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1 Vorlesung: Einführung in die Literaturwissenschaft / W. Struck / W.S. 2012/13 Text und Kontext 1: Gattungssystem und Poetik Gegenstand dieser Vorlesung war bisher die Suche nach Modellen der Textbeschreibung, die von ele- mentareren zu komplexeren Einheiten geführt hatte: von der Ebene der Zeichen und Zeichensysteme über poetische Verfahren auf mikrostruktureller Ebene (z.B. Verse, Strophen) zur makrostruktuellen Ebene des Textes. Ein leitender Gesichtspunkt dabei war der Blick auf den einzelnen Text als in sich geschlossenes, autonomes Gebilde, der sich ergeben hatte aus der für literarische Texte charakteristischen Entpragmatisierung. Aber trotz dieser partiellen Autonomie gilt auch für literarische Texte, was bereits für einzelne Zeichen festgestellt wurde: auch sie sind Elemente eines Systems, und ihre spezifische Bedeutung resultiert aus ihrem Verhältnis zu anderen Elementen dieses Systems. Die folgenden Lektüren sollen daher dazu dienen, den Katalog heuristischer (also versuchsweise zu stellender) Fragen zu erweitern, die zur Analyse eines Textes dienen können. Im Zentrum steht dabei nun das Verhältnis des einzelnen Textes zu seiner literarischen ‚Umwelt‘ und, ansatzweise, auch deren Verhältnis zu weiteren, kulturellen und sozialen ‚Umwelten‘. Wiederum heuristische Be- schreibungskriterien hierfür bieten die traditionellen Kategorien von Gattungen und Epochen. Es geht also um das Verhältnis von Text und Kontext (von lat. contexus, contexere: zusammen- weben), in dem das Gewebe, das der einzelne Text darstellt, in ein weiteres, größeres Gewebe verwo- ben wird. Das soll genauer entwickelt werden in der Lektüre von Johann Wolfgang Goethes Drama Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. Ein Schönbartsspiel (1. Fassung 1773; 2. Fassung 1778/1789). (1) Text und Paratext Goethes Schauspiel liegt in zwei Fassungen vor, die erste ist 1773 entstanden und 1774 zum ersten Mal in einer Sammlung mit dem Titel Neueröffnetes moralisch=politisches Puppenspiel gedruckt wor- den, die zweite ist das Ergebnis einer Umarbeitung, die Goethe 1778 für eine Aufführung des ‚Etters- berger Liebhabertheaters‘ in Weimar vorgenommen hat (Goethe selbst spielte hier die Rolle des Marktschreyers). Diese Fassung wurde 1789, im 8. Band von Goethe's Schriften erstmals gedruckt, unter dem leicht veränderten Titel: Das Jahr- markts=Fest zu Plundersweilern. Ein Schönbarts- spiel. In beiden Fällen erscheint der Text also nicht allein, sondern ist Teil einer Sammlung. Während das im zweiten Fall aber lediglich eine Ausgabe ist, die alle bis dahin erschienenen Texte Goethes unter dem neutralen Titel "Schriften" zusammen- und nebeneinander stellt, machen Titel und Zusammen- stellung der 1. Ausgabe deutliche inhaltlich Vorga- ben. Der Titel der Sammlung, Neueröffnetes mora- lisch=politisches Puppenspiel, bezieht sich auf alle in der Sammlung zusammengestellten Texte, er bezeichnet sie (also Puppenspiel, als moralisch- politisch, als neueröffnet – was auch immer das heißen soll). Das gleiche gilt für das Motto, das dem Titel wie ein Untertitel hinzugefügt ist, Et prodesse volunt es delectare poëtae. Es folgt ein Prolog und dann drei Texte, Künstlers Erdenwal- len, Jahrmarktsfest zu Plundersweilen, Ein Fast- nachtsspiel ... vom Pater Brey. Während diese drei Stücke gleichrangig nebeneinander stehen, ist der Prolog, der dann als nächstes folgt, auf alle drei folgenden Texte zu beziehen: NEUERÖFFNETES M O R A L I S C H - P O L I T I S C H E S PUPPENSPIEL Et prodesse volunt et delectare poëtae. Prolog Damit ist ein erster Kontext beschrieben. Die ver- schiedenen Texte der Sammlung lassen sich aufein- ander beziehen, sie bilden Analogien, Kontraste, Ergänzungen und Widersprüche. Titel, Unterti- tel/Motto und Prolog bilden dagegen einen Rah- men, in dem alle versammelten Texte stehen, sie beschreiben sie und stellen zugleich weitere Zu- sammenhänge her; etwa zu weiteren Puppenspielen KÜNSTLERS ERDENWALLEN JAHRMARKTSFEST ZU PLUNDERSWEILERN Ein Schönbartsspiel EIN FASTNACHTSSPIEL, AUCH WOHL ZU TRAGIEREN NACH OSTERN, VOM PATER BREY DEM FALSCHEN PROPHETEN

EUERÖFFNETES M O R A L I S C H P O L I T I S C H E S ... · Händler als auch Schausteller, Musiker und Arti-sten; Zigeunerhauptmann und Zigeunerbursch. Nachdem das geschehen ist,

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Vorlesung: Einführung in die Literaturwissenschaft / W. Struck / W.S. 2012/13 Text und Kontext 1: Gattungssystem und Poetik Gegenstand dieser Vorlesung war bisher die Suche nach Modellen der Textbeschreibung, die von ele-mentareren zu komplexeren Einheiten geführt hatte: von der Ebene der Zeichen und Zeichensysteme über poetische Verfahren auf mikrostruktureller Ebene (z.B. Verse, Strophen) zur makrostruktuellen Ebene des Textes. Ein leitender Gesichtspunkt dabei war der Blick auf den einzelnen Text als in sich geschlossenes, autonomes Gebilde, der sich ergeben hatte aus der für literarische Texte charakteristischen Entpragmatisierung. Aber trotz dieser partiellen Autonomie gilt auch für literarische Texte, was bereits für einzelne Zeichen festgestellt wurde: auch sie sind Elemente eines Systems, und ihre spezifische Bedeutung resultiert aus ihrem Verhältnis zu anderen Elementen dieses Systems. Die folgenden Lektüren sollen daher dazu dienen, den Katalog heuristischer (also versuchsweise zu stellender) Fragen zu erweitern, die zur Analyse eines Textes dienen können. Im Zentrum steht dabei nun das Verhältnis des einzelnen Textes zu seiner literarischen ‚Umwelt‘ und, ansatzweise, auch deren Verhältnis zu weiteren, kulturellen und sozialen ‚Umwelten‘. Wiederum heuristische Be-schreibungskriterien hierfür bieten die traditionellen Kategorien von Gattungen und Epochen. Es geht also um das Verhältnis von Text und Kontext (von lat. contexus, contexere: zusammen-weben), in dem das Gewebe, das der einzelne Text darstellt, in ein weiteres, größeres Gewebe verwo-ben wird. Das soll genauer entwickelt werden in der Lektüre von Johann Wolfgang Goethes Drama

Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. Ein Schönbartsspiel

(1. Fassung 1773; 2. Fassung 1778/1789). (1) Text und Paratext Goethes Schauspiel liegt in zwei Fassungen vor, die erste ist 1773 entstanden und 1774 zum ersten Mal in einer Sammlung mit dem Titel Neueröffnetes moralisch=politisches Puppenspiel gedruckt wor-den, die zweite ist das Ergebnis einer Umarbeitung, die Goethe 1778 für eine Aufführung des ‚Etters-berger Liebhabertheaters‘ in Weimar vorgenommen hat (Goethe selbst spielte hier die Rolle des Marktschreyers). Diese Fassung wurde 1789, im 8. Band von Goethe's Schriften erstmals gedruckt, unter dem leicht veränderten Titel: Das Jahr-markts=Fest zu Plundersweilern. Ein Schönbarts-spiel.

In beiden Fällen erscheint der Text also nicht allein, sondern ist Teil einer Sammlung. Während das im zweiten Fall aber lediglich eine Ausgabe ist, die alle bis dahin erschienenen Texte Goethes unter dem neutralen Titel "Schriften" zusammen- und nebeneinander stellt, machen Titel und Zusammen-stellung der 1. Ausgabe deutliche inhaltlich Vorga-ben. Der Titel der Sammlung, Neueröffnetes mora-lisch=politisches Puppenspiel, bezieht sich auf alle in der Sammlung zusammengestellten Texte, er bezeichnet sie (also Puppenspiel, als moralisch-politisch, als neueröffnet – was auch immer das heißen soll). Das gleiche gilt für das Motto, das dem Titel wie ein Untertitel hinzugefügt ist, Et prodesse volunt es delectare poëtae. Es folgt ein Prolog und dann drei Texte, Künstlers Erdenwal-len, Jahrmarktsfest zu Plundersweilen, Ein Fast-nachtsspiel ... vom Pater Brey. Während diese drei Stücke gleichrangig nebeneinander stehen, ist der Prolog, der dann als nächstes folgt, auf alle drei folgenden Texte zu beziehen:

NEUERÖFFNETES M O R A L I S C H - P O L I T I S C H E S

PUPPENSPIEL

Et prodesse volunt et delectare poëtae.

