der Oumlkonom

Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-

munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-

leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-

trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-

8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml

9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-

ka] 2005 (PDF 688 KB)

- 15 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12

Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13

Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am

Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump

Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven

Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15

Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16

Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-

furt-New York-Paris 1993 31-62

- 16 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Helmut Woll Menschenbilder in der Oumlkonomie Oldenbourg MuumlnchenWien 1994 ISBN 3-486-23056-5

Stefan Zabieglik The Origins of the Term Homo Oeconomicus In Janina Kubka (Hrsgn) Economics

and Values PG Gdańsk 2002 ISBN 83-915729-2-7 S 123-131

Page 9: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Beachtet werden sollte dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger

Mensch galt Haumlufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezaumlhlt

Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtungen uumlber den sprachlosen Kaspar Hau-

ser Das Aussetzen eines Kindes war fruumlher weit verbreitet Findelkinder wurden dem Schicksal

uumlberlassen

235 Wann endet der Mensch

Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeu-

tung Herzstillstand muss aber z B noch keinen endguumlltigen Tod bedeuten Der Eintritt des Hirn-

tods ist eindeutiger aber schwerer feststellbar Praktisch wird die Frage wenn - etwa nach einem

Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird aber ein Wiedererreichen

der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint Sehr unterschiedliche Vorstellungen daruumlber

fuumlhren dazu dass alten Menschen eine Patientenverfuumlgung empfohlen wird in der sie ihre eige-

nen Vorstellungen daruumlber niederschreiben und fuumlr die behandelnden Aumlrzte verbindlich machen

koumlnnen

24 Erbe und Umwelt Determinismus und freier Wille

Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind

ist von jeher strittig Neben den extremen Ansichten die von einer vollstaumlndigen Vorbestimmung

des Menschen durch sein Erbgut bzw von einer voumllligen Erziehbarkeit des Menschen (bdquotabula

rasaldquo) ausgehen gibt es viele Abstufungen von Meinungen die den Menschen mehr oder weni-

ger durch das Erbgut vorbestimmt sehen

Beide Seiten koumlnnen hinreichend Beispiele fuumlr die Vererbbarkeit bzw die Umweltbeeinflussung

von menschlichen Eigenschaften vorbringen so dass die extremen Ansichten heute selten gewor-

den sind Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Praumlgung einer irreversiblen Um-

weltbeeinflussung

Philosophisch und religioumls haben diese Fragen eine sehr groszlige Bedeutung bei der Diskussion

uumlber den freien Willen Wird ein freier Wille postuliert dann gibt es Bereiche die weder durch

Erbe noch durch Umwelt determiniert sind Im Gegensatz dazu steht die Auffassung dass der

Mensch voumlllig determiniert sei Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen dass

der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt

Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung

In der Erziehung geht es um die Frage was Erziehung uumlberhaupt bewirken kann Geht man von

einer sehr starken Vorbestimmung von Faumlhigkeiten durch das Erbe aus (bdquoBegabungenldquo) dann

muss man diese Begabung ermitteln um sie zu foumlrdern Die Erziehung zu Faumlhigkeiten die nicht

angeboren sind ist danach ausgeschlossen bzw nur mit sehr groszligem Aufwand durchzufuumlhren

Fruumlher ging man bei der Frage der Rechtshaumlndigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und

versuchte die Kinder alle zu Rechtshaumlndern zu erziehen Heute unterstellt man dass die Haumlndig-

keit angeboren ist und laumlsst die Kinder mit der Hand schreiben die fuumlr sie die bdquorichtigeldquo er-

scheint

Geht man von starken Umwelteinfluumlssen aus so neigt staatliche Erziehung dazu die Unterschie-

de zwischen den Einfluumlssen verschiedener Elternhaumluser ausgleichen zu wollen Der Mensch sei

bdquogleich geborenldquo und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten die

man in der Schule moumlglichst ausgleichen muss

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit

der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-

tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt

gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-

cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-

muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-

einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann

die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung

Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt

voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch

Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-

zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen

25 Gleichheit oder Ungleichheit

Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das

Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon

rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in

ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist

Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-

ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-

schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob

die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen

Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen

26 Psychologie der Menschenbilder

261 Definition

Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von

Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele

sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen

oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-

ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-

pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-

entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-

scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen

unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich

den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und

Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und

bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist

das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-

theorien und Weltanschauungen ausmacht

Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-

tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-

freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-

ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-

hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-

pretationen der Welt

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

262 Psychologie der Menschenbilder

In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-

theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-

benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften

(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich

Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die

wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-

trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu

den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-

schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-

schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-

pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-

renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen

Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-

duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um

sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-

gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen

christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene

Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen

Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-

renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und

durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-

Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie

die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht

ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen

263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien

Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-

scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde

Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-

genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-

sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in

ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-

ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum

noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-

rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein

klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen

und Sinnfragen aus

Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-

mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-

den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen

Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-

tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt

bzw systematisches gesichertes Wissen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder

Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch

eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-

mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier

als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-

schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-

praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach

Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde

liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-

schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine

wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes

Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-

che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-

rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-

gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen

Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle

Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung

zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-

schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-

rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch

psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte

Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-

haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind

die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie

Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-

lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch

ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-

teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung

265 Erkundung des Menschenbildes

Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch

durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-

gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-

psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch

fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-

len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde

ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-

fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden

der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von

Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-

se auf das Menschenbild geben

Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen

waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen

religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung

von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-

nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die

Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte

Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-

schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie

unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-

sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie

Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-

sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-

tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-

logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben

266 Menschenbilder in der Psychotherapie

Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-

schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und

pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen

uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-

rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der

bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-

kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-

rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-

graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung

Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen

richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie

auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie

der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In

wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die

Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden

267 Weitere Modelle

Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der

Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)

Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)

Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)

Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-

gicus)

Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen

nach Charles Elworthy)

Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)

Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)

Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)

Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3

3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt

Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer

Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn

versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung

betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)

hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-

traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge

31 Definition und Bedeutung

Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational

handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende

Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4

Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur

Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-

resse des Menschen5

Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten

erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-

treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden

wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder

Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten

wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig

beschreiben

Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw

einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung

bezeichnet

32 Begriffsgeschichte

Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-

tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten

Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-

nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform

des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-

ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles

wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-

nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die

Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7

33 Kritik und neuere Ansaumltze

Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-

maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-

reitschaft und Kooperation wider

4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-

versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)

5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X

6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage

Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus

in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter

gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-

nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-

ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung

des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig

erweitert

In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden

Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-

tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen

Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-

nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich

irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo

von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert

sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-

den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung

eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)

Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-

schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-

onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu

fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet

Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie

auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-

oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts

(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-

ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig

auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-

barldquo[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein

theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-

genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-

genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]

Der Oumlkonom

Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-

munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-

leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-

trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-

8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml

9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-

ka] 2005 (PDF 688 KB)

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12

Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13

Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am

Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump

Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven

Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15

Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16

Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-

furt-New York-Paris 1993 31-62

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Page 10: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

- 9 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Auch in der Kriminalitaumltspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss Menschen mit

der Vorstellung dass Verbrecher zu Verbrechern bdquogemachtldquo werden neigen zu starker Gewich-

tung von Resozialisierungsmaszlignahmen und lehnen das bdquoWegsperrenldquo der Taumlter ab Umgekehrt

gehen Menschen mit der Vorstellung dass man bdquozum Verbrecher geborenldquo wird dazu Verbre-

cher wegzusperren Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemuumlhungen vertane Liebes-

muumlhrsquo Weit verbreitet ist auch die Vorstellung dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelt-

einfluumlsse zusammenkommen wenn ein Mensch zum Verbrecher wird Hier mischen sich dann

die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung

Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen Das wiederum setzt

voraus dass man vererbte Gesetzmaumlszligigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt die durch

Werbung angesprochen werden Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Kon-

zernen sichtbar die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen

25 Gleichheit oder Ungleichheit

Die alte Streitfrage ob alle Menschen gleich seien oder verschieden wird ebenfalls durch das

Menschenbild bestimmt Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten die schon

rein aumluszligerlich auffallen Auch in ihren Grundbeduumlrfnissen gleichen die Menschen sich und in

ihrer emotionalen Grundstruktur die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist

Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede so dass wir einzelne Menschen identifizie-

ren koumlnnen was ja nicht moumlglich waumlre wenn alle gleich waumlren In der Frage wie gleich die Men-

schen sind scheiden sich die Geister Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen ob

die Menschen gleich oder verschieden sein sollen Daruumlber dass alle Menschen die gleichen

Rechte haben sollen gibt es seit der Aufklaumlrung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen

26 Psychologie der Menschenbilder

261 Definition

Das Menschenbild ist die Gesamtheit der Annahmen und Uumlberzeugungen was der Mensch von

Natur aus ist wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele

sein Leben hat oder haben sollte Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen

oder von den Menschen im Allgemeinen Dieses Menschenbild wird von jedem Einzelnen entwi-

ckelt enthaumllt jedoch vieles was auch fuumlr die Auffassungen anderer Personen oder groumlszligerer Grup-

pen und Gemeinschaften typisch ist Es enthaumllt Traditionen der Kultur und Gesellschaft Wertori-

entierungen und Antworten auf Grundfragen des Lebens Viele der Ansichten werden sich wahr-

scheinlich auf einige fundamentale Uumlberzeugungen zuruumlckfuumlhren lassen Diese Uumlberzeugungen

unterscheiden sich von anderen Einstellungen durch ihre systematische Bedeutung gedanklich

den Grund zu legen und durch ihre persoumlnlich empfundene Guumlltigkeit durch ihre Gewissheit und

Wichtigkeit Die Annahmen uumlber den Menschen haben viele und unterschiedliche Inhalte und

bilden ein individuelles Muster mit Kernthemen und Randthemen Psychologisch betrachtet ist

das Menschenbild eine subjektive Theorie die einen wesentlichen Teil der persoumlnlichen Alltags-

theorien und Weltanschauungen ausmacht

Zu den Grunduumlberzeugungen gehoumlren oft der religioumlse Glaube der Glaube an Gott und eine geis-

tige Existenz nach dem biologischen Tod (Unsterblichkeit der Seele) die Spiritualitaumlt Willens-

freiheit Prinzipien der Ethik soziale Verantwortung und andere Werte Menschenbilder enthal-

ten demnach Uumlberzeugungen die eine hohe persoumlnliche Guumlltigkeit haben sie sind aus der Erzie-

hung und der individuellen Lebenserfahrung entstandene persoumlnliche Konstruktionen und Inter-

pretationen der Welt

- 10 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

262 Psychologie der Menschenbilder

In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-

theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-

benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften

(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich

Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die

wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-

trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu

den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-

schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-

schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-

pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-

renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen

Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-

duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um

sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-

gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen

christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene

Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen

Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-

renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und

durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-

Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie

die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht

ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen

263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien

Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-

scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde

Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-

genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-

sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in

ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-

ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum

noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-

rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein

klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen

und Sinnfragen aus

Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-

mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-

den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen

Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-

tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt

bzw systematisches gesichertes Wissen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder

Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch

eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-

mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier

als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-

schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-

praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach

Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde

liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-

schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine

wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes

Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-

che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-

rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-

gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen

Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle

Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung

zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-

schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-

rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch

psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte

Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-

haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind

die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie

Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-

lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch

ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-

teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung

265 Erkundung des Menschenbildes

Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch

durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-

gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-

psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch

fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-

len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde

ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-

fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden

der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von

Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-

se auf das Menschenbild geben

Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen

waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen

religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung

von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-

nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-

- 12 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die

Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte

Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-

schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie

unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-

sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie

Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-

sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-

tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-

logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben

266 Menschenbilder in der Psychotherapie

Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-

schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und

pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen

uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-

rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der

bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-

kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-

rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-

graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung

Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen

richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie

auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie

der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In

wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die

Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden

267 Weitere Modelle

Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der

Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)

Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)

Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)

Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-

gicus)

Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen

nach Charles Elworthy)

Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)

Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)

Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)

Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3

3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt

Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer

Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn

versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung

betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)

hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-

traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge

31 Definition und Bedeutung

Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational

handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende

Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4

Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur

Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-

resse des Menschen5

Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten

erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-

treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden

wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder

Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten

wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig

beschreiben

Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw

einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung

bezeichnet

32 Begriffsgeschichte

Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-

tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten

Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-

nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform

des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-

ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles

wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-

nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die

Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7

33 Kritik und neuere Ansaumltze

Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-

maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-

reitschaft und Kooperation wider

4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-

versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)

5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X

6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage

Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus

in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter

gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-

nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-

ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung

des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig

erweitert

In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden

Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-

tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen

Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-

nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich

irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo

von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert

sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-

den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung

eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)

Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-

schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-

onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu

fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet

Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie

auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-

oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts

(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-

ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig

auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-

barldquo[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein

theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-

genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-

genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]

Der Oumlkonom

Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-

munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-

leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-

trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-

8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml

9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-

ka] 2005 (PDF 688 KB)

- 15 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12

Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13

Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am

Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump

Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven

Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15

Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16

Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-

furt-New York-Paris 1993 31-62

- 16 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

7 Literatur

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Page 11: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

- 10 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

262 Psychologie der Menschenbilder

In der Psychologie existieren mehrere aumlhnliche oder weitgehend synonyme Fachbegriffe Alltags-

theorien oder subjektive Theorien sind die Auffassungen welche sich Menschen uumlber ihre Le-

benswelt herausgebildet haben Es sind Begriffe Zuschreibungen von Eigenschaften

(Attributionen) insbesondere von Ursachen (Kausaldeutungen) und andere Konzepte wie sich

