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Schriftliche Arbeit zur Erlangung des Akademischen Grades
an der Wirtschafts
der Eberhard
Europa im parlamentarischen Alltag
Die Europäisierung der Grün
Eingereicht von: Celia Eisele
Prüfer: Prof. Dr. Gabriele Abels
Dr. Martin Große Hüttmann
Abgabe: 15. April
Schriftliche Arbeit zur Erlangung des Akademischen Grades
Magister Artium
an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät
der Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Europa im parlamentarischen Alltag
Die Europäisierung der Grünen im Deutschen Bundestag
Celia Eisele
Prof. Dr. Gabriele Abels
Dr. Martin Große Hüttmann
April 2011
Schriftliche Arbeit zur Erlangung des Akademischen Grades
und Sozialwissenschaftlichen Fakultät
Europa im parlamentarischen Alltag
im Deutschen Bundestag
Erklärung
Ich erkläre hiermit, dass ich diese Arbeit selbstständig und nur mit den angegebenen Hilfsmitteln
angefertigt habe und dass ich alle Stellen, die dem Wortlaut oder dem Sinn nach anderen Wer-
ken oder dem Internet entnommen sind, durch Angabe der Quellen als Entlehnung kenntlich
gemacht habe. Mir ist bewusst, dass Plagiate als Täuschungsversuch gewertet werden und im
Wiederholungsfall zum Verlust der Prüfungsberechtigung führen können.
Celia Eisele
Tübingen, 15.04.2011
1
Inhalt
1 Einleitung .............................................................................................................................. 4
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand ......................................................................... 9
2.1 Europäisierung: Gegenstände und Theorieansätze .............................................................. 9
2.1.1 Begriffsbestimmung und Untersuchungsgegenstände ............................................. 10
2.1.2 Theorien der Europäisierung .................................................................................... 12
2.1.3 Die nationalen Parlamente in der EU: Theorie und Forschungsstand ...................... 17
2.2 Fraktionen und Europäisierung: Entwicklung eines Theorieansatzes ................................. 22
2.2.1 Fraktionen als institutionell geprägte und anpassungsfähige Akteure .................... 23
2.2.2 Die Auswirkungen der EU auf Bundestagsfraktionen: indirekt statt direkt .............. 26
2.2.3 Europäisierungsmechanismen und Hypothesen ...................................................... 28
2.2.4 Die abhängige Variable: Dimensionen der Europäisierung ...................................... 29
2.2.5 Anmerkungen zur Einordnung des theoretischen Ansatzes ..................................... 32
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der
Interviews ........................................................................................................................... 33
3.1 Untersuchungsgegenstand und Methodik der Fallstudie ................................................... 33
3.1.1 Zur Wahl des Untersuchungsgegenstandes .............................................................. 33
3.1.2 Die Methodik ............................................................................................................. 34
3.2 Fallbeschreibung: europäisierte Umwelt und Aufbau der Grünenfraktion ........................ 36
3.2.1 Die institutionelle Europäisierung des Bundestags .................................................. 36
3.2.2 Zurückhaltende Nutzung der Mitspracherechte und die Relevanz der Fraktionen . 42
3.2.3 Die Grünen im Bundestag ......................................................................................... 45
3.3 Ergebnisse der Interviews: Zuständigkeiten und Aktivitäten in der Europapolitik ............. 48
3.3.1 Fraktions-Referentenstelle im Verbindungsbüro des Bundestages in Brüssel ......... 49
3.3.2 Europa-Referentenstelle beim Arbeitskreis 4 ........................................................... 52
3.3.3 Europa-Referentenstelle beim Fraktionsvorstand .................................................... 55
3.3.4 Wissenschaftliche Mitarbeiter der Abgeordneten ................................................... 57
2
3.3.5 Wissenschaftliche Koordination des Arbeitskreises 4 .............................................. 59
3.3.6 Koordination der Europagruppe der Grünen im Europäischen Parlament .............. 60
3.3.7 Förderung der Europafähigkeit: jüngste programmatische Ansätze ........................ 62
3.3.8 Bundestagsabgeordnete ........................................................................................... 63
3.3.9 Europaabgeordnete .................................................................................................. 69
4 Analyse und Hypothesenprüfung ......................................................................................... 72
4.1 EU-Expertise ........................................................................................................................ 72
4.2 Informationskanäle ............................................................................................................. 75
4.3 Fraktionsinterne Koordinierung der EU-Politik ................................................................... 80
4.4 Einflussnahme auf der europäischen Ebene ....................................................................... 85
4.5 Zusammenfassung und Auswertung ................................................................................... 87
4.5.1 Weitergehende Überlegungen zur Präzisierung des Theorieansatzes ..................... 89
4.5.2 Praxisrelevante Schlussfolgerungen ......................................................................... 92
5 Fazit und Ausblick ............................................................................................................... 95
Literaturverzeichnis ................................................................................................................... 101
3
Abkürzungen
AG Arbeitsgruppe
AK Arbeitskreis
BVerfG Bundesverfassungsgericht
COSAC Konferenz der Europaausschüsse der nationalen Parlamente
(französisch: Conférence des Organes Spécialisés en Affaires
Communautaires et Européennes des Parlements de l’Union
européenne)
Die Grünen/EFA Die Grünen/Europäische Freie Allianz (Fraktion im EP)
EP Europäisches Parlament
EG Europäische Gemeinschaft
EU Europäische Union
EUA Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
EUV Vertrag über die Europäische Union
EUZBBG Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
GfV Geschäftsführender Vorstand
GOBT Geschäftsordnung des Bundestages
MdB Mitglied des Bundestages
MdEP Mitglied des Europäischen Parlaments
4
1 Einleitung
Urteile des Bundesverfassungsgerichts sind oft von großer politischer Brisanz. Wenn das höchste
Gericht über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen oder über Streitigkeiten zwischen politischen
Organen entscheidet, wird sein Urteil häufig mit Spannung erwartet. Schließlich hat der Richter-
spruch aus Karlsruhe in der Regel Folgen für die betroffenen Akteure: Die einen mögen sich in ihrer
Haltung bestätigt sehen, die anderen müssen ihr Handeln anpassen oder einen neuen Gesetzesent-
wurf erarbeiten. Daher ist dem Bundesverfassungsgericht, wenn es ein Urteil verkündet, nicht nur
die Aufmerksamkeit der politischen Organe des Bundes sicher, sondern häufig auch eine große Me-
dienresonanz. So war es auch am 30. Juni 2009. An diesem Tag verkündeten die Verfassungsrichter
ihr „Lissabon-Urteil“. Gegenstand des Verfahrens war die Umsetzung des neuen EU-Vertrags in deut-
sches Recht, wozu Bundestag und Bundesrat mehrere Gesetze beschlossen hatten. Das Zustim-
mungsgesetz zum Lissabon-Vertrag beanstandeten die Karlsruher Richter nicht. Dagegen werteten
sie das sogenannte Begleitgesetz1 in Teilen als grundgesetzwidrig (Bundesverfassungsgericht 2009).
Sie forderten den Bundestag auf, seiner „Integrationsverantwortung“ besser nachzukommen. Grund-
sätzlich ging es den Richtern darum, dass der Bundestag Entscheidungen über Kompetenzerweite-
rungen der EU nicht aus der Hand geben dürfe. Wenn die Bundesregierung in Brüssel einem verein-
fachten Vertragsänderungsverfahren zustimme, dürfe dies nicht ohne die Billigung des Bundestages
geschehen. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass die Gemeinschaft sich selbst weitere Kompetenzen
aneigne, was gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verstoße. Der Bundestag, so die
Richter, trage als demokratische Volksvertretung Verantwortung für den Kurs der europäischen In-
tegration. Im Begleitgesetz sahen sie die Beteiligungsrechte des Parlaments nicht ausreichend veran-
kert. Infolge des „Lissabon-Urteils“ musste der Bundestag das Gesetz ändern.
Die mediale Berichterstattung über das Urteil vermittelte vom Bundestag das Bild des Hun-
des, der sprichwörtlich zum Jagen getragen werden muss. Das Parlament, so der Tenor vieler Presse-
berichte, habe seine Rechte willfährig hingegeben und sei von den Karlsruher Richtern „juristisch an
den Schultern gepackt und kräftig durchgeschüttelt“ worden (Wefing 2009). Einige Politologen dage-
gen kritisierten die Argumentation des Gerichts als potenzielle „Integrationsbremse“, da es die Integ-
rationsverantwortung des Bundestages auf die Überwachung der Bundesregierung und somit auf das
Abdrosseln der Integration verenge (Becker/Maurer 2009).
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich nicht mit der Bewertung des höchstrichterlichen Ur-
teils, sondern nimmt dieses zum Anlass, eine neue Perspektive auf den Umgang des Bundestages mit
der europäischen Integration einzunehmen. In der Diskussion über das Lissabon-Urteil wird oft über-
1 Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenhei-
ten der Europäischen Union (Bundestagsdrucksache 16/8489 vom 11.03.2008).
1 Einleitung
5
sehen, dass dieses zwar formal die Institution Bundestag anspricht, realiter jedoch die einzelnen
Fraktionen in die Pflicht nimmt. Schließlich sind sie die zentralen Handlungseinheiten des Parlaments:
Sie beschicken die Ausschüsse mit Abgeordneten und sie entscheiden intern über die im Plenum und
in den Ausschüssen vorgebrachten Positionen, kurz: Fraktionen machen den Bundestag arbeitsfähig
(vgl. Hesse/Ellwein 2004, Ismayr 2000, Sontheimer et al. 2007). Obwohl der Bundestag daher als
ausgesprochenes „Fraktionenparlament“ bezeichnet werden kann (Schüttemeyer 1999: 42), wurde
der Bedeutung der Fraktionen für die „Europafähigkeit“ des Bundestages – das heißt, für sein Ver-
mögen, sich europapolitisch einzubringen und europäische Politiken umzusetzen (vgl. Schächtelin
2009: 156f) – bislang kaum Beachtung geschenkt. In diese Lücke stößt die vorliegende Forschungsar-
beit vor. Sie fragt danach, wie sich die Fraktionen des Bundestages auf die europäische Integration
eingestellt haben. Mit einer beispielhaften Untersuchung der Grünenfraktion ergänzt sie den beste-
henden Literaturkorpus über die Europäisierung des Bundestages um einen wichtigen Aspekt. Die
zentrale Forschungsfrage lautet: Wie hat sich die Bundestagsfraktion der Grünen europäisiert?
Die Arbeit reiht sich somit in die umfangreiche politologische Forschungsrichtung ein, die sich
seit den 1990er Jahren unter dem Schlagwort „Europäisierung“ mit den Auswirkungen der europäi-
schen Integration auf die EU-Mitgliedsstaaten befasst. Die Europäisierungsforschung beschäftigt sich
mit allen Dimensionen von Politik mit einem Schwerpunkt auf Policys und politischen Institutionen.
Ein besonderes Interesse, das sich sowohl aus demokratietheoretischen Überlegungen wie prakti-
schen Motiven speist, wird dabei den nationalen Parlamenten zuteil. Ihre Rolle als nationaler Gesetz-
geber ist von der Einbindung ihres jeweiligen Staates in das europäische Mehrebenensystem berührt.
Ein beträchtlicher Teil der im nationalen Raum verabschiedeten Gesetze geht auf europäische Impul-
se wie Richtlinien, Verordnungen, Rahmenregelungen, Urteile des Europäischen Gerichtshofes oder
gemeinschaftliche Programme zurück (vgl. Töller 2004: 32ff). Dazu kommt, dass die Regierungen der
Mitgliedsstaaten anders als die Parlamente über den Rat direkt an der Rechtsetzung auf der europäi-
schen Ebene beteiligt sind und somit einen Informationsvorsprung vor ihren Parlamenten haben. Die
parlamentarische Kontrollmöglichkeit kann dadurch beeinträchtigt werden. Auf diese veränderten
Umstände haben alle mitgliedsstaatlichen Parlamente inzwischen durch institutionelle Anpassungen
reagiert. Der Bundestag hat sich europäisiert, indem er seine europapolitischen Rechte im Grundge-
setz verankert, einen Ausschuss für die Angelegenheiten der EU eingerichtet sowie die Strukturen
der Parlamentsverwaltung durch die Gründung eines Europareferats mit Verbindungsbüro in Brüssel
an den gestiegenen Informationsbedarf angepasst hat.
Die Beschreibung und Analyse der europapolitischen Rechte des Bundestages und der Struk-
tur des EU-Ausschusses sowie der Vergleich mit anderen Ländern ist Gegenstand zahlreicher Publika-
tionen (vgl. Fuchs 2004, Hansen/Scholl 2002, Janowski 2005, Schäfer 2006, Sterzing/Tidow 2001,
Töller 2004). Dabei wird dem Bundestag oft ein relativ geringes europapolitisches Engagement be-
1 Einleitung
6
scheinigt (vgl. Brosius-Linke 2009, Saalfeld 2003, Töller 2004). So hat er nicht nur verhältnismäßig
lang gezögert, sein Verhältnis zur Bundesregierung in der Europapolitik und seine Mitsprache- und
Kontrollrechte grundgesetzlich zu regeln, er nutzt diese institutionellen Möglichkeiten auch recht
zurückhaltend. Mit wenigen Ausnahmen gehen die Europäisierungsstudien allerdings nur auf den
Bundestag als Gesamtes ein. Daneben liegen erste Arbeiten über das europapolitische Engagement
einzelner Abgeordneter vor (vgl. Auel 2006b). Dieses erfolgt zu einem beachtlichen Teil abseits der
öffentlich sichtbaren Mitwirkungsinstrumente. So unterhalten Parlamentarier vielfältige Kontakte zu
Personen der EU-Ebene, um sich zu informieren, und Mitglieder der Mehrheitsfraktionen nutzen
informelle Mitsprachewege im direkten Gespräch mit Regierungsmitgliedern. Der Grund für diese als
„strategisch“ oder „informell“ bezeichnete Europäisierung liegt in den strukturellen Gegebenheiten
des parlamentarischen Regierungssystems: Formale Mitspracheinstrumente wie Stellungnahmen
gegenüber der Bundesregierung bedürfen der Zustimmung einer Mehrheit des Bundestages. Diese
hat allerdings im Normalfall keinerlei Interesse daran, die von ihr gestützte Regierung öffentlich zu
kritisieren. Sie sieht daher in der Regel von der Nutzung formaler Instrumente ab und zieht ihr infor-
melle Mitsprachemöglichkeiten vor.
Auels (2006b) Befunde machen deutlich, dass mit einer Betrachtung des Bundestages als
Institution nur ein Aspekt seiner Europäisierung erfasst werden kann. Über den Umgang mit der eu-
ropäischen Integration und Europapolitik im parlamentarischen Alltag lässt sich mit den Erkenntnis-
sen über die institutionelle Europäisierung allein noch recht wenig sagen. Denn das tägliche Gesche-
hen im Parlament ist weniger von einem Gegenüber von Exekutive und Legislative geprägt als von
einem Dualismus aus Mehrheit und Opposition. Beide setzen sich in der Tradition der Koalitionsre-
gierungen jeweils aus zwei oder mehr Fraktionen zusammen, die wiederum für ihre Mitglieder die
wesentliche Handlungsorientierung bieten. Entscheidend für das europapolitische Engagement und
die Wahrnehmung der europapolitischen Mitwirkungs- und Kontrollrechte des Bundestages, die das
Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil angemahnt hat, ist also, wie gut sich die Fraktio-
nen des Bundestages auf die Integration eingestellt haben. Einrichtungen wie das Verbindungsbüro
in Brüssel sind an sich kein Garant für eine effektive parlamentarische Mitwirkung und Kontrolle.
Wenn die vorhandenen institutionellen Möglichkeiten des Bundestages Wirkung erfahren sollen,
müssen die einzelnen Fraktionen organisatorisch und personell auf die Befassung mit Europapolitik
und Unionsvorlagen vorbereitet sein. Inwiefern dies in der Praxis bislang erfolgt ist, wird in dieser
explorativen Studie am Beispiel der grünen Bundestagsfraktion erstmals untersucht.
Für die Studie wird ein theoretischer Ansatz erarbeitet, aus dem sich Hypothesen über die
Europäisierung einer Bundestagsfraktion ableiten lassen. Zunächst wird argumentiert, dass die exis-
tierenden Theorieansätze in der Europäisierungsliteratur auf Fraktionen nicht bruchlos übertragbar
sind, da diese anders als Policys oder nationale Regierungen keinen direkten Auswirkungen der EU
1 Einleitung
7
ausgesetzt sind. Sie erfahren daher keinen unmittelbaren Anpassungsdruck im Sinne des in der Euro-
päisierungsforschung weithin bekannten „goodness-of-fit“-Ansatzes von Börzel und Risse (2003).
Anstatt von direktem Anpassungsdruck geht die vorliegende Arbeit von einem indirekt wirkenden
Europäisierungsmechanismus aus, der an der Handlungsumwelt der Fraktionen ansetzt. Verändert
sich diese in einem Maße, das die Handlungsfähigkeit der Fraktionen potenziell gefährdet, so passen
sie sich in ihrer Eigenschaft als konservative, auf Systemerhaltung angelegte Organisationen daran an
(vgl. Lodge 2006: 72). Als institutionell eingebettete Akteure sind die Fraktionen in ihrem Handeln
prinzipiell an den Funktionen des Bundestags orientiert: Repräsentation, Gesetzgebung und Kontrol-
le. Durch die europäische Integration, so die Argumentation in dieser Arbeit, verändert sich das Um-
feld, innerhalb dessen die Fraktionen nach diesen Zielen handeln. Dadurch werden Anpassungsleis-
tungen erforderlich – nur so kann die Handlungsfähigkeit aufrechterhalten werden. Denn da sich
viele Gesetzesvorlagen für den nationalen Raum aus der EU-Arena ergeben, müssen die Fraktionen
EU-Vorlagen verarbeiten, wenn sie die Agenda des Bundestages weiter mit gestalten wollen. Dies
bezieht sich auf nahezu alle Politikbereiche. Zudem hat die Bundesregierung durch die Einbindung in
die europäische Gesetzgebung einen Informationsvorsprung gegenüber den Fraktionen und daher
tendenziell die Möglichkeit, sich der parlamentarischen Kontrolle zu entziehen. Auswirkungen dieses
indirekten Europäisierungsmechanismus sind in mehreren Dimensionen zu erwarten. Untersucht
wird erstens, inwiefern die grüne Bundestagsfraktion fachliche Expertise im Bereich der Europapoli-
tik, etwa durch die Schaffung neuer Referentenstellen, entwickelt hat. Zweitens wird nach der Etab-
lierung und Nutzung spezifisch europapolitischer Informationskanäle nationaler, transnationaler und
europäischer Ausprägung gefragt. Von Interesse ist drittens, welche Routinen und Zuständigkeiten
zur fraktionsinternen Koordinierung der Europapolitik ausgebildet wurden. Als vierte Dimension wird
ferner die Nutzung direkter Kontakte zur EU-Ebene für Versuche einer direkten Einflussnahme auf
europäische Gesetzgebungsvorhaben untersucht.
Gegenstand der Fallstudie ist mit der grünen Bundestagsfraktion der parlamentarische Arm
einer Partei, in deren politischem Programm die europäische Integration eine zentrale Rolle spielt,
was sich auch in einem im nationalen Vergleich relativ stark auf Europa bezogenen Europawahlkampf
niedergeschlagen hat (vgl. Niedermayer 2005, Volmer 2009: 424f). Zudem war in den vergangenen
Jahren ein auffälliger personeller Austausch zwischen Bundestagsfraktion und Europagruppe zu be-
obachten. Diese Charakteristika lassen deutliche Ergebnisse in den theoretisch abgeleiteten Europäi-
sierungsbereichen erwarten, während die grundsätzliche Vergleichbarkeit mit anderen Fraktionen
gewährleistet ist – seit Beginn ihrer parlamentarischen Repräsentation haben sich die Grünen in or-
ganisatorisch-struktureller Hinsicht an die anderen Fraktionen angeglichen. Zur Beantwortung der
aufgeworfenen Forschungsfrage wurden zehn Interviews mit Mitgliedern der Grünenfraktion ge-
führt, die teilweise der politischen, teilweise der Arbeitsebene angehören.
1 Einleitung
8
Der Erkenntnisgewinn der Studie erstreckt sich auf mehrere Bereiche. Mit der empirischen
Untersuchung wird erstmals gezeigt, was Europäisierung bezogen auf eine Bundestagsfraktion kon-
kret bedeutet. Die Studie trägt damit zu einem umfassenderen Verständnis der Europäisierung des
Bundestages bei. Sie liefert zugleich einen Beitrag zur aktuellen Erforschung des entstehenden Mehr-
ebenenparlamentarismus und des damit verbundenen Wandels parlamentarischer Systeme. Darüber
hinaus wird ein neuer theoretischer Ansatz zur Anwendung auf Bundestagsfraktionen entwickelt.
Dieser kann zum einen für weitere Analysen der anderen Bundestagsfraktionen genutzt werden und
ermöglicht vergleichende Studien. Zum anderen ist er grundsätzlich auch auf andere Mitgliedsstaa-
ten übertragbar. Mit der Entwicklung des Theorieansatzes werden also die nationalen Parlaments-
fraktionen für die Europäisierungsforschung erschlossen und das Forschungsfeld dadurch theoretisch
weiterentwickelt. Die Arbeit ermöglicht es auf diese Weise, der Forderung zahlreicher Forscher nach
einer stärkeren Berücksichtigung von Handlung und Akteuren bei der Untersuchung des Europäisie-
rungsstandes nationaler Parlamente sowie deren theoretischer Konzeptualisierung Rechnung zu tra-
gen (vgl. Auel 2006b, Holzhacker 2007: 151, Raunio 2009: 318, Töller 2004: 50). Vom wissenschaftli-
chen Gewinn der Studie abgesehen liefert sie auch Anhaltspunkte für politische Praktiker, die an
einer Verbesserung der Europafähigkeit einzelner Fraktionen oder ganzer Parlamente interessiert
sind.
Zur Einführung in das Thema wird in Kapitel 2 zunächst der Begriff der Europäisierung defi-
niert. Es folgt ein Überblick über verschiedene Theorieansätze, bevor der Forschungsstand im Bereich
der nationalen Parlamente der EU knapp erläutert wird. Im zweiten Teil des Kapitels wird der hier
angewandte Europäisierungsansatz erarbeitet und es werden Hypothesen für die Fallstudie abgelei-
tet. In Kapitel 3 folgt nach einem kurzen Abschnitt über die Methodik der empirischen Arbeit die
Fallbeschreibung. Anhand einer Literaturanalyse wird zunächst die Europäisierung des Bundestages
vorgestellt und anschließend die Struktur der grünen Bundestagsfraktion. Beides dient als Grundlage
der empirischen Untersuchung im Hauptteil des Kapitels. Hier werden die Ergebnisse der Interviews
in neun Abschnitten präsentiert, die in Form kurzer Porträts die europapolitischen Zuständigkeiten
und Aktivitäten der befragten Fraktionsmitglieder wiedergeben. Im anschließenden Kapitel werden
diese Ergebnisse entlang der vier untersuchten Europäisierungsdimensionen analysiert und das Aus-
maß der Europäisierung in den unterschiedlichen Bereichen ermittelt. Das vierte Kapitel enthält zu-
dem eine Diskussion des eingangs konstruierten theoretischen Ansatzes auf der Grundlage der ge-
wonnenen Erkenntnisse. Die Arbeit schließt in Kapitel 5 mit dem Fazit und einem Ausblick auf An-
knüpfungsmöglichkeiten, die die Studie bietet.
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
9
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
Seit Beginn der europäischen Integration in den 1950er Jahren haben die Mitgliedsländer der Euro-
päischen Union die Zuständigkeit für immer mehr Politikbereiche teilweise oder vollständig an die
Staatengemeinschaft übertragen. Der Transfer und die Teilung von Entscheidungskompetenzen so-
wie der Aufbau supranationaler Institutionen haben zu einer wechselseitigen Durchdringung der
nationalstaatlichen und europäischen Politikprozesse geführt. Akteure unterschiedlicher Ebenen sind
an komplexen Entscheidungsprozessen unterschiedlich stark beteiligt. Nationale Akteure gestalten
durch ihre Beschlüsse das europäische politische System, während dessen Herausbildung zugleich
Anpassungsleistungen der nationalen politischen Akteure, Strukturen, Politikinhalte und Handlungs-
weisen nach sich zieht. Diesen Anpassungen gilt das Erkenntnisinteresse der Europäisierungsfor-
schung. Ihre Ergebnisse liefern einen Beitrag zur Untersuchung des Wandels parlamentarischer Sys-
teme im europäischen Kontext, der unter dem Stichwort „Mehrebenenparlamentarismus“ analysiert
und diskutiert wird (vgl. Maurer 2001). Sie berührt somit Fragen, die sowohl demokratietheoretisch
als auch für die politische Praxis relevant sind. Ein zentrales Interesse gilt dem Beitrag, den die Par-
lamente der verschiedenen Ebenen für die demokratische Legitimation des Gesamtsystems leisten
können. Im Folgenden wird mit einer Begriffsbestimmung, einer kurzen Vorstellung der Forschungs-
gegenstände sowie einer Diskussion gängiger Theorieansätze (Kapitel 2.1.1 und 2.1.2) in das Theorie-
feld der Europäisierung eingeführt. Kapitel 2.1.3 gibt einen Überblick über den Stand der Forschung
hinsichtlich der nationalen Parlamente der EU-Staaten. Zusammengenommen legen diese Abschnitte
die Basis für die Erarbeitung eines speziell auf Bundestagsfraktionen zugeschnittenen theoretischen
Europäisierungsansatzes in Kapitel 2.2.
2.1 Europäisierung: Gegenstände und Theorieansätze
Das Forschungsfeld der Europäisierung hat seit Mitte der 1990er Jahre einen Boom erfahren (vgl. Axt
et al. 2007, Auel 2006a, Vink/Graziano 2007). Zahlreiche Wissenschaftler aus der Integrationsfor-
schung, ferner auch aus der Systemanalyse, der vergleichenden Politikwissenschaft und den Interna-
tionalen Beziehungen, haben sich der Erforschung der Auswirkungen der EU auf ihre Mitgliedsstaa-
ten2 zugewandt. Hinter dem gemeinsamen Forschungsinteresse verbirgt sich im Einzelnen eine Viel-
zahl unterschiedlicher Erkenntnisinteressen und Fragestellungen.3
2 Thematisiert wird von einigen auch der Einfluss der EU auf Beitrittskandidaten als „Beitrittseuropäisierung“
(vgl. Axt et al. 2007). 3 Gegenstand der folgenden Ausführung ist ausschließlich die politologische Europäisierungsforschung. Der
Begriff wird daneben auch in anderen Forschungsdisziplinen verwandt. So sammelt und unterscheidet Fea-
therstone (2003) vier, Olsen (2002) gar fünf in der Literatur verschiedener Forschungsdisziplinen verwandte
Begriffe. Bezeichnet werden damit so unterschiedliche Phänomene wie der Export kultureller Muster und Go-
vernanceformen, Bevölkerungsbewegungen oder die Veränderung territorialer Grenzen.
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
10
2.1.1 Begriffsbestimmung und Untersuchungsgegenstände
Das große politikwissenschaftliche Interesse an Rückwirkungen der europäischen Integration auf die
Mitgliedsstaaten speist sich aus unterschiedlichen Quellen (vgl. Lodge 2006). Zum einen ist es zeitlich
begründet. Da sich das politische System der EU immer weiter ausdifferenzierte und immer mehr
Politikfelder umschloss, lag zu einem gewissen Zeitpunkt die Frage nahe, wie sich die europäischen
Politikprozesse auf der nationalen Ebene auswirken. Solche Auswirkungen waren zudem auch für
Laien immer deutlicher spürbar – etwa in Form des Schengenraums, des Binnenmarktes oder der
gemeinsamen Währung – und auch die nationalen Parlamente begannen, sich mit dem Themenfeld
zu befassen. Insofern ist Europäisierung „kein Thema, das nur im Elfenbeinturm der Wissenschaft
heiß diskutiert wird“ (Auel 2006a: 314). Auch aus einer demokratietheoretischen Perspektive ist die
Beschäftigung damit relevant, stellt sich doch zum einen die Frage, inwiefern die Mitgliedschaft eines
Staates in der Union die demokratische Qualität der nationalen Herrschaft berührt, zum anderen,
inwiefern das supranationale System selbst als demokratisch gelten kann und welchen Beitrag die
politischen Organe der Mitgliedsstaaten dazu leisten können.