Prolog

Damit ist ein erster Kontext beschrieben. Die ver-schiedenen Texte der Sammlung lassen sich aufein-ander beziehen, sie bilden Analogien, Kontraste, Ergänzungen und Widersprüche. Titel, Unterti-tel/Motto und Prolog bilden dagegen einen Rah-men, in dem alle versammelten Texte stehen, sie beschreiben sie und stellen zugleich weitere Zu-sammenhänge her; etwa zu weiteren Puppenspielen

KÜNSTLERS ERDENWALLEN

JAHRMARKTSFEST ZU PLUNDERSWEILERN

Ein Schönbartsspiel

EIN FASTNACHTSSPIEL, AUCH WOHL ZU TRAGIEREN NACH OSTERN,

VOM PATER BREY

DEM FALSCHEN PROPHETEN

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oder zu einer Poetik-Tradition, die durch das Horaz-Zitat Et prodesse volunt et delectare poëtae angesprochen wird, das hier allerdings abweichend (falsch) zitiert wird. In Horaz’ Ars Poetica heißt es: Aut prodesse volunt aut delectare poetae, d. h. entweder nützlich sein oder unterhalten wollen die Dichter, während bei Goethe daraus sowohl ... als auch wird. Das heißt, das mit dem Motto eine be-stimmte Tradition der Funktionsbestimmung von Dichtung angesprochen, aber auch modifiziert wird. Wie die genau aussieht, d.h. was das Argument von Horaz meint und wie Goethe es verändert, ist dabei im Augenblick nicht so wichtig; wichtig aber ist, daß Goethe sich in eine Tradition (einen historischen Kontext) stellt, sich aber zugleich auch davon abgrenzt. Der eigentliche Dramentext beginnt mit den Sätzen des Marktschreyers „Werd’s rühmen und preisen weit und breit / Daß Plundersweilern dieser Zeit...“. Darum herum lagern sich aber, hierarchisch geschichtet, weitere Texte:

Entsprechend funktionieren Titel und Untertitel für das Jahrmarktsfest selbst, dessen in beiden Fassun-gen weitgehend gleichbleibender Titel den Text insgesamt beschreibt. Insbesondere der Untertitel Ein Schönbartsspiel, der auch als Gattungsbezeich-nung gelesen werden kann, gibt eine Klassifikation vor, wie (d.h. als was) der weitere Text gelesen werden könnte (was das ist, wird später erörtert). Es geht hier also um die Grenze des Textes, um den Rahmen, der regelt, was Text ist und was nicht, und wie sich das zueinander verhält. Diese Kennzeichnung Ein Schönbarthspiel bleibt auch in der 2. Fassung erhalten, die den Text aus dem Zusammenhang des Neueröffneten moralisch-politischen Puppenspiels herausnimmt. Solche rahmenden Texte nennt man, mit einem Ausdruck des Literaturtheoretikers Gérard Genette, auch Paratexte:

Paratexte verankern den Text in einem Kontext und klären Modi der Lektüre. Der unter einem Titel stehende Hinweis Roman etwa ruft die Erwartung eines fiktionalen, narrativen Textes auf (ich weiß, bzw. darf erwarten, daß eine Geschichte erzählt wird, und daß diese Geschichte so nicht wirklich stattgefunden hat; diese Erwartungen lassen sich weiter spezifizieren, Kriminalroman etwa weist darauf hin, daß es um Verbrechen und desse Auf-klärung gehen sollte, und, wichtiger: der Text sollte spannend sein). Autobiographie oder Biographie verweisen auf einen ebenfalls narrativen, aber nicht fiktionalen Text. Zu beachten ist dabei, auf welcher Ebene solche (Selbst-) Klassifikationen begegnen; habe ich z.B. einen Roman vor mir, in dem ein Kapitel mit 'Au-tobiographie' überschrieben ist, dann ist das immer noch im Modus der Fiktion, d.h. ich muß nicht erwarten, daß es die Person, die dort vermeintlich über sich selbst schreibt, wirklich (d.h. in der Welt außerhalb des Romans) gibt. Das Jahrmarktsfest allerdings gibt mit seiner para-textuellen Rahmung zunächst eher ein Rätsel auf: was ein Roman oder eine Autobiographie ist, ist relativ klar, aber was ist ein Schönbartspiel? Auch für Goethes Zeitgenossen dürfte das nicht ohne weiteres klar gewesen sein: es handelt sich um eine sehr viel ältere Form des (Theater-) Spiels, die im 15. und 16. Jahrhundert in der Nürnberger Fastnach verbreitet war (Schönbart kommt von Schembart: eine bärtige Karnevals-Maske).

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Welche Bedeutung das allerdings für Goethes Text hat, ist nicht so ohne weiteres klar. Ein Maskenspiel liegt hier ja - zunächst – nicht vor. Bevor der Sinn dieser paratextuellen Rahmung diskutiert werden kann, ist ein genauerer Blick auf den Text selbst notwendig. (2) Einheit des Textes. Rahmen- und Binnen-handlung Der Grundeindruck ist für beide Fassungen des Jahrmarktsfests gleich: auf den ersten Blick ver-mittelt der Text einen sehr wenig organisierten, heterogenen Eindruck. Es tritt eine Vielzahl von Figuren auf, die unterschiedlichsten Gruppierungen angehören und in der Regel nach wenigen Worten oder Handlungen wieder aus dem Fokus des Textes verschwinden. Auch wenn dabei gleich eine ganze Reihe möglicher Handlungsmotive angedeutet werden, wird doch keines weiter entwickelt oder gar bis zum Ende geführt. Das wird mit der anderen, mit dem Titel selbst gegebenen, paratextuellen Kennzeichnung, erklärt: der Text zeigt ein Jahrmarktsfest mit seiner Vielzahl von Personen, die sich hier mehr oder weniger zufällig begegnen.

Georg Melchior Kraus (1737-1806): Das Neueste von Plundersweilern

Das deutlichste Segmentierungskriterium, das sich im Jahrmarktsfest finden läßt, trennt zwischen einer Rahmen- und einer Binnenhandlung. Zunächst wird die Buntheit und Vielfalt eines kleinstädtischen Jahrmarkts andeutungsweise ent-faltet und es werden zumindest einige Figuren ein wenig exponiert: ein kunstinteressierter Docktor, ein Amtmann, Fräulein, Pfarrer und andere als Repräsentanten Plundersweilerns; ein Marktschreyer, der zugleich mit Wundermedizin handelt und Direktor eines Wandertheaters ist; weitere Figuren des Marktgeschehens, sowohl Händler als auch Schausteller, Musiker und Arti-sten; Zigeunerhauptmann und Zigeunerbursch.

Nachdem das geschehen ist, beginnt eine Theater-aufführung, ein Spiel im Spiel. Aufgeführt wird ein Trauerspiel nach Motiven aus dem Buch Esther des Alten Testaments, ein im 18. Jahrhundert relativ bekannter und häufiger behandelter Stoff. Die Erwartung, erst hier beginne nun das ‚eigent-liche‘ Stück, während das bisherige – wie etwa der Prolog in Henry V – nur einleitendes Vorspiel ge-wesen sei, wird jedoch enttäuscht. Es werden, un-terbrochen nochmals durch eine lange Rückkehr in die Jahrmarktssituation, zwei Akte präsentiert, in denen nun zwar wirklich, im Unterschied zur Rah-menhandlung des Jahrmarkts, eine Konfliktanlage und eine Konfiguration erkennbar werden, aber auf eine zugleich extrem verknappte und überdeutliche, zu einem grotesken Schematismus zugespitzte Weise. Vor allem aber bricht das Trauerspiel nach diesen beiden expositorischen Akten unwiderruflich ab, so daß die – vermeintlich – erzeugte Spannung keinerlei Lösung findet. Dafür verlagert sich das allgemeine Interesse – und der Fokus des Textes – auf ein Schattenspiel, das nun ebenfalls einen bibli-schen Stoff präsentiert, die Schöpfungsgeschichte in extremem Zeitraffer. Mit der Errettung aus der Sintflut endet das Stück. Die Rahmenhandlung scheint also das stärkere Gewicht zu besitzen. Daß dennoch aber die Bin-nenhandlung – oder vielleicht eher: das Verhältnis von Rahmen- und Binnenhandlung – nicht ohne Bedeutung ist, deutet sich schon darin an, daß die Umarbeitung 1778 vor allem die beiden Akte der ‚Esther-Tragödie‘ betrifft, die nicht nur im Umfang wesentlich erweitert, sondern auch sprachlich völlig verändert und stärker von der Rahmenhandlung abgegrenzt werden. Zunächst ein näherer Blick auf die interne Struktu-rierung der Rahmenhandlung: Trotz der Heteroge-nität lassen sich hier zumindest einige Beobachtun-gen machen: Eine erste Sammlung ergibt Kriterien der Segmentierung vor allem im Hinblick auf die Konfiguration (es lassen sich Figurengruppen un-terscheiden im Hinblick auf ihre Herkunft aus der Welt der Kleinstadt und der Welt des Jahrmarkts, ‚ortsansässig‘ vs. ‚reisend‘, auf ihren sozialen Stand, ihr Kommunikationsverhalten, Docktor und Marktschreyer haben viele gemeinsame Redean-teile, zwischen Docktor und Fräulein könnte es eine Liebesbeziehung geben), auf die räumliche Ge-staltung (Bühne vs. Zuschauerraum) sowie, in der zweiten Fassung, auf die Sprachgestaltung. Für eine innere Systembildung, die Herstellung von Kohärenz ergeben sich folgende Kriterien: • der Text umfaßt ein – wenngleich in zeitlicher

Raffung präsentiertes – Geschehen: auch wenn die einzelnen Geschehensmomente sehr hete-rogen sind, lassen sie sich doch in einer fest-gelegten Reihenfolge auf einem relativ kurzen

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Abschnitt der Zeitachse festlegen ('Einheit der Zeit')

• das präsentierte Geschehen findet an einem Ort

statt, der zwar in verschiedene Räume unterteilt ist, die aber einen zusammenhängenden Ge-samtraum bilden: der Jahrmarkt ('Einheit des Ortes')

• so ergibt sich ein relativ eng umgrenztes zeitli-

ches Kontinuum, in dem alle Geschehensmo-mente angesiedelt sind. Innerhalb dieses Kon-tinuums gibt es eine zwar große, aber begrenzte Zahl von Figuren, diese lassen sich nach ver-schiedenen Kriterien zu Gruppen ordnen, deren Zusammentreffen auf dem Markt - und nur dort - plausibel ist (z.B. 'ortsgebundene Welt der Stadt' vs. "ortsungebundene Welt der Schau-steller', 'hoher' vs. 'niederer Stand'). Insbeson-dere lassen sich durch hohe Redeanteile und wiederholtes Auftreten (Rekurrenz) besonders hervorgehobene Figuren identifizieren.