Menschen in der Welt orientieren und Zusammenhaumlnge begreifen Alltagspsychologie hat die

wichtige Funktion das Verhalten anderer Menschen verstehbar subjektiv voraussagbar und kon-

trollierbar zu machen Persoumlnliche Konstrukte eines Menschen bezeichnen ndash im Unterschied zu

den Erklaumlrungshypothesen der Wissenschaftler ndash Schemata zur Erfassung der Welt Die Men-

schen gehen um andere Personen oder die Ereignisse in der Welt zu verstehen wie Wissen-

schaftler vor ndash so lautet auch die grundlegende Behauptung von Harold Kelley Menschen inter-

pretieren ihre Wahrnehmungen sie entwickeln Annahmen und pruumlfen diese an ihren wiederkeh-

renden Erfahrungen Dabei unterliegt das System persoumlnlicher Konstrukte einer kontinuierlichen

Veraumlnderung durch neue Erfahrungen Implizite Anthropologie enthaumllt die gesamte vom Indivi-

duum gesammelte und deshalb einzigartige Lebenserfahrung Sie bildet den Bezugsrahmen um

sich zu orientieren andere Menschen einzuordnen Probleme zu loumlsen und das Leben zu bewaumllti-

gen Werthaltungen sind durch die Orientierung an typischen Werten z B humanistischen

christlichen demokratischen Werten gekennzeichnet Selbstkonzepte sind alle auf die eigene

Person bezogenen Einstellungen bzw Beurteilungen

Aus der Forschung uumlber solche Alltagstheorien (ua Laucken) ist seit langem bekannt wie diffe-

renziert die bdquonaivenldquo Verhaltenstheorien sein koumlnnen ua durch tradierte Vorstellungen und

durch Lernen an der eigenen Erfahrung Sie sind z T mit Zusatzannahmen und mit Kausal-

Deutungen (im Unterschied zu wissenschaftlichen kausalen Erklaumlrungen) aumlhnlich geformt wie

die aus der Fachwissenschaft stammenden Konzepte Sie sind jedoch oft unterschwellig und nicht

ausformuliert so dass sie erst durch geeignete Methoden erkundet werden muumlssen

263 Menschenbilder und Persoumlnlichkeitstheorien

Menschenbilder als subjektive Theorien und wissenschaftliche Persoumlnlichkeitstheorien unter-

scheiden sich in verschiedener Hinsicht Persoumlnlichkeitstheorien geben eine verallgemeinernde

Beschreibung der Struktur und Funktion von Persoumlnlichkeitsmerkmalen d h Persoumlnlichkeitsei-

genschaften Motiven Emotionen usw Das wissenschaftliche Programm lautet die psychophysi-

sche Individualitaumlt des Menschen genau zu beschreiben als Persoumlnlichkeit zu verstehen und in

ihrer genetisch familiaumlr und soziokulturell bedingten Entwicklung zu erklaumlren In diesen Aufga-

ben buumlndeln sich zahlreiche Forschungsrichtungen der Psychologie und es existiert eine kaum

noch uumlberschaubare Vielfalt heterogener mehr oder minder ausgeformter Persoumlnlichkeitstheo-

rien Diese beziehen auch soziale Einstellungen Wertorientierungen und Uumlberzeugungen ein

klammern jedoch gewoumlhnlich die grundlegenden philosophischen und religioumlsen Uumlberzeugungen

und Sinnfragen aus

Persoumlnlichkeitstheorien sind in der Regel sehr viel differenzierter begrifflich ausgearbeitet for-

mal strukturiert und in Teilen auch empirisch uumlberpruumlft wobei bestimmte Untersuchungsmetho-

den eingesetzt werden Zwischen den individuellen Menschenbildern und den psychologischen

Persoumlnlichkeits- und Motivationstheorien bestehen also formale Unterschiede und die Konstruk-

tionen haben verschiedene Absichten Orientierung des Einzelnen in der persoumlnlichen Lebenswelt

bzw systematisches gesichertes Wissen

- 11 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder

Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch

eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-

mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier

als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-

schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-

praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach

Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde

liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-

schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine

wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes

Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-

che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-

rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-

gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen

Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle

Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung

zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-

schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-

rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch

psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte

Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-

haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind

die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie

Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-

lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch

ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-

teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung

265 Erkundung des Menschenbildes

Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch

durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-

gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-

psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch

fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-

len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde

ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-

fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden

der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von

Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-

se auf das Menschenbild geben

Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen

waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen

religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung

von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-

nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-

- 12 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die

Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte

Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-

schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie

unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-

sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie

Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-

sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-

tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-

logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben

266 Menschenbilder in der Psychotherapie

Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-

schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und

pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen

uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-

rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der

bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-

kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-

rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-

graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung

Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen

richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie

auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie

der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In

wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die

Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden

267 Weitere Modelle

Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der

Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)

Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)

Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)

Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-

gicus)

Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen

nach Charles Elworthy)

Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)

Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)

Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)

Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3

3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt

Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer

Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn

versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung

betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten

- 13 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)

hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-

traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge

31 Definition und Bedeutung

Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational

handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende

Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4

Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur

Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-

resse des Menschen5

Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten

erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-

treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden

wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder

Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten

wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig

beschreiben

Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw

einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung

bezeichnet

32 Begriffsgeschichte

Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-

tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten

Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-

nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform

des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-

ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles

wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-

nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die

Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7

33 Kritik und neuere Ansaumltze

Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-

maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-

reitschaft und Kooperation wider

4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-

versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)

5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X

6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage

Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76

- 14 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus

in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter

gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-

nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-

ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung

des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig

erweitert

In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden

Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-

tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen

Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-

nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich

irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo

von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert

sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-

den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung

eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)

Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-

schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-

onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu

fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet

Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie

auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-

oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts

(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-

ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig

auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-

barldquo[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein

theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-

genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-

genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]

Der Oumlkonom

Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-

munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-

leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-

trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-

8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml

9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-

ka] 2005 (PDF 688 KB)

- 15 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12

Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13

Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am

Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump

Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven

Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15

Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16

Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-

furt-New York-Paris 1993 31-62

- 16 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Page 12: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

264 Leitbegriffe oder differentielle Psychologie der Menschenbilder

Wie gegensaumltzlich der Mensch bestimmt werden kann hat der Philosoph Alwin Diemer durch

eine Reihe charakteristischer Zitate demonstriert Bekannt sind Begriffe wie zoon politikon ho-

mo rationale homo faber homo oeconomicus oder der Mensch als das nicht-festgestellte Tier

als gesellschaftsbestimmtes arbeitendes und produzierendes Lebewesen oder als gesellschaftsge-

schaumldigtes Reflexionswesen Auch aus psychologischer Sicht wurden solche Leitprinzipien ge-

praumlgt die unbewussten Triebanspruumlche das Lernen am Modell die immerwaumlhrende Suche nach

Sinn die Selbstverwirklichung usw Psychische Phaumlnomene werden auf ein angeblich zugrunde

liegendes Funktionsprinzip zuruumlckgefuumlhrt oder auf einen fundamentalen Gegensatz Im Unter-

schied zu solchen Vereinfachungen oder Zerrbildern verlangt die differentielle Psychologie eine

wesentlich breitere empirische Sicht auf die zahlreichen Facetten des Menschenbildes

Die Psychologie der Menschenbilder hat mehrere ineinander verschachtelte Perspektiven Wel-

che grundlegenden Annahmen uumlber den Menschen sind bei den Einzelnen bzw in der Bevoumllke-

rung vorzufinden Welche Menschenbilder ndash im Sinne von Vorannahmen oder Vorentscheidun-

gen ndash lassen andererseits die Autoren der wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien erkennen

Welches Menschenbild dokumentiert der Autor eines Lehrbuchs durch die Auswahl und spezielle

Gewichtung von Persoumlnlichkeitstheorien und Methoden Die zuvor getroffene Unterscheidung

zwischen den wissenschaftlichen Persoumlnlichkeitstheorien und den Annahmen der psychologi-

schen Alltagstheorien kann folglich nicht sehr scharf sein Auch in die wissenschaftlichen Theo-

rien mischen sich oft noch sehr vorlaumlufige Annahmen und in die Alltagstheorien durchaus auch

psychologische Wissenskomponenten aus der Forschung d h von den Medien popularisierte

Details Viele Psychologen verwenden Fragebogen und Interviews und importieren mit den er-

haltenen Antworten auch Bestandteile der Alltagstheorien in ihre Konzeptionen Auszligerdem sind

die Alltagstheorien der Bevoumllkerung wiederum Thema der wissenschaftlichen Psychologie

Die Forschung zu Menschenbildern gehoumlrt in ein Grenzgebiet der Persoumlnlichkeits- und Entwick-

lungspsychologie der Sozial- und Kulturpsychologie sowie der Wissenspsychologie Dadurch

ergeben sich viele Perspektiven z B sozialpsychologisch im Hinblick auf Stereotype und Vorur-

teile sowie deren Konsequenzen fuumlr die interkulturelle Verstaumlndigung

265 Erkundung des Menschenbildes

Das individuelle Menschenbild kann durch die Methode des Interviews und naumlherungsweise auch

durch Fragebogen erfasst werden gruumlndlichere Einsichten werden sich dagegen nur in psycholo-

gisch-biographischen Studien (und auch im Alltagsverhalten) ergeben Die Methodik der sozial-

psychologischen Forschung uumlber Einstellungen und uumlber Werte ist am besten ausgearbeitet auch

fuumlr die Religionspsychologie gibt es inzwischen zahlreiche Fragebogen bzw standardisierte Ska-

len Auch in einigen bevoumllkerungsrepraumlsentativen sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurde

ua nach Wertuumlberzeugungen und dem Sinn des Lebens nach Religiositaumlt und Spiritualitaumlt ge-

fragt Andere Umfragen zeigten die Menschenbilder bestimmter Gruppen z B von Studierenden

der Psychologie oder von Psychotherapeuten Schlieszliglich koumlnnen die Autobiographien von

Psychologen Psychotherapeuten oder Philosophen inhaltlich ausgewertet werden ob sie Hinwei-

se auf das Menschenbild geben

Die Vielfalt der Menschenbilder empirisch zu erkunden und nach haumlufigen Mustern zu suchen

waumlre die erste Aufgabe Zweitens waumlre systematisch nach den historischen zeitgeschichtlichen

religioumlsen soziokulturellen und anderen Bedingungen fuumlr das Entstehen und die Veraumlnderung

von Uumlberzeugungen zu fragen Beispielsweise koumlnnte untersucht werden wie sich zentrale An-

nahmen des Menschenbildes durch ein Fachstudium etwa der Psychologie Paumldagogik oder Me-

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die

Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte

Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-

schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie

unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-

sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie

Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-

sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-

tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-

logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben

266 Menschenbilder in der Psychotherapie

Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-

schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und

pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen

uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-

rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der

bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-

kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-

rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-

graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung

Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen

richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie

auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie

der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In

wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die

Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden

267 Weitere Modelle

Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der

Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)

Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)

Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)

Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-

gicus)

Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen

nach Charles Elworthy)

Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)

Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)

Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)

Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3

3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt

Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer

Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn

versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung

betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)

hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-

traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge

31 Definition und Bedeutung

Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational

handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende

Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4

Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur

Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-

resse des Menschen5

Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten

erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-

treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden

wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder

Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten

wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig

beschreiben

Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw

einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung

bezeichnet

32 Begriffsgeschichte

Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-

tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten

Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-

nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform

des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-

ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles

wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-

nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die

Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7

33 Kritik und neuere Ansaumltze

Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-

maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-

reitschaft und Kooperation wider

4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-

versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)

5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X

6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage

Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76

- 14 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus

in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter

gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-

nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-

ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung

des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig

erweitert

In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden

Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-

tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen

Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-

nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich

irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo

von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert

sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-

den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung

eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)

Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-

schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-

onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu

fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet

Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie

auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-

oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts

(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-

ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig

auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-

barldquo[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein

theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-

genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-

genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]

Der Oumlkonom

Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-

munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-

leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-

trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-

8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml

9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-

ka] 2005 (PDF 688 KB)

- 15 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12

Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13

Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am

Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump

Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven

Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15

Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16

Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-

furt-New York-Paris 1993 31-62

- 16 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Page 13: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

dizin aumlndern Eine weitere Perspektive geben die speziellen Inhalte der Lehrbuumlcher denn die

Autoren werden unvermeidlich eigene Uumlberzeugungen erkennen lassen wenn sie bestimmte

Theorien auswaumlhlen und darstellen Menschenbilder haben die Funktion von Leitbildern in ver-

schiedenen Lebensbereichen und damit auch auf den Gebieten der angewandten Psychologie

unter anderem Arbeitspsychologie Organisationspsychologie Betriebspsychologie Paumldagogi-

sche Psychologie Erziehung Gesundheitspsychologie und Psychotherapie

Die individuellen Menschenbilder werden sich auf den Lebensalltag auswirken Aber beeinflus-

sen sie auch die Berufspraxis von Aumlrzten Psychotherapeuten Richtern wenn diese Verantwor-

tung fuumlr andere Menschen uumlbernehmen Empirische Untersuchungen zur differentiellen Psycho-

logie der Menschenbilder koumlnnten mehr Aufschluss uumlber diese Zusammenhaumlnge geben