Mit der starken Expansion der Europäisierungsforschung ist ein gewisses begriffliches Durch-
einander entstanden (vgl. Auel 2006a, Axt et al. 2007, Ladrech 2002: 391ff). Daher ist eine Definition
dessen, was mit Europäisierung genau gemeint ist, unumgänglich. Zwar hat sich in der Politikwissen-
schaft mittlerweile ein weitgehend geteiltes Verständnis herausgebildet, nach dem die „top-down“-
Perspektive der Europäisierungsforschung, die sich für die Folgen der europäischen Integration für
die politischen Institutionen, Politiken und politischen Entscheidungsprozesse der Mitgliedsstaaten
interessiert, von der „bottom-up“-Perspektive der Integrationsforschung abzugrenzen ist (Abb. 1, vgl.
Lodge 2006).4 Europäisierung ist demnach ein „Prozess der Veränderung der Logik nationalen politi-
schen Handelns“ (Auel 2006a: 298). Nicht alle Autoren unterscheiden aber begrifflich so klar zwi-
schen dem Integrationsprozess und seinen Auswirkungen. So definieren Börzel und Risse Europäisie-
rung als „a process of institution-building at the European level in order to explore how this Europea-
nization process impacts upon the member states” (Börzel/Risse 2003: 59, Herv. C. E.). Für eine klare
Unterscheidung von Integration und Europäisierung taugt diese Begriffsbestimmung nicht.5
Eine komplexe Definition liefert Radaelli (2003). Europäisierung versteht er als „process of (a)
construction, (b) diffusion, and (c) institutionalization of formal and informal rules procedures, policy
paradigms, styles, „ways of doing things”, and shared beliefs and norms which are first defined and
4 Obwohl sich die Europäisierungsforschung auch intensiv mit der Umsetzung europäischer Politiken in den
Mitgliedsstaaten befasst, ist sie nicht mit der Implementationsforschung gleichzusetzen. Europäisierungseffek-
te können, müssen aber nicht durch Implementierung entstehen. Selbst bei mangelnder Implementierung
können Europäisierungseffekte auftreten (vgl. Knill 2010). 5 So kritisiert auch Radaelli: „[I]f Europeanisation has to have a precise meaning, it has to be different and more
selective than the notions of EU policy formation and European integration.” (Radaelli 2003: 29) Börzel und
Risse (2003) setzen zudem Europäisierung als unabhängige Variable, während sie in vielen gängigen Konzepten
– und auch in diese Arbeit – abhängige Variable ist (vgl. Holzhacker 2007: 343f).
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
11
consolidated in the making of EU public policy and politics and then incorporated in the logic of do-
mestic discourse, identities, political structures, and public policies” (Radaelli 2003: 30). Die Wir-
kungskette kommt hier klar zum Ausdruck. Etwas problematisch erscheint aber die Beschränkung auf
ein europäisches Modell, das in das nationale politische System übertragen wird – indirekte Auswir-
kungen der EU sind so außen vor. Einbezogen werden sie dagegen in die ebenfalls weit verbreitete
Definition von Ladrech (2002). Europäisierung ist demnach „an incremental process re-orienting the
direction and shape of politics to the degree that EC political and economic dynamics become part of
the organizational logic of national politics and policy-making” (Ladrech 1994: 69, zitiert nach La-
drech 2002: 392). Mit „organizational logic” meint Ladrech den „adaptive process of organizations to
a changed or changing environment”. Diese Definition bietet eine passende Grundlage für die vorlie-
gende Studie. Sie unterscheidet Europäisierung klar von anderen politologischen Phänomenen und
ist dabei breit genug, um verschiedene Kausalmechanismen zu erfassen.
Abbildung 1: Integrations- und Europäisierungsprozess. Quelle: eigene Darstellung (nach Börzel
2003: 3, Radaelli 2004)
Generell umfasst die EU-Wirkungsforschung Entwicklungen in allen Politik-Dimensionen:
Polity, Policy und Politics (Abb. 1). Zahlreiche Studien über die Veränderung von Politikfeldern in Mit-
gliedsstaaten haben gezeigt, dass ein und dieselbe EU-Policy in verschiedenen Ländern unterschiedli-
che Effekte hervorrufen kann (vgl. Héritier 2001, Teil IV in Graziano/Vink 2007). Viel Aufmerksamkeit
erfahren auch Institutionen der EU-Staaten. Sowohl Fallstudien als auch vergleichende Untersuchun-
gen befassen sich mit den nationalen Regierungen und Parlamenten sowie mit regionalen Gebiets-
körperschaften – etwa mit den Folgen der Integration für den deutschen Föderalismus (vgl. Große
Hüttmann/Knodt 2000) –, ferner mit europäischen Auswirkungen auf die nationalen Rechtssysteme
und auf Governanceformen (vgl. Teil III in Graziano/Vink 2007). Auch hier lassen sich zwar gemein-
same Reaktionsmuster über verschiedene Staaten hinweg feststellen, jedoch kann von Konvergenz
keine Rede sein. Pfadabhängige und inkrementelle Entwicklungen sind die Regel, der konkrete Ver-
lauf der Europäisierung ist institutionenabhängig (vgl. Börzel 2000, Olsen 2002). Auch Gegenstände
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
12
der Politics-Dimension sind in der Europäisierungsforschung vertreten, wenn auch bislang weniger
prominent als die beiden erstgenannten Dimensionen. Untersucht werden Prozesse, Strategien und
organisatorische Veränderungen in politischen Parteien der Mitgliedsstaaten sowie in Interessen-
gruppen (vgl. Ladrech 2010).
2.1.2 Theorien der Europäisierung
Die große Bandbreite an Untersuchungsgegenständen spiegelt sich auch in der Vielfalt an theoreti-
schen Ansätzen wider, über die im Folgenden ein kurzer Überblick geschaffen werden soll. Die Euro-
päisierungstheorie gibt es ebenso wenig wie oder gar noch weniger als die Integrationstheorie. Auch
handelt es sich nicht um eine neue Großtheorie (Auel 2006a: 313, Olsen 2002: 23, Radaelli 2004).
Vielmehr existieren verschiedene Ansätze mit begrenzter Reichweite nebeneinander, in denen sich
Bausteine aus etablierten politologischen Theorien und bekannte Analysewerkzeuge finden. Das
gesamte Forschungsgebiet befindet sich in einem dynamischen Prozess der Fortentwicklung, Erpro-
bung, Korrektur und wechselseitigen Befruchtung.
Bereits in der Integrationsforschung wurden – teils implizit – Rückwirkungen der europäi-
schen Integration auf die Mitgliedsstaaten thematisiert. Obgleich primär auf die Erfassung des Cha-
rakters des entstehenden europäischen Gebildes ausgerichtet, lassen sich aus den beiden großen
Strängen der Integrationstheorie Rückschlüsse über Auswirkungen auf die Nationalstaaten ableiten
(vgl. Börzel 2003, Bulmer/Lequesne 2005, Hix/Goetz 2000, Vink/Graziano 2007). So ist aus Sicht des
Intergouvernementalismus zu erwarten, dass durch die Integration die Exekutiven innerhalb der Na-
tionalstaaten gestärkt werden. Da ein Teil der politischen Entscheidungen auf der EU-Ebene getrof-
fen wird und damit der nationalen Diskussion entzogen werden kann, wird die Regierung gegenüber
dem Parlament begünstigt. Neofunktionalistische und supranationalistische Theorien dagegen halten
gesellschaftliche Akteure und supranationale Organisationen für die Triebkräfte der Integration. Ge-
sellschaftliche Akteure, deren Interessen im Integrationsprozess Wirkung entfalten, werden folglich
innerhalb der nationalen Arena gestärkt. Eine mögliche Folge ist daneben die Umorientierung dieser
Akteure hin zu einem neuen, supranationalen politischen Zentrum und die Umgehung der nationalen
Regierung („by-passing“) durch direkte Interaktionen mit diesem.
Obwohl bereits die Integrationstheorien Ansätze für ein theoretisches Gerüst von Europäisie-
rungsansätzen bereitstellen, ist ein beträchtlicher Anteil der Europäisierungsstudien nicht explizit
theoriegeleitet (vgl. Goetz/Meyer-Sahling 2008: 10). Implizit oder explizit geht jedoch ein Großteil
der Studien von neoinstitutionalistischen Grundannahmen aus.6 Demnach spielt für die Ausprägung
der Europäisierung gemäß dem Leitgedanken „institutions matter“ das jeweilige Institutionengefüge
eines Staates eine zentrale Rolle (vgl. Axt et al. 2007, Featherstone 2003, Goetz/Meyer-Sahling 2008,
6 Haverland (2007: 64) bezeichnet die meisten Studien daher mittlerweile als zumindest „theoretisch infor-
miert“.
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
13
Vink/Graziano 2007). Nach neoinstitutionalistischem Verständnis sind darunter nicht nur formale
Strukturen, sondern auch kognitiv-normative Elemente zu verstehen: Institutionen sind „Muster der
Interdependenzbewältigung“ (Schimank 2007: 162). Europäisierungseffekte können in diesem Sinne
sowohl das Ergebnis rationaler Handlungen als auch von Sozialisationsprozessen sein, also in den
Begriffen Marchs und Olsens (1989) sowohl einer Logik der Konsequentialität als auch einer Logik der
Angemessenheit folgen (vgl. Radaelli 2004: 12, Vink/Graziano 2007: 12ff).
Ungeachtet der theoretischen Annahmen muss jeder Europäisierungsansatz eines leisten: Er
muss plausibel darstellen, wie die europäische Integration Veränderungen auf der nationalen Ebene
auslöst, hat also den jeweiligen Mechanismus der Europäisierung zu identifizieren. Eine Übersicht
über bestehende Europäisierungsansätze kann gewonnen werden, indem verschiedene Impulse der
Europäisierung unterschieden werden und ihnen jeweils ein bestimmter Mechanismus zugeordnet
wird (vgl. Auel 2006a, Knill/Lehmkuhl 1999, Radaelli 2004). Aufgrund der Kompetenzordnung der EU
können zunächst vertikale und horizontale Impulse differenziert werden. Vertikale Impulse gehen
von der EU aus, wenn diese per Rechtssetzung in die Politik der Mitgliedsstaaten eingreift7. Hier ist
ferner zwischen positiver, also marktregulierender, und negativer, also marktschaffender, Integration
zu unterscheiden. Im Falle der positiven Integration erhalten die Mitgliedsländer eine Vorgabe wie
etwa eine Gleichbehandlungsrichtlinie, die sie in nationales Recht umsetzen müssen. Im Bereich der
negativen Integration dagegen schreibt die EU kein Modell vor, sondern sie zielt durch ihre Rechtset-
zungsaktivitäten darauf, Markthemmnisse in den Mitgliedsstaaten abzubauen. Ein Beispiel ist das
Verbot staatlicher Beihilfen, um Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern. In Politikbereichen, in
denen die EU laut Vertrag nur ergänzend und unterstützend tätig werden darf, kann sie horizontale
Impulse an die Nationalstaaten senden. Sie drücken sich in Form von freiwilligen und rechtlich un-
verbindlichen Kooperationen zwischen den Mitgliedern aus, oder aber in Form von Richtlinien, wel-
che keine rechtlich bindenden Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten bewirken, wie etwa die erste
Erneuerbare-Energien-Richtlinie von 2001, die nur indikative Richtwerte definierte.
Für die verschiedenen Policy-Typen wurden nun verschiedene Europäisierungsmechanismen
definiert (vgl. Tab. 1). Besonderen Anklang hat der „goodness-of-fit“-Ansatz gefunden, der von Börzel
und Risse (2003) sowie von Cowles, Caporaso und Risse (2001) für den Bereich der positiven Integra-
tion entwickelt wurde. Da dieser Ansatz einen enormen Raum in der gesamten Europäisierungslitera-
tur einnimmt und Europäisierung häufig intuitiv mit ihm assoziiert wird, soll er hier, auch als Grund-
lage einer späteren Abgrenzung von ihm, kurz vorgestellt werden (vgl. Auel 2006b, Börzel/Risse
2003, Ladrech 2010). Grundannahme ist, dass Europäisierungseffekte entstehen, wenn ein Anpas-
sungsdruck von der europäischen Ebene ausgeht. Dies ist dann der Fall, wenn zwischen einer Vorga-
7 Die Wortwahl soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Akteure der Mitgliedsstaaten an der europäischen
Rechtssetzung beteiligt und diese daher keineswegs passive „Opfer“ des Prozesses sind.
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
14
be der EU und den nationalen Gegebenheiten eine Inkompatibilität, ein „Misfit“, besteht. Das Aus-
maß des Anpassungsdrucks hängt vom Ausmaß dieses „Misfits“ ab. Je geringer die Kompatibilität
zwischen europäischen Institutionen oder Policys und nationalen Institutionen oder Policys – je grö-
ßer also der „policy misfit“ oder der „institutional misfit“ –, desto höher der Anpassungsdruck. Aller-
dings ist Inkompatibilität nur die notwendige Bedingung. Ob und in welcher Ausprägung es tatsäch-
lich zu einer Anpassung kommt, hängt von institutionellen Faktoren im jeweiligen Staat ab. Es han-
delt sich also nicht um ein mechanisches Reiz-Reaktions-Schema, sondern hinreichende Bedingungen
wie Vetospieler, die formale Ressourcenausstattung nationaler Akteure, „norm entrepreneurs“ als
Promotoren des Wandels, sowie die nationale politische Kultur sind entscheidend für eine Anpas-
sung.
Da der „goodness-of-fit“-Ansatz konkrete europäische Vorgaben voraussetzt, kann er im
Bereich der negativen Integration nicht angewandt werden. Hier hängen Auftreten und Ausprägung
nationaler Veränderungen davon ab, wie der europäische Einfluss die Opportunitätsstruktur, das
heißt das Kräfteverhältnis zwischen Akteuren, in der nationalen politischen Arena verändert (vgl.
Knill/Lehmkuhl 1999). Wenn aufgrund europäischer Bestimmungen bestimmte Strategien nicht mehr
zulässig sind, können andere in den Mittelpunkt rücken. Dadurch werden diejenigen Akteure ge-
stärkt, welche sie propagieren. Der Europäisierungsmechanismus der negativen Integration ist daher
kein „Misfit“, sondern ein regulativer Wettbewerb, in welchem durch den europäischen Einfluss so-
zusagen „die Karten neu gemischt werden“. Wie dies im Einzelnen geschieht, hängt von der Res-
sourcenausstattung der jeweiligen Akteure im nationalen Raum ab und davon, wie diese die neuen
Opportunitätsstrukturen nutzen. In Bereichen, in welchen von der EU lediglich horizontale Impulse
ausgehen, wird weder Anpassungsdruck ausgeübt noch werden nationale Kräfteverhältnisse beein-
flusst. Vielmehr stellen intergouvernementale Kooperationen und Diskussionsforen im Modus des
„arguing“ oder unverbindliche Vorschläge der Kommission Politikoptionen bereit, welche in die poli-
tische oder gesellschaftliche Diskussion im nationalen Raum einfließen. Dies kann die Problemwahr-
nehmung von Akteuren beeinflussen und Lernprozesse auslösen, beispielsweise durch die Verbrei-
tung von „best practice“-Modellen. Akteure können gestärkt werden, wenn neue Ideen verbreitet
und ihnen durch supranationale Institutionen zusätzliche Legitimation verliehen wird. Europäisierung
aufgrund horizontaler Impulse erfolgt dann durch einen Mechanismus des „soft framing“. Während
also der „goodness-of-fit“-Ansatz stark institutionenzentriert ist, bieten die beiden anderen Europäi-
sierungsmechanismen eher akteurszentrierte Erklärungen.
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
15
Tabelle 1: Europäisierungsmechanismen. Quelle: eigene Darstellung, nach (Auel 2006a),
(Knill/Lehmkuhl 1999)
Policy-Typ Positive Integration Negative Integration Horizontale Koopera-
tion
Beispiele für Politikbe-
reiche
Umweltpolitik, Agrar-
politik
Binnenmarkt, markt-
schaffende Policys
GASP/GSVP, Offene
Methode der Koordi-
nierung
Europäisierungs-
mechanismus
„goodness of fit“ regulativer Wettbe-
werb
„soft framing“
Erklärung nationaler
Anpassung/Varianz
formale (Vetospieler,
Ressourcen) und in-
formelle („norm ent-
repreneurs“, politische
Kultur) Faktoren
Opportunitätsstruktur/
Ressourcenausstattung
strategische Nutzung
dominante Ideen,
Lernprozesse
2.1.2.1 Exkurs: Nähe und Differenzen zu Multilevel Governance
Die genannten Theorieansätze nehmen aus methodologischen Gründen durchweg eine strikte analy-
tische Trennung zwischen dem Integrationsprozess („bottom up“) und dem Anpassungsprozess auf
der nationalen Ebene („top down“) vor (vgl. Auel 2006a: 310ff, Börzel 2003, Lodge 2006). Es gibt
indes auch Bemühungen, die wechselseitige Beeinflussung beider Ebenen – ein typisches „Henne-Ei-
Problem“ – anders anzugehen. So versucht Börzel (2003) beide Einflussrichtungen in einem Ansatz zu
vereinen, indem sie die nationalen Regierungen sowohl als „shapers“ als auch als „takers“ der EU
konzipiert. Als aktive Gestalter der EU sind nationale Regierungen demnach bemüht, Anpassungskos-
ten möglichst gering zu halten. Vor allem Staaten mit einem hohen Regulierungsniveau versuchen
daher, eigene Politiken in die EU zu exportieren und diese nach ihren Präferenzen zu formen, also als
„shaper“ aktiv zu werden. Wenn es ihnen gelingt, ihre Politik als europäischen Standard zu etablie-
ren, bleiben ihre Anpassungskosten niedrig. Die Kapazitäten zum „shaping“ sind institutionell be-
dingt. Dasselbe gilt auch für die Fähigkeit, als „taker“ europäische Politiken umzusetzen und die eige-
nen Strukturen an die europäischen Vorgaben anzupassen. Bestrebungen, mit der Berücksichtigung
beider Einflussrichtungen ein Gesamtbild der Interdependenz von EU und Mitgliedsstaaten zu ge-
winnen, rücken die Europäisierungsforschung in die Nähe des Multilevel-Governance-Ansatzes
(MLG), der von einer gemeinsamen, interdependenten Entwicklung des europäischen politischen
Systems und der nationalen politischen Systeme und somit von ähnlichen Grundannahmen ausgeht
(vgl. Kohler-Koch 2005). Während Europäisierungsstudien gemeinhin die Einflussrichtung von „oben“
nach „unten“ in den Mittelpunkt stellen, nehmen MLG-Vertreter das EU-System als Ganzes in den
Blick, das die politischen Akteure und Institutionen der Mitgliedsstaaten einschließt (vgl. Piattoni
2010: 99ff). Das Erkenntnisinteresse der beiden Forschungsrichtungen ist also nicht deckungsgleich,
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
16
wohl aber im Großen und Ganzen miteinander kompatibel. Während definitorisch klar zwischen bei-
den Anliegen getrennt werden kann, sind die Übergänge zwischen beiden in der empirischen For-
schung fließend. So ist die Untersuchung der Mobilisierung subnationaler politischer Akteure, wie sie
etwa Piattoni (2010) in ihrer aktuellen Monographie in Form von Sekundäranalysen vornimmt, prin-
zipiell auch unter dem Begriff der Europäisierung denkbar. Als MLG-Studie zielt sie allerdings schluss-
endlich auf eine Beschreibung des EU-Gesamtsystems und nicht auf die Anpassung nationaler Syste-
me.8
2.1.2.2 Neuere Kritik und Probleme der Europäisierungsforschung
In den vergangenen Jahren haben mehrere Autoren Bestandsaufnahmen der Europäisierungsfor-
schung gemacht und Zwischenbilanzen gezogen. Konstatiert wurde häufig, dass es noch kaum gesi-
chertes Wissen über die Mechanismen der Europäisierung gibt (vgl. Auel 2005, Radaelli 2004, Raunio
2009, Vink/Graziano 2007). Einige Forscher werfen ihren Kollegen vor, politischen Wandel in Natio-
nalstaaten vorschnell als Auswirkung der EU-Mitgliedschaft zu deklarieren, ohne alternative Gründe
eingehend zu prüfen: „[T]he pitfall in Europeanisation literature has often been the habit to attribute
change too easily to Europe and to neglect alternative explanatory variables.“ (Raunio 2009: 328)
Radaelli (2004) sowie Radaelli und Pasquier (2007) schlagen daher vor, europäische Impulse nur als
eine von mehreren möglichen Ursachen, darunter Globalisierung oder auch binnenstaatliche Fakto-
ren, für Anpassungsreaktionen zu konzipieren. Durch Techniken wie „process tracing“ oder kontra-
faktisches Denken9 soll die genaue Ursache ermittelt werden. Radaelli und Pasquier (2007) führen
dafür ein Forschungsdesign ein, das nicht a priori von Einflüssen der EU als unabhängige Variable
ausgeht, sondern Akteure, Ressourcen und Diskurse auf der nationalen Ebene zum Ausgang nimmt –
und ebendort auch endet. So soll verhindert werden, dass die Wirkung der EU auf nationale politi-
sche Systeme überschätzt wird. Die Autoren wählen für diesen Ansatz die etwas unglückliche Be-
zeichnung „bottom up approach“, der leicht zu Verwechslungen mit Integrationstheorien führen
8 Insofern kehrt Piattoni letztlich zu einer ontologischen Fragestellung zurück, obwohl das ursprünglich „post-
ontologische“ Anliegen vieler MLG-Vertreter, die die Frage nach dem Wesen der EU beiseiteschoben, um sich
ihrer tatsächlichen Funktionsweise und den täglichen Entscheidungsprozessen zu widmen, anderes vermuten
lässt (vgl. Piattoni 2010: 20ff). Diese Rückkehr wird in Piattonis Einschätzung der theoretischen, empirischen
und normativen Reichweite des MLG-Ansatzes deutlich: „MLG is one of the new narratives that tries to
conceptualize the possibility of a world in which nation-states are no longer sovereign.” (Piattoni 2010: 183) 9 Mit „process tracing“ ist ein deduktives Vorgehen gemeint, bei dem im ersten Schritt Implikationen aus einer
Theorie abgeleitet werden (Haverland 2007: 62f). Es wird also zunächst gefolgert, welche Indikatoren wie und
wann auftreten sollten, wenn davon auszugehen ist, dass die Theorie richtig ist. Anschließend werden diese
Erwartungen mit den empirischen Beobachtungen aus der Fallstudie verglichen. Kontrafaktisches Denken ist
eine Methode, mit der kontrolliert werden kann, ob ein Prozess tatsächlich von einem anderen beeinflusst ist
(Radaelli 2004: 9). Dazu stellt sich der Forscher die Frage, was passiert wäre, wenn die angenommene Ursache
der Beobachtung nicht existent gewesen wäre. Bezogen auf eine Europäisierungsstudie könnte die Frage etwa
lauten: Hätte die BRD beschlossen, ihre CO2-Emissionen bis 2020 um 40 % zu senken, wenn der Europäische
Rat die Energiestrategie im Jahr 2007 nicht verabschiedet hätte? Damit diese Methode nicht in wilde Spekula-
tion ausartet, müssen allerdings einige Regeln beachtet werden (vgl. Haverland 2007: 63).
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
17
kann. Radaelli und Pasquier wollen mit ihrem Vorgehen die Akteursqualität der Staaten beziehungs-
weise ihrer politischen Akteure unterstreichen, die ihrer Meinung nach in der Europäisierungslitera-
tur allzu oft als passive Objekte dargestellt werden, obwohl sie durchaus auch aktiv von neuen Op-
portunitätsstrukturen Gebrauch machen (vgl. Jacquot/Woll 2003). Die Autoren betonen denn auch,
dass Europäisierung in ihrem Modell als Explanandum zu behandeln sei und nicht als Explanans. Sie
grenzen sich so vom „goodness-of-fit“-Ansatz ab, in dem Europäisierung als Explanans gesetzt ist,
womit empirisch nicht ausreichend belegte Aussagen über die Wirkung der EU bereits im Konzept
angelegt seien. Insgesamt mahnen Radaelli und Pasquier (2007) wie auch Lodge (2006) und Haver-
land (2007) mehr begriffliche und konzeptionelle Klarheit und Eindeutigkeit an.
Bezogen auf das gesamte Forschungsfeld beklagt Knill (2009) ein „over-stretching“ des Kon-
zepts. Abhilfe ist möglich, indem Phänomene, die mit enger gefassten Konzepten erfasst werden
können wie etwa horizontale Politiktransfers, nicht unter dem Titel „Europäisierung“ thematisiert
werden. Zudem sei noch immer unklar, unter welchen Bedingungen welche Variablen und Mecha-
nismen relevant sind. Erkenntnisinteresse und zugrundeliegende Annahmen sollten daher stets ge-
nau benannt, die Hypothesen gut begründet werden. Dies gilt generell für alle Schritte der Operatio-
nalisierung eines Europäisierungskonzeptes. Unabdingbar ist also Klarheit über die unabhängige und
die abhängige Variable.
Ist man sich der Gefahren eines unklaren Europäisierungsbegriffs und des „concept-
stretching“ bewusst, kann die Vielfalt des Forschungsgebiets durchaus als Vorteil betrachtet werden.
Europäisierungsansätze liefern keine einfachen Erklärungen, sondern müssen dem jeweiligen Unter-
suchungsgegenstand angepasst werden (vgl. Axt et al. 2007: 146). Radaelli (2004: 16) betrachtet Eu-
ropäisierung als Konzept daher nicht als „Lösung”, sondern als ein herausforderndes, aufregendes
„Problem“. Eine der größten methodologischen Herausforderung sieht er darin, handelnde Akteure
in die Erklärungen plausibel einzubinden (vgl. Radaelli 2004: 15).
2.1.3 Die nationalen Parlamente in der EU: Theorie und Forschungsstand
Die Parlamentsfraktionen der Mitgliedsstaaten wurden von der Europäisierungsforschung bislang
nicht thematisiert. Die Parlamente als Gesamtinstitutionen dagegen gehören zu den am intensivsten
untersuchten Gegenständen der Disziplin. Der folgende Überblick fasst die zentralen Fragestellungen
und Erkenntnisse zusammen, da die Parlamente das primäre Handlungsfeld der Fraktionen bilden.
2.1.3.1 Die Bedeutung der nationalen Parlamente für das politische System der EU
Während die Regierungen der Mitgliedsstaaten über den Rat und seine Arbeitsgruppen zentrale Ent-
scheider auf der EU-Ebene sind, haben die nationalen Parlamente der Mitgliedsstaaten keine Vertre-
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
18
tung in den EU-Organen und somit auf der europäischen Ebene kein Mitspracherecht10,11. Dennoch
erfüllen sie wichtige Aufgaben für das politische System der EU (vgl. Maurer 2001). Als „letztes Glied“
in der Kette des Politikprozesses der EU verwandeln sie europäische Rechtsakte in gültiges nationales
Recht. Sie ratifizieren Verträge und legitimieren so die „großen“ Integrationsschritte. Zur Legitimati-
on trägt auch ihre Öffentlichkeitsfunktion bei (vgl. Benz/Broschek 2010): Durch Debatten über euro-
päische Vorhaben und Entscheidungen stellen sie im nationalen Raum Öffentlichkeit her – wenn
auch beschränkt, da EU-Politik in nationalen Wahlkämpfen kaum eine Rolle spielt – und ergänzen so
die Öffentlichkeitsfunktion des Europäischen Parlaments (EP), das angesichts eines schwach ausge-
prägten europäischen „Demos“ diese Funktion nur unzureichend erfüllen kann. Eine wesentliche
Aufgabe jedes mitgliedsstaatlichen Parlaments ist außerdem die Kontrolle der eigenen Regierung, die
in EU-Angelegenheiten ebenso wie in rein nationalen Angelegenheiten dem Parlament verantwort-
lich ist.