• Die verschiedenen Figuren und Figurengrup-

pen bleiben nicht 'für sich' stehen, sondern werden durch Äquivalenz- und Kontrastrela-tionen zueinander in Beziehung gesetzt. Das-selbe gilt ansatzweise für verschiedene Teile des Raums, die sich in dem Gesamtraum ('Jahrmarkt') ausmachen lassen (insbesondere Bühnenraum vs. Publikumsraum)

• Am auffälligsten ist jedoch auf den ersten

Blick die metrische Rhythmisierung: In der 1. Fassung (1773) besteht der Text durch-gängig aus Knittelversen. Der Text grenzt sich damit gegenüber der Umgangssprache ab und er-zeugt eine interne Homogenität. Die Abgrenzung funktioniert hier nicht nur gegen-über der 'normalen' Sprache des Alltags, sondern auch gegenüber der 'normalen' Sprache der Litera-tur, die zur Zeit seiner Entstehung zu erwarten ge-wesen wäre; um 1773 wären das für einen dramati-schen Text Alexandriner oder Blankverse gewesen. Knittelverse dagegen, die im 16. Jahrhundert eines der am meisten verbreiteten Versmaße waren (Hans Sachs), sind seit dem 17. Jahrhunderts aus der ern-sten Literatur weitgehend verdrängt. Ihre Verwen-dung stellt also eine signifikante Abeichung von der Norm dar. Zugleich liegt hier der erste deutliche Hinweis auf den mit dem Paratext angesprochenen theaterhistorischen Bezug: Knittelverse sind auch das gängige Versmaß der Nürnberger Schembart-Spiele – wie auf der Abbildung oben:

In solcher Kleidung trad herein Ich und der liebe Sohne mein.

In der Bearbeitung, die Goethe 1778 für eine Auf-führung im 'Ettersberger Liebhabertheater' vor-nimmt (bei der er selbst den 'Marktschreyer' spielte), werden dagegen in einigen Textteilen die Knittelverse durch Alexandriner ersetzt: 1. Fassung (1773): (Der Vorhang hebt sich- Man sieht den Galgen in der Ferne.) Kaiser Ahasverus. Haman. Haman: Gnädiger König und Fürst Du mir es nicht verargen wirst Wenn ich an deinem Geburtstag Dir beschwerlich bin mit Verdruß und Klag. 2. Fassung (1778/79): Der Vorhang hebt sich. Man sieht den Galgen in der Ferne Alte Symphonie Kaiser Ahasverus. Haman Haman (allein): Die du mit ewger Glut, mich Tag und Nacht begleitest Mir die Gedanken füllst und meine Schritte leitest O Rache wende nicht im letzten Augenblick, Die Hand von Deinem Knecht. Es wägt sich mein

Geschick. Erscheint die metrische Differenzierung, der Wechsel von Knittelversen und Alexandrinern, zunächst als eine Verringerung der Homognität (gegenüber der einheitlich in Knittelversen gehaltenen 1. Fassung), so führt sie doch andererseits zu einer höheren Systematizität des Textes. Denn der Wechsel im Versmaß fällt zusammen mit – mindestens – einer anderen Seg-mentierung des Textes, der zentralen Differenz von Rahmen- und Binnenhandlung: die zwei durch den Gebrauch der Alexandriner abgegrenzten Textteile entsprechen dem ‚Spiel im Spiel‘, der als Theater-aufführung angekündigten und gezeigten Tragödia. Diese Textteile weichen auch in anderer Hinsicht in signifikanter Weise von der Jahrmarktssituation ab: sie fallen aus dem raumzeitlichen Kontinuum (die Handlung spielt in alttestamentarischer Zeit in Per-sien); die Figuren (Ahasverus, Esther, Haman, Mordechai) haben nicht nur keinerlei Kontakt zu den anderen Figuren des Jahrmarktsfests, sie sind auch einer grundsätzlich anderen Sozialsphäre zu-zuordnen; die entfalteten Konflikte stehen in kei-nerlei erkennbarem Zusammenhang mit der Situa-tion des Jahrmarktsfests. Aufgehoben wird die dadurch entstehende Hetero-genität des Textes durch eine übergeordnete Diffe-renz: die 'Esther-Tragödie' hat als 'Spiel im Spiel' einen grundsätzlich anderen Realitätsstatus als die

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Jahrmarktswelt. Sie ist innerhalb dieser Welt er-kennbar als ästhetisches Modell. Damit korreliert sie weiteren 'ästhetischen' Darbietungen, die in die Jahrmarktssituation integriert sind: - dem moralisch-religiösen Vortrag eines

Bänkelsängers - der Vorstellung/dem Gesang des Schattenspiel-

mannes, der die Schöpfungsgeschichte im Zeit-raffer präsentiert

Für den gesamten Text ergibt sich folgender Ablauf:

Der Wechsel läßt sich zugleich als hierarchisierte Struktur von Rahmen- und Binnenhandlung darstellen:

Mit Jahrmarktsfest und Bühne ergeben sich also zwei deutlich voneinander abgegrenzte Bereiche, denen ein unterschiedlicher Realitätsstatus zu-kommt. Die Grenze zwischen beiden wird wie-derum von verschiedenen Äußerungen in der Rah-menhandlung bezeichnet, die quasi-paratextuell auf das Spiel im Spiel bezogen sind. So markiert etwa nicht nur das Aufziehen des Vorhangs den Ebe-nenwechsel, sondern auch die ihm vorausgehende Ankündigung durch den Marktsschreyer, die das Angekündigte mit bestimmten Kriterien beschreibt, durch die es einer literarischen Tradition zuorgeordnet wird. Dabei wird sowohl auf das "Was" (Historia von Esther) als auch auf das "Wie" (Trauerstück; in Drama) hingewiesen:

[Jahrmarkt]

(Marktschreyer:)

Meine Damen und Herrn Sähen wohl gern ‚s trefliche Trauerstück Und diesen Augenblick Wird sich der Vorhang heben. Belieben nun Acht zu geben Ist die Historia von Esther in Drama

[Theaterbühne]

Am besten läßt sich der besondere Status dieser Texte unter den Kategorien Sprechsituation und besprochene Situation beschreiben: so wie der Schattenspielmann über etwas erzählt, so ist auch die 'Esther-Tragödie' als Spiel zweiter Ordnung in die Welt des Spiels erster Ordnung integriert und ihr zugleich hierarchisch untergeordnet. Das zeigt sich etwa darin, daß die Figuren und Ereignisse der Tragödie in der Jahrmarktswelt thematisiert, reflek-tiert, kritisiert und sogar beeinflußt werden können (so etwa durch den Zensur-Versuch des Amt-manns), während das umgekehrt nicht möglich ist.

Man bezeichnet den Rahmen auch als Diegese. Was innerhalb des Rahmens stattfindet, heißt dann intra-diegetisch, was außerhalb, also in der Rahmen-handlung, stattfindet: extradiegetisch. Das Verhält-nis ist asymmetrisch: für die extradiegetische Welt existiert die intradiegetische Welt (als Kunstwerk, als Fiktion etc.), während umgekehrt für die intra-diegetische Welt die extradiegetische nicht existiert (d.h. beispielsweise: eine Dramenfigur 'weiß' in der Regel nicht, daß sie Dramenfigur ist). Eben diese Asymmetrie findet sich im Jahrmarkts-fest. In der Rahmenhandlung wird relativ ausgiebig und auf unterschiedliche Weise auf die Binnen-handlung Bezug genommen. Markant sind bei-spielsweise:

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- die Ankündigung durch Marktschreyer und Hannswurst:

's trefliche Trauerstück [...] Von Esther in Drama Ist nach der neusten Art Zähnklapp und Grausen gepaart

- ein Zensurversuch durch den Amtmann:

Docktor: Wie gefällt Ihnen das Drama? Amtmann: Nicht. Sind doch immer Scandala Hab auch gleich ihnen sagen lassen Sie sollen das Ding geziemlicher fassen. Docktor: Was sagte denn der Entrepreneur? Amtmann: Es käm‘ dergleichen Zeug nicht mehr Und zuletzt Haman gehenkt erscheine Zur Warnung und Schröcken der ganzen Gemeine

- der (Eröffnungs-) Dialog von Docktor und Marktschreyer, der durch die exponierte Posi-tion am Textanfang besonders ausgezeichnet ist:

Docktor [...] Was gebt ihr für eine Comödia? Marktschreyer Herr es ist eine Tragödia Voll süsser Worten und Sittensprüchen Hüten uns auch für Zoten und Flüchen Seitdem die Gegend in einer Nacht Der Landcatechismus sittlich gemacht. Docktor Da wird man sich wohl ennuyiren Marktschreyer Könnt ich nur meinen Hannswurst curiren!