266 Menschenbilder in der Psychotherapie

Die verschiedenen Menschenbilder der Psychotherapie-Richtungen koumlnnen als Leitbilder des therapeuti-

schen Handelns verstanden werden Seit der Auseinandersetzung um Sigmund Freuds atheistisches und

pessimistisches Menschenbild gibt es fortdauernde Diskussionen uumlber das Verstaumlndnis des Menschen

uumlber humane Werte und Ethik in der Psychotherapie Die in den verschiedenen Richtungen der Psychothe-

rapie existierenden Menschenbilder sind jedoch nicht ohne weiteres festzulegen Die Menschenbilder der

bedeutenden Pioniere sind selten in systematischer ausgearbeiteter Weise vorzufinden Oft sind es mar-

kante und zugespitzte Zitate um die sich dann Kontroversen ranken welche im Kontext anderer Aumluszlige-

rungen alsbald relativiert werden muumlssten An erster Stelle der Quelleninterpretation stehen natuumlrlich Bio-

graphie und Werk des Begruumlnders einer bestimmten Psychotherapie-Richtung

Waumlhrend in einer ersten Phase das Menschenbild Freuds und der Psychoanalyse im Zentrum standen

richtete sich das Interesse anschlieszligend vor allem auf das Menschenbild der Verhaltenstherapeuten sowie

auf die Leitbilder neuer Stroumlmungen beispielsweise die bdquoPsychologie des guten Lebensldquo die bdquoIdeologie

der neuen Spiritualitaumltldquo auf fundamentalistische Ideologien Dogmen und Mythen in der Psychoszene In

wieweit sich bestimmte Leitbilder tatsaumlchlich auf die Therapieziele den therapeutischen Prozess und die

Erfolgsbeurteilung auswirken ist empirisch noch kaum untersucht worden

267 Weitere Modelle

Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der

Homo sociologicus (der Mensch als Resultante seiner sozialen Rollen nach Ralf Dahrendorf)

Homo politicus (der politisch taumltige Mensch siehe auch Neue Politische Oumlkonomie)

Homo oecologicus (der Mensch als oumlkologisch handelndes Wesen)

Homo culturalis (starke Schnittmengen mit den Konzepten des Homo sociologicus und Homo oecolo-

gicus)

Homo biologicus (der Mensch als von evolutionaumlren Anpassungen an seine Umwelt gepraumlgtes Wesen

nach Charles Elworthy)

Homo reciprocans (beruumlcksichtigt das Verhalten anderer Akteure)

Homo laborans (der Mensch als arbeitendes Wesen)

Homo ludens (der Mensch als spielendes Wesen)

Homo cooperativus (der Mensch als Akteur innerhalb einer Gruppe von Menschen)3

3 Homo cooperativus ist ein Begriff der ein Menschenbild beschreibt und aus der Umweltoumlkonomie stammt

Es wird davon ausgegangen dass der Mensch am gluumlcklichsten ist und sich am sichersten fuumlhlt wenn er in einer

Gruppe mit anderen Menschen zusammen lebt So kann er auch bei Krankheit weiterleben indem die Gruppe ihn

versorgt Auszligerdem ist es effizienter wenn jeder sich auf eine bestimmte Arbeit spezialisiert also Arbeitsteilung

betrieben wird als wenn jedes Individuum versucht alles alleine zu leisten

- 13 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)

hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-

traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge

31 Definition und Bedeutung

Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational

handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende

Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4

Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur

Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-

resse des Menschen5

Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten

erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-

treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden

wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder

Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten

wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig

beschreiben

Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw

einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung

bezeichnet

32 Begriffsgeschichte

Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-

tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten

Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-

nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform

des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-

ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles

wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-

nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die

Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7

33 Kritik und neuere Ansaumltze

Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-

maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-

reitschaft und Kooperation wider

4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-

versitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 4 (PDF 69 KB)

5 Gabler Wirtschafts-Lexikon 15 Auflage S 1457 ISBN 3-409-30388-X

6 Eduard Spranger Lebensformen Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persoumlnlichkeit 8 Auflage

Tuumlbingen 1950 S 148 7 F A von Hayek Die Verfassung der Freiheit Mohr (Siebeck) Tuumlbingen 1971 S 76

- 14 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus

in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter

gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-

nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-

ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung

des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig

erweitert

In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden

Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-

tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen

Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-

nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich

irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo

von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert

sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-

den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung

eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)

Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-

schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-

onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu

fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet

Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie

auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-

oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts

(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-

ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig

auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-

barldquo[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein

theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-

genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-

genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]

Der Oumlkonom

Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-

munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-

leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-

trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-

8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml

9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-

ka] 2005 (PDF 688 KB)

- 15 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12

Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13

Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am

Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump

Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven

Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15

Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16

Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-

furt-New York-Paris 1993 31-62

- 16 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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- 13 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

3 Homo oeconomicus (bdquoWirtschaftsmenschldquo)

hellip ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abs-

traktion und Erklaumlrung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhaumlnge

31 Definition und Bedeutung

Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur der eigeninteressiert und rational

handelt seinen eigenen Nutzen maximiert auf veraumlnderliche Restriktionen reagiert feststehende

Praumlferenzen hat und uumlber (vollstaumlndige) Information verfuumlgt4

Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur

Loumlsung spezifischer Probleme insbesondere fuumlr soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninte-

resse des Menschen5

Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophaumlnomene und nicht individuelles Verhalten

erklaumlrt Diese Erklaumlrung wird fuumlr viele Fragestellungen in denen widerstreitende Interessen auf-

treten als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert Es soll vorhergesagt werden

wie sich beispielsweise ein Geschaumlftsmann ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder

Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z B Marktbegebenheiten) verhalten

wird Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhaumlnge in der Theorie durchsichtig

beschreiben

Handlungstheorien die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw

einer modifizierten Variante davon) aufbauen werden als Theorie der rationalen Entscheidung

bezeichnet

32 Begriffsgeschichte

Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams bdquoA His-

tory of Political Economyldquo den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten

Mal Vilfredo Pareto in seinem bdquoManuale drsquoeconomia politicaldquo (1906) Eduard Spranger bezeich-

nete 1914 in seiner bdquoPsychologie der Typenlehreldquo den homo oeconomicus als eine Lebensform

des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt bdquoDer oumlkonomische Mensch im allgemeinsten Sin-

ne ist also derjenige der in allen Lebensbeziehungen den Nuumltzlichkeitswert voranstellt Alles

wird fuumlr ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung des naturhaften Kampfes ums Dasein und der ange-

nehmen Lebensgestaltungldquo6 Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die

Nationaloumlkonomie eingefuumlhrt 7

33 Kritik und neuere Ansaumltze

Der Homo cooperativus handelt im Vergleich zum homo oeconomicus kurzfristig nicht nur als reiner Eigennutzen-

maximierer sondern betrachtet viel mehr auch langfristige Ziele Das spiegelt sich dann in Naumlchstenliebe Hilfsbe-

reitschaft und Kooperation wider

4 Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In Uni-

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- 14 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus

in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter

gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-

nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-

ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung

des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig

erweitert

In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden

Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-

tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen

Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-

nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich

irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo

von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert

sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-

den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung

eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)

Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-

schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-

onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu

fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet

Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie

auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-

oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts

(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-

ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig

auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-

barldquo[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein

theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-

genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-

genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]

Der Oumlkonom

Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-

munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-

leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-

trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-

8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml

9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-

ka] 2005 (PDF 688 KB)

- 15 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12

Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13

Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am

Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump

Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven

Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15

Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16

Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-

furt-New York-Paris 1993 31-62

- 16 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

7 Literatur

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Jochen Fahrenberg Was denken Studierende der Psychologie uumlber das Gehirn-Bewusstsein-Problem

uumlber Willensfreiheit Transzendenz und den Einfluss philosophischer Vorentscheidungen auf die Berufs-

praxis Journal fuumlr Psychologie Bd 14 2006 S 302-330

Jochen Fahrenberg Psychologische Anthropologie ndash Eine Fragebogenstudie zum Menschenbild von 800

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gie Nr 5 2006 S 1-20 ( pdf) 199 KB)

Jochen Fahrenberg Menschenbilder Psychologische biologische interkulturelle und religioumlse Ansichten

Psychologische und Interdisziplinaumlre Anthropologie (access e-book print on demand pdf 20 MB 5

Maumlrz 2008)

Hermann-Josef Fisseni Persoumlnlichkeitspsychologie Ein Theorienuumlberblick Hogrefe Goumlttingen 2003 (5

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Werner Herkner Lehrbuch der Sozialpsychologie Huber Bern 2001 (6 Aufl) ISBN 3-456-81989-7

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gen 2004 ISBN 3-525-46215-8

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auf die psychoanalytische Praxis Vandenhoeck amp Ruprecht Goumlttingen 1998 ISBN 3-525-45806-1

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taumlglichen Lebensvollzug das Verhalten der Mitmenschen erklaumlrt und vorhergesagt wird Klett Stuttgart

1973

Walfried Linden Alfred Fleissner Geist Seele und Gehirn Entwurf eines gemeinsamen Menschenbildes

von Neurobiologen und Geisteswissenschaftlern LIT-Verlag Muumlnster 2004 ISBN 3825879739

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senschaft Bildung Kunst Wirtschaft und Politik Enke Stuttgart 1999 ISBN 3-432-30531-1

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Wege kritischer Praxis Junfermann Paderborn 1999

Bodo Rollka Friederike Schultz Kommunikationsinstrument Menschenbild Zur Verwendung von Men-

schenbildern in gesellschaftlichen Diskursen VS-Verlag Wiesbaden 2011 ISBN 978-3-531-17297-2

Ernst Seidl ua KoumlrperWissen Erkenntnis zwischen Eros und Ekel Tuumlbingen MUT 2009 ISBN 978-3-

9812736-1-8

- 26 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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3-7776-1646-9

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fassung in Europa Peter Land Verlag Frankfurt aM 2007 ISBN 978-3-631-55731-0

Christian Thies Einfuumlhrung in die philosophische Anthropologie Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Darmstadt 2004 ISBN 3-534-15470-3

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1992 ISBN 0-8039-2775-4

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Norbert Bluumlm Gerechtigkeit Eine Kritik des Homo oeconomicus Herder FreiburgBaselWien 2003

ISBN 978-3-451-05789-2

Alexander Dietz Der homo oeconomicus Theologische und wirtschaftsethische Perspektiven auf ein oumlko-

nomisches Modell Guumltersloher Verlags-Haus Guumltersloh 2005 ISBN 3-579-05310-8

Alfred Fey Der homo oeconomicus in der klassischen Nationaloumlkonomie und seine Kritik durch den His-

torismus Limburger Vereinsdruckerei Limburg 1936

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3 ergaumlnzte und erweiterte Aufl ebd 2008 ISBN 978-3-16-149834-3

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von Adam Smith Alber FreiburgMuumlnchen 2000 ISBN 3-495-47980-5

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bon-Gilke amp Richard Sturn (Hrsg) Experimente in der Oumlkonomik Jahrbuch normative und institutionelle

Grundfragen der Oumlkonomik 2 Metropolis-Verlag Marburg 2003 ISBN 3-89518-414-4 (PDF 278 KB)

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schaftslehre Faktortheoretischer Ansatz entscheidungsorientierter Ansatz und Systemansatz im Ver-

gleich Haupt Verlag BernStuttgart 1980 ISBN 3-258-02949-0 2 Aufl ebd 1989 ISBN 3-258-04084-2

Helmut Woll Menschenbilder in der Oumlkonomie Oldenbourg MuumlnchenWien 1994 ISBN 3-486-23056-5

Stefan Zabieglik The Origins of the Term Homo Oeconomicus In Janina Kubka (Hrsgn) Economics

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Page 15: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

- 14 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Mit der Etablierung der Experimentellen Oumlkonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus

in den vergangenen Jahren immer haumlufiger experimentell uumlberpruumlft Dabei zeigte sich dass unter

gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prog-

nose fuumlr tatsaumlchliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann In zahlreichen ande-

ren Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestaumltigt werden Zur Erklaumlrung

des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Faumlllen das Homo-oeconomicus-Modell haumlufig

erweitert

In der Neuen Institutionenoumlkonomik so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie werden

Faktoren wie asymmetrische Information begrenzte Rationalitaumlt und Opportunismus beruumlcksich-

tigt um zu realitaumltsnaumlheren Annahmen zu gelangen

Die Verhaltensoumlkonomik geht davon aus dass das beobachtete Verhalten in der Regel der An-

nahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche und sucht Erklaumlrungen fuumlr vermeintlich

irrationales Verhalten (vgl Ultimatumspiel) - weiter wird die Theorie des bdquoHomo oeconomicusldquo

von Gerd Gigerenzer als inadaumlquat und komplex angesehen eine (Kauf)entscheidung orientiert

sich viel mehr an simplen Entscheidungsbaumlumen8

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus veraumlndert Er wird nun zum strategisch handeln-

den Wirtschaftssubjekt das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt wenn dies der Verfolgung

eines langfristigen Ziels dient (vgl Soziales Dilemma)

Die Evolutionsoumlkonomik befasst sich mit beschraumlnkt rationalen Verhaltensmustern des Men-

schen deren Gruumlnde unter anderem in der Komplexitaumlt der Entscheidungssituationen (Informati-

onsbewertung Bildung von Zukunftserwartungen etc) liegen Ralf Dahrendorf hat analog dazu

fuumlr seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus gepraumlgt und verwendet