Diese parlamentarische Kontrolle, die ex ante oder ex post geschehen kann (vgl.
Benz/Broschek 2010), ist nicht nur für die nationalen politischen Systeme von Bedeutung, sondern
auch für das politische Mehrebenensystem der EU. Die hervorgehobene Stellung des Rates und die
lange Zeit nachgeordnete Position des EP haben in akademischen wie in politischen Kreisen eine
Diskussion über die demokratische Legitimation der EU entfacht. Unter dem Schlagwort des „demo-
kratischen Defizits“ wird es seit den 1990er Jahren unter unterschiedlichen theoretischen Standpunk-
ten diskutiert (vgl. Benz/Broschek 2010, Follesdal/Hix 2005, Janowski 2005, Raunio 2009). Während
einige Autoren wie etwa Moravcsik (2002) und Majone (2000) aufgrund der Klassifizierung der EU als
intergouvernementales Kooperationssystem beziehungsweise der Dominanz regulatorischer Politi-
ken mit Pareto-effizienten Outcomes die Existenz eines solchen Defizits verneinen, setzen sich ande-
re mit den Chancen einer Überwindung dieser Defizite auseinander (etwa Abels 2009, Scharpf 2009,
Winter 2004). Die Beschäftigung mit nationalen Parlamenten in der EU wird häufig mit einem, wie
auch immer ausgeprägten, Legitimationsproblem der EU begründet (vgl. Maurer 2001: 49). Ver-
schärft wurde das Problem durch die Ausweitung des qualifizierten Mehrheitsentscheides (vgl. Han-
sen/Scholl 2002: 3). Dadurch sei, so Maurer (2001), ein doppeltes demokratisches Defizit entstanden
(vgl. Weßels 2003). Während dessen eine Seite durch die Ausweitung der Kompetenzen des EP besei-
tigt oder zumindest reduziert wird, bezieht sich die andere Seite auf die Rolle der nationalen Parla-
mente.
10
Dies war nicht immer so: Bis zur Einführung der Direktwahl des EP bestand es aus Delegierten der nationalen
Parlamente. Es hatte zu dieser Zeit allerdings nur geringe Mitspracherechte (vgl. Sturm/Pehle 2005: 59ff). 11
Die COSAC, die Konferenz der Ausschüsse für Gemeinschafts- und Europa-Angelegenheiten der Parlamente
der Europäischen Union, ist seit dem Vertrag von Amsterdam zwar offiziell als Vertretung der nationalen Par-
lamente anerkannt, sie kann den rechtsetzenden EU-Organen allerdings lediglich Vorschläge machen oder ihre
Position darlegen, was jeweils ohne Rechtswirkung ist. Sie fungiert hauptsächlich als Diskussionsforum der
nationalen Parlamente, was im Einzelfall zu Lernprozessen im Sinne einer „best practice“ führen kann (vgl.
Raunio 2009: 323).
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
19
Über die wissenschaftliche Debatte hinaus hat die Frage der demokratischen Legitimation
der EU politische Brisanz gewonnen – nicht zuletzt, da sie von integrationsskeptischen bis integrati-
onsfeindlichen Parteien in Europawahlen teils auf populistische Weise thematisiert wird. Dieses
Problembewusstsein hat sich seit Beginn der 1990er Jahre auch in den Verträgen niedergeschlagen
(vgl. Maurer 2001: 52ff). Erstmals werden die Parlamente der Mitgliedsstaaten im Vertrag von
Maastricht12 genannt. Darin werden die Regierungen in Protokoll Nr. 13 aufgefordert, ihren Parla-
menten die Vorschläge der Kommission rechtzeitig – das heißt lange genug vor der Beschlussfassung
im Rat – zukommen zu lassen, damit sie diese überprüfen können. Weitergehende und erstmals
rechtlich bindende Bestimmungen enthält Protokoll Nr. 9 des Vertrags von Amsterdam13. Demnach
muss jede nationale Regierung ihrem Parlament sechs Wochen vor der Befassung des Rates Unterla-
gen zu Gesetzesvorhaben der Kommission sowie Grün- und Weißbücher zuleiten.14 Auch der Konvent
zum Verfassungsvertrag, in dem zahlreiche nationale Parlamentarier vertreten waren, beschäftigte
sich mit der Frage einer stärkeren Einbindung der mitgliedsstaatlichen Parlamente. Die Erklärung von
Laeken zur Zukunft der Europäischen Union15 enthält dazu verschiedene Optionen, darunter die Ein-
richtung eines neuen EU-Organs, das die Parlamente repräsentiert (vgl. Maurer 2002). Verwirklicht
wurde letztlich ihre Einbeziehung in die Subsidiaritätsprüfung. Nach den Regelungen im Vertrag von
Lissabon16, in dem die nationalen Parlamente erstmals im eigentlichen Vertragstext erwähnt werden,
kann ein Drittel der nationalen Parlamente eine Subsidiaritätsrüge aussprechen und so die Kommis-
sion zu einer Überprüfung der Subsidiarität der Vorlage zwingen. Weiterhin können nationale Parla-
mente beim Europäischen Gerichtshof Klage einreichen, wenn sie einen konkreten Verstoß sehen
(Beichelt 2009: 258f, Benz/Broschek 2010: 6f). Darüber hinaus erhalten sie mit dem Lissabon-Vertrag
ein Vetorecht im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren. Jedes einzelne Parlament kann sein
Veto einlegen, wenn der Europäische Rat beschließt, künftig in einem Politikbereich mit qualifizierter
Mehrheit zu entscheiden oder das ordentliche Gesetzgebungsverfahren anstelle eines besonderen
Verfahrens anzuwenden.
Die zunehmende Thematisierung der nationalen Parlamente als „Wächter der Subsidiarität“
zeigt, dass ihnen in Bezug auf das Mehrebenensystem der EU eine Funktion in der Sicherstellung der
demokratischen Legitimation zugeschrieben wird. In diesem Sinne kann von einer dualen Legitimati-
on der EU gesprochen werden (Benz 2004: 875), die in einem System des „Mehrebenenparlamenta-
12
Amtsblatt der Europäischen Union Nr. C 191 vom 29.07.1992. 13
Amtsblatt der Europäischen Union Nr. C 340 vom 10.11.1997. 14
Seit 2006 leitet die Kommission gemäß der sogenannten „Barroso-Initiative“ den nationalen Parlamenten
ihre Vorschläge und Konsultationspapiere direkt zu. Die Parlamente sind aufgefordert, Stellung zu den Vorha-
ben zu beziehen, was sie bislang in sehr unterschiedlichem Ausmaß tun (Euractiv 2009). Über die elektronische
Plattform IPEX können sie zudem ständig auf alle zugeleiteten Dokumente zugreifen. 15
Anlage I zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Laeken am 14.-15.12.2001,
http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressdata/de/ec/68829.pdf. 16
Amtsblatt der Europäischen Union Nr. 83 vom 30.03.2010.
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
20
rismus“ (Maurer 2002) über zwei direkte Legitimationsketten verläuft: zum einen über die direkt
gewählten nationalen Parlamenten, über die das Handeln der nationalen Exekutiven im Rat legiti-
miert wird, zum anderen über das ebenfalls direkt gewählte EP.17 Die Bedeutung der nationalen Par-
lamente ist aus demokratietheoretischer Sicht auch deshalb wichtig, weil durch sie die parlamentari-
schen Oppositionen am europäischen Policymaking beteiligt werden (vgl. Holzhacker 2007: 144) – ein
Grund mehr, sich im Detail auch mit ihren Fraktionen zu befassen.
2.1.3.2 Nationale Parlamente im Integrationsprozess: Ergebnisse der Europäisierungsforschung
Als Legislative der Mitgliedsstaaten sind die nationalen Parlamente durch die europäische Integration
in ihrem legislativem Spielraum eingeschränkt (vgl. Töller 2004). In allen vergemeinschafteten Poli-
tikbereichen stehen sie mit der Umsetzung europäischen Rechts ganz am Ende des Politikprozesses.18
In weiteren Bereichen ist der Spielraum der nationalen Verregelung durch europäische Vorgaben
eingeschränkt. So dürfen etwa nationale Gesetze im Bereich der Wirtschafts- oder Ordnungspolitik
nicht gegen die Bestimmungen des europäischen Binnenmarktes verstoßen.19 Da die Regierungen
der Mitgliedsstaaten als Teil der europäischen Legislative Aufgaben übernommen haben, die zuvor
den Parlamenten vorbehalten waren, und da sie bei der EU-Gesetzgebung in einer Sphäre agieren,
die den herkömmlichen Raum der parlamentarischen Kontrolle übersteigt, werden die Parlamente
der Mitgliedsstaaten von vielen Politologen als Verlierer der europäischen Integration betrachtet
(vgl. Benz/Broschek 2010, Börzel 2000, Follesdal/Hix 2005: 4f, Holzhacker 2007, Ladrech 2009, Mau-
rer 2001, Töller 2004). Zwar wäre es verfehlt, die nationalen Parlamente als wehrlose Opfer der In-
tegration zu betrachten, haben sie dem Transfer ihrer Rechtsetzungszuständigkeiten doch formal
zugestimmt (vgl. Maurer 2002: 26, vgl. Raunio/Hix 2000: 144f, Töller 2004: 34f). Daraus zu schließen,
dass die Folgen dieser wiederholten Zustimmung daher völlig unproblematisch seien und eine The-
matisierung der Problematik nicht gerechtfertigt, wäre allerdings ebenso verfehlt.
Ob es durch den Integrationsprozess in allen Mitgliedsländern zu einer Deparlamentarisie-
rung gekommen ist oder eine bereits vorhandene Deparlamentarisierungstendenz verstärkt wurde,
ist in der Fachliteratur umstritten (vgl. Goetz/Meyer-Sahling 2008). Als gesichert kann hingegen gel-
ten, dass der Integrationsprozess, obgleich alle Parlamente mittlerweile mit Anpassungen darauf
17
Ähnlich hat auch das Bundesverfassungsgericht wiederholt argumentiert. Im Jahr 1993 urteilte es, ungeach-
tet der Mitspracherechte des EP müsse die demokratische Legitimation der EU durch die nationalen Parlamen-
te sichergestellt werden, da sie die Völker der Mitgliedsstaaten repräsentierten (vgl. Auel 2006b: 252). Eine
vergleichbare Argumentation taucht auch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Ratifikation des Lissa-
bon-Vertrags vom Juni 2009 wieder auf (vgl. Kapitel 1, Bundesverfassungsgericht 2009). Auch der Lissabonvert-
rag nennt in Art. 10 Abs. 2 diese beiden Legitimationsketten. 18
Insofern werden die nationalen Parlamente in Bezug auf die EU-Politik ihrer jeweiligen Regierung zu externen
Vetospielern, die das Agendasetting nicht beeinflussen können, wohl aber europäische Policys (theoretisch) mit
einem indirekten Veto belegen können (Auel/Benz 2005: 378f, Benz 2004). 19
Hintergrund ist das Prinzip des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, das der Europäische Gerichtshof im Jahr
1964 in seinem Urteil im Fall Costa/ENEL formuliert hat (Tömmel 2008: 81).
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
21
reagiert haben, nicht zu einer Konvergenz zwischen ihnen geführt hat (vgl. Auel 2006a, Goetz/Meyer-
Sahling 2008). Einigkeit besteht weitgehend auch darin, dass das Verhältnis zwischen den nationalen
Exekutiven und den nationalen Parlamenten in den folgenden vier Aspekten berührt ist (vgl. Rau-
nio/Hix 2000: 152ff): Ein immer größerer Teil der nationalen Rechtsakte ist europäischen Ursprungs.
Dadurch wurde die Dominanz der nationalen Exekutiven in ihrem politischen System gestärkt, da
diese den Ministerrat und den Europäischen Rat bilden. Auch hat dementsprechend die Arbeitslast
der nationalen Parlamente zugenommen. Als nationale Legislative sind sie für die Kontrolle der nati-
onalen Regierungen auch in EU-Angelegenheiten zuständig. Diese Kontrolle durchführen zu können,
erfordert zusätzliche Anstrengungen der Parlamente, deren Arbeit primär auf die nationale Gesetz-
gebung ausgerichtet ist. Sich über europäische Politik zu informieren ist daher aufwändig, aber un-
verzichtbar (vgl. Raunio/Hix 2000: 153). Um der gewachsenen Dominanz der mitgliedsstaatlichen
Regierungen im gesamten europäischen Politikprozess etwas entgegenzusetzen, haben die nationa-
len Parlamente spezielle Ausschüsse für EU-Angelegenheiten gegründet (vgl. Raunio 2009: 317).20
Ihre Hauptaufgabe liegt in der Koordination der parlamentarischen Kontrolle der EU-Politik der Exe-
kutive. Über sie versuchen die Parlamente, die nationale Willensbildung bei einzelnen EU-Vorhaben
zu kontrollieren und zu beeinflussen. Mit welchen formalen Rechten und faktischen Möglichkeiten
die Ausschüsse im Einzelnen ausgestattet sind und wie ihr Verhältnis zum Plenum ist, ist dabei von
Mitgliedsland zu Mitgliedsland unterschiedlich (vgl. Janowski 2005). So erteilt etwa der dänische „Eu-
ropaudvalget“ der Regierung regelmäßig Mandate für die Verhandlungen im Rat, ohne dafür eine
rechtlich verbriefte Kompetenz zu besitzen, der österreichische Hauptausschuss nutzt ein entspre-
chendes Recht praktisch nicht, der deutsche EU-Ausschuss (EUA) kann Stellungnahmen gegenüber
der Regierung nur erarbeiten, beschließen muss sie das Bundestagsplenum (vgl. Kapitel 3.2). Die
zentrale Antriebskraft für die Einrichtung eines EUA war überall das geteilte Interesse der Abgeord-
neten an Information (Raunio/Hix 2000: 162).
Den EU-Ausschüssen gilt bislang das zentrale Interesse der Studien zur Europäisierung der
nationalen Parlamente. Sie spielen eine wichtige Rolle für die Fähigkeit eines Parlaments, einerseits
seine europapolitischen Interessen in den Politikprozess einzubringen und andererseits europäische
Politiken umsetzen zu können. Beides lässt sich unter dem Oberbegriff „Europafähigkeit“ zusammen-
fassen (vgl. Schächtelin 2009: 156f). Ein Großteil der Analysen ist bei der expliziten Nennung theore-
tischer Annahmen und Hypothesen sehr zurückhaltend und eher deskriptiven Charakters (vgl.
20
Benz (2004) beschreibt ein Dilemma, vor dem die Parlamente bei der Kontrolle ihrer Regierung in der EU-
Politik stehen: Insbesondere seit der Erweiterung von 2004 und der Ausweitung der qualifizierten Mehrheits-
entscheidung hängt der Einfluss einzelner Regierungen im Rat „mehr von Verhandlungsstrategien als von ihrem
Beharren auf einer festgelegten Position ab“ (Benz/Broschek 2010: 3). Selbst Parlamente, die an einer weitge-
henden Mitwirkung interessiert sind, müssen sich daher des Flexibilitätsbedarfs ihrer Regierung bewusst sein
und sehen sich dem Widerstreit weitgehender parlamentarischer Partizipation und der Gefährdung nationaler
Interessen gegenüber.
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
22
Goetz/Meyer-Sahling 2008). Vergleichende Studien versuchen, Unterschiede in der Ausstattung mit
Kompetenzen und Ressourcen sowie im tatsächlichen Einfluss zu erklären (Benz 2004, Hansen/Scholl
2002, Janowski 2005, Maurer/Wessels 2001, Raunio 2005). Dabei wird die Pfadabhängigkeit der je-
weiligen institutionellen Entwicklung betont. Als erklärende Variablen werden die innerstaatliche
Kompetenzverteilung, Interaktionsformen und Beziehungsmuster zwischen Exekutive und Legislative
sowie die öffentliche Meinung zur Integration angeführt.21 Insgesamt wird konstatiert, dass bislang
relativ wenig über die Mechanismen und Dynamiken der Europäisierung nationaler Parlamente als
bekannt und unumstritten betrachtet werden kann (vgl. Auel 2005: 309, Goetz/Meyer-Sahling 2008:
4).22
Die Effektivität parlamentarischer Kontrolle hängt nicht nur von der rechtlichen Kompetenz-
verteilung ab, sondern auch davon, wann, wie und in welchem Umfang die Regierung das Parlament
unterrichtet, welches Interesse die Abgeordneten daran haben, europapolitische Standpunkte zu
formulieren, und welche Routinen sie entwickeln, um ihre formalen Möglichkeiten effektiv zu nutzen
(vgl. Maurer 2002: 26). Um ein umfassendes Bild der Europäisierung eines nationalen Parlamentes zu
erhalten, ist es daher sinnvoll und hilfreich, dieses nicht nur als eine Einheit zu betrachten, sondern
auch die Tätigkeiten und Strategien der Fraktionen als wesentliche Arbeitseinheiten eines Parlamen-
tes zu untersuchen. Solche Studien fehlen bislang. Mit ihnen würde auch der Forderung nach einer
stärkeren Berücksichtigung von Akteuren und Handlung in Europäisierungsansätzen Rechnung getra-
gen (vgl. Radaelli 2004: 15). So konstatiert auch Raunio (2009) hinsichtlich der nationalen Parla-
mente: „There is […] a demand for more theory-driven analyses of actual behaviour that extend be-
yond describing formal procedures and organisational choices.” (2009; 318, vgl. Auel 2006b, Holzha-
cker 2007: 151, Töller 2004: 50) Genau dies ist bezogen auf die Bundestagsfraktion der Grünen das
Anliegen der folgenden Kapitel.
2.2 Fraktionen und Europäisierung: Entwicklung eines Theorieansatzes
Die beschriebenen theoretischen und empirischen Kenntnisse der Europäisierung bilden den Hinter-
grund für die Formulierung von Hypothesen über die Europäisierung der Bundestagsfraktionen. Es
stellt sich die Frage, weshalb überhaupt davon auszugehen ist, dass Fraktionen Europäisierungs-
schritte unternehmen. Im Folgenden werden sie zunächst als institutionell geprägte und anpassungs-
fähige Akteure charakterisiert. Es wird zweitens argumentiert, dass als Europäisierungsmechanismus
weder rationalistische Anreize für ihre Mitglieder, noch Anpassungsdruck im Sinne des „goodness-of-
fit“-Ansatzes nach Börzel und Risse (2003) in Frage kommen. Stattdessen wird drittens gezeigt, dass
21
So unterscheidet etwa Benz (2004) verschiedene Voice-Strategien nationaler Parlamente, die sich nach dem
jeweiligen institutionalisierten Verhältnis zwischen Regierung und Parlament richten. 22
So urteilt etwa Raunio: „Most of the existing literature has emphasized institutional adaptation by domestic
legislatures. To make matters worse, much of this research has consisted of little more than descriptions of the
various scrutiny arrangements.” (Raunio 2009: 321)
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
23
Fraktionen indirekten Auswirkungen der EU ausgesetzt sind. Um in ihrer Umwelt handlungsfähig zu
bleiben, müssen sie sich anpassen. Aus dem in diesen Argumentationsschritten aufgebauten institu-
tionalistischen Europäisierungsansatz für Bundestagsfraktionen werden in Abschnitt 2.2.3 Hypothe-
sen abgeleitet. In welchen Dimensionen der Europäisierung empirische Untersuchungsergebnisse
erwartet werden, wird in Kapitel 2.2.4 erläutert.
2.2.1 Fraktionen als institutionell geprägte und anpassungsfähige Akteure
Das Handeln der Fraktionen ist von ihrer Umwelt, primär dem parlamentarischen Regierungssystem,
institutionell bedingt. Institutionen sind, so die Grundidee neoinstitutionalistischer Ansätze, Mittel
und Muster der Interdependenzbewältigung (vgl. Schimank 2007: 161). Sie regeln das Handeln in
einer sozialen Welt, in der Menschen in ihrem gesamten Tun in zahlreichen wechselseitigen Abhän-
gigkeitsverhältnissen zueinander stehen. Institutionen setzen dem Handeln Grenzen (Constraints)
und eröffnen zugleich Handlungsspielraum. Aus Sicht der rationalistischen Spielarten des Neoinstitu-
tionalismus handeln Akteure zweckrational nach einer Kosten-Nutzen-Rechnung. Ihr Handeln folgt
einer Logik der Konsequentialität, ist also stets an rationalen Handlungszielen orientiert. Diese Ziele
werden innerhalb eines institutionellen Rahmens verfolgt, der eine einmal getroffene gesellschaftli-
che Übereinkunft über zulässige und unzulässige Handlungsoptionen – oft mit Sanktionen bewehrt –
konserviert (Hall/Taylor 1996: 13). Soziologische Institutionalismen dagegen sehen das Handeln von
Akteuren von einer Logik der Angemessenheit geleitet. In einer überkomplexen, von zahlreichen In-
terdependenzen und potentiellen Handlungsmöglichkeiten geprägten Welt benötigen Akteure dem-
nach eine Orientierungshilfe in zentralen Fragen (vgl. Schimank 2007: 164f): Welche Ziele sollen sie
anstreben und wie sollen sie dabei vorgehen? Institutionen bieten ihnen einen Rahmen etwa in Form
von Normen, an denen sie ihr Handeln ausrichten. Der Akteur klopft seine Handlungsabsichten also
bewusst oder unbewusst darauf ab, ob sie den Normen, die er als gültig erlernt hat, angemessen
sind. Während rationalistische Institutionalismen also Interessen in den Vordergrund rücken, beto-
nen soziologische Institutionalismen die generelle Lernfähigkeit von Akteuren.
Viele neoinstitutionalistische Erklärungsansätze, gerade auch in der Europäisierungsfor-
schung, greifen sowohl auf rationalistische als auch auf soziologische Hypothesen zurück, sehr pro-
minent etwa der Misfit-Ansatz von Börzel und Risse (2003). Der Ansatz der genannten Autoren ba-
siert auf der Annahme, dass die beiden Handlungslogiken einander nicht ausschließen (Börzel/Risse
2003: 59, vgl. Hix/Goetz 2000: 18, Vink/Graziano 2007: 13). Solche Ansätze folgen der Annahme, dass
Erklärungen, die rein auf rationalistischen Kosten-Nutzen-Kalkulationen beruhen, zu funktionalistisch
sind. Erklärungen, die nur auf die Logik der Angemessenheit setzen, laufen ihrerseits Gefahr, dem
Vorwurf der Ignoranz „harter“ Interessen ausgesetzt zu werden. Generell sollten auch institutionalis-
tische Erklärungen so komplex wie nötig und so einfach wie möglich gehalten sein. Indes können
soziologische Hypothesen einen wichtigen Nexus zwischen eher funktionalen Handlungsannahmen
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
24
und dem beobachtbaren zeitlichen Rahmen herstellen, können also beispielsweise erklären, warum
theoretisch zu erwartende Folgen zeitlich verzögert – oder gar nicht – eintreten.
Inwiefern die Bundestagsfraktionen in ihrem Handeln institutionell geprägt sind, wird im
Folgenden anhand ihrer Funktionen im Parlament erläutert. Als „Bruchteile“ des Parlaments – von
lateinisch „frangere“, brechen (Eilfort 2003: 556), – nehmen die Bundestagsfraktionen generell alle
Parlamentsfunktionen wahr, was weder der einzelne Abgeordnete noch der Bundestag als Ganzes
leisten kann (vgl. Schüttemeyer 1998). Der Bundestag wird daher häufig auch als „Fraktionenparla-
ment“ bezeichnet (vgl. Ismayr 2000: 441ff, von Oertzen 2006: 274f). Dennoch sind Fraktions- und
Parlamentsfunktionen nicht gleichzusetzen, da die Fraktionen auch interne Funktionen für ihre Mit-
glieder sowie für ihre Partei wahrnehmen (vgl. Benz/Broschek 2010, Kranenpohl 1999: 33ff). Nach
Kranenpohl (1999: 33ff) können daher drei Gruppen von Funktionen unterschieden werden, die Frak-
tionen wahrnehmen: Funktionen, die die effektive Tätigkeit des Parlaments sicherstellen, Funktionen
der Parteien sowie auf die Binnenorganisation der Fraktion und die Mitglieder bezogene Funktionen.
Da im Folgenden Fraktionen als Teil des Bundestages betrachtet werden und untersucht werden soll,
wie sich Veränderungen im Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesregierung und im Handlungs-
feld der Bundestagsfraktionen als Folge der europäischen Integration auf die Fraktionen auswirken,
werden hier die parlamentarischen und die Binnenorganisation-Funktionen herausgegriffen. Sie re-
geln das Fraktionshandeln, indem sie ihm institutionelle Grenzen setzen. Den Funktionen werden in
der nachstehenden Abhandlung jeweils Tätigkeiten und Aufgaben zugeordnet, denen die Fraktionen
im parlamentarischen Alltag nachgehen.23
In Bezug auf ihre Binnenorganisation sind Fraktionen dafür zuständig, den internen Zusam-
menhalt ihrer Mitglieder sicherzustellen. Sie sorgen dafür, dass ihre Mitglieder als Teil einer Einheit
handeln, die nach außen kohärent auftritt (vgl. Kranenpohl 1999: 36f). Dazu dient eine interne Ar-
beitsteilung. Jedes Fraktionsmitglied deckt nur einen Teilbereich der politischen Themen ab, die für
seine Fraktion im parlamentarischen Alltag relevant sind. In allen anderen Bereichen greift das ein-
zelne Mitglied auf die gemeinsame Position der Fraktion zurück. Jedes MdB muss sich in vielen Ge-
bieten auf die Expertise und Beschlüsse seiner Fraktion verlassen. Andererseits verstärkt der Rück-
halt in der Fraktion seine Gestaltungsmöglichkeit auf seinem Fachgebiet (vgl. Kranenpohl 1999: 193).
Der Fraktion kommt die Aufgabe zu, diese gemeinsame Position in einem geordneten Verfahren her-
zustellen, indem sie Koordinierungspraktiken entwickelt und aufrechterhält.
23
Während diese Zuordnung hier erstmals erfolgt, wird bei der Nennung der Parlamentsfunktionen auf Stan-
dardwerke über den Bundestag und das politische System der BRD zurückgegriffen (von Beyme 2004, Ismayr
2000, Korte/Fröhlich 2004). Die Wahlfunktion des Bundestages wird hier nicht berücksichtigt, da sie in der
Regel nur zu Beginn einer Wahlperiode zum Tragen kommt und das alltägliche Handeln von Fraktionen nicht in
dem Maße prägt, wie dies die anderen Bundestagsfunktionen tun.
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
25
Indem Fraktionen als Handlungseinheiten des Parlaments politische Positionen erarbeiten
und vertreten und in parlamentarische Debatten und Aushandlungsprozesse einbringen, wirken sie
an der Repräsentationsfunktion des Bundestages mit. Sie artikulieren Ansichten und Präferenzen, die
im Wahlvolk vorhanden sind und so über verschiedene Fraktionen in den parlamentarischen Prozess
übermittelt werden. Über die Oppositionsfraktionen sind im Bundestag auch politische Positionen
repräsentiert, die nicht in der Regierung vertreten sind. Konkret erfolgt die Mitwirkung im Sinne der
Repräsentationsfunktion beispielsweise durch das Einbringen von Anträgen. Als Kulmination der re-
präsentativen Tätigkeit kann die Beteiligung an Abstimmungen über Gesetzesvorlagen betrachtet
werden. Dadurch tragen die Fraktionen zur Gesetzgebungsfunktion des Bundestages bei. Zudem
üben alle Fraktionen mehr oder minder intensiv und sichtbar in Bundestagsdebatten und in der Aus-
schussarbeit die Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Bundesregierung aus, wobei diese
im öffentlich zugänglichen und wahrnehmbaren Bereich der parlamentarischen Arbeit vor allem für
die Oppositionsfraktionen von großer Bedeutung ist. Kleine und Große Anfragen sind Beispiele für
die zur Verfügung stehenden Kontrollinstrumente. Durch die Kontrollfunktion des Parlaments soll
sichergestellt werden, dass das Handeln der Exekutive dem Mehrheitswillen folgt und öffentlich
nachvollziehbar ist.