Grundsätzlich sind Äußerungen oder Passagen in literarischen Texten, die sich explizit oder implizit auf Literatur selbst beziehen, besonders aufschluß-reich. Sie sind zwar nicht notwendig, aber doch sehr oft zu deuten als selbstreferentielle Aussagen, in denen Texte sich selbst, ihre eigenen Vorausset-zungen und Ziele thematisieren. In den zitierten Passagen finden sich dazu Hin-weise, die auf eine bestimmte historische Situation bezogen sind, die also auf einen spezifischen, zeit-genössischen literarhistorischen Kontext verweisen und nur aus diesem heraus verständlich werden. Im letzten zitierten Beispiel sind hier zwei Aspekte besonders signifikant: (a) die Unterscheidung Tragödia vs. Comödia (b) Hannswurst

Auch wenn (b) hier eher erläuterungsbedürftig erscheint als (a), lohnt hier doch zunächst ein nähe-rer Blick auf (a), die Unterscheidung von Tragödie (oder, synonym: Trauerspiel) und Komödie. (zu a) Exkurs: Tragödie und Komödie „Nach der populären Definition ist ein Trauerspiel ein schweres Drama, in dem im letzten Akt alle den Tod finden, die Komödie ein leichtes Stück, in dem im letzten Akt alle heiraten.“ (G.B. Shaw) Der etwas spöttische Unterton deutet an, daß zu-mindest für George Bernhard Shaw offenbar nicht so ganz klar ist, ob diese „populäre Definition“ wirklich Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Zwar kann sie sich auf eine ehrwürdige , bis in die griechische Antike zurückreichende Tradition beru-fen, aber auch darin sind Tragödie und Komödie nicht so selbstverständliche Begriffe (bzw. Kon-zepte), wie es auf den ersten Blick scheint. Seine Grundlage findet er in dem Versuch, literari-sche Gattungen zu klassifizieren. Tragödie und Komödie wären demnach – so wie es Shaw tut – unter den gemeinsamen Oberbegriff Drama zu subsumieren. Drama wiederum steht in Kontrast zu anderen Formen der Dichtung wie Roman oder Gedicht. Eine der bis heute geläufigsten Klassifika-tionen unterscheidet auf der obersten Segmentie-rungsebene, in einer von Goethe stammenden Ter-minologie, drei „Naturformen der Poesie“. Unter-schieden wird hier die Art der Präsentation und der Vermittlung sowie die Quelle der Information: - episch: der „klar erzählende“ Bericht eines

Erzählers - lyrisch: „enthusiastisch aufgeregte“ Rede eines

explizit oder implizit präsenten Lyrischen Ich - dramatisch: „persönlich handelnde“ Darstel-

lung allein durch Figuren ohne weitere manifeste Vermittlungsinstanz

Auf diese Weise gelangt man zu den drei (Haupt-) Gattungen Epik, Lyrik und Drama, die dann wie-derum in Unter-/Sub-Gattungen unterteilt werden können (etwa Roman, Versepos oder Novelle im Bereich der Epik, Sonett, Ode oder Lied im Bereich der Lyrik). Möglich sind auch ‚Mischformen‘, so enthält etwa die Ballade Erlkönig sowohl episch-berichtende Passagen (v.a. 1. und 8. Strophe) wie auch dramatisch-darstellende und läßt sich zugleich aufgrund seiner poetischen Überformung als lyri-sches Gedicht verstehen.

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Diese Einteilung ist jedoch keinesfalls überhisto-risch gültig. Die antike Poetik etwa kennt nicht die Lyrik als eigenständige Kategorie; Platon nennt nur zwei Arten der Darstellung: die diegetische (durch Erzählung, Bericht, davon abgeleitet ist der Begriff der Diegese; s.o.) und mimetische (durch Handlung und Dialog).

(nach: Platon, Der Staat, 387-367 v. Chr.) Gattungskonzepte und die daraus abgeleiteten Sy-steme stellen historisch wandelbare Kategorien dar, die es erlauben Einzeltexte zu klassifizieren, indem das Feld der (ästhetisch-poetischen) Literatur in Segmente unterteilt wird und die Texte einzelnen solcher Segmente zugewiesen werden. Es geht also darum, herauszufinden, welche Kon-zeption der im Jahrmarktsfest (das sehr viel früher entstanden ist als das Schema der 'Naturformen') vorgenommenen Unterscheidung von Tragödie und Komödie zugrundeliegt. Dabei ist zunächst ein (für den deutschsprachigen Raum) früher literaturtheoretischer Text ausschlag-gebend: Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624) Hier wird, anknüpfend an Aristoteles' Poetik (ca. 340-330 v. Chr.), erstmals in der Tradition der deutschsprachigen Poetik, die im Kontext des Jahr-marksfests interessierende Klassifikation von Tra-gödie und Komödie explizit formuliert. Als die einzigen Unterkategorien des Drama werden sie folgendermaßen definiert: „Die Tragedie ist an der maiestet dem Heroischen getichte gemeße / ohne das sie selten leidet / das

man geringen standes personen vnd schlechte sa-chen einführe: weil sie nur von Königlichem willen / Todtschlägen / verzweiffelungen / Kinder= und Vätermörden / brande / blutschanden / kriege vnd auffruhr / klagen / heulen / seuffzen vnd derglei-chen handelt. Von derer zugehör schreibet vornem-lich Aristoteles […]“ „Die Comedie bestehet in schlechtem wesen vnnd personen: redet von hochzeiten / gastgeboten / spielen / betrug vnd schalckheit der knechte / ruhm-rätigen Landtsknechten / buhlersachen / leichtfer-tigkeit der jugend / geitze des alters / kupplerey vnd solchen sachen / die täglich vnter gemeinen Leuten vorlauffen. Haben derowegen die / welche heutiges tages Comedien geschrieben / weiter geirret / die Keyser vnd Potentaten eingeführet; weil solches den regeln der Comedien schnurstracks zuewieder laufft.“ Entscheidend ist hier vor allem die soziale, ständi-sche Differenzierung, die diesen Definitionen zugrunde liegt: die Tragödie wird den Königen zugeordnet, die Komödie den ‚gemeinen (einfa-chen) Leuten‘. Die nächste bedeutende Schrift zur Poetik in Deutschland folgt etwa ein Jahrhundert später: Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Criti-schen Dichtkunst vor die Deutschen (1730)

Gottsched bemüht sich in seinem Versuch darum, die recht unsystematisch und heterogen wirkenden Bestimmungen Opitz‘ (die durchaus der Dramen-praxis der Zeit entsprechen) im Sinne der Aufklä-rung vernünftig-rational zu begründen. Dabei läßt er sich leiten von der Theorie und Praxis des fran-zösischen Klassizismus des 17. Jahrhunderts, der tragédie bzw. comédie classique, repräsentiert durch Autoren wie Corneille (1606-84), Racine (1639-99) und Molière (1622-1673). Von hier übernimmt Gottsched die Leitbegriffe der vraisemblance und der bienséance: • Wahr-Scheinlichkeit (vraisemblance); hieraus

leiten sich die drei Einheiten des Ortes, der Zeit

Darstellung

Diegesis Darstellung durch Erzählung, Bericht

Mimesis Darstellung durch Figuren, Handlung, Dialog

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und der Handlung ab; dieses Kriterium gilt für alle Dramen

• Wohl-Anständigkeit (bienséance); betrifft die Stillage und die Konfiguration und begründet die Differenz von Tragödie und Komödie: die Tragödie zeigt Vorgänge von öffentlicher, po-litischer Bedeutung, daher treten nur Angehö-rige der Herrscherhäuser (Adel) auf (bei anti-ken Stoffen können hier auch Figuren der My-thologie – Götter - auftreten); die Komödie zeigt private Laster und Verfehlungen, hier treten nur nicht-adlige Personen auf, da eine komödiantische Behandlung adliger Figuren mangelnden Respekt gegenüber den Reprä-sentanten des Staates darstellen würde (Stände-klausel).

Gottsched hat auch eine Sammlung von (im Sinne seiner Theorie) vorbildlichen Dramen herausgege-ben, die Deutsche Schaubühne.

1743 erscheint hier ein Drama, das besonders gut geeignet ist, die Konsequenzen der Gottschedschen Definintion zu illustrieren: Herrmann, ein Trauer-spiel von Johann Elias Schlegel. Das Stück handelt von dem Sieg der germanischen Stämme unter Führung des Cherusker-Fürsten Herrmann (Arminius) über eine römische Besat-zungsarmee im Jahre 9 n. Chr., es behandelt also einen politisch relevanten Stoff, die Figuren sind Angehörige germanischer Fürstenhäuser oder römi-sche Feldherren, der Stil ist ernst, die Sprache eben-falls (Alexandriner).