Viele Oumlkonomen versuchen heute dieses oumlkonomische Modell weiterzuentwickeln indem sie

auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren

34 Vom Modell losgeloumlste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der ne-

oklassischen Wissenschaftstheorie er bilde ebenso als bdquoKernelement liberalen Gedankenguts

(hellip) die Grundlage nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden als eigennuumltzi-

ge und nutzenmaximierende Wesenldquo9 Das Kalkuumll der Optimierung beschraumlnke sich nicht einzig

auf wirtschaftliche Bereiche vielmehr waumlre es bdquoauf alle Felder menschlichen Handelns anwend-

barldquo[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein

theoretisches waumlre welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde da die Modellei-

genschaften der Rationalitaumlt und die des Eigeninteresses bdquoals Beschreibungen menschlicher Ei-

genschaften unabhaumlngig vom Problem- bzw Theoriekontext verstanden werdenldquo[2]

Der Oumlkonom

Fritz Machlup hat in diesem Sinne fuumlr bdquoSchwachverstaumlndigeldquo vorgeschlagen ihn besser bdquoho-

munculus oeconomicusldquo zu nennen bdquodamit sie eher begreifen dass er keinen aus einem Mutter-

leib geborenen Menschen darstellen sollte sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abs-

trakte Marionette mit bloszlig ein paar menschlichen Zuumlgen ausgestattet die fuumlr bestimmte Erklauml-

8 httpwwwftcomcmss276e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49ahtml

9 Andreas Novy Der homo oeconomicus In Internationale Politische Oumlkonomie Mit Beispielen aus Lateinameri-

ka] 2005 (PDF 688 KB)

- 15 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

Herbert Giersch Die Moral der offenen Maumlrkte Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr 64 16 Maumlrz 1991 13 12

Karl Homann Andreas Suchanek Oumlkonomik Eine Einfuumlhrung Mohr Siebeck 2 Aufl Tuumlbingen 2005 412 13

Michel Foucault Geschichte der Gouvernementalitaumlt Bd 1 Sicherheit Territorium Bevoumllkerung Vorlesung am

Collegravege de France 1977-1978 Suhrkamp Frankfurt 2004 ISBN 3-518-58392-1 S 112 ff S 14

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta Rump

Thomsa Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte Perspektiven

Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC) 15

Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig Arbeitspsychologie Poeschel Stuttgart 1991 ISBN 3-7910-0574-X 16

Claude Mossegrave Homo Oeconomicus in Jean-Pierre Vernant (Hrsg) Der Mensch der griechischen Antike Frank-

furt-New York-Paris 1993 31-62

- 16 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Page 16: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

- 15 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

rungszwecke ausgewaumlhlt wurdeldquo10

Neutraler formulierte dies Herbert Giersch bdquoDer Homo

oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar das nur zu ganz spezifischen Forschungszwe-

cken entwickelt worden ist und nur fuumlr diese eingeschraumlnkten Forschungszwecke mehr oder we-

niger tauglich sein kannldquo11

Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses

Begriffs von Karl Homann betont bdquoDer Homo oeconomicus ist kein Menschenbild sondern ein

theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen Deshalb ist der

Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet

sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturenldquo12

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus

mit dem das Soziale (Ehe Beruf Familie usw) als das Oumlkonomische gedeutet wuumlrde13

Ulli Gu-

ckelsberger dagegen haumllt diese Deutung fuumlr bdquovoumlllig unzulaumlssigldquo Dies zeuge nur von bdquoMiszligver-

staumlndnissen oder einem tiefen Unverstaumlndnis neoliberaler Positionenldquo14

35 Homo oeconomicus in der Theologie

In der Tradition des protestantischen Puritarismus gelten Erfolg und Wohlstand als verdienter

Lohn fuumlr ehrliche arbeit (Max Weber)

36 Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Ent-

scheidungstheorie und der Neuen Politischen Oumlkonomie Anwendung Zu den zahlreichen An-

wendungen in der Geographie zaumlhlen beispielsweise die Thuumlnenschen Ringe oder Walter

Christallers System der Zentralen Orte In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Men-

schenbild anstelle von Modell benutzt15

Aufgrund des im Vergleich zu Fruumlhkulturen reflektierten

Umgangs mit Fragen der Oumlkonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Ge-

schichtswissenschaft fuumlr den Wirtschaftsbuumlrger der griechischen Antike16

10

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus In

Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 S 3 (PDF 69 KB) 11

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- 16 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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schaftslehre Faktortheoretischer Ansatz entscheidungsorientierter Ansatz und Systemansatz im Ver-

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Page 17: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

- 16 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

4 Der Siegeszug des Utilitarismus

In der Gesundheitspolitik redet man gern von Optimierung Bonus ndash melior ndash optimo so lautet

die korrekte lateinische Steigerungsform Optimal ist also das was das Gute zur Vollendung

bringt Die Wirklichkeit aber ist eine andere Das Schluumlsselwort fuumlr Optimierung heiszligt naumlmlich

Budgetierung und bedeutet konsequent angewandt eigentlich Rationierung Es ist ein Programm

das konsequent umgesetzt zu einer Neudefinition des medizinischen Selbstverstaumlndnisses und

zur Preisgabe des medizinischen und aumlrztlichen Ethos fuumlhrt

Die Herrschaft des Superlativs ist in unserer Lebenswelt umfassend und absolut Doch woher

kommt diese Fixierung auf Leistung in allen Lebensbereichen Warum hat der Begriff Leistung

diese positive Faszination Auch die moderne Medizin wird ja als Houmlchstleistungsmedizin be-

zeichnet obwohl dies aus ethischer Sicht ein zutiefst ambivalenter Begriff ist

Die Wurzeln dieses Programms liegen in der Vergangenheit Sie reichen weit zuruumlck an die

Schwelle der Neuzeit Hier liegt der Beginn jenes Denkens das sich mit den Namen Reneacute

Descartes (dagger 1650) oder Francis Bacon (dagger 1626) verbindet Dem zuletzt genannten hat man den

Ausspruch zugeschrieben bdquoWissen ist Machtldquo Die Machtergreifung des Menschen durch Wis-

sen ist das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Aufklaumlrungsgeschichte Die Beherrschung der

Natur durch Wissen und Technik ist die klassische Signatur der Neuzeit

Mitverantwortlich dafuumlr ist Gottfried Wilhelm Leibniz (dagger 1716) der mit seinem Denken diesen

typisch neuzeitlichen Trend befoumlrdert und zugleich verschaumlrft hat Grundlage seines Denkens war

eine auf den ersten Blick zunaumlchst ganz und gar unfromm erscheinende Lehre der Deismus Die-

ser Auffassung gemaumlszlig hatte Gott sich aus der Schoumlpfung zuruumlckgezogen um aus sicherer Distanz

den Lauf der Welt zu beobachten Gott hat die Welt erschaffen Aber jetzt haumllt er sich aus allem

raus Gott haumllt sich aus allem raus damit der Mensch sich einmischen kann

Voraussetzung dieser Auffassung ist hingegen ein sehr frommer Gedanke Ein Gedanke der sich

bedingungslos zur Groumlszlige Gottes und des Menschen bekennt Gott war fuumlr Leibniz das bdquoens per-

fectissimumldquo das in jeder Hinsicht perfekte Sein Leibniz ist fest davon uumlberzeugt Gott hat die

beste aller moumlglichen Welten geschaffen Das konnte in einer Zeit in der die zentralen Naturge-

setze durch Isaac Newton (dagger 1727) entdeckt worden waren gewissermaszligen als experimentelle

Bestaumltigung der philo Keine Frage Gott ist perfekt ndash die Welt ist perfekt Leibniz wird zum

Begruumlnder des philosophischen Superlativ der geistige Vater eines unverbruumlchlichen Optimis-

mus

Mit den Worten der Werbung alles super Nina Ruge wuumlrde vermutlich sagen Alles wird gut

Aber die Wirklichkeit sieht anders aus Nicht erst heute sondern auch damals Das Erdbeben von

Lissabon11 am Allerheiligentag des Jahres 1755 konnte jedoch den Optimismusv der Neuzeit

nur kurzfristig erschuumlttern Eine perfekte Welt jedenfalls das ist eine Illusion bdquoNobody is per-

fectldquo sagen wir und meinen nicht nur die kleinen menschlichen Schwaumlchen des Alltags In der

Welt in der wir leben geht es sehr sehr menschlich zu Mehr noch die Frage nach dem Leid in

der Welt die Frage nach einem moumlglichen Sinn des Leides ist und bleibt das zentrale Thema der

Theodizee das sich nicht einfach wegdefinieren laumlsst Aber wie bringen wir unseren ungebroche-

nen Optimismus den Glauben an Fortschritt durch Wissen und Technik mit dieser Grunderfah-

rung des menschlichen Lebens zusammen

Sie ahnen vielleicht wo die ungeahnten Herausforderungen und Gefahren eines vonOptimismus

und Perfektionismus dominierten Denkens liegen Wenn Gott und die Welt perfekt sind wo hat

dann das Boumlse das Uumlbel das Leid seinen Platz Wird es dann nicht zur houmlchsten moralischen

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Page 18: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

- 17 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Pflicht des Menschen gegen das Boumlse das Uumlbel das Leid in der Welt zu kaumlmpfen Muss man

sich dann nicht mit Entschiedenheit allem Unvollkommenen widersetzen und entgegenstemmen

Die Herrschaft des Superlativ in der goumlttlichen Schoumlpfung fordert den Menschen Houmlchstleistun-

gen ab Denn wir wissen doch nur erhoumlhte Leistung bewirkt Fortschritt Erst vor dem Hinter-

grund solcher Uumlberlegungen kann der Begriff Fortschritt zum unbestrittenpositiven Leitbegriff

der Neuzeit werden

Natuumlrlich dachte Leibniz vor allem an einen Fortschritt an Humanitaumlt und Menschlichkeit Doch

schneller als ihm vielleicht lieb war definierte man Fortschritt in primaumlr oumlkonomischen Katego-

rien Hermann Luumlbbe hat das treffend gekennzeichnet bdquoAumllter als die Wissenschaft ist die Tech-

nik und es ist naheliegend ihren Fortschritt als Produktivitaumltsfortschritt d h als Steigerung der

mit technischer Hilfe erreichbaren Produktion pro Zeiteinheit zu beschreiben12

ldquo Das Selbstver-

staumlndnis des Fortschrittsbegriffs wird mehr und mehr einer oumlkonomischen Rationalitaumlt bestimmt

Und wenn Leibniz der Geburtshelfer des Superlativ ist dann sind die Denker des 18 Jahrhun-

derts seine Erzieher Sie erst haben ihn groszlig gezogen Denn die eigentliche Profilierung des Fort-

schrittsbegriffs erfolgte im 18 Jahrhundert es ist nicht von ungefaumlhr das Zeitalter oumlkonomischer

Aufbruchstimmung in Theorie und Praxis Und England ist der Schauplatz dieser Entwicklung

Jeremy Bentham (dagger 1832) der Begruumlnder des klassischen Utilitarismus13 der 1748 geboren

wird ist in seinem Blick auf die Welt und die Menschen realistischer als Leibniz Er glaubt nicht

so recht an das Gute im Menschen Auf dem Gebiet der Oumlkonomie traut er den Menschen jedoch

zu ihren eigenen Interessen folgen zu koumlnnen wenn die Anreize stimmen Der zentrale Anreiz

fuumlr menschliches Handeln ist seiner Meinung nach die Nuumltzlichkeit Sein Fazit lautet Was nuumltz-

lich ist das ist auch gut Das Gute mit dem Nuumltzlichen zu verwechseln ist eine folgenschwere

Verwechslung die bis auf den heutigen Tag nachwirkt

Adam Smith (dagger 1790) der Begruumlnder der klassischen Nationaloumlkonomie hat diesen Gedanken

inhaltlich verfeinert Er ist davon uumlberzeugt dass das oumlffentliche Wohlergehen nicht von den gu-

ten Absichten der Menschen abhaumlngig gemacht werden kann Der Fortschritt und Wohlstand der

Voumllker entstehe vielmehr aus privaten Lastern Sein Fazit lautet Das Streben nach Eigennutz

hilft am Ende auch den anderen

Und dann soll nicht versaumlumt werden an dieser Stelle an den Leibarzt Ludwig XV zu erinnern

Francois Quesnay (dagger 1774) Er vereinigt erstmals in seiner Person Medizin und Oumlkonomie Den

Wirtschaftskreislauf erklaumlrt er in Analogie zum Blutkreislauf natuumlrlich-organisch14

Medizin und Oumlkonomie das ist ein spannendes Feld was im 16 Jahrhundert vorgedacht wurde

wird im 17 Jahrhundert weiter entwickelt und im 18 Jahrhundert zu einer ersten Symbiose ge-

bracht Langsam waumlchst zusammen was zusammengehoumlrt

Die Herrschaft des Superlativ dokumentiert sich im 19 Jahrhundert auf besonders beeindrucken-

de Weise in der von Charles Darwin (dagger 1882) entwickelten Evolutionstheorie

Herbert Spencer (dagger 1903) hat daraus dann einen vulgaumlren Sozialdarwinismus gemacht

War der Superlativ bei Leibniz noch religioumls motiviert so hat er sich nun von seinen christlichen

Wurzeln emanzipiert Friedrich Nietzsche (dagger 1900) dessen 100 Todestag wir vor zwei Wochen

begangen haben hat diese Emanzipation vollendet auf die Spitze getrieben bdquoGott ist tot15

ldquo lautet

die Botschaft der froumlhlichen Wissenschaft um nun den neuen Menschen den Uumlbermenschen mit

seinem Willen zur Macht an dessen Stelle zu setzen Der Glaube an einen allmaumlchtigen Gott der

den Schwachen nahe ist weil er selbst ein schwacher Mensch wurde das ist fuumlr Nietzsche das