Alle Aktivitäten der Fraktionen sind durch ihre institutionellen Funktionen bedingt. Die Erfül-
lung der Parlaments- und Binnenfunktionen erfordert von den Fraktionen, Informationen aus ihrer
Umwelt einzuholen, zu sortieren und zu bewerten; sie müssen Sachkenntnis in den verschiedenen
Politikbereichen aufbauen und sie müssen die Tätigkeiten ihrer Mitglieder miteinander koordinieren.
Nur so können sie ihre Binnenorganisation sicherstellen und parlamentarisch tätig werden.
Von einer Anpassungsfähigkeit der Bundestagsfraktionen als institutionell geprägte Gebilde
an ihre Umwelt ist grundsätzlich auszugehen. Ebenso wie Parteien können auch Fraktionen, die „Par-
teien im Parlament“ (Kranenpohl 1999: 357), als Organisationen betrachtet werden.24 Bei einer Or-
ganisation handelt es sich um eine Form der geregelten Kooperation, die auf einer Zweck-Mittel-
Beziehung beruht. Der „Sinn“ der Organisation liegt also in der Zielverfolgung.25 Insofern ist davon
auszugehen, dass Fraktionen als in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt stehende Organisationen auf
Veränderungen ihrer Umwelt reagieren, wenn diese die Erreichung ihrer Ziele oder die Erfüllung ih-
rer Aufgaben tangieren (vgl. Ladrech 2002: 400). Aus neoinstitutionalistischer Sicht sind Organisatio-
nen dabei als grundsätzlich konservativ zu betrachten, sodass grundlegende Reformen infolge von
24
Definitorisch kennzeichnend für Organisationen im Unterschied zum weiteren Begriff der Institutionen sind
die bewusste Strukturierung um ein oder mehrere Ziele, die Existenz einer formalen Struktur und eine klare
Unterscheidung zwischen innen und außen beziehungsweise Mitglied und Nichtmitglied (Bukow 2009, vgl.
Bea/Göbel 2002: 4f). 25
Als primäres Organisationsziel politischer Parteien wird in der einschlägigen Literatur üblicherweise das Er-
langen politischer Macht, genauer: einer Regierungsbeteiligung genannt (vgl. Schmidt 2007: 85, Wiesendahl
1998). Für die vorliegende Arbeit sind dagegen die spezifischeren Ziele der Fraktionen im Parlament relevant.
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
26
Umweltveränderungen nicht zu erwarten sind, sondern Anpassungen eher in kleinstmöglichem Um-
fang erfolgen und im Wesentlichen auf Systemerhaltung angelegt sind (vgl. Lodge 2006: 72).
2.2.2 Die Auswirkungen der EU auf Bundestagsfraktionen: indirekt statt direkt
Inwiefern wirkt sich nun die europäische Integration auf das Handeln der Bundestagsfraktionen aus?
Dass der einzelne Abgeordnete im Allgemeinen wenig Anreiz hat, sich in EU-Themen zu engagieren,
wurde in einschlägigen Studien belegt (Saalfeld 2003, vgl. Auel 2006b): EU-Themen sind in Bundes-
tagswahlkämpfen von sehr geringer Relevanz und bieten sich daher nicht zur Profilierung eines Ab-
geordneten in seiner Wählerschaft an. Den einzelnen Abgeordneten als individuellen Nutzenmaxi-
mierer als Antrieb der Europäisierung einer Fraktion anzunehmen, scheidet somit aus.
Auch der „goodness-of-fit“-Ansatz als bekanntester Europäisierungsansatz ist im vorliegen-
den Fall nicht angemessen. Denn die EU sieht für die nationalen Parlamente und ihre Fraktionen,
anders als für die mitgliedsstaatlichen Regierungen, keine institutionelle Rolle im Politikentschei-
dungsprozess vor. Die Parlamente sind am europäischen Policymaking nur über die jeweilige Regie-
rung beteiligt, indem sie europäisches Recht formal in nationales Recht umsetzen – allerdings nicht
im direkten Austausch mit EU-Institutionen (vgl. Ladrech 2010: 71ff):
„Put simply, national parliaments are not directly involved in the routine decision-making process at the
EU level. Their primary role in the process of European governance is at the end of the legislative process,
that is, to ratify EU legislation that has been put before them by the national executive.” (Ladrech 2010:
73)
Da die nationalen Parlamente anders als die nationalen Regierungen keine direkten Anreize haben,
sich durch Anpassungsleistungen effektiv in das europäische Policymaking einzubringen, kann der
Misfit-Ansatz auf ihre Situation und somit auch die der nationalen Parlamentsfraktionen nicht ohne
Bruch übertragen werden.26,27
Direkter Anpassungsdruck scheidet demnach aus. Stattdessen sind die Bundestagsfraktionen
indirekten Wirkungen der EU ausgesetzt. Ihre Umwelt verändert sich infolge der europäischen Integ-
ration durch die Einbindung der Bundesregierung in europäische Entscheidungsprozesse und die
26
Die Regierungen der EU-Staaten als Player im Rat erfahren dagegen einen von der EU ausgehenden direkten
Anpassungsdruck. Es wird angenommen, dass sie innerhalb der EU nach einer zweckrationalen Logik handeln:
Zum einen versuchen sie, die Politik der EU – sowohl in der Policy- als auch in der Polity-Dimension – in ihrem
Sinne zu gestalten (vgl. Börzel 2003). Zum anderen nehmen sie einen Anreiz wahr, ihre internen Strukturen so
umzugestalten, dass sie zu dieser Gestaltung effektiv in der Lage sind und andererseits auch dazu, europäische
Politiken im nationalen Raum umsetzen zu können. Die EU wirkt auf sie also sowohl als ermöglichender Hand-
lungsraum („opportunity structure“) als auch als mit potenziellen Sanktionen bewehrter Handlungsconstraint
(vgl. Hix/Goetz 2000). 27
Es gibt zwar Versuche, die Europäisierung nationaler Parlamente nach dem „goodness-of-fit“-Modell zu er-
klären (etwa Hansen/Scholl 2002), diese kommen jedoch nicht ohne die explizite oder implizite Konstruktion
einer Zwischeninstanz aus, da kein direkter Anpassungsdruck von der EU auf die nationalen Parlamente aus-
geht. So gehen Hansen und Scholl von einer Gleichgewichtsverschiebung im nationalen politischen System
infolge der europäischen Integration aus, welche die Parlamente zur Anpassung zwingt, wollen sie ihre ge-
wohnte Rolle im jeweiligen System weiterhin spielen. Derartige Konstruktionen zur Erfassung indirekter Wir-
kungen der EU stellen eine deutliche Modifikation des Misfit-Ansatzes dar.
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
27
zunehmende Bestimmung der nationalen Agenda durch EU-Vorlagen. Wollen die Fraktionen ihre
Handlungsfähigkeit aufrechterhalten, sind sie gezwungen, sich ihrer veränderten Umwelt anzupas-
sen. Es ist folglich von endogenen, im nationalen politischen System liegenden Europäisierungsme-
chanismen auszugehen (vgl. Benz 2005: 512). Überlegungen über indirekte Wirkungen der europäi-
schen Integration auf Akteure, die keinem direkten Einfluss der EU ausgesetzt sind, finden sich in
ähnlicher Form auch bei Robert Ladrech (2010, 2009, 2007, 2002), der sich mit der Europäisierung
nationaler Parteien beschäftigt. Diese passen sich an ihre durch die EU veränderte Umwelt an, so
Ladrechs Annahme, wenn ihre primären Ziele tangiert sind: Repräsentation, Gesetzgebung und Re-
gierungsbildung.28 So ist beispielsweise zu erwarten, dass die Parteien Vorkehrungen treffen, um eine
bessere Kontrolle ihres in der Regierung und somit auch in der EU tätigen Spitzenpersonals sicherzu-
stellen, oder dass EU-Experten in den Parteien an Anzahl und Macht zunehmen. Welche Europäisie-
rungsmechanismen hier als stichhaltig angesehen werden können, ist bei Weitem noch nicht ab-
schließend geklärt. Neben rationalistischen Annahmen über die Bedeutung organisatorischer Anpas-
sungen zur Erreichung der Ziele einer Organisation spielen wohl auch sozialkonstruktivistische Ele-
mente wie die Bewertung der wahrgenommenen Umweltveränderungen für die Erklärung etwa des
Zeitpunktes einer Anpassung eine Rolle (vgl. Ladrech 2010). Ansätze wie derjenige Ladrechs oder der
hier erarbeitete haben eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Europäisierungsmechanismus im Bereich
der negativen Integration. Diese wirkt über die Veränderung nationaler Opportunitätsstrukturen (vgl.
Knill/Lehmkuhl 1999). Anpassungsmuster als Auswirkung einer marktschaffenden Politik sind dann
über die Umverteilung von Macht und Ressourcen im nationalen Raum erklärbar, welche von dem
europäischen Impuls angeregt wird. Wie im hier untersuchten Falle der Bundestagsfraktionen ist also
auch dort der Einfluss der EU nur indirekt. Da das Erkenntnisinteresse hier aber über die bloße Kräf-
teverschiebung im nationalen Raum hinausgeht – im Fokus steht schließlich der aktive Umgang mit
deren Folgen – und sich nicht auf negative Integration beschränkt, ist der Ansatz von Knill und Lehm-
kuhl nicht einfach übertragbar.
Inwiefern verändert sich nun die Umwelt der Fraktionen? Die Handlungsmöglichkeiten der
Fraktionen innerhalb des nationalen Raumes verändern sich insofern, als sich viele Gesetzesvorlagen
für den nationalen Raum aus der EU-Arena ergeben – also insofern, als die Fraktionen EU-Vorlagen
verarbeiten müssen, wenn sie ihre im nationalen Raum definierten Aufgaben weiterhin wahrnehmen
wollen. Dies bezieht sich auf nahezu alle Politikbereiche, da Europapolitik hauptsächlich in den Fach-
ausschüssen stattfindet und in diesem Sinne zur Innenpolitik geworden ist (vgl. Beichelt 2009: 264,
Freundorfer 2008: 207). Die inhaltliche Vorarbeit für die Ausschusssitzungen wiederum geschieht in
28
Eine direkte Auswirkung wäre dagegen feststellbar, wenn sich im nationalen Parteienwettbewerb eine neue
europäische Dimension, quasi ein neuer „Cleavage“ herausbilden würde, was in den meisten Mitgliedsstaate
nicht der Fall ist (vgl. Mair 2006, zur Unterscheidung direkter und indirekter Auswirkungen siehe Hix/Goetz
2000: 10ff).
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
28
den einzelnen Fraktionen. Diesen fällt die Aufgabe zu, die Bundesregierung auch in ihrer EU-Politik zu
kontrollieren. Angesichts des Informationsvorsprungs der Regierung in diesem Bereich droht das
europapolitische Handeln der Exekutive durch die Integration sprichwörtlich außer parlamentarische
Kontrolle zu geraten (vgl. Raunio/Hix 2000: 153). Relevante Informationen, auf die die Fraktionen in
ihrer Kontroll- und Mitwirkungstätigkeit zurückgreifen, sind nun nicht mehr allein im nationalen
Raum vorhanden. Durch die Integration wurde die Umwelt der Fraktionen im europäischen Ausmaß
erweitert. Sie kann von den Fraktionen zur Herstellung neuer Kontakte genutzt werden. Neben der
Information bietet das europäische Mehrebenensystem auch einen potenziellen europäischen Hand-
lungsraum, in dem weitere politische Ansprechpartner zur Verfügung stehen und Versuche möglich
sind, den eigenen politischen Einfluss auf die EU-Ebene auszudehnen, auch wenn dies institutionell
nicht vorgesehen ist. In jedem Falle müssen die Fraktionen mit den institutionellen Einrichtungen, die
der Bundestag infolge der europäischen Integration geschaffen hat (vgl. Kapitel 3.2), umgehen. Diese
müssen mit sachkundigem Personal besetzt und genutzt werden.
2.2.3 Europäisierungsmechanismen und Hypothesen
Wie wirken sich diese Umweltveränderungen nun auf die Fraktionen aus? Entsprechend der Konzi-
pierung der Bundestagsfraktionen als institutionell eingebettete, rational handelnde kollektive Ak-
teure wird davon ausgegangen, dass sie bestrebt sind, ihre Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten.
Kein rationaler Akteur nimmt einen Verlust seiner Macht ohne Weiteres hin (vgl. Benz 2004: 881,
Ladrech 2002: 400, Schimank 2007)29. Aus institutionalistischer Sicht sind Anpassungen von Organisa-
tionen primär auf Systemerhaltung ausgerichtet. Sie erfolgen reaktiv und sind nicht auf radikale,
sondern auf minimale Veränderung ausgerichtet (vgl. Carter et al. 2008: 9, Lodge 2006: 72). Es ist
dementsprechend zu erwarten, dass die Fraktionen des Bundestags auf eine Einschränkung ihrer
Handlungsfähigkeit reagieren, um diese zu erhalten, ohne dabei ihr Handeln auf neue Ziele auszu-
richten. Die Handlungsfähigkeit bei veränderten Randbedingungen zu bewahren, erfordert organisa-
torische und strategische Anpassungsleistungen. Fehlen ihnen Ressourcen wie beispielsweise Infor-
mationen zur Ausübung ihrer Aufgaben, so versuchen sie, diese über neue Wege zu gewinnen. Frak-
tionen als rational handelnde kollektive Akteure europäisieren sich also, um Kontrolle und Mitwir-
kung weiterhin ausüben zu können. Dabei ist ferner anzunehmen, dass dies für Oppositionsfraktio-
nen umso stärker gilt als für Mehrheitsfraktionen, da ihre informellen Informations- und Einflussbe-
ziehungen zur Bundesregierung wesentlich weniger stark ausgeprägt sind (vgl. Sterzing/Tidow 2001:
282). Da es in der jüngsten Vergangenheit mehrere Regierungswechsel gegeben hat, kann ange-
nommen werden, dass jede Fraktion ein Interesse hat, hier vorzusorgen.
29
Das Bestreben, einen Verlust an Macht und Einfluss (und Autonomie) verhindern zu wollen, kann Akteuren
als „Standardinteresse“ unterstellt werden (vgl. Schimank 2007).
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
29
Die erste zentrale Hypothese lautet also: Fraktionen europäisieren sich dann, wenn ihr
Handlungsfeld sich so verändert, dass die Wahrnehmung ihrer Aufgaben und die Verfolgung ihrer
Ziele dies erforderlich machen. Fraktionen europäisieren sich, um ihre Handlungsfähigkeit im parla-
mentarischen Raum zu wahren und so ihrer Marginalisierung, die als Folge der europäischen Integra-
tion droht, entgegenzuwirken.
Eine Europäisierung erfolgt allerdings nicht automatisch. Für strategische Anpassungen ist es
entscheidend, dass ihre Notwendigkeit erkannt, sie für erforderlich oder adäquat gehalten werden.
Nur wenn die Befassung mit Europapolitik als angemessene und wichtige Aufgabe der Fraktion auf-
gefasst wird, wird sie sich entsprechend anpassen. Dies setzt voraus, dass EU-Angelegenheiten als
bedeutsam für die Arbeit des Bundestages insgesamt ebenso wie für die Fraktion im Speziellen ein-
geschätzt werden. Ergänzend kommt die Selbsteinschätzung als Teil eines europäischen Mehrebe-
nensystems hinzu, in dem die nationalen Parlamente und ihre Fraktionen, etwa als Kontrolleur der
nationalen Exekutiven, eine wichtige Rolle spielen. Als ausschlaggebend für eine solche Einschätzung
der Gesamtfraktion sind oft Führungskräfte und das Spitzenpersonal der Partei auf Bundesebene, die
als „norm entrepreneurs“ agieren (vgl. Börzel/Risse 2003). Solche Akteure werben in ihrer Organisa-
tion für die Akzeptanz einer Norm, Ansicht oder Überzeugung. Sie regen zu einem Lernprozess an
und nehmen so Einfluss auf die strategische Ausrichtung der Organisation. Oft sind sie Teil eines
Netzwerks von Personen mit gemeinsamen Überzeugungen und Werten.
Die zweite zentrale Hypothese lautet also: Eine Fraktion europäisiert sich dann, wenn ein-
flussreiche Mitglieder von Fraktion oder Partei EU-Angelegenheiten für eine wichtige Materie der
nationalen parlamentarischen Kontrolle und Mitwirkung halten und sich als „norm entrepreneurs“
engagieren.
2.2.4 Die abhängige Variable: Dimensionen der Europäisierung
Diese Hypothesen oder Europäisierungsmechanismen sind noch recht allgemein gehalten. Sie lassen
sich für den vorliegenden Fall weiter spezifizieren. Der Untersuchungsansatz soll im Folgenden auf
die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen angewandt werden (zur Wahl des Untersu-
chungsgegenstandes siehe Kapitel 3.1.1). Daher wird nun zunächst geprüft, inwieweit die Annahmen
der beiden Hypothesen auf diesen Fall zutreffen, um Erwartungen über die Europäisierung der Frak-
tion ableiten zu können.
Die Handlungsfähigkeit einer Bundestagsfraktion bestimmt sich wie erläutert anhand ihrer
parlamentarischen und Binnenorganisations-Funktionen. Um ihren Aufgaben in der durch die Integ-
ration beeinflussten Umwelt weiter nachkommen zu können, müssen sich die Tätigkeiten der Infor-
mationsgewinnung und -verarbeitung, der Herausbildung von Expertise und der Binnenkoordination
auf die EU-Politik ausdehnen. Da EU-Politik Teil der Agenda des nationalen parlamentarischen Sys-
tems geworden ist, muss die Bundestagsfraktion der Grünen wie alle Bundestagsfraktionen auch im
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
30
Bereich der EU-Politik Expertise aufbauen, Informationen aus der – nun erweiterten – Umwelt einho-
len, sortieren und bewerten sowie die Tätigkeiten ihrer Mitglieder miteinander koordinieren (vgl.
Sterzing/Tidow 2001: 285). Nur durch die Befassung mit EU-Vorlagen kann die Fraktion ihre Kontroll-
aufgabe erfüllen, die sich auch auf die deutsche Europapolitik erstreckt, und an der deutschen Euro-
papolitik durch parlamentarische Aktivitäten im Sinne der Repräsentations- und der Gesetzgebungs-
funktion mitwirken, indem sie sich an parlamentarischen Debatten und Abstimmungen beteiligt. Die
koordinierenden Aufgaben der Fraktion für die eigene Binnenorganisation müssen sich daher auf
Europapolitik ausdehnen. Ohne Anpassung an die veränderte Umwelt wäre die Handlungsfähigkeit
der Grünenfraktion eingeschränkt. Die Voraussetzungen für das Eintreten der in der ersten Hypothe-
se formulierten Erwartung, die „wenn“-Seite der Gleichung, sind somit gegeben.
Auch die Bedingungen der zweiten Hypothese können als erfüllt betrachtet werden. Im Spit-
zenpersonal sowohl der betrachteten Fraktion als auch der Partei, die sie vertritt, ist einschlägige
Europa-Erfahrung vorhanden. So haben beide derzeitigen Parteivorsitzenden der Grünen, Claudia
Roth und Cem Özdemir, mehrere Jahre ihrer politischen Karriere im Europäischen Parlament ver-
bracht. Roth ist gleichzeitig Mitglied der Bundestagsfraktion. Auch Frithjof Schmidt, der Vorsitzende
des für Europapolitik zuständigen Fraktionsarbeitskreises, hat viel EU-Erfahrung. Er war nacheinander
Geschäftsführer der Europagruppe der Grünen, dem Zusammenschluss der deutschen Europaabge-
ordneten der Grünen, Mitglied im Vorstand der Europäischen Grünen Partei und Mitglied des EP.
Aufgrund ihrer Wechsel zwischen Funktionen auf europäischer und auf nationaler Ebene innerhalb
der Grünen ist es besonders wahrscheinlich, dass die genannten Personen das Bewusstsein innerhalb
der Bundestagsfraktion für die Bedeutung der EU-Politik gestärkt haben. Dass sich die Auffassung, in
der Beschäftigung des Bundestags mit Europapolitik einen wichtigen Baustein zur Transparenz und
demokratischen Kontrolle innerhalb der EU zu sehen, in Partei und Fraktion niedergeschlagen hat,
geht aus verschiedenen Publikationen und programmatischen Texten hervor. So hat etwa die Bun-
desdelegiertenkonferenz 2009 nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts bekräftigt,
sie sehe das Urteil „als Auftrag, uns auch auf der nationalen Ebene mehr als bisher mit den „alltägli-
chen“ Entscheidungen der EU auseinanderzusetzen und in allen fachpolitischen Diskussionen die
europapolitische Dimension mitzudenken“ (Bündnis 90/Die Grünen 2009). Weiter steht dort: „Euro-
papolitik darf nicht nur alle fünf Jahre vor den Europawahlen ein wichtiges Thema in der Partei sein.
Die europäische Perspektive muss in der Partei sowie in den Fraktionen im Bund und in den Ländern
stärker verankert werden.“ In einer Publikation der Bundestagsfraktion vom März 2008 über das
Verhältnis zwischen EU und Bundestag heißt es: „Wir Grüne kämpfen seit Jahren dafür, die Rechte
der nationalen Parlamente in europäischen Angelegenheiten zu stärken und damit die demokrati-
sche Legitimierung der EU zu verbessern.“ (Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen 2008: 1) Be-
klagt wird in der Publikation die Unterrichtungspraxis der Bundesregierung, die verhindere, „dass
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
31
sich der Bundestag frühzeitig in EU-Angelegenheiten einbringen und diese angemessen mitgestalten
kann“. In einer umfassenden und frühzeitigen Unterrichtung sehe die Fraktion „einen echten Beitrag
zur Demokratisierung Europas […] [und einen] wichtige[n] Beitrag zur Überzeugung vieler europa-
skeptischer Bürgerinnen und Bürger“. (ebd.: 2)
Da die Voraussetzungen für das Eintreten beider Hypothesen erfüllt sind, ist für die Grünen-
fraktion im Bundestag zu erwarten, dass sie sich organisatorisch europäisiert hat. Im Einzelnen wer-
den empirische Ergebnisse in den folgenden drei Europäisierungsdimensionen erwartet (Abb. 2):
a) Expertise: Die Fraktion nutzt den parlamentarischen Raum, insbesondere den EUA, um die
Bundesregierung zu kontrollieren und um zu versuchen, deren Europapolitik zu beeinflussen.
Dazu hat die Fraktion EU-Expertise gebildet.
b) Informationskanäle: Die Fraktion hat verschiedene Informationskanäle installiert und nutzt
diese, um in der Europapolitik effektiv arbeiten zu können. Sie versucht so, über unabhängige
Informationen die „Informationslücke“ zwischen Bundesregierung und Parlament zu schlie-
ßen (vgl. Raunio/Hix 2000). Die Fraktion nutzt hier alle Dimensionen, die das europäische
Mehrebenensystem bietet: Über ihre Mitarbeiter im Verbindungsbüro des Bundestags in
Brüssel gelangt sie auf EU-Ebene an Informationen, zudem nutzt sie Kontakte und Wissen der
grünen MdEP aus Deutschland. Auch in andere Mitgliedsstaaten und in Bundesländer mit
grüner Regierungsbeteiligung unterhält sie Kontakte zum Informationsgewinn.
c) Informationsverarbeitung und interne Koordinierung der EU-Politik: Um eine effektive Kont-
roll- und Mitwirkungstätigkeit ausüben zu können, hat die Fraktion Routinen zur fraktionsin-
ternen Koordinierung der EU-Politik ausgebildet. Dazu werden Informationen verarbeitet
und Positionen innerhalb der Fraktion abgestimmt. Im Bundestag beratene Unionsvorlagen
durchlaufen einen festgelegten Prozess der sachlichen und politischen Bewertung als Grund-
lage einer Positionierung und parlamentarischer Initiativen.
Abbildung 2: Theorieansatz zur Europäisierung einer Bundestagsfraktion. Quelle: eigene Darstel-
lung
2 Theoretischer Rahmen und Forschungsstand
32
Ferner soll untersucht werden, ob die Fraktion auch außerhalb der nationalen Ebene versucht, euro-
päische Politik direkt zu beeinflussen, ob sie also das europäische Mehrebenensystem auch als er-
möglichenden Handlungsraum nutzt. Gemäß dem zugrundegelegten institutionalistischen Europäi-
sierungsansatz sind Versuche der Politikbeeinflussung auf der EU-Ebene als Aktivität der gesamten
Fraktion nicht zu erwarten, da dieser potentielle Aktionsraum den institutionellen Handlungsbereich
der Fraktion überschreitet. Aktivitäten zur Beeinflussung europäischer Politik auf der EU-Ebene sind
für die Erfüllung der parlamentarischen und Binnen-Aufgaben einer Fraktion nicht erforderlich. Auf
Fraktionsebene werden sie demzufolge nicht erwartet, bei einzelnen europapolitisch besonders ver-
sierten Abgeordneten dagegen durchaus für möglich gehalten.30 Untersucht wird daher auch folgen-
de Frage: Gibt es Bestrebungen der Fraktion, Einfluss an der Bundesregierung vorbei direkt auf der
EU-Ebene geltend zu machen?
2.2.5 Anmerkungen zur Einordnung des theoretischen Ansatzes
Die hier untersuchten organisatorischen und strategischen Eigenschaften der Grünenfraktion stehen
in einem eindeutigen Kausalzusammenhang mit der EU. Es wird nach Vorkehrungen gefragt, die ex-
plizit geschaffen wurden, um eine effektive Befassung mit EU-Politik zu ermöglichen. Die genannten
Dimensionen und die ihnen zuzuordnenden Indikatoren sind also klar zielgerichtet und können nicht
anders als indirekt durch die EU bedingt gesehen werden. Die Gefahr, Entwicklungen vorschnell oder
zu Unrecht als Reaktionen auf Auswirkungen der EU zu deklarieren, erscheint daher äußerst gering.
Der Ansatz ist nicht mit dem Fehler behaftet, den Einfluss der EU bereits konzeptuell
überzubewerten, wovor Radaelli (2004) warnt und was er einigen Kollegen vorwirft (vgl. Kapi-
tel 2.1.2.2). Es ist zwar in die Kategorie der „top-down“-Ansätze einzuordnen, denen Radaelli so
skeptisch gegenübersteht. Allerdings versucht er nicht, beobachtete Phänomene quasi rückwirkend
auf Einflüsse der EU zurückzuführen, sondern bietet die Möglichkeit, Hypothesen über zu erwartende
Beobachtungen abzuleiten und anschließend die beobachtete Empirie mit den theoretischen Erwar-
tungen zu vergleichen.31 Das Hauptproblem der Europäisierungsforschung laut Radaelli (2004), han-
delnde Akteure in die Erklärungen plausibel einzubinden, ist mit den beiden sowohl Institutionen als
auch Akteure umfassenden Europäisierungsmechanismen plausibel gelöst, der Ansatz also alles an-
dere als mechanisch. Auch das methodische Vorgehen mithilfe von Interviews (vgl. Kapitel 3.2) ist
geeignet, ungesicherte Schlüsse auf Wirkungen der EU zu unterbinden.