Nur: der Schluß dieses Trauerspiels ist alles andere als ‚tragisch‘. Am Ende triumphiert der Held Her-mann, der den äußeren Feind (die Römer) besiegt, die Gegner aus eigenen Reihen überzeugt oder unschädlich gemacht hat, am Ende sogar den ent-larvten Verrätern das Leben schenkt und schließlich auch noch die von ihm geliebte und ihn liebende Frau, Thusnelda, heiraten darf, die ihm von einem mit den römischen Feinden paktierenden Schwie-gervater zunächst verwehrt worden war. Daß das Drama dennoch den Untertitel Trauerspiel (das ist synonym zu Tragödie) tragen kann, demonstriert, daß hier das Kriterium der Ständeklausel höher rangiert als das – in Shaw’s ‚populärer Definition‘ dann ins Zentrum gerückte - Kriterium des ‚tragi-schen‘ Ausgangs. Mitte des 18. Jahrhunderts war es eher möglich, eine Tragödie mit positivem Ende zu schreiben als eine Fürstenfamilie in einer Komödie auftreten zu lassen. Eine Alternative zwischen Tra-gödie und Komödie aber gibt es in dem von Gott-sched propagierten System nicht. Schlegels Herrmann ist aber noch auf andere Weise charakteristisch: er ist in seiner Konfliktanlage und seiner Konfiguration relativ übersichtlich.

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Gegenstand ist weniger der Konflikt von Germanen und Römern als eine Auseinandersetzung zwischen einer römerfeindlichen und einer römerfreundlichen Fraktion innerhalb der Germanen. Den Verfechtern eines Ausgleichs mit Rom und einer vorsichtigen Annäherung an die als überlegen anerkannte römi-sche Zivilisation stehen die kompromißlos auf die Verteidigung der deutschen Autonomie einge-schworenen Krieger gegenüber. Personifiziert und ausgetragen wird dieser Konflikt letztlich im Rah-men zweier Familien: auf der einen Seite stehen Herrmann und seine Verlobte Thusnelda, auf der anderen Herrmanns Bruder Flavius und Thusneldas Vater, so daß Herrmann also in seinem unmittelba-ren persönlichen Umfeld auf Widerstände stößt, die zumindest am Beginn des Dramas durchaus eine gewisse Berechtigung in Anspruch nehmen können, die aber schließlich eine Eigendynamik erreichen, wo sie nur noch durch Kampf und Gewalt gelöst werden können. Das Personenverzeichnis läßt sich also folgendermaßen strukturieren:

Die Figuren sind also einerseits gemäß ihrer Ver-wandschaftsverhältnisse sortiert, andererseits ge-mäß ihrer römerfreundlichen oder römerfeindlichen Haltung. Einige Figuren sind dabei besonders auf-fällig: Herrmann und Flavius sind zwar Brüder, stehen aber in feindlichen politischen Lagern (was bei Flavius schon in der Latinisierung des Namens zu Ausdruck kommt). Und Thusnelde ist sowohl mit Segest, ihrem Vater, der zur Partei der Römer-freunde gehört, als auch mit Herrmann, dem Prota-gonisten der Römerfeinde verbunden. Sie wird sich im Laufe des Stückes entscheiden müssen (für Herrmann). Hier ist recht gut die Strukturformel erkennbar, die die weiteren Defintionsversuche im 19. Jahrhundert bestimmt, etwa bei Hegel, der nicht mehr an die ‚Ständeklausel‘ anknüpft, sondern ein allgemein-gültigeres Kriterium in der spezifischen Konflikt-struktur findet:„Das dramatische Handeln [...] beschränkt sich nicht auf die einfache, störungslose Durchführung eines bestimmten Zweckes, sondern beruht schlechthin auf kollidierenden Umständen, Leidenschaften und Charakteren und führt daher zu Aktionen und Reaktionen, die nun ihrerseits wieder eine Schlichtung des Kampfes und Zweispalts notwendig machen.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, 1817-1829). Eine Zusammenfassung und Schematisierung dieser Definitionsansätze präsentiert schließlich Die Tech-nik des Dramas von Gustav Freytag (1863), eine weit verbreitete poetologisch-dramaturgische Schrift im 19. und 20. Jahrhundert. Ihr zufolge zeichnet sich das Trauerspiel aus durch eine klar erkennbare Konfliktstruktur (Spiel und Gegenspiel; Protagonisten und Antagonisten), relative Kürze, übersichtliche Konfiguration und eine konzen-trierte, nachvollziehbare, kausal motivierte Ent-wicklung und Lösung des Grundkonflikts, einsträn-gige und stetig fortschreitende (Hegel) Handlung. Für Freytag ist das bereits von Gottsched propa-gierte 5-Akt-Schema eine fast logische Konse-quenz, für das er folgendes Schema skizziert:

(a) Einleitung (Exposition, ‚aufregendes Moment‘) (b) Steigerung (c) Höhepunkt (d) Fall oder Umkehr (Peripetie) (e) Katastrophe

a e

b

c

d

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(3) Kontext: synchrones System und diachrone Reihe Der – sehr verkürzende – Exkurs zur Gattungs-geschichte ermöglicht es also, das in der Rahmen-handlung thematisierte Literaturmodell genauer zu beschreiben. Es steht in einer Linie, die sich von Aristoteles über Opitz und die tragédie classique bis zu Gottsched ziehen läßt. Tatsächlich wird die in den angesprochenen Poetiken entwickelte ant-agonistische Struktur des Trauerspiels geradezu ‚mustergültig‘ in den beiden Akten der Esther-Tra-gödie entfaltet – nur daß der Text dabei über Expo-sition und Steigerung nicht hinausgelangt. Aller-dings ist die vorgeführte Exposition so schematisch, daß zumindest die nächsten Schritte ohne größere Probleme extrapoliert werden können. Die Alexan-driner-Verse der 2. Fassung verstärken diesen Ein-druck, handelt es sich doch seit Opitz um die für ‚ernste‘ Literatur weitgehend verbindliche Vers-form, während Knittelverse mit der Opitzschen Versreform – der wesentlichen Komponente seiner Poetik – weitgehend aus der ‚seriösen‘ Literatur verbannt sind. Auch die Beschreibung, die der Marktschreyer von dem Stück gibt (Ist nach der neusten Art / Zähnklapp und Grausen gepaart) verweist auf das Gottschedsche Tragödien-Modell, das an die wir-kungsästhetische Theorie der Katharsis (Aristote-les) anknüpft, derzufolge die Tragödie eleos und phobos, Jammer und Schauder bzw. Furcht und Mitleid auslösen soll. Nimmt man die verschiedenen Stichworte, mit denen im Text selbst die Esther-Tragödie beschrieben wird, ergibt sich für diese eine Art dramen-historischer ‚Stammbaum‘: (Aristoteles: Poetik, ca. 340-330 v. Chr.) 1624 Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey 1730 Gottsched: Critische Dichtkunst (1773 Goethe: Jahrmarktsfest) An dieser Stelle wird dann auch der zweite, bislang ausgesparte, literatur- bzw. theaterhistorische Hin-weis in der Rahmenhandlung des Jahrmarktsfests relevant: "Könnt ich nur meinen Hannswurst curi-ren!" Im Anschluß an die Reformbemühungen Gott-scheds wurde in einem allegorischen Spiel, das die Theatertruppe der Karoline Neuber (die 'Neuberin') 1737 inszeniert hatte, der Hannswurst, die lustige Person verschiedener volkstümlicher Theaterfor-men, von der Theaterbühne vertrieben, um der Regelpoetik auch auf der Schaubühne zum Durch-bruch zu verhelfen. Der Hannswurst steht dabei

metonymisch für Theaterformen, die nicht dem Regelsystem entsprechen, vor allem für burlesk-volkstümliche Theaterformen wie das frühneuzeit-liche Fastnachtsspiel (auf das ja auch die paratex-tuelle Zuordnung Ein Schönbartsspiel verweist) oder die commedia dell'arte. Genau an solche For-men knüpft nun aber das Jahrmarktsfest an.

Besonders signifikant wird der Themenkomplex um die Vertreibung des Hannswurst dadurch, daß er nicht nur 'direkt', sondern auch indirekt, figürlich, angesprochen wird, daß er also nicht nur dort auf-taucht, wo auf der Denotatebene vom Theater die Rede ist, sondern auch auf einer Konnotatebene: in der Rede vom ‚erkrankten‘ Hanswurst. Entscheidend ist hierbei, daß Docktor und Marktschreyer beide zwei semantischen Feldern zuzuordnen sind: dem der Medizin (der Marktschreyer verkauft in den Pausen der Auffüh-rung Medizin, dazu benötigt er die Erlaubnis des Docktors) und dem der Kunst/des Theaters (der Marktschreyer ist auch Theaterdirektor und der Docktor interessiert sich für Theater – ist also stär-ker an dem Theaterdirektor als an dem Medizinver-käufer interessiert). So läßt sich die Erkrankung des Hannswurst, die auf der Denotatebene einigerma-ßen unverständlich geblieben war (wir wissen nicht, welche Krankheit der recht gesund agierende Hannswurst haben soll), auf einer Konnotatebene erklären (Substitution): krank ist er seit seiner Ver-treibung von der Schaubühne durch Gottsched und die Neuberin. Dementsprechend ist die Kur dann auch nicht im Bereich der Medizin zu suchen, sondern wird eben-falls auf die Konnotatebene verschoben (Isotopie); die Kur ist offenbar in einer anderen Form von Theater zu suchen. Als eine solche Suche ist nun aber der Text selbst zu verstehen. In mehrfacher Weise weicht er von den klassizistischen 'Regeln' ab und kehrt mit dem Rückgriff auf Fastnachtsspiele des 17. Jahrhunderts

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partiell zu voraufklärerischen Theaterformen zu-rück: • das Schönbartsspiel steht außerhalb des Sy-

stems Tragödie – Komödie, die textintern als einzig mögliche Dramenformen benannt wer-den (und nur indirekt, durch den Hannswurst, der ebenfalls nicht in dieses System paßt, mit weiteren Möglichkeiten konfrontiert werden).