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Page 19: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

- 18 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

billige Trost-Evangelium fuumlr die ewig Zukurzgekommenen Nietzsche meint bdquoDie Unbefriedig-

ten muumlssen etwas haben an das sie ihr Herz haumlngen z B Gottldquo16

Jetzt aber ist es an der Zeit

dass der Mensch selbst den Willen zur Macht entdeckt Das ist wie der Muumlnsteraner Fundamen-

taltheologe Juumlrgen Werbick betont die bdquoanti-platonische Vision Nietzsches Die Welt ist nicht fuumlr

den Menschen da sie nimmt nicht die geringste Ruumlcksicht auf ihn Der Mensch ist vielmehr dazu

da der ruumlcksichtslosen Welt standzuhalten (hellip)ldquo17

Peter Sloterdijk hat vor einer Woche in Weimar Friedrich Nietzsche als einen bdquoparadigmati-

sche(n) Denker der Moderneldquo18

bezeichnet Recht hat er Nietzsche habe gewusst so Sloterdijk

bdquodass der Stoff aus dem die Zukunft gemacht sein wuumlrde in dem Verlangen der einzelnen zu

finden war anders und besser zu sein als andere und ebendarin wie alle anderenldquo19

Eine solche aus anthropologischem Skeptizismus geborene Wettbewerbslogik gehorcht vorzuumlg-

lich den Vorgaben eines oumlkonomischen Denkens Es kann nicht laumlnger erstaunen wenn Peter

Sloterdijk in seinen bdquoRegeln fuumlr den Menschenparkldquo20

die vor einem Jahr bundesweites Aufse-

hen erregt haben indirekt an Friedrich Nietzsche anknuumlpft und das endguumlltige Ende und Schei-

tern des christlichen Humanismus verkuumlndet Die neue Perspektive wird sogleich benannt bdquoAus

Zarathustras Perspektive sind die Menschen der Gegenwart vor allem eines erfolgreiche Zuumlch-

terldquo21

Spaumltestens an dieser Stelle hat uns die Gegenwart eingeholt Die Verschmelzung von Oumlkonomie

Biologie Medizin und Informationstechnologie koumlnnte unter dem Namen des von Peter Sloter-

dijk geforderten bdquoCodex der Anthropotechnikenldquo22

erfolgen Ob darin allerdings noch Platz fuumlr

eine humane Ethik ist darf mit Recht bezweifelt werden

- 19 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

5 Oumlkonomisierung der Medizin

51 Verschiebungen

Die gesellschaftlichen und oumlkonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre fuumlhrten

zwangsweise in immer mehr Lebensbereichen zu einem verstaumlrkten unternehmerischen Denken

und Handeln Schritt fuumlr Schritt werden nun dabei zunehmend auch Bereiche durchdrungen

die sich grundsaumltzlich solchen Uumlberlegungen zu widersetzen scheinen Bedauerlich ist dass

gleichzeitig mit der Zunahme von oumlkonomischen Fragestellungen die Bedeutung der ethischen

sozialen und psychischen Dimensionen unseres Lebens immer mehr aus dem Blickfeld geraten

Mit Blick auf die Ethik kann man geradezu von einer Preisgabe dieser zugunsten der Oumlkono-

mik sprechen

Das sollte eigentlich nicht uumlberraschen denn darauf hatte der Philosoph Niklas Luhmann schon

vor Jahren hingewiesen Er meint dass in einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Gesell-

schaft sich unterschiedliche Systeme nicht mehr direkt beeinflussen koumlnnen 17

Die verschiedenen

Codes seien nicht mehr vermittelbar Im Originaltext heiszligt das bdquoMoral und Ethik werden von der

Wirtschaft nur noch als aus der Ferne houmlrbares Rauschen zur Kenntnis genommenldquo18

Am schmerzlichsten ist dieser Prozess wohl im Medizinbetrieb zu spuumlren Die Oumlkonomisierung

von Biologie und Medizin unter Vorherrschaft der Technologie genauer der Informationstechno-

logie ist in vollem Gang Die Globalisierung und die Fortschritte in der Informationstechnologie

haben hier nicht nur neue Moumlglichkeiten eroumlffnet sondern gleichzeitig einen hohen Wettbe-

werbsdruck ausgeloumlst Die zunehmende Dynamik des Arbeitsmarktes und der Ruumlckgang von

Normalarbeitsverhaumlltnissen mit einer lebenslangen Vollzeitbeschaumlftigung fuumlhrten zu weiteren

Unsicherheiten Dabei geschah die Oumlkonomisierung des Gesundheitswesens nicht als oumlffentliche

Machtergreifung Ganz im Gegenteil - das oumlkonomische Denken hat sich groumlszligtenteils unbemerkt

und schleichend in die medizinischen Paradigmen ein eingeschlichen und houmlhlt sie von innen aus

An drei medizinischen Kernbegriffen laumlsst sich das mE besonders gut demonstrieren bdquoGesund-

heitldquo ndash bdquoKrankheitldquo ndash bdquoTherapieldquo Diese lange Zeit in Medizin und Pflege stabilen Grundbegrif-

fe sind heutzutage in zunehmendem Maszlige oumlkonomischen Denken ausgeliefert

511 bdquoGesundheitldquo

Der Philosoph Heinrich Rombach beschrieb die gegenwaumlrtige Situation schon 1987 folgenden-

dermaszligen bdquoDie Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesuumlnder im ganzen jedoch

kraumlnker und zwar so dass der Mensch fruumlher ein gesundes Verhaumlltnis zur Krankheit heute aber

ein krankes Verhaumlltnis zur Gesundheit hatldquo19

Nun ist bdquoGesundheitldquo fuumlr die Medizin schon immer einer ihrer Leitbegriffe Doch was ist das

Gesundheit Wenn wir der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)20

folgen dann ist

Gesundheit der bdquoZustand vollstaumlndigen koumlrperlichen geistigen und sozialen Wohlbefindens und

nicht nur das Freisein von Krankheiten und Gebrechenldquo21

17

Vgl Niklas Luhmann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral in Niklas Luhmann Robert Spae-

mann Paradigm lost Uumlber die ethische Reflexion der Moral Frankfurt a M 1990 7ndash48 18

Ebd 19

Heinrich Rombach Strukturanthropologie Der menschliche Mensch Muumlnchen 1987 77 20

im Jahre 1947 21

Originalzitat bei der World Health Organisation The constitution of the World Health Organisation

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

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Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

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den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

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praxis Journal fuumlr Psychologie Bd 14 2006 S 302-330

Jochen Fahrenberg Psychologische Anthropologie ndash Eine Fragebogenstudie zum Menschenbild von 800

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gie Nr 5 2006 S 1-20 ( pdf) 199 KB)

Jochen Fahrenberg Menschenbilder Psychologische biologische interkulturelle und religioumlse Ansichten

Psychologische und Interdisziplinaumlre Anthropologie (access e-book print on demand pdf 20 MB 5

Maumlrz 2008)

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gen 2004 ISBN 3-525-46215-8

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Page 21: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

- 20 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Der utopisch-idealistische Charakter solch einer Beschreibung die Erwartungen weckt die so

nicht einloumlsbar sind ist unuumlbersehbar Und obwohl kein Zweifel daran besteht dass ein solches

Verstaumlndnis von Gesundheit (im Sinne dessen was Heinrich Rombach oben beschrieben hat)

krank macht ist es doch genau das was eine groszlige Zahl von Menschen von der Medizin erwar-

tet

So kommt die Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach einer Umfrage22

zu der Schlussfolgerung

bdquoAn Technik und Medizin entzuumlnden sich heute weitaus mehr Hoffnungen als Aumlngste 83 Prozent

der Bevoumllkerung sehen die Entwicklungen in der Medizin uumlberwiegend positiv nur 5 Prozent

uumlberwiegend mit Sorgen und Aumlngsten die uumlberwaumlltigende Mehrheit erwartet (und hofft) dass

viele schwere Krankheiten in wenigen Jahren heilbar sind oder sogar von vornherein etwa durch

den Einfluss von Gentechnologie verhindert werden koumlnnenldquo23

Genau genommen finden wir in dem Gesundheitsbegriff der WHO einen saumlkularen Ersatz fuumlr die

theologische Kategorie des ewigen Lebens Die Hoffnungen die sich fruumlher auf das ewige Leben

richteten werden jetzt hier auf das diesseitige Leben projiziert Das waumlre fuumlr sich selbst genom-

men eigentlich nicht problematisch Doch gerade solches Denken verringert die Bereitschaft

Unvollkommenes anzunehmen oder unvermeidliches menschliches Leid zu tragen Solcherart

utopische Gesundheit laumlsst sich ja durch angemessene Praumlvention vermeiden bzw Therapie hei-

len ndash so die Uumlberzeugung Zu erwarten ist dass es infolge dieser Uumlberzeugung in Zukunft immer

schwieriger werden wird Behinderungen und Einschraumlnkungen (vor allem auch die des Alters)

als Teil menschlicher Lebenswirklichkeit zu akzeptieren In der Vulgaumlrversion heiszligt das dann

bdquoDas waumlre doch heutzutage nicht mehr noumltig gewesen (hellip)ldquo

512 Krankheit

Diese Gesundheitsuumlberzeugungen haben natuumlrlich auch Auswirkungen fuumlr das Krankheitsver-

staumlndnis bdquoKrank ist man rechtlich (dann) wenn man die normale gesellschaftliche Leistung nicht

mehr erbringen kannldquo24

Hier in dieser Definition ist (fast unbemerkt) das urspruumlnglich medizini-

sche Verstaumlndnis von Krankheit durch das oumlkonomische Denken der Leistungsgesellschaft ersetzt

worden Nach dieser kann eine Leistungseinschraumlnkung nur dann toleriert werden wenn sie mit

einer Krankheit begruumlndet wird25

Zweifellos ist das das Ergebnis einer laumlngeren Entwicklung Ein (vermeintlich) aufklaumlrerischer

Fortschrittsoptimismus verbindet sich hier mit einer utilitaristischen Philosophie die erwiese-

nermaszligen fest in der Oumlkonomie verankert ist (naumlher erlaumlutert im Abschnitt bdquoDer Siegeszug des

Utilitarismusldquo)

513 Therapie

Auch das Selbstverstaumlndnis medizinischer Therapie wird von der Oumlkonomie immer mehr beein-

flusst Ein Beispiel dafuumlr ist die Problematik maximaltherapeutischer Maszlignahmen in der Inten-

in WHOChronicle 1 (1947) 29 22

Renate Koumlcher Zwischen Fortschrittsoptimismus und Fatalismus in Frankfurter Allgemeine Zeitung

vom 16 August 2000 5 23

Ebd 24

So Hans Schaefer in Der Panoramawechsel der Krankheiten in Katholische Aumlrztearbeit Deutschlands

(Hg) Chronisch-Kranke Eine neue Herausforderung der Medizin Koumlln 1983 28ndash43 hier 39 25

Hans Schaefer Die Zukunft des Gesundheitswesens in G Friedrichs (Hg) Aufgabe Zukunft ndash

Qualitaumlt des Lebens Beitraumlge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft

Metall fuumlr die Bundesrepublik Deutschland vom 11ndash14 April 1972 in Oberhausen Bd V Frankfurt

a M 1972 11ndash46

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

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den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

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Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

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Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

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Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

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31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

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Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

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tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

7 Literatur

Jens Asendorpf Psychologie der Persoumlnlichkeit Springer Heidelberg 2003 (3 Aufl) ISBN 978-3-540-

71684-6

Charles S Carver Michael F Scheier Perspectives on personality Allyn and Bacon Boston MA 1996

(5 th ed) ISBN 0-205-37576-6

Alwin Diemer Elementarkurs Philosophie Philosophische Anthropologie Econ Duumlsseldorf 1978 S 57-

72 ISBN 3-430-12068-3

Jochen Fahrenberg Annahmen uumlber den Menschen Menschenbilder aus psychologischer biologischer

religioumlser und interkultureller Sicht Asanger Heidelberg 2004 ISBN 3-89334-416-0

Jochen Fahrenberg Was denken Studierende der Psychologie uumlber das Gehirn-Bewusstsein-Problem

uumlber Willensfreiheit Transzendenz und den Einfluss philosophischer Vorentscheidungen auf die Berufs-

praxis Journal fuumlr Psychologie Bd 14 2006 S 302-330

Jochen Fahrenberg Psychologische Anthropologie ndash Eine Fragebogenstudie zum Menschenbild von 800

Studierenden der Psychologie Philosophie und Naturwissenschaften e-Journal Philosophie der Psycholo-

gie Nr 5 2006 S 1-20 ( pdf) 199 KB)

Jochen Fahrenberg Menschenbilder Psychologische biologische interkulturelle und religioumlse Ansichten

Psychologische und Interdisziplinaumlre Anthropologie (access e-book print on demand pdf 20 MB 5

Maumlrz 2008)

Hermann-Josef Fisseni Persoumlnlichkeitspsychologie Ein Theorienuumlberblick Hogrefe Goumlttingen 2003 (5

Aufl) ISBN 3-430-12068-3

Detlev Ganten et al (Hrsg) Was ist der Mensch BerlinNew York 2008 ISBN 978-3-11-020262-5

Nobert Groeben (Hrsg) Zur Programmatik einer sozialwissenschaftlichen Psychologie Band 1-3