30
Benz (2004) spricht hier von „bypassing“ der Regierung. Er fasst darunter allerdings sowohl Versuche, auf der
europäischen Ebene Einfluss auszuüben, als auch die Etablierung von Informationskanälen. Diese beiden As-
pekte werden in der vorliegenden Arbeit getrennt behandelt, da hinsichtlich einer Fraktion – Benz untersucht
dagegen individuelle Parlamentarier – jeweils unterschiedliche Ergebnisse erwartet werden. 31
Der Ansatz ermöglicht somit ein Vorgehen nach der Methode des „process-tracing“, vgl. Fußnote 9.
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
33
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und
Ergebnisse der Interviews
Im folgenden Kapitel werden alle empirischen Daten für die Analyse in Kapitel 4 bereitgestellt. Nach
einigen Anmerkungen zum Untersuchungsgegenstand und zur Vorgehensweise in der Fallstudie in
Kapitel 3.1 erfolgt in Abschnitt 3.2 auf Basis einer Literaturanalyse eine deskriptive Darstellung der
Europäisierung des Bundestages und des Aufbaus der Grünenfraktion. Auf dieser Grundlage wird die
eigene empirische Erhebung durchgeführt, deren Ergebnisse im darauffolgenden Kapitel 3.3 präsen-
tiert werden.
3.1 Untersuchungsgegenstand und Methodik der Fallstudie
Als Gegenstand der Analyse wurde eine einzelne Bundestagsfraktion ausgewählt. Eine Fallstudie ist
ein geeignetes Forschungsdesign für ein exploratives Vorgehen. Mit ihr wird ein beispielhafter erster
Einblick in das bislang unerforschte Gebiet der Europäisierung von Fraktionen gewonnen. Fallstudien
bieten zudem die Möglichkeit, neue Theorieansätze und Hypothesen zu erproben und auf der Grund-
lage der gewonnenen Erkenntnisse zu präzisieren (vgl. van Evera 1997: 54f, Haverland 2007). Sie
liefern somit die Grundlage für weitere Untersuchungen und vergleichende Studien.
3.1.1 Zur Wahl des Untersuchungsgegenstandes
Dem Bundestag gehören in der 17. Wahlperiode fünf Fraktionen an: CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen. Jede von ihnen könnte für eine Fallstudie mit der hier verfolgten Frage-
stellung nach der Europäisierung einer Fraktion herangezogen werden, da grundsätzlich alle Bundes-
tagsfraktionen im selben institutionellen Rahmen handeln. Eine komparative Studie allerdings würde
den Rahmen einer Magisterarbeit definitiv sprengen und böte zudem auf dem unerforschten Gebiet
nicht die oben genannten Vorteile einer Fallstudie. Als Untersuchungsgegenstand wird hier die Bun-
destagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen gewählt. Diese erscheint hinsichtlich der Frage nach der Eu-
ropäisierung einer Fraktion aus mehreren Gründen besonders interessant. Europa war für die Grü-
nen immer schon ein Thema, über das – anfangs teils kontrovers, teils verbunden mit einem gewis-
sen EU-Skeptizismus – viel diskutiert wurde (vgl. Binder/Wüst, Niedermayer 2003, Poguntke 2008:
109ff). So lehnten die Grünen die Reformen des Vertrags von Maastricht zunächst ab, unterstützten
später jedoch den Verfassungsvertrag. Mittlerweile ist die europäische Integration zu einem der
zentralen Themen des politischen Programms der Grünen geworden (vgl. Volmer 2009: 424f), was
eine relativ hohe Sensibilität der Parlamentarier für europäische Themen erwarten lässt. Die Partei
tritt sowohl auf Bundes- als auch auf europäischer Ebene für mehr Transparenz im europäischen
Politikprozess und für die Förderung einer breiteren öffentlichen Debatte über europäische Politiken
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
34
ein (vgl. Kapitel 2.2.4). Die deutschen Grünen waren zudem eine treibende Kraft bei der Organisie-
rung der Grünen in Europa. Ein erster Zusammenschluss fand 1983 statt, und seit 2004 gibt es die
Europäische Grüne Partei gemäß dem Parteienstatut der EU (vgl. Niedermayer 2005: 40, Poguntke
2008: 125). Als bisher einzige Partei in Deutschland haben die Grünen 2004 eine gemeinsame euro-
paweite Werbekampagne mit einheitlichen Plakatmotiven vor den Wahlen zum EP geführt (vgl. Nie-
dermayer 2005: 65). Das Europawahlprogramm der Grünen von 2004 war vergleichsweise ausführ-
lich. Die Gestaltung der europäischen Integration spielte dabei eine größere Rolle als im Wahlkampf
von SPD und CDU (vgl. Niedermayer 2005). Dies spiegelte sich offenbar auch in der Wählerschaft
wieder: Laut einer Umfrage von Infratest Dimap fühlten sich die Anhänger der Grünen am besten
über die Europäische Union informiert (ebd.: 50).
Im EP sind die deutschen Grünen seit 1984 relativ stark vertreten. Sie gehörten zu den ersten
grünen Parteien, die Europaabgeordnete entsandten und stellten damals sieben von elf grünen Sit-
zen. Heute stellt die Partei 14 der 55 Mitglieder der Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz.
Auffällig im Vergleich zu anderen Parteien ist, dass das Europaparlament regelmäßig aus der Bundes-
partei oder dem Bundestag bekannte politische Persönlichkeiten anzieht. Bei den Europawahlen
2004 und 2009 standen mit Rebecca Harms, Daniel Cohn-Bendit, Angelika Beer, Cem Özdemir und
Reinhard Bütikofer einige bekannte Politiker auf den vorderen Listenplätzen (Niedermayer 2005:
44f). Dies könnte ein Hinweis auf ein relativ großes Interesse an europäischer Politik innerhalb von
Partei und Fraktion sein. Vieles spricht also dafür, die Grünen als aus politologischer Sicht europapoli-
tisch interessante Fraktion, die deutlich sichtbare Ergebnisse den verschiedenen Europäisierungsdi-
mensionen verspricht, für diese Fallstudie auszuwählen. Eine kurze Vorstellung der Fraktionsstruktur
als Grundlage der empirischen Untersuchung folgt in Kapitel 3.2.3.
3.1.2 Die Methodik
Mit der Untersuchung wird eine Momentaufnahme des Europäisierungsstandes der grünen Bundes-
tagsfraktion angezielt. Der Prozesscharakter der Europäisierung wird dabei in Rechnung gestellt,
wenngleich ein Langzeitverlauf im Rahmen der Fallstudie nicht abgebildet werden kann. Das so ge-
wonnene Bild des aktuellen Entwicklungsstandes konkretisiert, was Europäisierung für eine Bundes-
tagsfraktion bedeutet und beleuchtet die Mechanismen, die im Gange sind; es stellt jedoch keine
abschließende Bewertung dar, da von einem weiteren Fortgang ausgegangen werden muss.
Für die Darstellung des Falles wird zunächst die einschlägige Literatur über die Anpassung des
Bundestages an die Auswirkungen der europäischen Integration ausgewertet. Einige Informationen
wurden zusätzlich durch eine Anfrage beim Sekretariat des EUA selbst eingeholt. Die Ergebnisse sind
in Kapitel 3.2 dargestellt. Sie bieten einen Überblick über die Europäisierung des Bundestages und
erlauben es, den darauffolgenden genuin empirischen Teil, die Untersuchung der Europäisierung der
grünen Fraktion, einzuordnen. Die in Kapitel 3.3 verarbeiteten Daten wurden in telefonischen Inter-
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
35
views mit Mitgliedern der grünen Bundestagsfraktion erhoben. Die relevanten Gesprächspartner
wurden mithilfe des Organigramms der Fraktion, der Geschäftsordnung und den Internetauftritten
der Fraktion sowie einzelner Abgeordneter ermittelt. Außerdem folgten die Telefoninterviews in
gewissem Sinne einem Schneeballprinzip, indem Gesprächspartner nach weiteren relevanten An-
sprechpartnern gefragt wurden. So wurden die Inhaber all jener Stellen in der Fraktion erreicht, wel-
che in erster Linie mit europapolitischen Expertise- und Koordinationsaufgaben betraut sind. Schrift-
liche Interviewanfragen wurden zudem an Mitglieder des Bundestages sowie des EP verschickt. Aus-
wahlkriterien waren hier die Befassung mit europapolitischen Themen als fachpolitischer Sprecher,
die Mitgliedschaft im EUA oder parlamentarische Erfahrung aus beiden Parlamenten. Alle befragten
Personen sind Akteure der Europapolitik der Fraktion. Insgesamt wurden zehn Interviews im Zeit-
raum von Ende November 2010 bis Ende Februar 2011 telefonisch durchgeführt, wobei der größte
Teil der Telefonate innerhalb von drei Wochen im November und Dezember 2010 stattfand und die
Datenerhebung in einer zweiten Phase Anfang 2011 vervollständigt wurde. Außer den Fraktionsan-
gehörigen befand sich auch der Leiter des Europareferats der Bundestagsverwaltung unter den Ge-
sprächspartnern. Zusätzlich zu den Interviews wurden von den Mitarbeitern eines MdB und eines
MdEP, das für ein Interview nicht zur Verfügung stand, sowie aus dem Büro des Bundesvorsitzenden
der Partei, der ebenfalls EP-Erfahrung hat, kurze schriftliche Auskünfte eingeholt.
Für die Interviews wurden Fragebögen herangezogen, die auf jede befragte Person individu-
ell zugeschnitten waren. Eine gewisse Teilstandardisierung lag durch die Gliederung vor, die sich an
den untersuchten Europäisierungsdimensionen orientierte. Dennoch war kein Fragebogen mit einem
anderen identisch, da jede befragte Person in erster Linie nach ihren eigenen Tätigkeiten und Zu-
ständigkeiten in der Europapolitik gefragt wurde, die sich je nach Funktion innerhalb der Fraktion
und politischer Ebene (Bund – EU) unterscheiden. Folglich waren auch nicht alle Europäisierungsdi-
mensionen für jede Befragung gleichermaßen relevant. An die Arbeit ist daher kein Fragebogen an-
gehängt, stattdessen befinden sich im Anhang alle transkribierten Interviews. Gefragt wurde jeweils
zunächst nach der Position und der EU-Expertise der jeweiligen Person. Von Interesse war dabei et-
wa, welche berufliche oder parlamentarische Erfahrung im Europa-Bereich vorliegt. Es folgte die
Erkundigung nach den genauen Tätigkeiten der Gesprächspartner. Je nach Zuständigkeit kamen da-
bei die fachliche Zuarbeit, die Kontaktpflege zu relevanten Informationsquellen und koordinierende
Aufgaben zur Sprache. Über die jeweils eigene Zuständigkeit hinaus wurde nach dem Vorhandensein
entsprechender Kontakte, Stellen und Zuständigkeiten in der Fraktion gefragt. Hinsichtlich der direk-
ten Einflussnahme auf der EU-Ebene wurden die Interviewpartner der politischen Ebene gefragt, ob
sie selbst und ob andere ihrer Einschätzung nach entsprechend tätig sind, die Mitarbeiterebene wur-
de um Auskunft über eine eventuelle Koordination solcher Tätigkeiten gebeten. Durchweg handelte
es sich um offene Fragen ohne vorgegebene Antwortkategorien, was auch spontane Nachfragen
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
36
ermöglichte. Bedingt durch die Offenheit der Fragen und den im Laufe der empirischen Phase ab-
nehmenden Informationsbedarf variierte die Dauer der Interviews zwischen zehn und 72 Minuten.
Alle Interviews wurden mit der Einwilligung der Gesprächspartner mit einem digitalen Dik-
tiergerät aufgezeichnet und anschließend zur Auswertung transkribiert. Die Transkripte befinden sich
im Anhang. Da die Interviews in der vorliegenden Arbeit ausschließlich der Erfragung von Informatio-
nen und nicht einer ethnomethodologischen, konversationsanalytischen oder psychologischen Un-
tersuchung dienen, wurde hier gemäß dem Relevanzkriterium (Deppermann 1999: 47) auf ein kom-
pliziertes Transkriptionssystem mit Wiedergabe der Lautung verzichtet. 32
Interviews sind für Teile der Europäisierungsforschung von großer Bedeutung. Neuere Publi-
kationen über den weiteren Forschungsbedarf im Bereich der Europäisierung unterstreichen ihre
Relevanz, da sie Zugang zu bislang nicht berücksichtigten Informationen ermöglichen (vgl. Auel
2006b, Ladrech 2009, Vink/Graziano 2007). Vink und Graziano (2007: 17) nennen Interviews als ein
Instrument des „process-tracing“ (vgl. Kapitel 2.1.2.2), das es erlaubt, die Motive für ein bestimmtes
Handeln zu ermitteln (vgl. van Evera 1997: 64ff). Der Forderung derselben Autoren nach Transparenz
bei der Nutzung von Interviews wird in dieser Arbeit mit Quellenangaben bei Interviewzitaten, einer
Liste der Interviewpartner sowie der vollständigen Transkripte im Anhang nachgekommen. Zitate im
Text sind jeweils codiert gekennzeichnet, um sowohl die notwendige Zuordnungsfähigkeit für den
Leser als auch die Anonymität der Gesprächspartner sicherzustellen.
3.2 Fallbeschreibung: europäisierte Umwelt und Aufbau der Grünenfraktion
Maßgeblich für das Handeln der Bundestagsfraktionen ist ihre institutionelle Einbettung. Für ihre
Europäisierung ist daher die Europäisierung des Bundestages als Ganzes grundlegend. Es erfolgt nun
zunächst eine kurze Bestandsaufnahme derselben.
3.2.1 Die institutionelle Europäisierung des Bundestags
Ein beträchtlicher Teil der Gesetzgebung des Bundestages geht auf europäische Impulse zurück. Töl-
ler (2004: 32ff, vgl. Raunio 2009: 326) beziffert ihn in der 14. Wahlperiode (1998 bis 2002) auf rund
ein Drittel. Als letztes Glied der Legitimationskette übernimmt der Bundestag also die politische Ver-
antwortung für den Inhalt von Richtlinien, die er selbst nicht mehr beeinflussen kann (vgl. Töller
2004: 31). Trotz der restringierenden Folgen der Kompetenzübertragung an die Union hat sich der
32
Transkription ist definiert als „Verschriftung von akustischen oder audiovisuellen (AV) Gesprächsprotokollen
nach festgelegten Notationsregeln“ (Deppermann 1999: 39, vgl. Dittmar 2004; 50f). Sie dient der einfacheren
Auswertbarkeit von Daten, indem sie diese im Vergleich zu Audio- oder audiovisuellen Aufzeichnungen leichter
handhabbar macht. Konversationsanalytische oder linguistische Untersuchungen beziehen durch literarische
Umschrift häufig alle möglichen Inhalte der Originaldatei detailliert ein, etwa Sprechpausen, Intonation,
Sprechgeschwindigkeit oder auch nonverbale Phänomene wie Mimik und Gestik. Generell gilt für die Entschei-
dung über Transkriptionsregeln das Relevanzkriterium (vgl. Deppermann 1999: 47). Demnach muss das ange-
wandte System all jene Phänomene erfassen, die für die jeweilige Fragestellung einer Untersuchung relevant
sind.
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
37
Bundestag stets als Befürworter der europäischen Integration erwiesen, und kontroverse Debatten
darüber sind ausgeblieben (vgl. Harnisch/Schieder 2003: 69, Hölscheidt 2001, Poguntke 2008). Folg-
lich wurde der Verlust an autonomer Gesetzgebungsfunktion an sich nie angefochten; mehr noch, er
scheint lange kaum wahrgenommen worden zu sein, worauf Schüttemeyer (1978) bereits Ende der
1970er Jahre hinwies. Erst in den 1980er Jahren kam es zu den ersten Reaktionen auf die Ausweitung
und Vertiefung der Kompetenzen der Gemeinschaft. Der Bundestag schlug dabei den für ein grund-
sätzlich integrationsfreundlich eingestelltes Parlament gangbareren Weg ein, den Autonomieverlust
durch die Verankerung von Beteiligungsrechten an der Europapolitik des Bundes zu kompensieren.
Zentrale Voraussetzung für eine Mitsprache in europapolitischen Fragen ist eine ausreichende Ver-
sorgung mit Information (vgl. Töller 2004). Das primäre Ziel der institutionellen Europäisierung des
Bundestags war demnach zunächst die Verankerung eines Informationsanspruchs gegenüber der
Bundesregierung. Auf der Grundlage des Zustimmungsgesetzes zu den Römischen Verträgen33, das
ein Recht auf laufende Unterrichtung durch die Bundesregierung über Entwicklungen im Rat – ohne
Vorgabe einer Frist – enthielt, wurde der Bundestag häufig spät oder gar nicht informiert, so dass EG-
Vorlagen nicht selten erst nach der Beschlussfassung im Rat beraten werden konnten.
Mit der Ratifikation des EU-Vertrags im Jahr 1992 einschließlich der damit verbundenen
Grundgesetzänderungen öffnete sich für den Bundestag ein Opportunitätsfenster, seine europapoli-
tische Mitsprache auf eine neue Grundlage zu stellen. In der Neufassung des Artikels 23 GG von
199234 sind seither die Informations- und Mitwirkungsrechte des Bundestags und des Bundesrats
verankert35. Präzisierungen erfolgten durch das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregie-
rung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG), das zuletzt
2009 geändert wurde.36 Seit September 2009 existiert ferner das Integrationsverantwortungsgesetz
(IntVG). Darin sind, wie vom Bundesverfassungsgericht im „Lissabon-Urteil“ gefordert, die Mitwir-
kungsrechte des Bundestages in besonderen Verfahren im Rat der EU wie der Anwendung der Ver-
einfachten Vertragsänderung und von Brückenklauseln ebenso wie das Vorgehen bei einer Subsidia-
ritätsrüge geregelt.
33
Gesetz zu den Verträgen vom 25. März 1957 zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und
der Europäischen Atomgemeinschaft, Bundesgesetzblatt II, Nr. 23 vom 19.08.1957, S. 753. 34
Gesetz zur Änderung des Grundgesetztes vom 21.12.1992, Bundesgesetzblatt I, Nr. 58 vom 24.12.1992,
S. 2086. 35
Immer wieder ist darauf hingewiesen worden, dass der Bundesrat viel früher und energischer auf eine recht-
lich gesicherte Beteiligung in der EU-Politik gedrungen hat als der Bundestag. So schreibt Töller (2004: 38), der
Bundestag habe sich bei der Verfassungsänderung nach Maastricht „mit wenig Enthusiasmus den Aktivitäten
des Bundesrates“ angeschlossen. Sie weist aber zu Recht darauf hin, dass die Situation beider Institutionen nur
bedingt vergleichbar ist. Für die Länder reiht sich der Kompetenztransfer an die EU in die zunehmende Kompe-
tenzverschiebung zwischen Bund und Ländern ein, die häufig mit einer Ausdehnung der Rechte des Bundesrats
zu kompensieren versucht wurde. Diese unterschiedlichen Ausgangslagen sollten bei einer Bewertung berück-
sichtigt werden. 36
Darin ist 2009 auch die „Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über
die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union“ aufgegangen.
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
38
Gemäß Art. 23 Abs. 2 GG hat die Bundesregierung den Bundestag über Angelegenheiten der
EU „umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ zu unterrichten. Diese Unterrichtung bezieht
sich laut EUZBBG auf Vorhaben der Kommission und Initiativen des Rates, umfasst also nicht nur
Entwürfe für Richtlinien und Verordnungen, sondern auch Mitteilungen, Grün- und Weißbücher,
Ratsbeschlüsse sowie Informationen über Entwicklungen im Rat. Dies schließt Dokumente des Aus-
schusses der Ständigen Vertreter und der Ratsarbeitsgruppen sowie Berichte über deren Sitzungen
ein, ebenso die an die Bundesregierung gerichteten Berichte der Ständigen Vertretung der BRD bei
der EU, in denen etwa über die Sitzungen des EP oder über die Ergebnisse von Trilogen zwischen Rat,
EP und EU-Kommission informiert wird. Das Schreiben, mit dem die Bundesregierung den Bundestag
über ein Vorhaben der EU unterrichtet, enthält Informationen über dessen wesentlichen Inhalt und
Zielsetzung, seine Rechtsgrundlage, das bei der Verabschiedung anzuwendende Verfahren und es
benennt das federführende Bundesministerium. Binnen zwei Wochen übermittelt die Regierung dem
Parlament ferner einen Berichtsbogen mit einer Bewertung des Vorhabens. Diese enthält eine Ein-
schätzung der Vereinbarkeit mit den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit und eine
Abschätzung der Folgen für die BRD in rechtlicher, wirtschaftlicher, finanzieller, sozialer und ökologi-
scher Hinsicht.
Der so informierte Bundestag hat in allen EU-Angelegenheiten die Möglichkeit, Stellung zu
beziehen. Bei Rechtsetzungsvorhaben ist das Vorgehen gesetzlich geregelt. So legt Art. 23 Abs. 3 GG
fest, dass die Bundesregierung dem Bundestag vor ihrer Mitwirkung an Rechtsakten der EU Gelegen-
heit zur Stellungnahme zu geben hat. Eine solche Stellungnahme wird im Plenum mehrheitlich be-
schlossen, nachdem die Vorlage das übliche Ausschussverfahren durchlaufen hat. Die Regierung
muss sie bei den Verhandlungen in der EU berücksichtigen. Darüber hat sie den Bundestag fortlau-
fend zu unterrichten. Wenn die Parlamentsposition „in einem seiner wesentlichen Belange“, so das
EUZBBG, nicht durchsetzbar ist, legt die Bundesregierung im Rat einen Parlamentsvorbehalt ein. Vor
einer abschließenden Entscheidung im Rat versucht sie, eine einvernehmliche Position mit dem Bun-
destag zu finden. Aus wichtigen außen- oder integrationspolitischen Gründen darf die Regierung laut
EUZBBG eine Entscheidung treffen, die von der Stellungnahme des Parlaments abweicht. Sie muss
dies gegenüber dem Bundestag begründen. Eine Stellungnahme des Bundestags nach Art. 23 Abs. 3
GG ist für die Bundesregierung also politisch bindend, eine rechtliche Verpflichtung darauf ist nach
herrschender Rechtsauffassung jedoch nicht möglich (Grünhage 2007: 159, Sturm/Pehle 2005: 73).
Diese rechtlichen Grundlagen stellen sicher, dass der Bundestag heute die Möglichkeit hat,
vor einer Beschlussfassung auf der europäischen Ebene über eine Unionsvorlage zu beraten. Um
seine Mitspracherechte wahrnehmen zu können und um dem wachsenden Umfang der zugeleiteten
EG-Vorlagen – von 13 zwischen 1957 und 1961 auf mehr als 2000 zwischen 1998 und 2002 – und der
zugehörigen Begleitdokumente Herr zu werden, hat der Bundestag bereits seit den 1980ern speziali-
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
39
sierte Gremien eingerichtet: zunächst 1983 die Europa-Kommission und 1987 einen Unterausschuss
des Auswärtigen Ausschusses, 1991 erstmals einen vollwertigen Ausschuss. Seit 1994 existiert auf
der Grundlage des mit der Grundgesetzänderung von 1992 neu eingefügten Art. 45 GG der Ausschuss
für die Angelegenheiten der EU (EUA). Dem EUA gehören neben 35 MdB auch 16 Europaabgeordnete
ohne Stimmrecht an. Laut der Geschäftsordnung des Bundestages (GOBT) hat jeder Ausschuss des
Bundestages das Recht, sich mit Angelegenheiten der EU zu befassen, und die Mitspracherechte ge-
genüber der Bundesregierung sind grundsätzlich vom Plenum wahrzunehmen. Die EU-Vorlagen wer-
den je nach Thema verschiedenen Ausschüssen zur Beratung zugewiesen. Der EUA befasst sich als
Integrationsausschuss mit Vorlagen von besonderer integrationspolitischer Bedeutung (vgl. Ismayr
2001: 295, Sterzing/Tidow 2001: 277f)). Darunter fallen beispielsweise Vertragsänderungen und die
Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten. Seine Querschnittsfunktion kommt zum Tragen, wenn eine Uni-
onsvorlage verschiedene Sachbereiche berührt, ohne dass ein eindeutiger Schwerpunkt erkennbar
ist, der für die Federführung der Beratung durch einen anderen Ausschuss spricht. Dieser Fall trat
zum Beispiel ein, als sich Fachausschüsse mit politikfeldspezifischen Details der Agenda 2000 befass-
ten, während der EUA über deren Bedeutung für die Entwicklung der EU insgesamt beriet. Als Fach-
ausschuss für EU-Angelegenheiten tritt der Ausschuss auf, wenn dem Bundestag EU-Vorlagen zuge-
leitet werden, die zwar in den Fachbereich eines anderen Ausschusses fallen, aber auch eine beson-
dere integrationspolitische Tragweite haben. Der EUA beteiligt sich dann an der Beratung der Vorlage
und bringt sein integrationsspezifisches Wissen ein. Die Umsetzung europäischer Richtlinien in deut-
sches Recht ist generell Sache des Plenums. Das Prozedere ist mit dem normalen Gesetzgebungsver-
fahren identisch. Der EUA kann wie alle anderen Ausschüsse Beschlussempfehlungen an das Plenum
richten.37
Im Vergleich zu den Parlamenten anderer Mitgliedsstaaten ist der Bundestag in europäischen
Angelegenheiten mit relativ starken Rechten ausgestattet (vgl. Auel 2006b: 250, Janowski 2005,
Maurer 2002). Über Vorhaben der EU und deren mögliche Auswirkungen auf deutsches Recht sowie
die Position der Bundesregierung wird er vergleichsweise gut informiert. Die Kehrseite der umfas-
37
Darüber hinaus hat er laut GOBT einige Sonderrechte. Erstens kann er als einziger Ausschuss vom Plenum
dazu ermächtigt werden, in einer bestimmten Unionsvorlage die Rechte des Bundestags gegenüber der Regie-
rung wahrzunehmen. Vordergründig ist damit der Eilbedürftigkeit mancher europapolitischer Entscheidungen
Rechnung getragen. Allerdings setzt die Anwendung einen Plenarbeschluss voraus, was das Ziel der raschen
Handlungsfähigkeit oder der Handlungsfähigkeit in einer Sitzungspause konterkariert (vgl. Fuchs 2004: 15). Die
Norm ist bisher nicht angewandt worden. Als praxisnaher hat sich zweitens die Regelung erwiesen, nach wel-
cher der EUA auch ohne Ermächtigung durch das Plenum eine Stellungnahme gegenüber der Regierung abge-
ben kann, sofern die beteiligten Fachausschüsse nicht widersprechen. Von dieser Möglichkeit hat der Aus-
schuss in der Vergangenheit in wichtigen Fällen Gebrauch gemacht. Drittens ist der EUA als einziger Ausschuss
dazu berechtigt, im Plenum einen Änderungsantrag zur Beschlussempfehlung des eine Unionsvorlage federfüh-
rend beratenden Ausschusses einzubringen. So soll er als Integrationsausschuss und Fachausschuss für Fragen
der Integration in der Lage sein, auf aktuelle Entwicklungen im Beratungsprozess in Brüssel zu reagieren und
diese in Bundestagsbeschlüsse einzubringen.
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
40
senden Zuleitungspraxis ist allerdings eine tendenzielle Überforderung mit der großen Menge an
zugeleiteten Dokumenten (vgl. Grünhage 2007: 171, Hölscheidt 2001: 146, Sterzing/Tidow 2001:
281). Das Recht zur Stellungnahme effektiv wahrnehmen zu können setzt ein gutes Management der
eingehenden Informationen voraus (vgl. Maurer 2001: 69f). Wichtige Informationen müssen heraus-
gefiltert, Schwerpunkte gesetzt werden. Entscheidend ist also, wie gut die komfortable rechtliche
Lage genutzt wird.