• auch die Sprache entspricht nicht dem System; die laut Gottsched angemessene Versform wä-ren Alexandriner.

• die Figuren repräsentieren verschiedene Stände, nach Gottsched wäre dagegen Homo-genität anzustreben: in der Tragödie dürfen nur Figuren von hohem Stand (Adel) auftreten, in der Komödie nur Figuren von niederem Stand (Bürger, Bauern, Handwerker...).

Auch in der Konstruktion der Handlung widerspre-chen sich die Systeme: • das klassizistische Drama ist gekennzeichnet

durch eine ausgeprägte Tektonik: ein Grund-konflikt wird entfaltet und zu einer positiven oder negativen Lösung geführt.

• das Jahrmarktsfest dagegen lehnt sich an den im Mittelalter und im Barock verbreiteten To-pos vom Welttheater (theatrum mundi) an: die Bühne erscheint als eine Art Welt im Kleinen (das wird nochmals gespiegelt im Spiel des Schattenspielmanns, der die Schöpfungsge-schichte erzählt – und damit die Tragödia ver-drängt), so wie hier der Jahrmarkt mit seiner Vielfalt von Figuren, Situationen und Ansätzen von Geschichten.

• in der Figurenrede wird auf verschiedene Weise wertend auf den 'theatertheoretischen' Kontext Bezug genommen: während Amtmann und Pfarrer die moralischen Normen des "Landkatechismus" vertreten, findet der Docktor solches Beharren auf – kunstfernen – Regeln langweilig.

• somit ist hier auch ein Kriterium gefunden für eine Strukturierung der Figurenkonstellation (Konfiguration) auf der Jahrmarktsebene: Docktor und Marktschreyer treten nicht nur in signifikanter Weise als 'Paar' auf (sehr viel stärker als etwa Docktor und Fräulein), sie ver-bindet auch ein gemeinsames Interesse. Das wiederum grenzt sie beide von Amtmann und Pfarrer ab, zu denen der Docktor aufgrund von Herkunft und Stand eigentlich ein engeres Verhältnis hat (das Kriterium 'Kunstvorliebe' ist also höher anzusiedeln als 'Herkunft', 'so-zialer Stand').

Hier sind mehrere Literatur- und Theaterformen angesprochen, die nicht in den oben skizzierten historischen ‚Stammbaum‘ passen. Damit läßt sich ein alternativer Stammbaum entwerfen – oder

eigentlich auch mehrere Stammbäume, die sich auf verschiedene hier relevante Aspekte beziehen: Hannswurst - Commedia dell’arte (seit 16. Jh.)

- englische Komödianten (1590 bis Mitte 18. Jh.)

Knittelvers (15. Jh. bis zu Opitz) Schönbartspiel Fastnachtspiel (16. Jh.)

Hans Sachs (1494-1576) Welttheater / theatrum mundi z.B.

- Shakespeare, Henry V. [Prolog] - Shakespeare, As you like it [II,7] - Calderón: El gran teatro del mundo

(1635/ED: 1675) Zum Topos des Welttheaters: [ Jaques:] "All the world's a stage, And all the men and women merely players; They have their exits and their entrances; And one man in his time plays many parts, His acts being seven ages. At first the infant, Mewling and puking in the nurse's arms; Then the whining school-boy, with his satchel And shining morning face, creeping like snail Unwillingly to school. And then the lover, Sighing like furnace, with a woeful ballad Made to his mistress' eyebrow. Then a soldier, Full of strange oaths, and bearded like the pard, Jealous in honour, sudden and quick in quarrel, Seeking the bubble reputation Even in the cannon's mouth. And then the justice, In fair round belly with good capon lin'd, With eyes severe and beard of formal cut, Full of wise saws and modern instances; And so he plays his part. The sixth age shifts Into the lean and slipper'd pantaloon, With spectacles on nose and pouch on side; His youthful hose, well sav'd, a world too wide For his shrunk shank; and his big manly voice, Turning again toward childish treble, pipes And whistles in his sound. Last scene of all, That ends this strange eventful history, Is second childishness and mere oblivion; Sans teeth, sans eyes, sans taste, sans everything."

(William Shakespeare, As you like it, Act II, Scene VII, lines 139-166)

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So sind also die beiden am stärksten voneinander abgegrenzten Teile des Jahrmarktsfests erkennbar als Repräsentationen verschiedener Theaterformen, wobei eine strukturelle Gemeinsamkeit darin be-steht, daß die ihnen zugrundeliegenden dramaturgi-schen Konzepte erkennbar werden, aber nicht indi-viduell ausgeführt werden: von der 'Esther-Tragö-die' wird nur die 'regelgerechte' Exposition (die Andeutung des Konflikts) präsentiert, und auch innerhalb der Jahrmarktswelt werden eine Reihe von Konflikten und Handlungsmöglichkeiten eröff-net, ohne weiter ausgeführt zu werden (etwa ein Liebesverhältnis zwischen 'Docktor' und 'Fräulein', ein Konflikt zwischen 'Zigeunern' und 'Stadtbür-gern' oder zwischen 'Amtmann' und 'Marktschrey-er'). Auch die als lange Erzählung isolierte Darbietung des Schattenspielmanns läßt sich hier einfügen: auch sie repräsentiert eine Form der Darstellung, die der "Tragödia" entgegengesetzt wird; textintern, indem sich das Publikumsinteresse auf das Schat-tenspiel verlagert (Lichtwechsel!), textextern, da der Schattenspielmann den Gesamttext beendet (mit einer 'Äußerung', die kein Denotat aufweist: Dudel-dumdey) An die zentrale Segmentierung sowie an die Bil-dung signifikanter 'Interessenkonstellationen' inner-halb der Konfiguration der ersten Ebene (der Jahr-marktswelt) läßt sich also eine Interpretation des ganzen Textes anknüpfen, wenn man sie verbindet mit der Differenz, die die Dialoge innerhalb der Jahrmarktswelt einführen: die zwischen "Comödia" und "Tragödia", die zugleich innerhalb des über-geordeneten Paradigmas 'klassizistisches Drama' verortet werden. Außerhalb dieses Systems ist der ganze Text angesiedelt, was etwa die Gattungs-bezeichnung "Schönbartsspiel", das Auftreten des Hannswurst, das ständisch gemischte Personal und die fehlende Einheit der Handlung deutlich machen. Somit wäre die zentrale Differenz auch als Unter-schied verschiedener literarischer Systeme model-liert. Ein Vergleich der ersten mit der zweiten Fas-sung kann diesen Eindruck bestätigen: die nahezu vollständige Umarbeitung der 'Esther-Tragödie' (wie schon die Tatsache, daß nur die ersten beiden Akte eines wohl auf fünf Akte angelegten Dramas präsentiert werden) zeigt, daß es offenbar weniger auf den spezifischen Inhalt ankommt, als auf die Erkennbarkeit der literarischen Form. Die zweite Fassung erleichtert die Identifizierbarkeit dieser Form: die Gattung des 'klassizistischen Trauer-spiels'. Sie reduziert zugleich weitere Deutungs-möglichkeiten, die die erste Fassung noch stärker ermöglicht hatte. Hier war mit dem Hinweis auf den Landcatechismus, der der Comödia entgegen-steht, auch eine Opposition zwischen Kunst und Religion (genauer: der Kunstfeindlichkeit pietisti-scher Religosität, auf die eine Reihe weiterer An-spielungen in der ersten Fassung verweist) ange-sprochen worden, während die zweite Fassung das

Schwergewicht auf eine kunst-/literaturinterne Opposition verlagert.

Somit wäre als eine entscheidende Isotopieebene die der Poetologie (der literatur- oder theatertheo-retischen Diskussion) auszumachen. Das "Jahr-marktsfest zu Plundersweilern" stellt dieser Inter-pretation gemäß eine Art metapoetischer Debatte dar, d.h. eine als Drama gestaltete Auseinanderset-zung um die richtige Dramenform. Das ist nicht die einzig mögliche Interpretation – sie schließt etwa nicht die Deutung als 'Schlüsseldrama', d. h. als Satire auf bestimmte Personen aus dem direkten Lebensumfeld Goethes aus –, aber sie ermöglicht immerhin, eine Fülle sonst heterogener Elemente des Textes in einen Sinnzusammenhang zu bringen (wie etwa die sekundäre, an Konnotationen ent-wickelte Bedeutung des semantischen Feldes 'Me-dizin', die explizite, auf der Denotatebene verblei-bende Rede über Poesie und die grundlegende Op-position des Textes, die durch die zentrale Segmen-tierung zwischen zwei Welten mit unterschiedli-chem Realitätsstatus gebildet wird). Da wird man sich wohl ennuyiren: Die negative Einschätzung der Tragödie durch Docktor und Marktschreyer kann auch als Kritik nicht nur der Gottschedschen Reformen gelesen werden. Angegriffen wird hier grundsätzlicher ein normatives Literaturverständnis, das heißt der Versuch, Literatur gemäß der Vorgaben von Vernunft und Sittlichkeit zu reglementieren. Auf den zweiten Aspekt, die moralische Norm, verweist der Hinweis auf den Landkatechismus, also eine religöse oder moralische Erbauungsliteratur, die den Anspruch hat, die Volk „sittlich“ zu machen. Auch das Motto des Neueröffneten moralisch-politischen Puppenspiels, die Variation von Horaz‘ aut prodesse volunt aut delectare poetae, zielt auf diesen Zusammenhang. Hier wird nämlich eine Opposition des Nützlichen und des Angenehmen behauptet, der Goethe eine Dichtung entgegensetzt, die beides zugleich können soll. Nützlich sein meint im 18. Jahrhundert in erster Linie die Belehrung (im religiösen, sittlichen oder populärwissenschaftlichen Sinn); etwa die