Aschendorff Muumlnster 1997 ISBN 3-402-04604-0

Charles Hampden-Turner Modelle des Menschen Ein Handbuch des menschlichen Bewusstseins Beltz

Weinheim 1996 ISBN 3-407-85072-7

Werner Herkner Lehrbuch der Sozialpsychologie Huber Bern 2001 (6 Aufl) ISBN 3-456-81989-7

Gerd Juumlttemann Psychologie als Humanwissenschaft Ein Handbuch Vandenhoeck amp Ruprecht Goumlttin-

gen 2004 ISBN 3-525-46215-8

Juumlrgen Kriz Grundkonzepte der Psychotherapie Eine Einfuumlhrung Beltz Weinheim 2007 (6 Aufl)

Peter Kutter Rauacutel Paacuteramo-Ortega Thomas Muumlller (Hrsg) Weltanschauung und Menschenbild Einfluumlsse

auf die psychoanalytische Praxis Vandenhoeck amp Ruprecht Goumlttingen 1998 ISBN 3-525-45806-1

Uwe Laucken Naive Verhaltenstheorie Ein Ansatz zur Analyse des Konzeptrepertoires mit dem im all-

taumlglichen Lebensvollzug das Verhalten der Mitmenschen erklaumlrt und vorhergesagt wird Klett Stuttgart

1973

Walfried Linden Alfred Fleissner Geist Seele und Gehirn Entwurf eines gemeinsamen Menschenbildes

von Neurobiologen und Geisteswissenschaftlern LIT-Verlag Muumlnster 2004 ISBN 3825879739

Rolf Oerter (Hrsg) Menschenbilder in der modernen Gesellschaft Konzeptionen des Menschen in Wis-

senschaft Bildung Kunst Wirtschaft und Politik Enke Stuttgart 1999 ISBN 3-432-30531-1

Lawrence A Pervin Persoumlnlichkeitstheorien Reinhardt Muumlnchen 1981 (4 Aufl) ISBN 3-8252-8035-7

Hilarion Petzold Ilse Orth (Hrsg) Die Mythen der Psychotherapie Ideologien Machtstrukturen und

Wege kritischer Praxis Junfermann Paderborn 1999

Bodo Rollka Friederike Schultz Kommunikationsinstrument Menschenbild Zur Verwendung von Men-

schenbildern in gesellschaftlichen Diskursen VS-Verlag Wiesbaden 2011 ISBN 978-3-531-17297-2

Ernst Seidl ua KoumlrperWissen Erkenntnis zwischen Eros und Ekel Tuumlbingen MUT 2009 ISBN 978-3-

9812736-1-8

- 26 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Uwe Springfeld MENSCHMASCHINE - maschinenmensch S Hirzel Verlag Stuttgart 2009 ISBN 978-

3-7776-1646-9

Reneacute Thalmair Das Menschenbild des homo europaeus Menschenbildaspekte im Vertrag uumlber eine Ver-

fassung in Europa Peter Land Verlag Frankfurt aM 2007 ISBN 978-3-631-55731-0

Christian Thies Einfuumlhrung in die philosophische Anthropologie Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Darmstadt 2004 ISBN 3-534-15470-3

Lawrence S Wrightsman Assumptions about human nature Sage Publisher Newbury Park Ca 2nd ed

1992 ISBN 0-8039-2775-4

Homo oeconomicos

Norbert Bluumlm Gerechtigkeit Eine Kritik des Homo oeconomicus Herder FreiburgBaselWien 2003

ISBN 978-3-451-05789-2

Alexander Dietz Der homo oeconomicus Theologische und wirtschaftsethische Perspektiven auf ein oumlko-

nomisches Modell Guumltersloher Verlags-Haus Guumltersloh 2005 ISBN 3-579-05310-8

Alfred Fey Der homo oeconomicus in der klassischen Nationaloumlkonomie und seine Kritik durch den His-

torismus Limburger Vereinsdruckerei Limburg 1936

Armin Falk Homo Oeconomicus Versus Homo Reciprocans Ansaumltze fuumlr ein Neues Wirtschaftspolitisches

Leitbild In Institut fuumlr Empirische Wirtschaftsforschung der Universitaumlt Zuumlrich (Hrsg) Working Paper

No 79 Juli 2001 (PDF 220 KB)

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus

In Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 (PDF 69 KB)

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta

Rump Thomas Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte

Perspektiven Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC)

Gebhard Kirchgaumlssner Homo oeconomicus Das oumlkonomische Modell individuellen Verhaltens und seine

Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Mohr Tuumlbingen 1991 ISBN 3-16-145829-X

3 ergaumlnzte und erweiterte Aufl ebd 2008 ISBN 978-3-16-149834-3

Reiner Manstetten Das Menschenbild in der Oumlkonomie Der homo oeconomicus und die Anthropologie

von Adam Smith Alber FreiburgMuumlnchen 2000 ISBN 3-495-47980-5

Joseph Persky Retrospectives The ethology of Homo economicus In Journal of Economic Perspectives

9 (2) 1995 S 221-231

Norbert Rost Homo oeconomicus Eine Fiktion der Standardoumlkonomie In Humane Wirtschaft 012009

S 18ndash23 (PDF 282 KB)

Ekkehart Schlicht Der homo oeconomicus unter experimentellem Beschuszlig In Martin Held Gisela Ku-

bon-Gilke amp Richard Sturn (Hrsg) Experimente in der Oumlkonomik Jahrbuch normative und institutionelle

Grundfragen der Oumlkonomik 2 Metropolis-Verlag Marburg 2003 ISBN 3-89518-414-4 (PDF 278 KB)

Peter H Werhahn Menschenbild Gesellschaftsbild und Wissenschaftsbegriff in der neueren Betriebswirt-

schaftslehre Faktortheoretischer Ansatz entscheidungsorientierter Ansatz und Systemansatz im Ver-

gleich Haupt Verlag BernStuttgart 1980 ISBN 3-258-02949-0 2 Aufl ebd 1989 ISBN 3-258-04084-2

Helmut Woll Menschenbilder in der Oumlkonomie Oldenbourg MuumlnchenWien 1994 ISBN 3-486-23056-5

Stefan Zabieglik The Origins of the Term Homo Oeconomicus In Janina Kubka (Hrsgn) Economics

and Values PG Gdańsk 2002 ISBN 83-915729-2-7 S 123-131

Page 22: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

- 21 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

sivmedizin In bedraumlngender Weise stellt sich hier immer wieder die Frage nach den moralischen

Grenzen des Einsatzes hochtechnologischer Apparatemedizin am Lebensende Dabei geht es im-

mer wieder um das schwierige Thema einer ethisch legitimierten Therapiereduzierung Leider

wurden nun solche Fragenstellungen aber erst dann zum Thema der oumlffentlichen (und internen)

Debatte als der oumlkonomische Druck auf die Krankenhaumluser zu groszlig wurde Und das obwohl

doch solche Fragen eigentlich zum Kernbestand einer medizinischen Ethik gehoumlren

Ein weiteres sich immer weiter ausbreitendes Problem ist die Spannung zwischen Verheiszligung

und Erfuumlllung So zB auch bei den Moumlglichkeiten und Grenzen der Praumlnatal- und Praumlimplantati-

onsdiagnostik Bisher unbeantwortet ist wie mit der ethisch houmlchst problematische Diskrepanz

zwischen Diagnose und Therapie umgegangen werden sollte

Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einem fragwuumlr-

digen bdquoTriumph des Therapeutischenldquo26

Er bezieht sich dabei auf das bdquoin Wissenschaft und tech-

nische Verfahren gesetzte Vertrauen (hellip) Zum Vorschein kommt das in der groszligen Bedeutung

die den therapeutischen Verfahren (hellip) beigelegt wird (hellip)ldquo27

Dies fuumlhre so Taylor weiter zur

bdquoUnterordnung einiger traditioneller Moralanspruumlche unter die Erfordernisse der persoumlnlichen

Erfuumlllung und die Hoffnung mit therapeutischen Mitteln dazu beitragen zu koumlnnen (hellip)ldquo28

Die

gesellschaftspolitischen Folgen liegen auf der Hand bdquoDie therapeutische Einstellung begreift die

Gemeinschaft offenbar nach dem Vorbild (hellip) einer Koumlrperschaft (hellip) die fuumlr ihre Mitglieder

uumlberaus nuumltzlich ist solange sie sich in einer bestimmten Notlage befinden der gegenuumlber man

jedoch keine Anhaumlnglichkeit zu fuumlhlen braucht sobald man ihrer nicht mehr bedarfldquo29

Eine zent-

rale Gefahr fuumlr die Gesellschaft geht vom bdquoTriumph des Therapeutischenldquo dann aus wenn dies zu

einem bdquoAbdanken der Autonomie (fuumlhrt) wobei der Verfall uumlberlieferter Maszligstaumlbe in Verbin-

dung mit dem Vertrauen in die Technik dazu fuumlhrt dass die Menschen aufhoumlren sich im Hinblick

auf das Gluumlck die Erfuumlllung und die Art der Kindererziehung auf die eigenen Instinkte verlassen

Dann nehmen die rsaquoFuumlrsorgeberufelsaquo das Leben dieser Menschen in die Handldquo30

Neben dieser Durchdringung medizinischer Grundbegriffe lassen sich noch eine ganze Reihe

von praktischen Beispielen finden die auf die schleichende Oumlkonomisierung in der Medizin hin-

weisen Nur ein Beispiel von vielen ist die Resolution des 102 Deutschen Aumlrztetages von 1999

zur Gesundheitsreform 2000 Wenn eingangs dort noch eine bdquoeinseitig oumlkonomische Orientie-

rungldquo kritisiert wird wird dann gleich danach anstatt vom Patientenwohl vom bdquoVersorgungsbe-

darf des Patientenldquo geredet und schlieszliglich vom Gesundheitswesen als bdquowichtigen Dienstleis-

tungssektor in unserer Gesellschaftldquo Ein Sektor der wie bdquokaum ein anderer Wirtschaftsbereich

(hellip) in den letzten Jahren so sehr zu Beschaumlftigung und Stabilitaumlt beigetragenldquo hat Selbst die viel

beschworene Eigenverantwortung des Patienten wird dann nicht in erster Linie mit dem Recht

des Menschen auf Autonomie und Partizipation sondern mit dem oumlkonomischen Gedanken

bdquoSelbstbeteiligung schaumlrft das Kostenbewusstseinldquo begruumlndet

Eine der Fragen der wir uns stellen muumlssen ist die wie sich verhindern laumlsst dass in Zukunft die

Kaufkraft eines in Not geratenen Menschen uumlber die Qualitaumlt seiner medizinischen Behandlung

bestimmt Die andere ist die wie viel Personaleinsparungen und monitaumlren Effektivitaumltsdruck

den Krankenhaumlusern noch zugemutet werden darf ohne dass ihr Heilungsauftrag daran Schaden

nimmt

26

Charles Taylor Quellen des Selbst Die Entstehung der neuzeitlichen Identitaumlt Frankfurt aM

31999 875 (Er bezieht sich hier auf Philip Rieff The Triumph of the Therapeutic New York 1966) 27

Ebd 28

Ebd 29

Ebd 877 30

Ebd 878

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

7 Literatur

Jens Asendorpf Psychologie der Persoumlnlichkeit Springer Heidelberg 2003 (3 Aufl) ISBN 978-3-540-

71684-6

Charles S Carver Michael F Scheier Perspectives on personality Allyn and Bacon Boston MA 1996

(5 th ed) ISBN 0-205-37576-6

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72 ISBN 3-430-12068-3

Jochen Fahrenberg Annahmen uumlber den Menschen Menschenbilder aus psychologischer biologischer

religioumlser und interkultureller Sicht Asanger Heidelberg 2004 ISBN 3-89334-416-0

Jochen Fahrenberg Was denken Studierende der Psychologie uumlber das Gehirn-Bewusstsein-Problem

uumlber Willensfreiheit Transzendenz und den Einfluss philosophischer Vorentscheidungen auf die Berufs-

praxis Journal fuumlr Psychologie Bd 14 2006 S 302-330

Jochen Fahrenberg Psychologische Anthropologie ndash Eine Fragebogenstudie zum Menschenbild von 800

Studierenden der Psychologie Philosophie und Naturwissenschaften e-Journal Philosophie der Psycholo-

gie Nr 5 2006 S 1-20 ( pdf) 199 KB)

Jochen Fahrenberg Menschenbilder Psychologische biologische interkulturelle und religioumlse Ansichten

Psychologische und Interdisziplinaumlre Anthropologie (access e-book print on demand pdf 20 MB 5

Maumlrz 2008)

Hermann-Josef Fisseni Persoumlnlichkeitspsychologie Ein Theorienuumlberblick Hogrefe Goumlttingen 2003 (5

Aufl) ISBN 3-430-12068-3

Detlev Ganten et al (Hrsg) Was ist der Mensch BerlinNew York 2008 ISBN 978-3-11-020262-5

Nobert Groeben (Hrsg) Zur Programmatik einer sozialwissenschaftlichen Psychologie Band 1-3

Aschendorff Muumlnster 1997 ISBN 3-402-04604-0

Charles Hampden-Turner Modelle des Menschen Ein Handbuch des menschlichen Bewusstseins Beltz

Weinheim 1996 ISBN 3-407-85072-7

Werner Herkner Lehrbuch der Sozialpsychologie Huber Bern 2001 (6 Aufl) ISBN 3-456-81989-7