Die Parlamentarier haben diese Problematik erkannt38 und mit neueren Reformschritten auf
eine bessere Nutzung der bestehenden Mitwirkungsmöglichkeiten hingewirkt. Im Jahr 2007 wurde
ein Europareferat in der Bundestagsverwaltung, das Referat PA 1, geschaffen, das außerdem über ein
Verbindungsbüro in Brüssel verfügt. PA 1 ist ein Referat der Unterabteilung PA der Bundestagsver-
waltung, die für die Verwaltung der Ausschüsse zuständig ist. Das Referat soll dazu beitragen, die
faktischen Kontroll- und Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundestags zu stärken. Die Fraktionen von
SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP stellten im entsprechenden Entschließungsantrag
fest: „Der Deutsche Bundestag hat bereits heute rechtliche und politische Möglichkeiten, seinem
grundgesetzlichen Auftrag zur Begleitung, Mitgestaltung und Kontrolle europäischer Gesetzgebung
zu erfüllen. Diese muss er zukünftig besser ausschöpfen.“ (Deutscher Bundestag 2005) Die Aufgabe
des Europareferats ist dementsprechend die Filterung der großen Masse an zugleiteten Dokumen-
ten, um eine Fokussierung auf wirklich wichtige Vorlagen zu ermöglichen (vgl. Beichelt 2009, Krim-
phove 2007). Speziell das Brüsseler Verbindungsbüro hat zum einen die Aufgabe, im Rahmen der
genauen Beobachtung der Abläufe in Brüssel frühzeitig Informationen über einen direkten, von der
Bundesregierung unabhängigen Kanal zu erhalten.39 Zum anderen sollen diese sortiert und gefiltert
werden, um die Qualität des Informationsflusses nach Berlin zu erhöhen (vgl. Beichelt 2009: 268). Im
Einzelnen bietet das Referat PA 1 dem Bundestag folgende Leistungen (Vollrath 2008): Es unterbrei-
tet den Bundestagsfraktionen erstens Vorschläge zur Priorisierung der eingehenden EU-Vorlagen.
Das heißt, die Mitarbeiter treffen eine begründete Auswahl der beratungsrelevanten Vorlagen, die
an die Ausschüsse des Bundestags überwiesen werden sollten. Die Fraktionen klären anschließend,
ob sie mit der Auswahl und der Zuordnung der Vorlagen zu den verschiedenen Ausschüssen einver-
standen sind, was laut dem Referatsleiter zumeist der Fall ist. Zweitens erstellt das Brüsseler Büro
Sachstandsberichte zu aktuellen Themen, sobald diese auf die Tagesordnung eines Bundestagsaus-
38
Wie Befragungen von Abgeordneten ergeben haben, hatten die Umsetzung des Europäischen Haftbefehls
und der Dienstleistungsrichtlinie einen Anteil an dieser Erkenntnis. Im ersten Fall beurteilte das BVerfG die Art
der Umsetzung in deutsches Recht als grundgesetzwidrig, im zweiten Fall geriet das Thema nach der Befassung
durch den Bundestag ins Licht der Öffentlichkeit und wurde zum Gegenstand heftiger gesellschaftlicher Diskus-
sionen. Laut Beichelt (2009: 267) wurde den Parlamentarier spät bewusst, dass sie durch ihren Verzicht auf die
Ausübung ihrer Kontrollfunktion zu dieser negativen Entwicklung beigetragen hatten, da sie die Bedeutung der
jeweiligen Materie nicht erkannt hatten. 39
Für Opposition wie Mehrheit gilt in jedem Parlament, dass ein unabhängiger Zugang zu Informationen die
wichtigste Voraussetzung für eine effektive Mitwirkung ist (vgl. Auel/Benz 2005: 386).
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
41
schusses gesetzt werden. Darin werden die wichtigsten Informationen aus den zahlreichen Begleit-
dokumenten zur jeweiligen Vorlage zusammengefasst, etwa der Stand der Beratungen im EP und im
Rat sowie die Positionen anderer Mitgliedsstaaten oder weiterer relevanter Akteure. Die Mitarbeiter
des PA 1 unterstützen drittens das Terminmanagement der Bundestagsausschüsse, damit Vorlagen
rechtzeitig auf die Tagesordnung gesetzt werden. Viertens dient das Büro der Stärkung der voraus-
schauenden Befassung des Bundestags mit EU-Vorlagen. Dazu erstellt es einmal jährlich eine „Euro-
papolitische Vorausschau“, aus der zu erwartende Themen und Vorhaben der Kommission, des EP
und der Ratspräsidentschaften hervorgehen. Auf Themen, für die sich anhand der Behandlung der
„Europapolitischen Vorausschauen“ ein Interesse einzelner Ausschüsse herauskristallisiert, wird fünf-
tens im „Bericht aus Brüssel“ eingegangen, die das Verbindungsbüro zu jeder Sitzungswoche des
Bundestags herausgibt. Darin wird versucht, schon vor einer Beschlussfassung der Kommission dem
Bundestag Informationen über das jeweilige Thema zukommen zu lassen, um den Informationsvor-
sprung der Bundesregierung möglichst klein zu halten. Zudem sind in den Berichten bevorstehende
Termine der EU-Organe aufgelistet.
Insgesamt dient das Europareferat also als „Frühwarnsystem“. Neben den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern des Europareferats arbeiten im Verbindungsbüro des Bundestages in Brüssel auch
Angestellte der einzelnen Bundestagsfraktionen, die ihrer jeweiligen Fraktion zuarbeiten. Dadurch
hat das Büro zudem die Voraussetzungen verbessert, auch diejenigen Fachpolitiker, die nicht in ers-
ter Linie mit der EU befasst sind, mit europäischen Politiken und Prozessen vertraut zu machen (vgl.
Beichelt 2009: 274f). Es schafft somit bessere Rahmenbedingungen für den Umgang mit EU-Politik,
ist aber an sich kein Garant dafür. Ausschlaggebend ist, wie die Bundestagsfraktionen und, im Zu-
sammenspiel, der Bundestag als Ganzes diese Möglichkeiten nutzt (vgl. Holzhacker 2007: 151).
Der Bundestag als Institution hat auch ein europäisches Beziehungsnetz entwickelt (vgl. Bei-
chelt 2009: 270ff, Deutscher Bundestag 2007, Fuchs 2004). Zum EP unterhält er verschiedene, eher
lose Beziehungsformen. So finden von Zeit zu Zeit gemeinsame Sitzungen von Ausschüssen beider
Parlamente statt. Daneben haben laut PA-1-Leiter Vollrath bislang zwei Fachausschüsse eine Video-
konferenz mit einem EP-Ausschuss durchgeführt, bei denen die jeweiligen Berichterstatter ihre Posi-
tionen ausgetauscht haben. Darüber hinaus erhalten Ausschüsse des Bundestages gelegentlich Be-
such von deutschen MdEP, die über einen Sachverhalt berichten. Zweimal während jeder Ratspräsi-
dentschaft, also insgesamt viermal jährlich, findet ein interparlamentarisches Forum des EP statt.
Dort kommen die EUA der mitgliedsstaatlichen Parlamente und das EP für zwei Tage zusammen, um
wichtige Vorhaben der EU zu diskutieren. Eine gewisse Verbindung zwischen Bundestag und EP be-
steht auch über die COSAC, die Konferenz der Europaausschüsse der nationalen Parlamente. An den
COSAC-Tagungen nehmen jeweils sechs nationale Parlamentarier aus jedem Mitgliedsland und sechs
MdEP teil. Somit dient sie mehr dem Erfahrungsaustausch zwischen den nationalen Parlamenten
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
42
und, in gewissem Umfang, der Vertretung gemeinsamer Interessen gegenüber den EU-Institutionen.
Zur Kommission unterhält der Bundestag kaum ständige formale Beziehungen. Die Informationsauf-
gabe der Kommission gegenüber den nationalen Parlamenten, die sie seit 2006 ausübt, beschränkt
sich allerdings nicht auf die Zuleitung von Kommissionsvorschlägen und Konsultationspapieren, son-
dern soll die nationalen Parlamente – so die Idee der sogenannten „Barroso-Initiative“ – auch zur
Abgabe von Stellungnahmen ermuntern (vgl. Euractiv 2009). Zwischen 2006 und Ende 2008 haben
nationale Parlamente der Kommission insgesamt 368 Stellungnahmen abgegeben, 39 davon stamm-
ten vom Deutschen Bundestag. Laut einer Studie des European Center for Parliamentary Research
and Documentation ist der EUA des Bundestages darüber hinaus einer der wenigen nationalen EU-
Ausschüsse, die regelmäßig von Mitarbeitern der Kommission persönlich unterrichtet werden (Euro-
pean Centre for Parliamentary Research and Documentation 2002: 49, vgl. Auel 2006: 262). Dies
bestätigte auf Anfrage auch das Ausschusssekretariat des EUA.40
3.2.2 Zurückhaltende Nutzung der Mitspracherechte und die Relevanz der Fraktionen
Untersuchungen haben gezeigt, dass der Bundestag von seinen vergleichsweise starken formalen
Rechten relativ wenig Gebrauch macht (vgl. Auel 2006b, Sterzing/Tidow 2001: 279f). Weder der EUA
noch die Fachausschüsse machen dem Plenum häufig Beschlussempfehlungen zu EU-Vorlagen: In der
14. Wahlperiode (1998-2002) waren 102 von 3137 EU-Vorlagen Gegenstand einer Beschlussempfeh-
lung (3,3 %), in der 13. Wahlperiode (1994-1998) waren es 166 von 2952 (5,6 %). Im Plenum debat-
tiert wurden nur 2 % (14. WP) beziehungsweise 1,2 % (13. WP) der Vorlagen (Feldkamp 2005: 605).
Dementsprechend ist auch die Anzahl der Stellungnahmen nach Art. 23 Abs. 3 GG niedrig, wenn es
auch seit 2009 eine leichte Zunahme zu geben scheint (Europa-Union 2010). Auch die Sonderrechte
des EUA werden wenig genutzt. Plenarersetzende Beschlüsse sind selten. Wie aus dem Onlinearchiv
des Bundestags hervorgeht, gab es in der 14. WP vier, in der 15. WP nur einen plenarersetzenden
Beschluss.41 Die 16 MdEP, die Mitglieder des Ausschusses sind, nehmen aufgrund zeitlicher Über-
schneidungen mit EP-Terminen nahezu nie an den Sitzungen teil (vgl. Fuchs 2004: 9f).
Für die Zurückhaltung des Bundestages in EU-Angelegenheiten werden in einschlägigen Pub-
likationen verschiedene Gründe genannt. Betont werden der besondere Charakter des europäischen
Politikprozesses, mangelnde Ressourcen und bestimmte Einstellungsmuster der Abgeordneten. So
macht die spezifische Kompetenzverteilung zwischen den EU-Organen den Politikprozess der EU für
die nationalen Parlamente als formal Außenstehende kompliziert und intransparent (vgl. Auel 2006b:
255). Sie verschafft der Bundesregierung als institutionellem Akteur auf der EU-Ebene einen erhebli-
chen Informationsvorsprung. Viele Parlamentarier wissen nicht genau, wie und in welchem Ausmaß
40
Schriftliche Auskunft des Ausschusssekretariats des EUA vom 08.11.2010. 41
Die Zahlen sind zu finden unter http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php?fileToLoad=177&id=1040 und
http://webarchiv.bundestag.de/archive/2007/0206/ausschuesse/archiv15/a20/bilanzen/bilanz_15wp.html.
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
43
sie auf die EU-Politik der Regierung Einfluss nehmen können (vgl. Vollrath 2008). Dazu kommt die
mangelnde Überschaubarkeit der zahlreichen zugeleiteten EU-Dokumente für den einzelnen Abge-
ordneten (vgl. Sterzing/Tidow 2001: 281f). Charakteristisch für die MdB ist zudem der „permissive
consensus“, die wohlwollende Einstellung zur europäischen Integration (vgl. Auel 2006b: 255, Höl-
scheidt 2001, Poguntke 2008). Damit verbunden ist die weit verbreitete Auffassung, dass in erster
Linie das EP für die Sicherstellung der demokratischen Legitimation der EU zuständig sei (Weßels
2005: 452, Weßels 2003). Da europäische Themen in Bundestagswahlen eine sehr geringe Rolle spie-
len und Abgeordnete ihre Einflussmöglichkeit auf EU-Politik als gering einschätzen, fehlt zudem ein
rationaler Anreiz für sie, sich intensiv mit EU-Politik zu befassen (vgl. Saalfeld 2003).
Ein ganz entscheidender Grund für die Zurückhaltung des Bundestages in EU-
Angelegenheiten kann darüber hinaus in der institutionellen Logik des parlamentarischen Regie-
rungssystems gefunden werden (vgl. Auel 2006b, Sterzing/Tidow 2001: 280). Die Regierung kann sich
darin in der Regel auf eine mehr oder weniger komfortable Mehrheit im Parlament stützen. Sie ist
nicht mit einer geschlossenen Legislative konfrontiert, wie es das Modell der strikten Gewaltentei-
lung suggeriert, sondern sie bildet in der Regel mit den sie stützenden Fraktionen eine Handlungs-
einheit (vgl. Lösche 2000: 926, vgl. Auel/Benz 2005: 374f, Eilfort 2003: 570). Raunio (2009: 325)
spricht von einer „Fusion“ der exekutiven und legislativen Zweige in parlamentarischen Demokratien.
Für die Mitglieder der Mehrheitsfraktionen gibt es normalerweise keine Anreize, gegen die politische
Linie und Vorhaben der Bundesregierung frontal vorzugehen. Falls es zu Dissens zwischen Regierung
und parlamentarischer Mehrheit kommt, wird dieser kaum öffentlich ausgetragen werden. Anstatt in
der EU-Politik also die tendenziell öffentlichkeitswirksamen Instrumente der Stellungnahme nach
Art. 23 Abs. 3 GG zu nutzen, werden die Mehrheitsfraktionen eher informelle Wege der Einflussnah-
me auf die Regierung wählen. Vor diesem Hintergrund wird auch ersichtlich, warum ein System der
Mandatierung der Exekutiven durch das Parlament, wie es in Dänemark existiert, in Deutschland
nicht vorstellbar ist – es wäre geradezu systemwidrig (vgl. Beichelt 2009: 252).
Daraus ist zu schließen, dass eine Untersuchung der Europäisierung des Bundestages, die sich
ausschließlich auf die rechtlich verankerten Mitwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten des Bundesta-
ges und auf die Tätigkeit des EUA konzentriert, Gefahr läuft, subtilere und weniger sichtbare Formen
der Europäisierung zu übersehen. Weder ist die Ausstattung mit formalen Kontrollrechten gleichbe-
deutend mit einer Aufwertung des Bundestages, noch besagt die zurückhaltende Nutzung dieser
Rechte, dass Abgeordnete nicht an der europapolitischen Willensbildung des Bundes beteiligt sind.
Dies zeigt sich beispielsweise an der jahrelangen Praxis des EUA, im Falle einer von der Bundesregie-
rung abweichenden Position diese nicht zum Gegenstand einer formalen Beschlussempfehlung ans
Plenum zu machen, sondern sie der Regierung in Form einer schriftlichen Mitteilung zu übermitteln
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
44
(Auel 2006b: 261).42 Auel (2006b), Benz (2004) sowie Auel und Benz (2005) haben mithilfe von Befra-
gungen weitere informelle Verfahren untersucht, mit denen Abgeordnete – unter Umgehung des
Dilemmas nationaler Parlamente zwischen Mitwirkung und Respektierung der Verhandlungsflexibili-
tät der Regierung – an der Europapolitik mitwirken oder sich informieren. Auel (2006b) spricht hier
im Unterschied zur institutionellen Europäisierung von einer informellen oder strategischen Europäi-
sierung, Ladrech (2010) von „Verhaltenseuropäisierung“. Demnach nutzen MdB der Mehrheitsfrakti-
onen die nicht öffentliche Sphäre ihrer Arbeitsgruppen zur informellen Mitwirkung an europapoliti-
schen Positionen der Bundesregierung. Erleichtert wird diese Form der Einflussnahme durch die Tat-
sache, dass viele Parlamentarier im Arbeitsparlament Bundestag Experten in ihrem Themengebiet
sind (vgl. Ismayr 2000, von Oertzen 2006). Eine effektive Mitwirkung hängt vom Informationsgrad der
Abgeordneten ab. Dazu unterhalten einige von ihnen Kontakte zu EU-Institutionen, zu Abgeordneten
anderer nationaler Parlamente, zu den deutschen MdEP ihrer Partei und zu Interessengruppen. Eini-
ge wenige versuchen auch direkt auf der europäischen Ebene Einfluss auf die Politikformulierung zu
nehmen. Durch persönliche Kontakte zu Kommissionsbeamten kann es gelingen, sich schon in einer
frühen Phase in den Politikprozess einzuklinken – in einer Phase, in der die nationalen Parlamente
formal nicht beteiligt sind. Auel spricht hier von „Euro-wizards“. Für die Opposition im Bundestag
stellt sich die Situation etwas anders dar, da sie nicht über regelmäßige informelle Kontakte zu Regie-
rungsmitgliedern in Fraktions-Arbeitskreisen verfügt, und die Regierung zudem auf ihre Unterstüt-
zung formal nicht angewiesen ist. Die sachliche Arbeitsatmosphäre der Ausschüsse gewährt jedoch
auch den Oppositionsfraktionen eine gewisse Einflusschance (vgl. von Beyme 1997: 202, Ismayr
2000: 193, Kranenpohl 1999: 306ff). Daneben beziehen auch die Oppositionsfraktionen Informatio-
nen aus externen Quellen. Neben den Kontakten, die für die Mehrheitsfraktionen bereits genannt
wurden, sind für die Oppositionsfraktionen besonders Netzwerke mit Parlamentariern aus anderen
Mitgliedsstaaten interessant, in denen die jeweilige „Schwesterpartei“ an der Regierung beteiligt ist.
Auch werden Beziehungen zu Landesregierungen mit einer Regierungsbeteiligung der eigenen Partei
unterhalten, um von den europäischen Kontakten der jeweiligen Länderbürokratien zu profitieren.
Die Forschungsergebnisse von Auel (2006b), Benz (2004) sowie Auel und Benz (2005) über
die strategische Europäisierung nationaler Parlamente liefert zusätzliche Evidenz für die Bedeutung
des hier verfolgten Forschungsvorhabens: Es wurde gezeigt, dass einzelne MdB in der Europapolitik
strategische Schritte unternehmen. Welche dieser Schritte – und welche weiteren – aber werden auf
Ebene einer gesamten Fraktion unternommen? Und wie nutzen die Fraktionen die institutionellen
Möglichkeiten, die der Bundestag geschaffen hat? Die Untersuchung der Europäisierung von Fraktio-
nen liefert ein Bindeglied zwischen den Forschungsergebnissen über die institutionelle Anpassung
42
Der Geschäftsordnungsausschuss hat dies als rechtswidrige Umgehung der formalen Verfahren untersagt.
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
45
des Bundestages als Ganzes und den ersten Erkenntnissen über die parallel verlaufende strategische
oder informelle Europäisierung.
Auf die Zentralität der Parteien beziehungsweise Fraktionen, die schließlich das parlamenta-
rische Handeln bestimmen, für die konkrete Europäisierung eines nationalen Parlaments hat in
jüngster Zeit etwa Ladrech (2010) hingewiesen. Auch Raunio und Hix (2000: 149) betonen die Bedeu-
tung der Binnengliederung der Parlamente in Mehrheits- und Oppositionsfraktionen und sehen hier
Forschungsbedarf. Als „wichtigste organisatorische Struktur des Parlaments“ (Sontheimer et al. 2007:
278) müssen die Fraktionen unbedingt herangezogen werden, will man ein vollständiges Bild der
Europäisierung der nationalen Parlamente, hier konkret des Deutschen Bundestages, erhalten.
Schließlich ergibt sich ein Handeln des Parlaments als Ganzes nur aus dem Handeln der einzelnen
Fraktionen beziehungsweise der Mehrheit seiner Mitglieder. Und auch aus einer demokratietheoreti-
schen Sicht – Stichwort duale Legitimation – gibt es gute Gründe für die Thematisierung der Bundes-
tagsfraktionen in der Europäisierungsforschung:
„Wenn nicht zuletzt aus demokratietheoretischen Erwägungen eine weitere (aktive) Europäisierung des
Bundestages für wünschenswert gehalten wird, dann ist eine Europäisierung der Institutionen wohl eine
notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Darüber hinaus müsste viel mehr über eine Europäisie-
rung der Routinen, Strategien und Motivationsstrukturen nationaler Parlamentarier nachgedacht werden
[…].“ (Töller 2004: 50)
3.2.3 Die Grünen im Bundestag
Die Aufgaben und Tätigkeiten der Bundestagsfraktionen sind an anderer Stelle bereits beschrieben
worden. In Bezug auf das Parlament stellen sie dessen Binnenorganisation dar, die seine Arbeitsfä-
higkeit erst ermöglicht. Aus Sicht der Parteien sind sie deren „unverzichtbare Außen-Organisationen“
im Parlament (Schüttemeyer 1999: 39). Die Fraktion ist der Teil einer Partei, der am stärksten in der
Öffentlichkeit steht, da er die Artikulations- und Aggregationsfunktion sowie die Partizipationsfunkti-
on der Parteien in konkreten staatlichen Entscheidungsprozessen wahrnimmt (vgl. Kranenpohl 1999:
37). In den Fraktionen werden die von den Parteien im Sinne ihrer Repräsentationsfunktion aufge-
nommenen Interessen in Form politischer Entscheidungen konkretisiert. Erst durch diesen Prozess
können diese Interessen im politischen System gesamtgesellschaftliche Relevanz entfalten (vgl.
Schüttemeyer 1999: 39). Zugespitzt lässt sich also formulieren: „Letztlich ist die Bildung einer Frakti-
on Daseinszweck, wenn auch nicht einziger, einer Partei.“ (ebd.: 39, vgl. Nickig 1999)43
Bei den Grünen regelt die Geschäftsordnung der Bundestagsfraktion die Zusammenarbeit der
Fraktion mit dem Bundesvorstand der Partei. Demnach wird der Parteivorstand zu den Sitzungen der
Fraktionsversammlung, dem höchsten Beschlussorgan der Fraktion, eingeladen (Bundestagsfraktion
43
Rechtlich existiert eine klare Trennung zwischen Partei und Fraktion (vgl. Kretschmer 1984: 139ff). So sind
Fraktionsmitglieder durch Wahlen legitimiert, Parteimitglieder erhalten ihren Status dagegen durch den Beitritt
zu einer Partei. Die Fraktion ist kein Parteiorgan, und die Partei darf der Fraktion oder deren Mitgliedern keine
Weisungen erteilen.
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
46
Bündnis 90/Die Grünen 2009b). Der Geschäftsführende Fraktionsvorstand, der Geschäftsführende
Parteivorstand und gegebenenfalls die grünen Ministerinnen und Minister beraten mindestens in
jeder Sitzungswoche des Bundestages den Stand der politischen Arbeit. Eine personelle Verschrän-
kung von Fraktion und Partei ist seit einer Urabstimmung im Jahr 2003, in der das Prinzip der Tren-
nung von Amt und Mandat für zwei der sechs Vorstandsmitglieder aufgehoben wurde, zugelassen.
Momentan ist mit Claudia Roth ein Fraktionsmitglied auch im Parteivorstand.
Bevor die organisatorischen und strategischen Europäisierungsschritte der Grünenfraktion im
Bundestag präsentiert werden, wird als Grundlage dafür in diesem Abschnitt zunächst die Organisa-
tionsstruktur der Fraktion dargestellt (vgl. Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen 2009b, Bun-
destagsfraktion Bündnis90/Die Grünen ohne Jahr, von Oertzen 2006, Schüttemeyer 1999, Spöhrer
1999). Wie im Bundestag als Ganzes eine Arbeitsteilung in Form der Ausschüsse verwirklicht ist (vgl.
Ismayr 2000), so gibt es auch innerhalb der Fraktionen eine Spezialisierung. Bei den Grünen hat na-
hezu jedes der 68 Fraktionsmitglieder einen Sprecherposten für ein bestimmtes Politikfeld inne. Ent-
sprechend seiner inhaltlichen Zuständigkeit und seiner Ausschuss-Mitgliedschaft gehört jedes Mit-
glied einem der fünf thematischen Arbeitskreise (AK) an, die europapolitischen MdB etwa dem AK 4
für „Internationale Politik und Menschenrechte“ (Abb. 3). Während die AK zwischen sieben und 19
Mitglieder haben, umfassen die Arbeitsgruppen (AG) der Fraktion nur diejenigen Abgeordneten, die
dem jeweils entsprechenden Bundestagsausschuss angehören. Analog zum EUA ist die AG „Europa“.
Dort besprechen die Fraktionspolitiker die Tagesordnung ihres Ausschusses im kleinen Kreis. In den
thematisch übergeordneten AK werden die Positionen der Fachpolitiker besprochen und eine ge-
meinsame Linie der Fraktion festgelegt, die in der Fraktionsvollversammlung als formal höchstem
Entscheidungsgremium meist nicht mehr diskutiert wird44; zudem werden Redner für die Plenarde-
batten vorgeschlagen. Der gewählte Vorsitzende eines AK wird bei den Grünen Politischer Koordina-
tor genannt wird. Die Politischen Koordinatoren sind qua Amt zugleich Stellvertretende Fraktionsvor-
sitzende, und auch bezogen auf den Bundestag insgesamt gilt, dass die Arbeitskreisvorsitzenden zu
den einflussreichsten Abgeordneten gehören (vgl. Schöne 2009: 166f). Jeder Politische Koordinator
vertritt seinen AK gegenüber der Gesamtfraktion. Auf Mitarbeiterebene ist jedem AK der Grünen ein
Wissenschaftlicher Koordinator zugeordnet, der die Arbeit des Gremiums organisiert.
44
Anträge und Entschließungsanträge, die in einem Arbeitskreis einstimmig verabschiedet werden, müssen in
der Vollversammlung nicht mehr behandelt werden (Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen 2009b).
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
47
Abbildung 3: Organigramm der grünen Bundestagsfraktion. Quelle: (Bundestagsfraktion Bündnis
90/Die Grünen 2009a), eigene Darstellung.
In der Fraktionsvollversammlung treffen sich wöchentlich alle Fraktionsmitglieder. Sie ist das
zentrale Forum für inhaltliche Diskussionen der Gesamtfraktion und entscheidet letztlich darüber,
wer als Redner die Fraktion im Bundestagsplenum vertreten soll. Jedes Fraktionsmitglied hat eine
Stimme in der Versammlung. Die Vollversammlung wählt für jeweils zwei Jahre den Geschäftsführen-
den Vorstand (GfV), der sich aus den beiden Fraktionsvorsitzenden, dem Ersten Parlamentarischen
Geschäftsführer (PGF) und drei weiteren PGF zusammensetzt. Der Erweiterte Fraktionsvorstand um-
fasst außerdem die fünf Arbeitskreiskoordinatoren und die grüne Vizepräsidentin des Bundestags.
Während der GfV die laufenden Geschäfte der Fraktion führt, die Fraktion nach außen vertritt und in
personellen, finanziellen sowie organisatorischen Angelegenheiten entscheidet, koordiniert der Er-
weiterte Fraktionsvorstand die Arbeit der Arbeitskreise und bereitet die Sitzungen der Fraktionsvoll-
versammlung vor.
Für seine Arbeit im Bundestag hat jeder Abgeordneter der Fraktion seine persönlichen Mit-
arbeiter. Darüber hinaus beschäftigt die Fraktion fachpolitische Referenten, die jeweils für ein Sach-
gebiet zuständig und einem AK zugeordnet sind (Abb. 3). Je nach Themengebiet arbeiten die Frakti-
onsreferenten den Mitgliedern eines Ausschusses beziehungsweise einer AG zu, formulieren Anträge
und Anfragen. Auch sie nehmen an den Fraktionsversammlungen und Arbeitskreissitzungen teil. Sie
haben zwar kein Stimmrecht, beteiligen sich aber an Diskussionen und können aufgrund ihrer fachli-
chen Expertise die Politik der Fraktion aktiv mitgestalten (vgl. Schöne 2009: 167ff).