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Veranschaulichung einer moralischen Wahrheit. D.h. Literatur bestätigt und veranschaulicht ein Wissen, das außerhalb der Literatur schon vorhanden ist. Dem tritt gegen Ende des 18. Jahrhunderts (nicht nur bei Goethe) die Vorstellung entgegen, daß es ein Wissen gibt, das nur in und durch Literatur existiert. Zugleich wird damit eine Oppostion aufgebaut sowohl gegen ein normatives Literaturverständnis (der Verpflichtung der Literatur auf Regeln der Vernunft) als auch gegen ein moralisch-didaktisches Literaturverständnis (der Verpflichtung von Literatur auf Nützlichkeit): die Vorstellung, daß der Nutzen der Literatur sich in ihr selbst begründet. Goethes Text steht also an der Grenzlinie von zwei unterschiedlichen Auffassungen von Literatur. All diese Überlegungen ergeben aber, das wird hier ebenfalls deutlich, nur einen Sinn, wenn man den Einzeltext im Kontext eines bestimmten literari-schen System sieht: dem System der Gattungen und der gattungsorientierten Poetik (Literaturtheorie und –kritik) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-derts. Somit läßt sich festhalten: Gattungen und Epochen sind keine 'Naturformen', sie spielen aber bei der Produktion, Distribution und Rezeption von Lite-ratur eine Rolle. Sie stellen Kategorien dar, die es erlauben, Einzeltexte zu klassifizieren, indem das Feld der (ästhetisch-poetischen) Literatur in Seg-mente unterteilt und die Texte einzelnen solcher Segmente zugewiesen werden. Sie bieten somit heuristische Beschreibungsmög-lichkeiten für einen zentralen Kontext. Während Gattungen unter systematischen Gesichtspunkten das ‚Feld‘ der Literatur (die Gesamtmenge der literarischen Texte) in Segmente unterteilen, stellen Epochen eine historische Einteilung dar, indem sie versuchen, relativ lange Zeiträume zu beschreiben im Hinblick auf möglichst wenige, markante, wäh-rend der in Frage stehenden Zeit allgemein ver-breitete und konstant bleibende Charakteristika. Beide Kategorien verweisen wechselseitig aufein-ander, da auch das Gattungssystem sich – zumin-dest teilweise – als historisch wandelbar erwiesen hat. Als ein mögliches Beispiel für die Periodisierung der deutschen Literatur, das heißt für die Einteilung in Epochen kann hier die Gliederung der Deutschen Literaturgeschichte des Metzler-Verlages stehen. Dabei handelt es sich keineswegs um die einzig mögliche Periodisierung (im Gegenteil: praktisch jede Literaturgeschichte präsentiert ihre eigene Epocheneinteilung), aber sie spiegelt doch einen relativ praktikablen Konsens wider.

Mittelalterliche Literatur

Humanismus und Reformation

Literatur des Barock

Aufklärung

Kunstepoche

Vormärz

Realismus und Gründerzeit

Im Zeichen des Imperialismus

Literatur der Weimarer Republik

Literatur im Dritten Reich

Die deutsche Literatur des Exils

Deutsche Literatur nach 1945

Die Literatur der DDR

Die Literatur der Bundesrepublik

[nach: Wolfgang Beutin u.a.: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur

Gegenwart. 5. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler 1994] Allerdings zeigen sich dabei auch einige Probleme, etwa die sehr uneinheitlichen Kategorien, nach denen hier die Epochen klassifiziert werden; teil-weise handelt es sich um literatur- oder kunstim-manente Kategorien (z.B. Barock, Kunstepoche), teilweise um allgemeiner geistesgeschichtliche (Humanismus, Aufklärung), großenteils aber auch um politisch-historische Einheiten (Imperialismus, Weimarer Republik; wobei das Kapitel Realismus und Gründerzeit eine Art ‚Sollbruchstelle‘ der ver-schiedenen Ansätze markiert, kombiniert es doch ein kunst-/literaturtheoretisches Konzept mit einer sozialhistorischen Epoche). Entsprechend finden sich zahlreiche alternative Periodisierungen, etwa für die Phase von der Aufklärung zum Vormärz auch die Folge – oder das Nebeneinander – von Sturm und Drang, Klassik, Romantik, Biedermeier (oft wiederum zusammengefaßt als Goethezeit); die hier Im Zeichen des Imperialismus zusammenge-faßte Literatur könnte man auch stärker literatur- bzw. kunstimmanent untergliedern in Naturalismus – fin de siècle/decadence – Expressionismus. Eine grundlegend andere Möglichkeit präsentiert A New History of German Literature, hg. von Judith Ryan und David E. Wellbery, die gar keine Epo-chen-Gliederung vorschlägt, sondern die Literatur-geschichte in eine Reihe autonomer, für sich stehe-neder, Momentaufnahmen auflöst. Ähnlich wie im Fall der Gattungen ist es also schwer, hier zu klar definierten Einheiten zu gelan-gen. Dennoch sind Kategorisierungen von Gattun-gen und Epochen von pragmatischem Wert, da sie

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darauf verweisen, daß literarische Texte nicht los-gelöst von jeweiligen Kontexten entstehen und daß sie auch immer auf der Grundlage bestimmter Er-wartungen wahrgenommen werden, die durch das Wissen über Gattungen und Epochen (wie unsyste-matisch auch immer das sein mag) mitbestimmt werden. Grundsätzlich ist jeder Einzeltext Teil eines synchronen Systems und einer historischen Reihe anderer Texte. Im Verhältnis von Text und Kontext geht es also darum, stufenweise die Grenzen (und Ränder) des Textes aufzusuchen und zu sehen, was dort ge-schieht. Der Text steht im Kontext

• des Buches, in dem er abgedruckt ist:

Paratexte (Titel, Untertitel, Gattungs-/Genrezuordnung)

• einer Textgruppe; hier zunächst: Text-sammlung ('Moralisch-politisches Puppen-spiel')

• eines literarischen Systems Unter literarischem System ist hier zunächst zu verstehen: • eine größere Textgruppe oder mehrere Grup-

pen: diachrone Reihe, synchrones System (Epochen und Gattungen);

• der Begriff kann aber auch anders ('systemati-

scher') aufgefaßt werden: als eine spezifische Form der Rede (des Schreibens; genauer: der Produktion, Distribution/Zirkulation und der Rezeption von Texten). Es geht also um die Bedingungen und Funktionen literarischer Rede

Vom Rand, von der Grenze aus entscheidet sich einerseits, was den Text unterscheidet von dem, was nicht Text ist, es entscheidet sich aber auch, was diesen Text zum Text macht, was ihm Kohä-renz, Einheitlichkeit und Sinn verleiht.

(4) Fazit: Literatur als Verfremdung Welches Wissen aber ist es, das nur der Literatur zukommt, welcher Nutzen kann es sein, den die Literatur jenseits ihrer didaktisch-moralischen Inanspruchnahme haben kann? Eine mögliche Antwort gibt Roman Jakobsons Konzeption der poetischen Funktion (s.o.).

Gemäß Jakobsons Theorie bestimmt sich die poetsiche Funktion zunächst durch eine Reihe von Negationen: sie ist das, was übrig bleibt, wenn alle anderen Elemente des Kommunikationsprozesses (Sender, Empfänger, Kanal, Kode, Kontext/Referenz) betrachtet worden sind: • sie bringt nicht die persönliche Stimmung eines

Subjekts zum Ausdruck (emotive Funktion) • sie soll icht eine bestimmte Stimmung des

Rezipienten erzeugen oder ihn zu etwas bewegen (konative Funktion)

• sie dient nicht der Herstellung eines Kontakts zwischen Autor und Leser (phatische Funktion)

• sie kommentiert nicht den Kode (metasprachliche Funktion)

• sie stellt nicht Bezüge zu Kontexten her, sondern vertieft die Kluft zwischen Zeichen und Objekten (referentielle Funktion)

Explizit erläutert werden bei Jakobson vor allem die beiden letzten Negationen: „Dichtung und Metasprache sind [...] diametral entgegengesetzt: in der Metasprache dient die Sequenz zur Aufstellung einer Gleichung, in der Dichtung hingegen dient die Gleichung zum Bau einer Sequenz.“ (Jakobson, Linguistik und Poetik, S. 95). Zur Erläuterung kann hier nochmals Christian Morgensterns Gedicht Das ästhetische Wiesel dienen:

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Ein Wiesel saß auf einem Kiesel

inmitten Bachgeriesel.

Wißt ihr, weshalb?