Gerd Juumlttemann Psychologie als Humanwissenschaft Ein Handbuch Vandenhoeck amp Ruprecht Goumlttin-

gen 2004 ISBN 3-525-46215-8

Juumlrgen Kriz Grundkonzepte der Psychotherapie Eine Einfuumlhrung Beltz Weinheim 2007 (6 Aufl)

Peter Kutter Rauacutel Paacuteramo-Ortega Thomas Muumlller (Hrsg) Weltanschauung und Menschenbild Einfluumlsse

auf die psychoanalytische Praxis Vandenhoeck amp Ruprecht Goumlttingen 1998 ISBN 3-525-45806-1

Uwe Laucken Naive Verhaltenstheorie Ein Ansatz zur Analyse des Konzeptrepertoires mit dem im all-

taumlglichen Lebensvollzug das Verhalten der Mitmenschen erklaumlrt und vorhergesagt wird Klett Stuttgart

1973

Walfried Linden Alfred Fleissner Geist Seele und Gehirn Entwurf eines gemeinsamen Menschenbildes

von Neurobiologen und Geisteswissenschaftlern LIT-Verlag Muumlnster 2004 ISBN 3825879739

Rolf Oerter (Hrsg) Menschenbilder in der modernen Gesellschaft Konzeptionen des Menschen in Wis-

senschaft Bildung Kunst Wirtschaft und Politik Enke Stuttgart 1999 ISBN 3-432-30531-1

Lawrence A Pervin Persoumlnlichkeitstheorien Reinhardt Muumlnchen 1981 (4 Aufl) ISBN 3-8252-8035-7

Hilarion Petzold Ilse Orth (Hrsg) Die Mythen der Psychotherapie Ideologien Machtstrukturen und

Wege kritischer Praxis Junfermann Paderborn 1999

Bodo Rollka Friederike Schultz Kommunikationsinstrument Menschenbild Zur Verwendung von Men-

schenbildern in gesellschaftlichen Diskursen VS-Verlag Wiesbaden 2011 ISBN 978-3-531-17297-2

Ernst Seidl ua KoumlrperWissen Erkenntnis zwischen Eros und Ekel Tuumlbingen MUT 2009 ISBN 978-3-

9812736-1-8

- 26 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Uwe Springfeld MENSCHMASCHINE - maschinenmensch S Hirzel Verlag Stuttgart 2009 ISBN 978-

3-7776-1646-9

Reneacute Thalmair Das Menschenbild des homo europaeus Menschenbildaspekte im Vertrag uumlber eine Ver-

fassung in Europa Peter Land Verlag Frankfurt aM 2007 ISBN 978-3-631-55731-0

Christian Thies Einfuumlhrung in die philosophische Anthropologie Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Darmstadt 2004 ISBN 3-534-15470-3

Lawrence S Wrightsman Assumptions about human nature Sage Publisher Newbury Park Ca 2nd ed

1992 ISBN 0-8039-2775-4

Homo oeconomicos

Norbert Bluumlm Gerechtigkeit Eine Kritik des Homo oeconomicus Herder FreiburgBaselWien 2003

ISBN 978-3-451-05789-2

Alexander Dietz Der homo oeconomicus Theologische und wirtschaftsethische Perspektiven auf ein oumlko-

nomisches Modell Guumltersloher Verlags-Haus Guumltersloh 2005 ISBN 3-579-05310-8

Alfred Fey Der homo oeconomicus in der klassischen Nationaloumlkonomie und seine Kritik durch den His-

torismus Limburger Vereinsdruckerei Limburg 1936

Armin Falk Homo Oeconomicus Versus Homo Reciprocans Ansaumltze fuumlr ein Neues Wirtschaftspolitisches

Leitbild In Institut fuumlr Empirische Wirtschaftsforschung der Universitaumlt Zuumlrich (Hrsg) Working Paper

No 79 Juli 2001 (PDF 220 KB)

Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus

In Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 (PDF 69 KB)

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta

Rump Thomas Sattelberger Heinz Fischer (Hrsg) Employability Management Grundlagen Konzepte

Perspektiven Gabler Wiesbaden 2006 ISBN 3-8349-0118-0 S 187 ff (DOC)

Gebhard Kirchgaumlssner Homo oeconomicus Das oumlkonomische Modell individuellen Verhaltens und seine

Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Mohr Tuumlbingen 1991 ISBN 3-16-145829-X

3 ergaumlnzte und erweiterte Aufl ebd 2008 ISBN 978-3-16-149834-3

Reiner Manstetten Das Menschenbild in der Oumlkonomie Der homo oeconomicus und die Anthropologie

von Adam Smith Alber FreiburgMuumlnchen 2000 ISBN 3-495-47980-5

Joseph Persky Retrospectives The ethology of Homo economicus In Journal of Economic Perspectives

9 (2) 1995 S 221-231

Norbert Rost Homo oeconomicus Eine Fiktion der Standardoumlkonomie In Humane Wirtschaft 012009

S 18ndash23 (PDF 282 KB)

Ekkehart Schlicht Der homo oeconomicus unter experimentellem Beschuszlig In Martin Held Gisela Ku-

bon-Gilke amp Richard Sturn (Hrsg) Experimente in der Oumlkonomik Jahrbuch normative und institutionelle

Grundfragen der Oumlkonomik 2 Metropolis-Verlag Marburg 2003 ISBN 3-89518-414-4 (PDF 278 KB)

Peter H Werhahn Menschenbild Gesellschaftsbild und Wissenschaftsbegriff in der neueren Betriebswirt-

schaftslehre Faktortheoretischer Ansatz entscheidungsorientierter Ansatz und Systemansatz im Ver-

gleich Haupt Verlag BernStuttgart 1980 ISBN 3-258-02949-0 2 Aufl ebd 1989 ISBN 3-258-04084-2

Helmut Woll Menschenbilder in der Oumlkonomie Oldenbourg MuumlnchenWien 1994 ISBN 3-486-23056-5

Stefan Zabieglik The Origins of the Term Homo Oeconomicus In Janina Kubka (Hrsgn) Economics

and Values PG Gdańsk 2002 ISBN 83-915729-2-7 S 123-131

Page 23: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

- 22 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

52 Gesunde Balance zwischen Oumlkonomie und Ethik

Trotz aller oben vorgebrachter Bedenken ist es doch nun aber keineswegs so dass der ver-

antwortungsvolle und gewissenhafte Umgang mit Geld die Faumlhigkeit sparsam und klug zu wirt-

schaften im Gegensatz zu einer der Gemeinschaft verpflichtenden Ethik stehen muss Die ent-

scheidende Frage ist eher die ob die mit Geld und betriebswirtschaftlichen Uumlberlegungen zu-

sammenhaumlngenden Entscheidungen nur aus der Logik der Oumlkonomie der Wirtschaftswissen-

schaft oder auch aus der Logik einer dem Gemeinwohl verpflichtender Ethik getroffen werden

Nach uumlbereinstimmender Uumlberzeugung vieler Experten waumlre das dann moumlglich wenn die un-

terschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen bereit waumlren miteinander (aus verschiedenen

Blickwinkeln die unterschiedlichen Dimensionen31

) zu reflektieren und sich als Anwaumllte der

Menschen die in Not geraten sind zu verstehen Darin eingeschlossen waumlre auch ein Dialog

uumlber den Umgang mit den knapper gewordenen finanziellen Ressourcen Auf diese Weise

steigt der Kommunikationsbedarf innerhalb der Organisation natuumlrlich enorm an wird aumluszligerst

zeitaufwendig und muumlsste neu organisiert werden

Das wieder ist nicht leicht weil sich Organisationen in der Regel nur unter dem Druck veraumln-

derter Verhaumlltnisse veraumlndern Doch auch das sollte klar sein Organisationen die nicht zur

lernenden Organisation werden werden unter den sich veraumlndernden Wettbewerbsbedingungen

wenig Chancen haben die gesellschaftspolitischen Umbruumlche und Bewegungen mit den be-

triebswirtschaftlichen Entwicklungen erfolgreich zu gestalten

Klar ist dass die Veraumlnderungen die hier notwendig werden sich nicht ohne eine wertorientier-

te Fuumlhrung des Krankenhauses einleiten und umsetzen lassen Entscheidend fuumlr die Fuumlhrungs-

aufgabe ist dass das Wertesystem umfassend in die Strategie des Gesellschaftsmodells und die

Fuumlhrungs- und Geschaumlftsprozesse integriert werden Nur wenn mit dem miteinander errungenen

Werteverstaumlndnis entsprechende Handlungen und Maszlignahmen erfolgen wird eine Unterneh-

mensethik mit Werten deutlich erkennbar sein

Dabei wird eine effektive werteorientierte Unternehmensethik (in den bdquoSonntagsredenldquo) schon

lange zu den zentraler Bestandteilen einer zeitgemaumlszligen Unternehmensfuumlhrung gerechnet Das

dies eine strategische Investition in die Zukunftsentwicklung eines Unternehmens und letztlich

auch in unsere Gesellschaft ist braucht mE nicht besonders hervorgehoben zu werden

Was entwickelt erhalten und gestaumlrkt werden sollte ist

eine Fuumlhrungskultur die von Vertrauen Transparenz und intellektueller Redlichkeit der Ver-

antwortlichen aller Bereich gepraumlgt ist

den Blick auf das gesamte Unternehmen zu staumlrken und damit Bereichsegoismen zu uumlberwin-

den

ethischer Standards zu entwickeln zu diskutieren und zu foumlrdern (Tugend- und Wirtschafts-)

Dabei geht es nicht um ein Anlernen von Vielwissen sondern vor allem um die Einuumlbung von Hal-

tungen Und genau das ist eine der besonderen Staumlrken der Tugendethik

Allerdings ist die Tugendethik ein Ethikkonzept das in der Philosophie lange Zeit in Vergessenheit

geraten war und erst in den letzten Jahrzehnten wieder neu in den Blickpunkt geriet Erfreulich ist

dass das wiedererwachte philosophische Interesse nun immer mehr auch die Medizinethik erfasst

Zum einen wurden in den letzten Jahren verstaumlrkt auch tugendethische Ansaumltze in der Medizin dis-

kutiert32

31

Oumlkonomische medizinische pflegerische ethische soziale psychische hellip 32

zB Pellegrino u Thomasma 1993 Eichinger 2010

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

7 Literatur

Jens Asendorpf Psychologie der Persoumlnlichkeit Springer Heidelberg 2003 (3 Aufl) ISBN 978-3-540-

71684-6

Charles S Carver Michael F Scheier Perspectives on personality Allyn and Bacon Boston MA 1996

(5 th ed) ISBN 0-205-37576-6

Alwin Diemer Elementarkurs Philosophie Philosophische Anthropologie Econ Duumlsseldorf 1978 S 57-

72 ISBN 3-430-12068-3

Jochen Fahrenberg Annahmen uumlber den Menschen Menschenbilder aus psychologischer biologischer

religioumlser und interkultureller Sicht Asanger Heidelberg 2004 ISBN 3-89334-416-0

Jochen Fahrenberg Was denken Studierende der Psychologie uumlber das Gehirn-Bewusstsein-Problem

uumlber Willensfreiheit Transzendenz und den Einfluss philosophischer Vorentscheidungen auf die Berufs-

praxis Journal fuumlr Psychologie Bd 14 2006 S 302-330

Jochen Fahrenberg Psychologische Anthropologie ndash Eine Fragebogenstudie zum Menschenbild von 800

Studierenden der Psychologie Philosophie und Naturwissenschaften e-Journal Philosophie der Psycholo-

gie Nr 5 2006 S 1-20 ( pdf) 199 KB)

Jochen Fahrenberg Menschenbilder Psychologische biologische interkulturelle und religioumlse Ansichten

Psychologische und Interdisziplinaumlre Anthropologie (access e-book print on demand pdf 20 MB 5

Maumlrz 2008)

Hermann-Josef Fisseni Persoumlnlichkeitspsychologie Ein Theorienuumlberblick Hogrefe Goumlttingen 2003 (5

Aufl) ISBN 3-430-12068-3

Detlev Ganten et al (Hrsg) Was ist der Mensch BerlinNew York 2008 ISBN 978-3-11-020262-5

Nobert Groeben (Hrsg) Zur Programmatik einer sozialwissenschaftlichen Psychologie Band 1-3

Aschendorff Muumlnster 1997 ISBN 3-402-04604-0

Charles Hampden-Turner Modelle des Menschen Ein Handbuch des menschlichen Bewusstseins Beltz

Weinheim 1996 ISBN 3-407-85072-7

Werner Herkner Lehrbuch der Sozialpsychologie Huber Bern 2001 (6 Aufl) ISBN 3-456-81989-7

Gerd Juumlttemann Psychologie als Humanwissenschaft Ein Handbuch Vandenhoeck amp Ruprecht Goumlttin-

gen 2004 ISBN 3-525-46215-8

Juumlrgen Kriz Grundkonzepte der Psychotherapie Eine Einfuumlhrung Beltz Weinheim 2007 (6 Aufl)

Peter Kutter Rauacutel Paacuteramo-Ortega Thomas Muumlller (Hrsg) Weltanschauung und Menschenbild Einfluumlsse

auf die psychoanalytische Praxis Vandenhoeck amp Ruprecht Goumlttingen 1998 ISBN 3-525-45806-1

Uwe Laucken Naive Verhaltenstheorie Ein Ansatz zur Analyse des Konzeptrepertoires mit dem im all-

taumlglichen Lebensvollzug das Verhalten der Mitmenschen erklaumlrt und vorhergesagt wird Klett Stuttgart