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
48
Insgesamt gleicht die Gliederung der Bundestagsfraktion der Grünen heute derjenigen der
anderen Parteien. Besonderheiten bilden nach wie vor die – seit 2003 „gestutzte“ – Trennung von
Amt und Mandat sowie die Doppelspitze45. Die Kontrollbefugnisse der Fraktionsvollversammlung
gegenüber der Fraktionsspitze wurden eingeschränkt, sodass diese Letztere autonomer agieren kann
als zu Beginn der parlamentarischen Vertretung der Grünen. Auch die Rotation der Abgeordneten im
Zweijahresrhythmus, mit der die Grünen anfangs ihren basisdemokratischen Charakter sicherstellen
wollten, wurde aufgegeben. Selbst die Doppelspitze stellt eine reduzierte Form der Verteilung politi-
scher Verantwortung im Vergleich zu früher dar, als noch drei Personen an der Spitze des Fraktions-
vorstandes standen. Auch ist die Bezeichnung „Sprecher“ für die Fraktionsvorsitzenden heute nicht
mehr üblich. Während die Grünen nach ihrem erstmaligen Einzug in den Bundestag Wert auf eine
öffentliche Gremienarbeit legte, tagen sowohl die Fraktionsspitze als auch die Vollversammlung heu-
te nicht öffentlich. Alles in allem ist also Spöhrers Beurteilung zuzustimmen: „Als qualitativ wesent-
lich andere, mithin „demokratischere“ Fraktion, können die Bündnisgrünen im Bundestag heute be-
rechtigterweise nicht mehr bezeichnet werden“ (Spöhrer 1999: 144, vgl. Haas 2008: 107, Probst
2007, Schüttemeyer 1999: 50, 61).
3.3 Ergebnisse der Interviews: Zuständigkeiten und Aktivitäten in der Europa-
politik
Als Grundlage der Analyse und Hypothesenprüfung in Kapitel 4 werden die Befunde der Recherche
im Folgenden zusammengefasst. Befragt wurden im Rahmen der Untersuchung ein aktives und ein
ehemaliges grünes Mitglied des Bundestages sowie des EUA, zwei grüne Mitglieder des EP, von de-
nen eines auch im EUA mitwirkungsberechtigt ist, ein Mitarbeiter des Bundesparteivorsitzenden und
ehemaligen MdEP sowie die Inhaber verschiedener Mitarbeiterstellen der Bundestagsfraktion und
der Europagruppe von Bündnis 90/Die Grünen, außerdem der Leiter des Europareferats PA 1 der
Bundestagsverwaltung (Abb. 4).
Die Ergebnisse der Interviews mit den Personen der Arbeitsebene der Fraktion werden in
Form kurzer Porträts vorgestellt, aus denen die jeweiligen EU-bezogenen Tätigkeiten und Kontaktbe-
ziehungen hervorgehen. Die Grobgliederung der Porträts folgt den untersuchten Europäisierungsdi-
mensionen. Dies gilt auch für die beiden abschließenden Abschnitte, in denen die europapolitischen
Aktivitäten der befragten Bundestags- und Europaabgeordneten und ihre europäische Vernetzung
zusammengefasst sind. Nicht in Porträtform gehalten ist Abschnitt 3.3.7. Dort werden Ansätze der
Fraktion zur Verbesserung ihrer Europafähigkeit vorgestellt. Für alle Unterkapitel gilt, dass die dort
angeführten Zitate jeweils nicht zwingend der im jeweiligen Abschnitt beschriebenen Stelle zuzuord-
45
Die Linksfraktion hatte in den ersten Jahren ebenfalls eine Doppelspitze, wird seit dem Ausscheiden Oskar
Lafontaines jedoch von Gregor Gysi allein geführt.
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
49
nen sind, sondern auch von anderen Gesprächspartnern stammen können. Alle Zitate sind mit co-
dierten Quellenangaben gekennzeichnet, aus denen jeweils die Funktion der zitierten Person hervor-
geht. Darin steht „Ref.“ jeweils für Referent/Referentin, „MA“ für Mitarbeiter/Mitarbeiterin.
Abbildung 4: Liste der befragten Personen.
3.3.1 Fraktions-Referentenstelle im Verbindungsbüro des Bundestages in Brüssel
In der Dependance des Deutschen Bundestages in Brüssel ist die grüne Bundestagsfraktion seit der
Eröffnung im Februar 2007 vertreten. Die Stelle der Büroleitung wurde als Referentenstelle zu die-
sem Zeitpunkt neu geschaffen und ist bis heute mit derselben Person besetzt. Seither gab es zwei
personelle Aufstockungen. Noch in der 16. Wahlperiode kam eine Sachbearbeitungsstelle hinzu, nach
der Bundestagswahl 2009 eine weitere Referentenstelle, sodass heute drei Fraktionsangestellte in
Brüssel tätig sind. Alle drei verfügen aufgrund ihres Studiums oder ihrer Berufserfahrung über EU-
Expertise. Sie üben für die Fraktion in Berlin eine Frühwarnfunktion aus:
„[…] meine Hauptaufgabe ist, man könnte sagen, „Horchposten“ in Brüssel“. (Ref. Verbindungsbüro Frak-
tion)
Die Aufgaben des „Horchpostens“ umfassen Tätigkeiten, die den Dimensionen „Expertise“ und „In-
formationskanäle“ zuzuordnen sind. Sie zielen darauf, das Informationsniveau der Bundestagsfrakti-
on in der europäischen Politik zu erhöhen und politische Initiativen durch frühzeitige Information
über Entwicklungen in Brüssel zu ermöglichen. Dazu beobachten die Grünen-Mitarbeiter im Verbin-
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
50
dungsbüro das politische Geschehen in Brüssel ständig. Über alle Entwicklungen, die aus grüner Sicht
interessant sein können, gilt es die Bundestagsfraktion rasch und gegebenenfalls fortlaufend zu in-
formieren. Dazu müssen die Fraktionsmitarbeiter in Brüssel über politische Vorhaben und Projekte
der Bundestagsfraktion gut informiert sein. Um dies sicherzustellen, fährt die interviewte Referentin
häufig nach Berlin. Entsprechende Besuche finden etwa einmal monatlich mit dem Ziel statt, sich
durch persönliche Kontakte und die Teilnahme an Gremiensitzungen informiert zu halten. Die Besu-
che erfolgen meist in Sitzungswochen des Bundestages. Die Brüssel-Referentin nimmt dann nach
Möglichkeit an den Sitzungen der Arbeitsgruppe Europa teil. Auch erörtert sie mit Kollegen und Kol-
leginnen in Berlin Möglichkeiten für Initiativen der Fraktion:
„[D]a bin ich auch einfach vor Ort, um auch zu hören, was passiert in Berlin, woran arbeiten die grade, und
einfach auch um mich dann mit einzelnen Kollegen zu treffen […] und dann zu überlegen, was kann man
denn da machen, wie könnte man dazu aktiv werden.“ (Ref. Verbindungsbüro Fraktion)
Zur Information der Bundestagsfraktion geben die Brüsseler Mitarbeiter routinemäßig eine
wöchentliche Kurzzusammenfassung der wichtigsten Ereignisse der jeweiligen Woche heraus, die an
einen breiten Verteiler aus Abgeordneten und Mitarbeitern versandt werden. Darüber hinausgehen-
de Neuigkeiten werden ad hoc per Mail, in Form von Vermerken oder telefonisch an die je nach
Thema betroffene(n) Person(en) in der Fraktion übermittelt.
Die Fraktionsmitarbeiter im Verbindungsbüro sind außerdem wichtige Ansprechpartner für
Abgeordnete, Referenten und Wissenschaftliche Mitarbeiter in Berlin, die sie um Auskunft ersuchen.
Anfragen aus Berlin zu beantworten, ist somit ihr zweites Aufgabenbündel. Es umfasst zum einen die
Nennung von Ansprechpartnern für bestimmte Themen in der Kommission oder im EP, zum anderen
die Recherche und Bereitstellung fachlicher Informationen. Entsprechende Anfragen von Abgeordne-
ten und Mitarbeitern beziehen sich auf konkrete EU-Vorlagen, die sich in der parlamentarischen Be-
ratung befinden, oder auf Themen, zu denen einzelne Abgeordnete arbeiten, dies beabsichtigen oder
parlamentarische Initiativen planen. Gefragt wird etwa nach der Position der verschiedenen EU-
Organe zu einem Vorhaben, zum Stand der Verhandlungen auf der europäischen Ebene oder auch,
ob die Kommission in einem bestimmten Bereich eine Initiative angekündigt hat. Ferner ist das Brüs-
seler Büro Ansprechpartner für Abgeordnetenbüros, die bestimmte europäische Dokumente suchen
und dabei Hilfestellung benötigen.
Neben Frühwarnung und der Beantwortung von Anfragen ist drittens der Aufbau eines Kon-
taktnetzes für die Fraktion und dessen Unterhaltung eine zentrale Aufgabe. Das Brüssel-Team hat
regelmäßig Kontakt zu Mitarbeitern der Kommission und des Rates, zum EP und zur deutschen Euro-
pagruppe der Grünen, der in erster Linie der Information über Vorhaben und Positionen dient. Wich-
tige Kontaktpunkte sind außerdem in Brüssel tätige Verbände und Nichtregierungsorganisationen. Je
nach Thema sind auch die Vertretungen der deutschen Bundesländer Anlaufstellen für den Informa-
tionsaustausch: Einige von ihnen haben Stammtische zu bestimmten Fachbereichen eingerichtet, an
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
51
denen Ländermitarbeiter zusammenkommen, die mit den entsprechenden Themen befasst sind. Die
Ständige Vertretung der Bundesrepublik bei der EU wird demgegenüber als weniger wichtige Anlauf-
stelle bezeichnet. Begründet wird dies mit der Beschränkung auf Auskünfte eher formaler Natur, die
von dort zu erhalten sind. Insofern wird ein enger Kontakt zur Ständigen Vertretung nicht als Mög-
lichkeit betrachtet, an Informationen zu gelangen, die nicht auch in Berlin selbst zu bekommen wä-
ren. Ihre Position zu EU-Vorlagen muss die Bundesregierung gemäß ihrer Unterrichtungspflicht dem
Bundestag ohnehin darlegen. Kontaktiert wird die Brüsseler Vertretung von den Mitarbeitern der
Grünen als Oppositionspartei daher nur in Fragen zu Terminen oder Verfahrensabläufen.
„Ich mein, wenn’s ganz heikle Sachen sind, dann würden sie das eher nicht uns [als Oppositionsfraktion,
C.E.] mitteilen, aber wenn’s einfach darum geht, wie sind die Abläufe, oder irgendwelche Termine oder so,
dann helfen die auch weiter.“ (Ref. Verbindungsbüro Fraktion)
Das von den Mitarbeitern im Verbindungsbüro etablierte Kontaktnetzwerk spielt auch in die
vierte zentrale Tätigkeit hinein: die Besucherbetreuung. Während die Reisen gesamter Bundestags-
ausschüsse nach Brüssel von den Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung organisiert und betreut
werden, sind die Fraktionsmitarbeiter im Verbindungsbüro für individuelle Besuche aus ihrer Fraktion
zuständig. Dies betrifft sowohl einzelne Abgeordnete und ganze Arbeitsgruppen als auch Referenten
und Wissenschaftliche Mitarbeiter von Abgeordneten. Die Brüsseler Fraktionsmitarbeiter erstellen
das Programm für solche Besuche, schlagen je nach thematischem Anlass der Reise geeignete An-
sprechpartner in EU-Institutionen und Verbänden vor und arrangieren Termine beispielsweise mit
dem deutschen Kommissar. Hier zahlt sich laut Interviewpartnerin ihre enge Verbindung mit der Ber-
liner Fraktion aus, da sie in Brüssel gut über die jeweils aktuelle Agenda der Grünen in Berlin infor-
miert ist und die Reiseprogramme so gut auf die Bedürfnisse und Wünsche der Besucher zuschnei-
den kann. Der größte Teil der Tätigkeiten des grünen Büros dient naturgemäß also der Zuarbeit für
die Fraktion. Daneben stehen die drei Mitarbeiter mit den Verwaltungsmitarbeitern im Verbindungs-
büro im Austausch über den „Bericht aus Brüssel“, den das Bundestagsreferat PA 1 den Fraktionen
regelmäßig zukommen lässt. Zwar handelt es sich hierbei um einen Service der Bundestagsverwal-
tung; die Fraktionsmitarbeiter im Verbindungsbüro sind jedoch insofern ein Stück weit involviert, als
sie die Themenvorschläge für den Bericht vorab bekommen und eigene Vorschläge dazu machen
können, also beispielsweise weitere aus ihrer Sicht relevante Themen nennen können, die die Ver-
waltung dann aufgreifen kann.
Als zentrale Kontaktstelle der Bundestagsfraktion zu verschiedenen Brüsseler Institutionen
und Verbänden ist das Grünen-Büro in der Niederlassung des Deutschen Bundestages in Brüssel auch
ein wichtiger Bestandteil der europapolitischen Koordinierung innerhalb der Fraktion. Zwischen dem
Büro und der Bundestagsfraktion gibt es keine zentrale Schnittstelle, sondern es existieren verschie-
dene Verbindungsstränge parallel nebeneinander. Generell steht das Büro mit Abgeordneten und
Mitarbeitern aus allen Fachbereichen in Kontakt. Anders als die Europa-Referentin, die in Berlin an-
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
52
sässig ist, arbeiten die Brüsseler Europa-Referenten nicht primär den Mitgliedern des EUA zu, son-
dern der gesamten Fraktion – wenn auch der Kontakt zu den Europa-Fachpolitikern und deren Mit-
arbeitern aufgrund dessen, dass die interviewte Referentin häufig an den Sitzungen der AG Europa
teilnimmt, besonders eng ist. Die Übermittlung der Dokumente, welche die Brüsseler Mitarbeiter für
die Fraktion sammeln, erfolgt dementsprechend nicht über eine zentrale Schnittstelle, sondern meist
direkt an die jeweils betroffenen Abgeordnetenbüros. Neuigkeiten zu einer Vorlage des Energie-
kommissars zur europäischen Energiepolitik werden beispielsweise direkt an den zuständigen Frakti-
onsreferenten und die Abgeordneten, die sich mit Energiepolitik befassen, weitergeleitet. Besteht
Unklarheit darüber, wen ein bestimmtes Dokument interessieren könnte, sind die Wissenschaftli-
chen Koordinatoren der fünf AK die Adressaten und für die Weiterleitung innerhalb der Fraktion zu-
ständig. Als für die Koordination eines gesamten AK zuständige Fraktionsmitarbeiter sind sie in der
Lage, einzuschätzen, welche Informationen für welche Abgeordnetenbüros relevant sind. Umgekehrt
können sie dadurch, dass sie einen Überblick über die im AK behandelten Themen haben, Rückmel-
dungen nach Brüssel geben. Sie bekommen zudem die direkt an Abgeordneten verschickten Doku-
mente in Kopie.
Das grüne Büro in Brüssel ist nicht nur dazu da, Informationen aus der europäischen Arena in
die nationale Arena zu übermitteln. Es leistet auch einen Beitrag zur Ermöglichung der Ausübung
politischen Einflusses in die umgekehrte Richtung, indem es Abgeordnete dabei unterstützt, direkten
Kontakt zu Mitgliedern und Mitarbeitern der Kommission im jeweiligen Fachbereich herzustellen.
Entsprechende Kontakte werden gesucht, um einerseits mehr über Vorhaben der Kommission zu
erfahren, dienen andererseits dem wechselseitigen Austausch in einem breiteren Sinn. Sie können
darüber hinaus auch genutzt werden, um in der Kommission für politische Positionen zu werben oder
Initiativen anzuregen. Insofern trägt das Brüsseler Fraktionsbüro auch zur Grundlage für Versuche
politischer Einflussnahme bei, die über den formalen parlamentarischen Weg innerhalb des National-
staates und die formale Beteiligung der mitgliedsstaatlichen Parlamente hinaus gehen, wobei Infor-
mationssuche, Austausch und Lobbying nicht immer klar voneinander zu trennen sind. Eine koordi-
nierende Aufgabe in diesem Bereich nimmt das Büro nicht wahr.
3.3.2 Europa-Referentenstelle beim Arbeitskreis 4
Neben den Europareferenten im Brüsseler Verbindungsbüro gibt es eine weitere Europa-
Referentenstelle der Fraktion in Berlin, die inhaltliche und koordinierende Aufgaben hat. Sie existiert
anders als die der Brüssel-Mitarbeiter schon lange – analog zu anderen Fraktionsreferenten, die je-
weils für ein bestimmtes Sachgebiet zuständig sind (Abb. 3). Die interviewte Stelleninhaberin zeich-
net sich durch ausgeprägte EU-Expertise und langjährige Erfahrung mit koordinierenden Aufgaben in
diesem Bereich in anderen politischen Institutionen aus.
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
53
Als Fraktionsreferentin ist sie Ansprechpartnerin für Abgeordnete und deren Mitarbeiter in
fachlichen Fragen ihres Themenbereiches wie beispielsweise in Fragen zu Verfahrensabläufen auf der
europäischen Ebene. Darüber hinaus bringt sie ihr Fachwissen durch inhaltliches Zuarbeiten in die
Positionen der Fraktion ein – eine Funktion, die laut Schöne (2009) bei den Arbeitskreisreferenten
der Grünen und der Linksfraktion besonders stark ausgeprägt ist, da sie aktiver als ihre Kollegen in
anderen Fraktionen an den Gremiensitzungen der Fraktion teilnehmen (Schöne 2009: 170). So bestä-
tigte auch ein Fraktionsmitarbeiter im Interview:
„[…] die Referenten haben eigentlich sowas wie eine politikberatende Funktion hier in der Fraktion.“ (Ref.
Fraktion 1)
Die Bereitstellung fachlicher Expertise ist eng verbunden mit der fraktionsinternen europapo-
litischen Koordinierung, zu der die Referentin ganz wesentlich beiträgt. Sie ist dem für Europapolitik
zuständigen AK 4 zugeordnet und arbeitet in erster Linie den Fraktionsmitgliedern zu, die im EUA des
Bundestages sitzen. Sie bewertet für die Fraktion die Priorisierungsvorschläge des Referats PA 1 der
Verwaltung zu Unionsvorlagen, in denen der EUA federführend oder mitberatend ist. Dies umfasst
die Prüfung der Listen der Verwaltung, auf denen diese für jeden Ausschuss beratungsrelevante und
nicht beratungsrelevante Vorlagen vermerkt, und im Falle von Änderungswünschen die Herstellung
von Einvernehmen zwischen den Fraktionen.
Inhaltliches Zuarbeiten und Koordinieren bedeutet weiterhin, dass die Fraktionsreferentin
den zuständigen Abgeordneten Vorschläge unterbreitet, wie sich die Fraktion zu einer im Ausschuss
beratenen Unionsvorlage positionieren soll. Dazu gehören auch Vorschläge, einen eigenen Antrag
einzubringen. Wenn die Entscheidung für einen Antrag gefallen ist, schreibt sie häufig den Entwurf
dafür, je nach Thema allein oder zusammen mit jeweils fachlich versierten Kollegen. Da der EUA
überwiegend Querschnittsthemen behandelt, ergeben sich daraus zugleich koordinierende Aufga-
ben. Besonders stark ausgeprägt waren diese beispielsweise bei der Befassung mit der Europa-2020-
Strategie. Aufgrund des breiten inhaltlichen Spektrums waren hier fast alle AK der Fraktion betroffen
und beteiligt, ein gemeinsamer Arbeitsprozess musste organisiert werden. Dieser beinhaltete etwa
die Aufgabe, innerhalb der Fraktion zu erklären, was EU 2020 überhaupt ist, denn außerhalb der Bü-
ros der europapolitisch versierten Abgeordneten kann nicht davon ausgegangen werden, dass solche
europäischen Großstrategien hinlänglich bekannt sind. Über die reine Information hinaus war von
der Europareferentin in den verschiedenen Abgeordnetenbüros Überzeugungsarbeit zu leisten, dass
die Fraktion einen Antrag einbringen sollte, und es galt darüber hinaus, Ideen vorzustellen, wie die
grüne Linie aussehen könnte. Den Entscheidungsprozess, den der Antragsentwurf schließlich durch-
lief, galt es weiterhin zu begleiten: Schließlich muss ein Antrag in allen beteiligten AK beschlossen
werden. Nachdem er in den EUA eingebracht worden war, wurde er durch die Referentin nach innen
und nach außen weiter betreut. Dies bedeutete zum einen, Sprechzettel für Fraktionsmitglieder zu
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
54
schreiben und Pressemitteilungen zu verfassen. Zum anderen wurde ein darüber hinaus gehendes
Monitoring gestartet, in dessen Rahmen überwacht wird, wann die nationalen Reformprogramme
der EU-Mitgliedsstaaten verabschiedet werden und ob es erforderlich ist, dieses Thema auf die Aus-
schuss-Tagesordnung zu setzen oder Kleine Anfragen zu formulieren, um von der Bundesregierung
informiert zu werden. Innerhalb der Fraktion hat die Referentin die Aufgabe, in den anderen beteilig-
ten Arbeitskreisen neben dem AK 4 immer wieder nachzuhaken und zu fragen, ob das Thema noch
im Blick ist. Kurzum obliegen der Europareferentin bei AK-übergreifenden Anträgen zu Vorlagen, in
denen der EUA federführend ist, in besonderem Maße die Koordination und das Monitoring inner-
halb der Fraktion.
„Also dass man einfach so ein bisschen die Prozesse im Blick behält. Das tun die Fachpolitiker einfach […]
nicht so in dem Maße, weil sie diese europäischen Prozesse dann eben doch immer mal aus den Augen
verlieren.“ (Ref. Fraktion 1)
Dass die Europareferentin auch eine wichtige Schnittstelle der Fraktion nach außen ist, ist bei
der Beschäftigung mit den Priorisierungsvorschlägen der Bundestagsverwaltung bereits angeklungen.
Dies zeigt sich auch in einigen weiteren Tätigkeiten, die ihr mit der Umsetzung des Lissabonvertrags
in den Verfahren des Bundestages zufielen. So hat die Bundesregierung gemäß dem geänderten
EUZBBG vor Abgabe ihres Votums zu einem Beitrittsgesuch im Rat Einvernehmen mit dem Bundestag
herzustellen. Der EUA ist federführend in der Befassung mit Beitrittsanträgen. Hier galt es zwischen
den Fraktionen des Bundestages ein Verfahren zum Umgang mit Beitrittsanträgen zu entwickeln,
woran die Europareferentin für die Grünenfraktion beteiligt war. Sie war ferner als EU-Expertin ihrer
Fraktion an einer Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages nach Inkrafttreten des Lissabon-
vertrages beteiligt. Bei diesen verfahrensgestaltenden Prozessen kam wiederum die politikberatende
Funktion der Fraktionsreferentin nach innen zum Tragen, die als EU-Expertin die Bedeutung der Ver-
fahrensgestaltung in ihre Fraktion hinein zu vermitteln hatte:
„War jetzt doch ziemlich viel Neuland eigentlich. Wo man eigentlich auch die Politiker erstmal mitnehmen
muss, jedem sozusagen erklären muss, was machen sie hier eigentlich jetzt gerade [lacht], und das ist
eben auch meine Aufgabe gewesen. Also das dann sozusagen immer wieder aufzubereiten, zu erklären,
warum müssen wir jetzt da unser Einvernehmen erteilen.“ (Ref. Fraktion 1)
Die koordinierenden Tätigkeiten spielen im Aufgabenspektrum der Europareferentin also
eine wichtige Rolle. Ihrer eigenen Einschätzung nach kommt die europapolitische Koordination den-
noch zu kurz, da das fachliche Zuarbeiten für die europapolitischen Abgeordneten und deren Arbeit
im EUA sehr viel Raum einnimmt. AK-übergreifende koordinierende Arbeit ist von der Stelle des Eu-
ropareferenten aus nur in einigen wenigen Großprojekten wie etwa der Europa-2020-Strategie mög-
lich. Insofern begrüßte die Gesprächspartnerin die Schaffung der neuen Europa-Referentenstelle
beim Fraktionsvorstand, deren Aufgabenschwerpunkt in der Koordinierung liegt (vgl. Kapitel 3.3.3).
Neben Koordination und Bereitstellung von Fachwissen gehört auch die Aufrechterhaltung
verschiedener Informations- und Austauschkanäle in den Zuständigkeitsbereich der Europareferen-
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
55
tin. Zu den Fraktionsmitarbeitern im Brüsseler Verbindungsbüro hat sie per Mail und Telefon regel-
mäßig Kontakt, und als Ort der persönlichen Kommunikation dient das mit der Brüssel-Referentin
während deren Berlin-Aufenthalten geteilte Büro.
Ein weiterer Berührungspunkt zwischen Brüsseler und Berliner Europareferenten ist die Or-
ganisation von Arbeitskreisreisen nach Brüssel. Die Berliner Referentin betrachtet diese Besuche als
wichtige Maßnahme, um insbesondere in stark vergemeinschafteten Politikbereichen direkte Kon-
takte zwischen Bundestagsabgeordneten und ihren thematischen Konterparts im EP zu fördern. Zur
Organisation des Programmes von Arbeitskreisreisen trägt sie von Berlin aus bei, während Termine
mit Ansprechpersonen in Brüssel vom Verbindungsbüro aus organisiert werden (vgl. Kapitel 3.3.1).
Kontakte zu Bundesländern zu pflegen, gehört nicht im breiten Stil zu den Aufgaben der Re-
ferentin, da diese nicht in größerem Umfang bestehen. Punktuell sind Beziehungen zu Ländern aber
durchaus vorhanden. So wurden Mitarbeiter des grünen Bremer Europasenators, insbesondere eine
in der Berliner Landesvertretung tätige Mitarbeiterin, als „Hot Spot“ bezeichnet. Als Besonderheit gilt
der Austausch mit der baden-württembergischen Landtagsfraktion der Grünen, da diese ebenso wie
der gesamte baden-württembergische Landtag europapolitisch überdurchschnittlich engagiert sei.
Für die anderen Bundesländer gelte, dass zwar europapolitische Informationen aus der Bundestags-
fraktion an die dortigen Grünenfraktionen übermittelt würden – etwa über Anträge oder andere
parlamentarische Aktivitäten, die für die Landtagsfraktionen von Interesse sein könnten –, jedoch
kein eigentlicher permanenter Austausch stattfinde. Die Ursache wird in der „Regierungslastigkeit“
der Europapolitik der Länder gesehen.
Zweimal jährlich findet jedoch ein Austausch in institutionalisierter Form statt. Das Europa-
Bund-Länder-Treffen der Grünen wird vonseiten der Bundestagsfraktion von der Europareferentin
organisiert. Dort kommen europapolitisch interessierte Abgeordnete aus Bundestag, Landtagen und
Europagruppe zusammen, außerdem Mitglieder der Landesarbeitsgemeinschaften Europa und Mit-
arbeiter der Partei, die sich mit Europapolitik beschäftigen. Aus den Fraktionen der Landtage und des
Bundestages sind dies in der Regel die europapolitischen Sprecher und diejenigen Abgeordneten, die
schwerpunktmäßig europapolitisch arbeiten, inklusive ihrer persönlichen Mitarbeiter. Die Treffen
sind jeweils einem bestimmten Thema gewidmet, beispielsweise den Strukturfonds oder der Ge-
meinsamen Agrarpolitik. Je nach Thema nehmen daher neben den europapolitischen Fachleuten
auch Fachpolitiker der verschiedenen Ebenen einschließlich der Europagruppe teil.