Das Mondkalb verriet es mir

im Stillen:

Das raffinier- te Tier

tats um des Reimes willen. Metasprachlich wäre beispielsweise die Frage: was ist ein Wiesel? Die Antwort darauf könnte lauten: „Ein Wiesel ist ein Tier, etwas kleiner als eine Katze, mit Pelz...“. Hier wird also eine Gleichung aufgesstellt:

Ein Wiesel = ... Die Antwort auf die metasprachliche Frage bildet also eine Sequenz (grundsätzlich: eine Folge von Zeichen) in Form einer Gleichung. In dem Gedicht Das ästhetische Wiesel dagegen ist von Anfang an eine Gleichung gegeben (die ohne weitere metasprachliche Bezugnahme erkann, nämlich gehört werden kann): iesel = iesel Diese Gleichung dient zum Bau einer Sequenz, nämlich des Gedichts. Um sie herzustellen, ist etwa aus einer Menge semantisch ähnlicher Element (einem Paradigma) wie Kiesel, Stein, Felsen, Baumstumpf..., die in der Beziehung äquivalent sind, daß ein Wiesel auf ihnen sitzen könnte, Kiesel ausgewählt – nicht, weil wirkliche Wiesel lieber oder häufiger auf Kieseln sitzen als auf Steinen oder Felsen, sondern, wie der letzte Vers erklärt, um des Reimes willen. Eben dies beschreibt Jakobsons zentrale Formel: „Die poetische Funktion überträgt das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination. Die Äquivalenz wird zum konstitutiven Verfahren der Sequenz erhoben.“ Nicht der Kontext bzw. die Referenz, also etwa unser Wissen über wirkliche Wiesel, bestimmt den Bau der Sequenz, sondern der Klang der Worte, die in ihr vorkommen. Indem das geschieht, wird die Aufmerksamkeit von den Objekten, auf die die Zeichen referieren, abgelenkt und auf die Zeichen selbst gerichtet: „Jeder Versuch, die Spähre der poetischen Funktion auf Dichtung zu reduzieren oder Dichtung auf die

poetische Funktion einzuschränken, wäre eine trügerische Vereinfachung. Die poetische Funktion stellt nicht die einzige Funktion der Wortkunst dar, sondern nur eine vorherrschende und strukturbestimmende und spielt in allen anderen sprachlichen Tätigkeiten eine untergeordnete, zusätzliche, konstitutive Rolle. Indem sie das Augenmerk auf die Spürbarkeit der Zeichen richtet, vertieft diese Funktion die fundamentale Dichotomie der Zeichen und Objekte“.

(Jakobson, Linguistik und Poetik, S. 92f. ; Hervorhebungen von mir)

Die Spürbarkeit der Zeichen lenkt die Aufmerksamkeit vom Was des Sprechens (dem Thema, dem Kontext, den bezeichneten Objekten) auf das Wie (die Zeichen selbst, ihr Funktionieren oder Nicht-Funktionieren). Dabei tritt vor allem die fundamentale Dichotomie der Zeichen und Objekte hervor (das Wort „Wiesel“ hat keinerlei Ähnlichkeit mit einem kleinen pelzigen Tier): der ‚als ob‘-Charakter der Sprache (die ich beispielsweise an Eichendorffs Gedicht Mondnacht erläutert habe). In Anlehnung an den russischen Literaturtheoretiker Viktor Sklovskij läßt sich die Funktion als Verfremdung beschreiben. Während die referentielle Funktion charakterisiert ist durch Routine, Automatisierung, Unaufmerksamkeit, Unbewußtheit arbeitet die poetische Funktion dem entgegen. Sie löst dabei den Gegenstandsbezug nicht (völlig) auf, aber sie trübt ihn. Das führt zu einer Desautomatisierung, die das scheinbar Selbstverständliche wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit bringt. Sklovskij erläutert das mit einem Tagebucheintrag von Lev Tolstoj: „Ich war dabei, in meinem Zimmer aufzuräumen, und als ich bei meinem Rundgang zum Sofa kam, konnte ich mich nicht mehr erinnern, ob ich es saubergemacht hatte oder nicht. Weil diese Bewegungen gewohnt und unbewußt sind, kam ich nicht darauf und fühlte, daß es unmöglich war, sich noch daran zu erinnern. Also, wenn ich es schon saubergemacht hätte und hätte es vergessen, d.h. wenn ich unbewußt gehandelt hätte, dann wäre es ganz genau so, als wäre es nicht gewesen. Wenn jemand es bewußt gesehen hätte, könnte man es feststellen. Wenn aber niemand zugeschaut oder es gesehen hätte, oder er hätte es gesehen, aber unbewußt, wenn das ganze komplizierte Leben bei vielen unbewußt verläuft, dann hat es dieses Leben gleichsam nicht gegeben“ Sklovskij kommentiert: „So kommt das Leben abhanden und verwandelt sich in nichts. Die Automatisierung frißt die Dinge,

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die Kleidung, die Möbel, die Frau und den Schrecken des Krieges. [...] Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ‚Verfremdung‘ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.“

Viktor Sklovskij: Kunst als Verfahren, in: Texte der Russischen Formalisten, hg. v. Jurij Striedter, Bd. 1, München 1969, S. 3-35; hier

S. 13 und 15. „Das Verfahren der Verfremdung bei L. Tolstoj besteht darin, daß er einen Gegenstand nicht mit seinem Namen nennt, sondern ihn so beschreibt, als werde er zum ersten Mal gesehen.“ (ebd., S. 17) Dies ist nur eine Möglichkeit der Verfremdung; eine andere besteht etwa darin, einen Gegenstand aus zwei verschiedenen Perspektiven zu betrachten (etwa der des Vaters und des Sohnes in Erlkönig) und dabei nicht (jedenfalls nicht von vornherein) eine davon für richtig und eine für falsch zu erklären. Aus den hier skizzierten kunst- und literaturtheoretischen Überlegungen lassen sich auch konkrete Hinweise für das (literaturwissenschaftliche) Lesen literarischer Texte ableiten: Verfremdung als zentrales poetisches Verfahren lenkt die Aufmerksamkeit auf alle Aspekte, die unverständlich, überraschend, unerwartet sind; mit der „Spürbarkeit der Zeichen“ rückt die semiotische Dimension von Texten in den Blick, d.h. es ist danach zu fragen, wie ein Text als Zeichensystem funktioniert – es ist also, wie ich das in meinen bisherigen Überlegungen getan habe, nach den Zeichenprozessen zu fragen, also etwa nach den bisher entwickelten Kategorien: Text als System: strukturierte Menge von Elementen (den kleinsten Einheiten innerhalb eines Systems; diese können jedoch selbst komplex sein); eine Struktur ist die Gesamtmenge der Relationen zwischen den Elementen des Systems. Zeichen: besteht aus Signifikant (materieller Zeichenträger), Signifikat (konventionell-arbiträr oder kontextuell mit dem Signifikant verknüpfte Vorstellung) und Referent (die von dem Zeichen bezeichneten Objekte oder Sachverhalte).

Syntagma: Eine Äußerung besteht aus einzelnen Zeichen, die aus dem Zeichensystem ausgewählt worden sind (Selektion) und zu einer geregelten Folge zusammengesetzt worden sind (Kombination); die ausgewählten Zeichen entstammen dabei unterschiedlichen Merkmalsklassen, innerhalb derer sie in Kontrast- und Äquivalenzrelationen zueinander stehen, den Paradigmen. Zur Rekonstruktion der syntagmatischen Achse dient die Segmentierung, zur Rekonstruktion der paradigmatischen Achse die Klassifikation und Paradigmenbildung. Denotation: Kernbedeutung, die kontextunabhängig durch das Sprachsystem gegeben ist (und im Prinzip durch Lexika/Wörterbücher ermittelt werden kann) Konnotation: zusätzliche, kontextabhängige Bedeutungen, die von objektiven (aus dem Sprachsystem oder dem Kontext eindeutig zu ermittelnden) und subjektiven (auf individuellen Assoziationen beruhenden) Bedeutungen reichen. Isotopie: System von Konnotationen Substitution: Ersetzung einer eigentlichen durch eine uneigentliche Bedeutung Synonymie: zwei Signifikanten haben (in etwa) das gleiche Signifikat Polysemie: einem Signifikanten sind mehrere Signifikate zugeordnet, der Extremfall ist die Homonymie, bei der es keinerlei semantische Verbindung zwischen den Signifikaten gibt Um einen Text als System zu rekonstruieren, unterstellt man Kohärenz. ‚Fragenkatalog‘: Kriterien zur Segmentierung Vorgaben durch den Text selbst, z.B. Verse und Strophen; Abschnitte und Kapitel; Szenen und Akte relevante Ereignisse und Handlungen Konfiguration Raumwechsel Zeitsprünge Wechsel der Sprechsituation; Rahmen- und Binnenhandlung Isolierung einzelner inhaltlicher Episoden zum Weiterlesen: Viktor Sklovskij: Kunst als Verfahren, in: Texte der Russischen Formalisten, hg. v. Jurij Striedter, Bd. 1, München 1969, S. 3-35 Roman Jakobson: Linguistik und Poetik, in ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt/M. 2005, S. 83-121

Page 17: EUERÖFFNETES M O R A L I S C H P O L I T I S C H E S ... · Händler als auch Schausteller, Musiker und Arti-sten; Zigeunerhauptmann und Zigeunerbursch. Nachdem das geschehen ist,

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Literaturhinweis: • Holt Meyer: Gattung, in: Miltos Pechlivanos

u.a. (Hg.): Einführung in die Literaturwissen-schaft, Stuttgart: Metzler 1995, S. 66-77

• Miltos Pechlivanos: Literaturgeschichte(n), in: Miltos Pechlivanos u.a. (Hg.): Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar: Metzler 1995, S. 170-181

• Turk, Horst (Hg.): Theater und Drama. Theoretische Konzepte von Corneille bis Dürrenmatt, Tübingen 1992

• Fischer-Lichte, Erika: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart, Tübingen 1990

• Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, 6 Bde., Stuttgart: Metzler 1993-2007

• Wellbery, David E. (Hg.): A New History of German Literature, Cambridge, Ms./London: Harvard University Press 2004