1973

Walfried Linden Alfred Fleissner Geist Seele und Gehirn Entwurf eines gemeinsamen Menschenbildes

von Neurobiologen und Geisteswissenschaftlern LIT-Verlag Muumlnster 2004 ISBN 3825879739

Rolf Oerter (Hrsg) Menschenbilder in der modernen Gesellschaft Konzeptionen des Menschen in Wis-

senschaft Bildung Kunst Wirtschaft und Politik Enke Stuttgart 1999 ISBN 3-432-30531-1

Lawrence A Pervin Persoumlnlichkeitstheorien Reinhardt Muumlnchen 1981 (4 Aufl) ISBN 3-8252-8035-7

Hilarion Petzold Ilse Orth (Hrsg) Die Mythen der Psychotherapie Ideologien Machtstrukturen und

Wege kritischer Praxis Junfermann Paderborn 1999

Bodo Rollka Friederike Schultz Kommunikationsinstrument Menschenbild Zur Verwendung von Men-

schenbildern in gesellschaftlichen Diskursen VS-Verlag Wiesbaden 2011 ISBN 978-3-531-17297-2

Ernst Seidl ua KoumlrperWissen Erkenntnis zwischen Eros und Ekel Tuumlbingen MUT 2009 ISBN 978-3-

9812736-1-8

- 26 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Uwe Springfeld MENSCHMASCHINE - maschinenmensch S Hirzel Verlag Stuttgart 2009 ISBN 978-

3-7776-1646-9

Reneacute Thalmair Das Menschenbild des homo europaeus Menschenbildaspekte im Vertrag uumlber eine Ver-

fassung in Europa Peter Land Verlag Frankfurt aM 2007 ISBN 978-3-631-55731-0

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1992 ISBN 0-8039-2775-4

Homo oeconomicos

Norbert Bluumlm Gerechtigkeit Eine Kritik des Homo oeconomicus Herder FreiburgBaselWien 2003

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Stephan Franz Grundlagen des oumlkonomischen Ansatzes Das Erklaumlrungskonzept des Homo Oeconomicus

In Universitaumlt Potsdam (Hrsg) International economics working paper 2004-02 (PDF 69 KB)

Ulli Guckelsberger Das Menschenbild in der Oumlkonomie - ein dogmengeschichtlicher Abriss In Jutta

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Gebhard Kirchgaumlssner Homo oeconomicus Das oumlkonomische Modell individuellen Verhaltens und seine

Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Mohr Tuumlbingen 1991 ISBN 3-16-145829-X

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Reiner Manstetten Das Menschenbild in der Oumlkonomie Der homo oeconomicus und die Anthropologie

von Adam Smith Alber FreiburgMuumlnchen 2000 ISBN 3-495-47980-5

Joseph Persky Retrospectives The ethology of Homo economicus In Journal of Economic Perspectives

9 (2) 1995 S 221-231

Norbert Rost Homo oeconomicus Eine Fiktion der Standardoumlkonomie In Humane Wirtschaft 012009

S 18ndash23 (PDF 282 KB)

Ekkehart Schlicht Der homo oeconomicus unter experimentellem Beschuszlig In Martin Held Gisela Ku-

bon-Gilke amp Richard Sturn (Hrsg) Experimente in der Oumlkonomik Jahrbuch normative und institutionelle

Grundfragen der Oumlkonomik 2 Metropolis-Verlag Marburg 2003 ISBN 3-89518-414-4 (PDF 278 KB)

Peter H Werhahn Menschenbild Gesellschaftsbild und Wissenschaftsbegriff in der neueren Betriebswirt-

schaftslehre Faktortheoretischer Ansatz entscheidungsorientierter Ansatz und Systemansatz im Ver-

gleich Haupt Verlag BernStuttgart 1980 ISBN 3-258-02949-0 2 Aufl ebd 1989 ISBN 3-258-04084-2

Helmut Woll Menschenbilder in der Oumlkonomie Oldenbourg MuumlnchenWien 1994 ISBN 3-486-23056-5

Stefan Zabieglik The Origins of the Term Homo Oeconomicus In Janina Kubka (Hrsgn) Economics

and Values PG Gdańsk 2002 ISBN 83-915729-2-7 S 123-131

Page 24: „Es muss sich rechnen?“ · „Es muss sich rechnen?“ ... - Leiden lindern. In der englischsprachigen Literatur ähnlich:„Beneficience“ (zum Wohl des Kranken handeln), -

- 23 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

Dabei eignet sich der Tugendbegriff in besonderer Weise angesichts der hohen Erwartungen

die an Medizin und Pflege gestellt werden

Es ist die Tugend der Gelassenheit die gerade fuumlr den groszligen Komplex des guten Sterbens

relevant geworden ist

Als Grundlage einer verstehenden Arzt-Patient-Beziehung kann die Tugend der Aufmerk-

samkeit verstanden werden

Die Tugend der Solidaritaumlt wiederum ist sowohl fuumlr den individuellen Umgang mit kranken

Menschen als auch fuumlr den makroallokatorischen Kontext von besonderer Bedeutung

Die Tugend des rechten Maszliges wieder koumlnnte im Hinblick auf die zahlreiche Entwicklun-

gen innerhalb der modernen Medizin Anwendung relevant werden Das faumlngt an bei den

sich verselbststaumlndigenden medizinisch-technischen Einzeldisziplinen die einen Blick auf

den Menschen als Ganzen zunehmend erschweren uumlber die betrieblich-unternehmerischen

Zugriffe auf die modernen Kliniken bis hin zum Thema raquoWunscherfuumlllende Medizinlaquo das

auf ein Begehren weckt das nicht gestillt werden kann33

Nicht vergessen werden sollte allerdings auch dass erst die Verdraumlngung Tugend der Cari-

tas die einseitige Betonung des oumlkonomischen Denkens ermoumlglicht hat

Von zentraler Bedeutung im Bereich von Medizin und Pflege ist allerdings die Tugend des

Wohlwollens34

Von Beauchamp u Childress35

werden

- Empathie

- Urteilskraft

- Vertrauenswuumlrdigkeit

- Moralische Integritaumlt

- Gewissenhaftigkeit

als aumlrztlichen Tugenden beschrieben

Meine Erfahrung hier im Universitaumltsklinikum ist die dass die uumlberwiegende Zahl der Menschen

die hier arbeiten (und leiten) sich an erster Stelle dem gesundheitlichen Wohl der hier Unterstuumlt-

zung (und Hilfe) suchenden Menschen verpflichtet fuumlhlen Ihre Arbeit zeichnet sich durch beste

medizinische Leistungen und eine engagierte zeitgemaumlszlige Pflege aus Dabei fuumlhlen sie sich in der

Regel dem Gebot der Sparsamkeit des Mitteleinsatzes genauso verpflichtet wie der Nachhaltig-

keit medizinischer und pflegerischer Leistungen

33

Jenes Phaumlnomen das Schelling den raquonie zu stillenden Hunger der Selbstsuchtlaquo genannt hat (s Hahn 1998) 34

bdquoDie Tugend des Wohlwollens laumlsst sich in der Kontrastierung zur rechtlichen Pflicht erkennen Wenn wir je-

mandem ein grundsaumltzliches Wohlwollen entgegenbringen fragen wir nicht was eigene Pflicht ist oder was des

anderen Rechte sind Die rechtliche Pflicht erfuumlllt man dann wenn man das tut worauf der andere einen Anspruch

hat man tut das was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist Fuumlr die Tugend des Wohlwollens ist die Frage

danach was man dem anderen (rechtlich) schuldig ist nicht der Antrieb Wohlwollen fragt eben nicht nach dem

normativ Geschuldeten sondern es ist eine Grundhaltung die durch die Hinwendung zum anderen und durch die

Wertschaumltzung des anderen in seinem Sosein getragen istldquo Giovanni Maio in Ethik in der Medizin S77 35

2001 5 36ff Die beiden Autoren Tom L Beauchamp und James Childress gehen in ihrem einflussreichen Buch

bdquoPrinciples of Biomedical Ethicsldquo (seit 1987) von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten aus ndash Beauch-

amp eher von utilitaristischen Childress eher von deontologischen Praumlmissen Ihr Ziel war es ausgehend von weit-

hin anerkannten moralischen Vorstellungen und kompatibel mit verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten eine

Art common morality zu formulieren Beauchamp und Childress ziehen dabei eine pluralistische kohaumlrentistische

Theorie die durch ein Geflecht von Normen Werten und moralischen Intuitionen gekennzeichnet ist einer Orientie-

rung an einer monistischen Moraltheorie vor

- 24 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

7 Literatur

Jens Asendorpf Psychologie der Persoumlnlichkeit Springer Heidelberg 2003 (3 Aufl) ISBN 978-3-540-

71684-6

Charles S Carver Michael F Scheier Perspectives on personality Allyn and Bacon Boston MA 1996

(5 th ed) ISBN 0-205-37576-6

Alwin Diemer Elementarkurs Philosophie Philosophische Anthropologie Econ Duumlsseldorf 1978 S 57-

72 ISBN 3-430-12068-3

Jochen Fahrenberg Annahmen uumlber den Menschen Menschenbilder aus psychologischer biologischer

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Jochen Fahrenberg Was denken Studierende der Psychologie uumlber das Gehirn-Bewusstsein-Problem

uumlber Willensfreiheit Transzendenz und den Einfluss philosophischer Vorentscheidungen auf die Berufs-

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Jochen Fahrenberg Psychologische Anthropologie ndash Eine Fragebogenstudie zum Menschenbild von 800

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gie Nr 5 2006 S 1-20 ( pdf) 199 KB)

Jochen Fahrenberg Menschenbilder Psychologische biologische interkulturelle und religioumlse Ansichten

Psychologische und Interdisziplinaumlre Anthropologie (access e-book print on demand pdf 20 MB 5

Maumlrz 2008)

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1973

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Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

6 Thesen und Forderungen

einer Gruppe die sich selbst Arbeitskreis Postautistische Oumlkonomie nennt

Die post-autistische Oumlkonomie ist eine im Jahr 2000 in Frankreich entstandene Bewegung

von Oumlkonomie-Studenten die mit der oumlkonomischen Lehrmeinung unzufrieden sind da diese zu selbstbe-

zogen praxisfern und wirklichkeitsfremd sei Einige Tausend Mitglieder weltweit zaumlhlen die Arbeitskrei-

se die sich in Anlehnung dieser Theorie gebildet haben Einige Professoren und Nachwuchswissen-

schaftler hauptsaumlchlich aber Studenten haben sich darin organisiert Sie klagen dass die etablierte

Volkswirtschaftslehre realitaumltsfremd sei und unter Denkverboten leide Sie sei eben autistisch lautet

der Vorwurf

Gemeint ist damit zweierlei Die Mainstream-Oumlkonomie haumlnge zu einseitig an der neoklassischen

Lehre und zeige sich nur wenig offen gegenuumlber neuen Ideen Und Das noch immer haumlufig postulier-

te Menschenbild des Homo oeconomicus sei realitaumltsfremd Der Mensch sei nicht so egoman und

emotionslos wie traditionelle Oumlkonomen behaupteten - er interessiere sich sehr wohl fuumlr Moral und

Mitmenschen

Die Postautisten fordern eine Volkswirtschaftslehre die zum Mitdenken einlaumldt und Dogmen ge-

schichtlich einordnet Sie wollen sich an der Realitaumlt mit allen sozialen und oumlkologischen Problemen

abarbeiten und nicht Modelle auswendig lernen die ihrer Meinung nach an der Realitaumlt vorbeigehen

Sie wollen Meinungsvielfalt statt Marktglaumlubigkeit Und sie wollen weniger Mathematik

(Auszug aus dem Positionspapier des AK Post Autistische Oumlkonomie Deutschland vom 23Mai 2004

vollstaumlndige Version auf wwwpaeconde)

Thesen

1 Das Menschenbild des Homo Oeconomicus ist autistisch Die () kooperativen Wesenszuumlge des Men-

schen bestimmen ebenfalls sein Handeln

2 Die in der Oumlkonomie aufgestellten Theorien sind nicht zeit- und geschichtslos guumlltig

3 Das wirtschaftliche Handeln des Menschen ist als Teil des Kreislaufs der Natur zu begreifen

4 Die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft ist nur ein Blickwinkel auf die Wirklichkeit ()

5 Die Wirtschaftswissenschaften verschreiben sich der Einhaltung formaler Regeln ()

6 Die Loumlsung realer ges Probleme () wird derzeit von den Wirtschaftswissenschaften vernachlaumlssigt

7 Macht ist ein wesentlicher Faktor in der Wirtschaft Sie sollte daher auch eine Groumlszlige in den Wirt-

schaftswissenschaften sein ()

Forderungen

1 Die Wirtschaftswissenschaften sollen sich ihrer Verantwortung und Grenzen bewusst sein ()

2 Die Vielfalt der Theorien soll beruumlcksichtigt werden

3Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften werden zu Technokraten erzogen Deshalb muss die

Herausbildung eigenstaumlndiger Positionen durch Diskussionen gefoumlrdert werden ()

4()Wir fordern interdisziplinaumlre Veranstaltungen an den sozial- und naturwissen-schaftlichen Schnitt-

stellen ()

wwwpaeconde

- 25 -

Rolf-Michael Turek bdquoEs muss sich rechnenldquo

7 Literatur

Jens Asendorpf Psychologie der Persoumlnlichkeit Springer Heidelberg 2003 (3 Aufl) ISBN 978-3-540-

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- 26 -

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