3.3.3 Europa-Referentenstelle beim Fraktionsvorstand
Eine weitere Europa-Referentenstelle ist beim Geschäftsführenden Fraktionsvorstand (GfV) angesie-
delt. Diese neue Stelle wurde erstmals im September 2010 besetzt, und zwar mit einer von der Mit-
arbeit im Büro des europapolitischen Sprechers mit Europathemen vertrauten Person. Die Bezeich-
nung der Stelle als „Referentin für Europapolitik – Monitoring und Koordination“ weist schon darauf
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
56
hin, was von ihr aus geleistet werden soll: Angestrebt wird eine die gesamte Fraktion umfassende
Koordinierung der Europapolitik. Mit der Schaffung dieses Postens hat der personelle Ausbau im
Bereich der europapolitischen Koordinierung einen vorläufigen Abschluss gefunden. Eine erste Koor-
dinierungsstelle, die den Bereich Europa mit einschloss, war im Jahr 2006 mit der Bund-Länder-
Kommunen-Europa-Koordination beim GfV eingerichtet worden. Die Arbeitslast in den unterschiedli-
chen Zuständigkeitsbereichen ist indes gewachsen – durch die vermehrten grünen Regierungsbeteili-
gungen in Bundesländern einerseits und die Verbesserung der Europafähigkeit des Bundestages
durch die Schaffung des Referats PA 1 andererseits – und war nach Aussage einer Fraktionsmitarbei-
terin im Laufe der 16. Wahlperiode von einer Person nicht mehr zu bewältigen.
„Und ich hab dann am Ende der Legislatur das auch ziemlich deutlich kommuniziert, das geht so nicht, also
das schafft man einfach nicht.“ (Ref. Fraktion 1)
Als Konsequenz wurde die Stelle in der 17. Wahlperiode in zwei Positionen aufgeteilt: Bund-Länder-
Kommunen einerseits und Unionsangelegenheiten andererseits, was die Europa-Koordinierung deut-
lich gestärkt hat. Somit gibt es nun neben der schwerpunktmäßig auf die AG Europa bezogenen Refe-
rentenstelle auch eine Monitoringstelle außerhalb der Arbeitskreisstrukturen (Abb. 3).
„[E]s gibt auch eine neue Fraktionsvorstandsreferentin, die sich mit Europafragen beschäftigt, damit sich
nicht nur der Arbeitskreis, der sich mit Europapolitik beschäftigt, für Europafragen verantwortlich fühlt,
sondern dass es im Sinne eines Mainstreamings auch in allen anderen Arbeitskreisen eine systematische
Monitoringaufgabe und ein Mitdenken, sage ich mal, der Brüsseler Ebene gibt.“ (MA Fraktions-AK)
Wie sich der pauschale Auftrag der Koordination und des Monitorings in einzelne Aufgaben und Tä-
tigkeiten umsetzt, muss sich wie bei jeder neu eingerichteten Stelle erst noch herausstellen. „Ver-
erbt“ wurde ihr eine Monitoring-Aufgabe des Vorgängerpostens der Bund-Länder-Kommunen-
Europa-Koordination, die zum Ziel hat, für ein „Mitdenken“ der Brüsseler Agenda zu sorgen, wie es
ein Fraktionsmitarbeiter ausdrückte: Die Verarbeitung des jährlichen Arbeits- und Legislativpro-
grammes der Kommission. Dieses wird mittlerweile von der Bundestagsverwaltung der Ausschuss-
struktur des Bundestages entsprechend aufbereitet und den Fraktionen als „Europapolitische Vo-
rausschau“ übermittelt. Ein Team aus Europa-Fachleuten der Fraktion hat vor einigen Jahren ein Ver-
fahren entwickelt, darauf basierend europapolitische Schwerpunkte der Fraktion für das jeweils
kommende Jahr zu planen. Anhand der Vorausschau erarbeiten Europa-Fraktionsreferenten aus Ber-
lin und aus dem Verbindungsbüro Vorschläge, welche Themen und möglichen Initiativen sich für die
Fraktion daraus ergeben könnten. Diese Ideen beraten sie in Gesprächsrunden jeweils mit dem Wis-
senschaftlichen Koordinator und den Referenten jedes Arbeitskreises, um für jeden Arbeitskreis in-
haltliche Schwerpunkte festzulegen, die im Laufe des Jahres verfolgt und im Blick behalten werden
sollen. Teilweise finden diese Gespräche auch auf Arbeitsgruppenebene, also in kleineren Einheiten,
statt, um sie kürzer zu halten. In den Gesprächen mit den Arbeitskreisen und -gruppen das Gleich-
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
57
gewicht zwischen Effizienz und dem notwendigen Blick auf die gesamte Themenpalette zu wahren,
um überhaupt Schwerpunkte setzen zu können, wird als Gratwanderung betrachtet:
„Wenn ich in die zu kleinen Strukturen gehe, dann hält jede kleine Arbeitseinheit ihr Projekt natürlich für
das allerwichtigste, weil es überhaupt gar keinen Vergleich mehr gibt.“ (Ref. Fraktion 1)
Dieses Verfahren der Verarbeitung des Arbeitsprogramms der EU-Kommission zielt darauf, europa-
politische Themen gemäß ihrer Querschnittsnatur in den ganz normalen Prozess der Schwerpunkt-
setzung der Fraktion einzugliedern:
„[W]ir haben […] ein eigenes Verfahren immer schon gehabt, um Schwerpunkte in der Fraktion zu entwi-
ckeln, […] die europäische Ebene spielte dabei überhaupt keine Rolle, die war überhaupt nicht im Blick.“
(Ref. Fraktion 1)
„[D]as PA 1 macht eine unheimliche Serviceleistung für die Abgeordneten und wir möchten das eben nut-
zen und gucken, wie wir vor dem Hintergrund der knappen Zeit und Ressourcen, die wir auch haben, und
der Fülle von Themen, die in Brüssel anstehen, politische Schwerpunkte setzen können. Früher hat man
das noch ziemlich individuell gemacht, jeder hat es irgendwie in seinem Ausschuss diskutiert, also wenn
dann die Verteidigungsausschussleute ihre Vorschau gekriegt haben, haben sie das unter sich besprochen,
und jetzt wollen wir das ein bisschen mehr zusammenfügen und gucken, wo sind eigentlich die großen Li-
nien und wo gibt es Überschneidungen und Schwerpunkte, deshalb haben wir eben noch eine Stufe
dazwischengeschaltet.“ (MA Fraktions-AK)
Die für solche Planungs- und Monitoringaufgaben zuständige Stelle wurde bewusst beim Vorstand
eingerichtet. Da alle politischen Fachbereich betroffen sind, wird es als Vorteil gesehen, die abstim-
mende und gewissermaßen auch überwachende Funktion von einer Position außerhalb der Arbeits-
kreisstrukturen aus und mit dem Rückhalt im Fraktionsvorstand wahrnehmen zu können und von
dort aus auch die als Schwerpunkte festgelegten Themen mit verfolgen zu können.
„[Es] hatte sich schon herausgestellt, dass wenn man als Europareferentin aus einem Arbeitskreis heraus
versucht, solche Themen mit anderen Arbeitskreisen zu koordinieren, dass das relativ schwierig ist. Das
hat was zu tun mit… ja, ein Arbeitskreis will sich auch ungern von anderen so reinregieren lassen, ne, also
das ist ja in einer Organisation immer so… aber auch einfach damit, dass es häufig die politische Rücken-
deckung auch vom Vorstand braucht, um bestimmte Konflikte aufzuklären.“ (Ref. Fraktion 1)
Die Einbeziehung der Fraktionsmitarbeiter im Verbindungsbüro in die Schwerpunktsetzung schafft
zugleich die Grundlage für einen guten Informationsfluss, da Informationen so zielgerichtet gefiltert
und zugeleitet werden können. Zwischen der Monitoringstelle und dem Brüsseler Fraktionsbüro exis-
tiert auch ein Austausch in Form von Reisen. Welche Bedeutung Reisen nach Brüssel für die neue
Stelle haben werden, wie häufig sie stattfinden werden und zu welchen Kontaktpersonen, muss sich
dabei noch herausstellen.
„[A]lso wie häufig, kann ich jetzt noch nicht sagen, also es nicht so, dass ich sagen kann, ich bin immer da
und dann da, also das ist mir selber überlassen, das hängt natürlich davon ab, was es für Anlässe gibt, da-
hin zu fahren.“ (Ref. Fraktion 2)
3.3.4 Wissenschaftliche Mitarbeiter der Abgeordneten
Neben den Fachreferenten sind auch die Wissenschaftlichen Mitarbeiter der Abgeordneten relevante
Akteure in der Europapolitik der Fraktion. Denn je nach Thema einer EU-Vorlage, eines Vorhabens
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
58
der Kommission oder einer politischen Initiative der Fraktion spielt EU-Politik in allen Fachbereichen
eine Rolle. Auch die Abgeordneten, die nicht auf EU-politische Themen spezialisiert sind, betreiben
also durchaus EU-Politik. Insofern sind auch ihre Wissenschaftlichen Mitarbeiter, die ihnen sowohl
organisatorisch als auch fachlich zuarbeiten, mehr oder minder stark mit europapolitischen Themen
befasst. Sie recherchieren, arbeiten inhaltlich an parlamentarischen Initiativen ihres Abgeordneten
und unterstützen seine parlamentarische Arbeit organisatorisch. Zu den für die europapolitische
Arbeit relevanten Informationsquellen gehören unter anderem der wöchentliche Bericht aus Brüssel
und die thematischen Sachstandsberichte des Europareferats der Bundestagsverwaltung. Je nach Art
und Relevanz einer Initiative stehen die MdB-Mitarbeiter bei ihrer unterstützenden Arbeit im Aus-
tausch mit dem jeweiligen Fraktionsreferenten. Überhaupt bilden die Wissenschaftlichen Mitarbeiter
in den Abgeordnetenbüros das Bindeglied zwischen den Abgeordneten und den Fraktionsreferenten,
im EU-Bereich speziell die Europareferentin. So gehen die Positionierungsvorschläge, welche der für
einen Ausschuss zuständige Fraktionsreferent den mit einer EU-Vorlage befassten Abgeordneten
unterbreitet, immer durch die Hände der jeweiligen Wissenschaftlichen Mitarbeiter. Wirbt bei-
spielsweise die Europareferentin dafür, zu einer Vorlage einen eigenen Antrag einzubringen, muss sie
in den einzelnen MdB-Büros Überzeugungsarbeit leisten. Die Ebene der Mitarbeiter steht in der Re-
gel chronologisch vor der politischen Ebene wie der Diskussion eines Antrags in einem Arbeitskreis.
Zusammen mit den Fraktionsreferenten bilden die Wissenschaftlichen Mitarbeiter die Ver-
bindungsstellen zwischen Abgeordnetenbüros. Dies ist bei EU-Vorlagen und parlamentarischen Initia-
tiven wichtig, an denen mehrere Fachpolitiker der Fraktion beteiligt sind. Die Wissenschaftlichen
Mitarbeiter unterstützen die Koordination zwischen den Abgeordneten. Sie unterscheiden sich bei
dieser Tätigkeit von den Fraktionsreferenten darin, dass sie jeweils klar einem einzelnen Parlamenta-
rier zugeordnet und für dessen Geschäfte zuständig sind, während die Referenten thematisch defi-
nierte Zuständigkeiten haben und nicht das Alltagsgeschäft einzelner Abgeordneter organisieren.
Die inhaltlichen Zuständigkeiten des Personals eines Parlamentariers sind für gewöhnlich
entlang seiner Schwerpunktthemenbereiche aufgeteilt. So haben beispielsweise die europapoliti-
schen Fachpolitiker der Fraktion jeweils einen Mitarbeiter, der Ihre Arbeit im EUA unterstützt. Dieje-
nigen Wissenschaftlichen Mitarbeiter, die in den Büros der EUA-Mitglieder für deren europapoliti-
sche Arbeit zuständig sind, haben in der Regel eine gewisse EU-Expertise aus Studium, Praktika oder
erster Berufserfahrung. Bislang ist es allerdings nicht Standard, in den Stellenausschreibungen für alle
Stellen in der Fraktion, die mit Europapolitik zu tun haben – also auch für Wissenschaftliche Mitarbei-
ter in Politikbereichen, die stark vergemeinschaftet sind – EU-Expertise als Voraussetzung zu nennen.
Es hängt also von dem einzelnen Abgeordneten ab, inwiefern entsprechende fachliche Expertise be-
reits bei der Einstellung verlangt wird. Hier wird von einer fachlich versierten Fraktionsangestellten
Verbesserungspotenzial gesehen:
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
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„[D]as ist einer der Punkte, der dringend verbesserungsbedürftig ist. Es passiert natürlich schon [dass ein
Abgeordneter bei der Einstellung von Mitarbeitern auf EU-Expertise achtet, C.E.], aber es passiert sozusa-
gen fallweise, in gewisser Weise manchmal auch ein bisschen zufällig, wenn der Abgeordnete es selber so-
zusagen auf dem Zettel hat, aber es passiert nicht systematisch, es gehört bei uns in der Fraktion nicht als
Standardqualifizierung sozusagen in jede Ausschreibung rein oder so.“ (Ref. Fraktion 1)
Die fachliche EU-Expertise der Mitarbeiter in den Abgeordnetenbüros, also beispielsweise die Kennt-
nis der politischen Abläufe in der EU-Rechtssetzung, wird durch Fördermaßnahmen zu stärken ver-
sucht, auf die in einem separaten Abschnitt eingegangen wird (vgl. Kapitel 3.3.7).
Die Wissenschaftlichen Mitarbeiter spielen auch für das EU-bezogene Kontaktnetz der Frak-
tion eine Rolle. So gibt es nicht nur persönliche Kontakte zwischen einzelnen Abgeordneten des Bun-
destages und des EP, sondern auch zwischen dem jeweiligen Personal. In den Fällen, in denen gute
Beziehungen zwischen den jeweiligen fachpolitischen Konterparts beider Ebenen bestehen, tauschen
sich häufig auch die Mitarbeiter untereinander aus. So steht das Büro des europapolitischen Spre-
chers der Fraktion in wöchentlichem Telefonkontakt mit der EU-Ebene. Die Mitarbeiter begleiten ihre
Abgeordneten zum Teil auch auf Reisen nach Brüssel. Darüber hinaus nehmen insbesondere die Mit-
arbeiter des europapolitischen Sprechers gemeinsam mit ihm an den halbjährlichen Europa-Bund-
Länder-Treffen teil. Je nach thematischem Zuschnitt der Treffen trifft dies auch auf das Personal an-
derer Fachabgeordneten zu.
Außerdem fällt den Mitarbeitern, wenn dies als Teil der Informationsrecherche für ihr MdB
notwendig wird, die Kontaktaufnahme mit den Fraktionsmitarbeitern im Brüsseler Verbindungsbüro
des Bundestages oder mit der Kommission zu. Daneben sind sie auch an der Kontaktpflege zu gesell-
schaftlichen Akteuren wie thematisch relevanten Verbänden oder Thinktanks beteiligt. Dabei spielt
die Teilnahme an Konferenzen und Tagungen eine Rolle.
„Also es gibt nicht nur diesen Austausch auf der Abgeordnetenebene, sondern mindestens so intensiv
auch auf der Mitarbeiterebene, also die für Europapolitik zuständig sind, die Wissenschaftlichen Mitarbei-
ter sowieso, aber auch von Fachabgeordneten“. (MdB 2)
3.3.5 Wissenschaftliche Koordination des Arbeitskreises 4
Auf einer im Vergleich zu den persönlichen Mitarbeitern der Abgeordneten organisatorisch höheren
Ebene sind die Wissenschaftlichen Koordinatoren angesiedelt. Befragt wurde der Koordinator des
Arbeitskreises 4, „Internationale Politik und Menschenrechte“, in den auch die AG Europa eingeglie-
dert ist. Als Bindeglied zwischen dem Fraktionsbüro in der Brüsseler Dependance des Bundestages
und der Berliner Fraktion nehmen die Wissenschaftlichen Koordinatoren eine wichtige Position in der
Koordination der Europapolitik der Grünen ein, die am Beispiel des Koordinators des AK 4 exempla-
risch erläutert werden soll. Die Mehrzahl der Dokumente, die von den Fraktionsreferenten im Ver-
bindungsbüro nach Berlin geschickt werden, geht direkt an die mit dem jeweiligen Thema befassten
Abgeordnetenbüros. Innerhalb des AK 4 bekommt der Wissenschaftliche Koordinator diese Informa-
tionen jeweils in Kopie zur Kenntnis. Er fungiert gewissermaßen als „zweite Sicherung“, indem er die
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
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Adressaten prüft und die Informationen, falls sie seiner Einschätzung nach noch für weitere Personen
relevant sind, zusätzlich an das entsprechende Büro weiterleitet. Als Wissenschaftlicher Koordinator
hat er den Gesamtüberblick über die Themen, die von den Mitgliedern des AK bearbeitet werden,
und somit auch über die Themen mit fachlichem Schwerpunkt Europa. Je nach Anlass erfolgt die
Weiterleitung der Dokumente aus Brüssel mit der Bitte um Aufarbeitung, parlamentarische Beglei-
tung oder eine parlamentarische Initiative zu dem Thema. Dies gilt auch für Dokumente, die den
Kollegen im Verbindungsbüro relevant erscheinen, denen sie jedoch keinen eindeutigen Adressaten
zuordnen können. Hier übernimmt der Koordinator die Zuordnung und Verteilung.
Weiterhin ist er an der Schwerpunktsetzung anhand der jährlichen Europapolitischen Voraus-
schau beteiligt, die das Europa-Referenten-Team zusammen mit den Koordinatoren und Referenten
jedes Arbeitskreises einzeln vornimmt. In der Folge der Schwerpunktsetzung hat er bezogen auf den
AK 4 einschließlich der AG Europa ein Auge auf deren Umsetzung. Insofern hat er für einen wichtigen
Teil der europapolitischen Arbeit der Fraktion eine koordinierende Funktion.
Auch für die Herstellung und Unterhaltung von Kontakten spielt der Koordinator eine Rolle.
Innerhalb seines AK ermuntert er sowohl die Arbeitsgruppen als auch einzelne Abgeordnete dazu,
Reisen nach Brüssel zu unternehmen, um Arbeitskontakte zu EP-Abgeordneten herzustellen. Wenn
einzelne MdB fahren, nimmt er dies zur Kenntnis. Fährt eine ganze AG, so kommt es auch vor, dass er
sie begleitet. So hat er stets einen Überblick darüber, welche Kontakte innerhalb des AK 4 bestehen –
und an welcher Stelle es möglicherweise noch Verbesserungsbedarf gibt. Außerdem bemüht er sich
um stetigen Kontakt zum Referat PA 1 der Bundestagsverwaltung. Immer wieder werden zu Sitzun-
gen von Arbeitsgruppen die thematisch entsprechenden Mitarbeiter des Europareferats eingeladen.
Insgesamt liegt die Bedeutung des Wissenschaftlichen Koordinators sowohl im Allgemeinen
als auch in Bezug auf die Europapolitik seines Arbeitsbereichs im Gesamtüberblick, den er über die
Themen und Aktivitäten der betreffenden Abgeordnetenbüros hat.
„Also, wissen, was läuft, ist natürlich eine ganz wichtige Geschichte.“ (MA Fraktions-AK)
3.3.6 Koordination der Europagruppe der Grünen im Europäischen Parlament
Neben dem Koordinator des AK 4 der Bundestagsfraktion wurde auch der Koordinator der Europa-
gruppe der Grünen im EP interviewt. Dieser ist zwar nicht bei der Bundestagsfraktion angesiedelt,
spielt für den Austausch zwischen Parlamentariern und Angestellten beider Ebenen aber eine wichti-
ge Rolle. Er fungiert gewissermaßen als Konterpart zu den Europareferentinnen in Berlin, insofern er
für die 14 grünen EP-Abgeordneten aus Deutschland eine Schnittstelle zur Bundestagsfraktion dar-
stellt. Eine zentrale Aufgabe liegt in der Förderung direkter Kontakte zwischen MdB und MdEP auf
fachpolitischer Ebene:
„[S]o wie meine Kollegin in Berlin die Brücke nach Europa bauen soll, soll ich praktisch von Brüssel die Brü-
cke nach Berlin bauen.“ (MA EP-Fraktion)
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
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In dieser Funktion steht er in engem Kontakt mit den Europareferenten im AK 4, im Fraktionsvor-
stand und in der Grünen-Niederlassung im Brüsseler Verbindungsbüro des Bundestages. In Abspra-
che mit den Berliner Referentinnen werden Themen fokussiert, die sowohl für Europa- als auch für
Bundestagsabgeordnete eine breitere Relevanz haben und bei denen daher ein inhaltlicher Aus-
tausch sinnvoll erscheint. Zu diesem Zweck organisiert der Koordinator bei Bedarf beispielsweise
Telefonkonferenzen mit den zuständigen Abgeordneten beider Ebenen, soweit ein entsprechender
Austausch nicht aus Initiative der jeweiligen Parlamentarier bereits geschieht. Als Beispiel wurde im
Interview die zu diesem Zeitpunkt bevorstehende Inanspruchnahme des „Euro-Rettungsschirms“
durch Irland genannt. Ziel ist eine engere Vernetzung der Fachabgeordneten auf Bundes- und EU-
Ebene. Um dies zu erreichen, ist es dem Koordinator ein Anliegen, in Berlin für die Mitglieder der
Europagruppe als Fachpolitiker zu werben. Sie sollen von ihren Kollegen im Bundestag nicht pauschal
als Europa-Politiker gesehen werden, sondern als Fachpolitiker auf bestimmten Gebieten.
„[W]eil wir davon wegkommen wollen, dass Europa oder alle europäischen Themen immer als Europapoli-
tik gesehen werden […]. Da gibt es beispielsweise Jan Philipp Albrecht, der ist für uns im Ausschuss im Eu-
ropäischen Parlament für Innen und Justiz zuständig und ich versuch ihn erstmal so zu „verkaufen“ und
nicht: Jan Philipp Albrecht ist einer von 14 deutschen grünen Abgeordneten im Europäischen Parlament.“
(MA EP-Fraktion)
Falls kein deutscher Europaabgeordneter der Partei ein bestimmtes Thema federführend betreut, bei
dem ein Austausch als wichtig erachtet wird, wird fallweise auch versucht, direkten Kontakt zwischen
einem Bundestagabgeordneten und einem MdEP aus einem anderen Mitgliedsland herzustellen. In
der Regel findet sich jedoch für alle EU-Themen der Bundestagsfraktion ein Gegenüber in der Euro-
pagruppe, da deren 14 Mitglieder alle Ausschüsse des EP abdecken.
Auch der Austausch auf Mitarbeiterebene wird zu fördern versucht, indem Reisen in die
deutsche Hauptstadt organisiert werden. So waren im Jahr 2010 alle Mitarbeiter der deutschen grü-
nen MdEP für zwei Tage in Berlin, um die Bundestagsfraktion, die dortigen Mitarbeiter und das politi-
sche Berlin kennenzulernen.
Um den Austausch zwischen Parlamentariern zu fördern, ist eine genaue Kenntnis der jewei-
ligen Agenden beider Seiten unerlässlich. Über den telefonischen oder E-Mail-Kontakt hinaus, bei
dem neben den europapolitischen Tagesordnungen etwa Termine für die Jahresplanung ausge-
tauscht werden, reist der Koordinator der Europagruppe auch häufig nach Berlin. Im Schnitt ist er
etwa eine Woche pro Monat dort. Nach Möglichkeit nimmt er an den Sitzungen der AG Europa teil,
wo er sich zum einen über Themen und Positionen der Bundestagsabgeordneten informiert, ande-
rerseits über die Position grüner MdEP und Diskussionen auf EU-Ebene Auskunft gibt. Falls er wegen
Terminüberschneidungen nicht vor Ort sein kann, kann er auf Grundlage der Einladung zu den AG-
Sitzungen auch von Brüssel aus Kommentare einspeisen. Wenn es terminlich möglich ist, nimmt er
darüber hinaus auch an den Sitzungen des AK 4 sowie der Gesamtfraktion teil. Der intensiveren Ver-
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
62
knüpfung bundes- und europapolitischer Agenden dient ferner die Teilnahme an Sitzungen und Klau-
suren des Bundesparteivorstandes.
Die Kenntnis der Themen und Positionen beider Ebenen und der jeweiligen Relevanzstruktu-
ren ist die Grundlage für eine zentrale Aufgabe des Politischen Koordinators der Europagruppe, die
bei all seinen Tätigkeiten mitläuft: die Sensibilisierung der Bundestagsabgeordneten und ihrer Mitar-
beiter für europäische Themen, die von der nationalen Ebene aus betrachtet nicht unmittelbar rele-
vant erscheinen:
„[Es ist] ein Teil meiner Arbeit oder meiner direkten Kollegen in der Bundestagsfraktion, dafür zu sensibili-
sieren, zu sagen, okay, das ist für euch auf nationaler Ebene medial nicht das wichtigste Thema, aber da
solltet ihr doch vielleicht mal ein Augenmerk drauf werfen und vielleicht auch mal überlegen, ob ihr da
nicht doch auf parlamentarischer Ebene was auf den Weg bringen möchtet.“ (MA EP-Fraktion)
3.3.7 Förderung der Europafähigkeit: jüngste programmatische Ansätze
Die Sensibilisierung für Europapolitik ist nicht nur ein Anliegen der Fraktionsreferenten im EU-Bereich
und des Europagruppenkoordinators, sondern sie soll neuerdings auch systematischer angegangen
werden. Zu diesem Ziel haben vor wenigen Jahren drei Fraktionsreferentinnen ein Konzeptpapier
entwickelt, das den Titel „Europafähigkeit der Fraktion stärken“46 trägt. Es zielt darauf, die Mitarbei-
ter mit dem Ablauf politischer Entscheidungsprozesse in der EU besser vertraut zu machen. Ihre Fä-
higkeit, die Bedeutung europäischer Impulse für die nationale Gesetzgebung zu erkennen, soll ge-
stärkt und die Bundestagsfraktion insgesamt besser mit der Europagruppe vernetzt werden. Das
Papier gibt einen Überblick über bestehende Maßnahmen und enthält Vorschläge zur Ergänzung
oder Verbesserung. Sie richten sich alle an die Arbeitsebene, also an Mitarbeiter der Fraktion und der
Abgeordnetenbüros. Das Konzeptpapier befindet sich im Stadium eines Entwurfes mit der Unterstüt-
zung des Fraktionsvorstandes, um den sich nun die neu eingerichtete Europa-Referentenstelle beim
Vorstand kümmert. Für die Unterstützung des Vorstandes hat laut einer Fraktionsreferentin auch die
Rückendeckung eines europapolitisch versierten Abgeordneten gesorgt, der als Politischer Koordina-
tor eines Arbeitskreises Vorstandsmitglied ist.
Genannt wird in dem Papier etwa die Möglichkeit für Fraktionsreferenten, ein bis zwei Mo-
nate bei der EP-Fraktion zu hospitieren, um sowohl die Abläufe dort als auch interessante Ansprech-
partner kennenzulernen. Dies soll von der Fraktion durch gezieltes Werben gefördert werden, um die
EU-Kompetenz auch in den nicht EU-spezifischen Fachbereichen zu stärken. Eine weitere Maßnahme,
die bereits vor einigen Jahren entwickelt wurde, ist die Ernennung von „Europa-Lotsen“. Dafür konn-
ten sich Mitarbeiter melden, die ein besonderes Interesse an Europapolitik und an Europa sowie an
der Weiterentwicklung Ihrer EU-Kompetenz haben. Als Einzelmaßnahme vor der Formulierung des
Konzepts „Europafähigkeit der Fraktion stärken“ war diese Idee aber wohl offenbar noch nicht aus-
46
Es handelt sich dabei um ein internes Papier, das der Verfasserin dieser Arbeit nicht vorliegt, dessen Titel und
Inhalt von zwei Gesprächspartnern im Interview allerdings vorgestellt wurden.
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
63
gereift. Zum Zeitpunkt der Interviews befand sie sich in der Evaluierung. Nach Aussage einer Frakti-
onsmitarbeiterin ist es den „Europa-Lotsen“ nicht gelungen, ihre Rolle gegenüber ihren Kollegen zu
finden und tatsächlich als Lotsen wahrgenommen zu werden. Es habe ihnen, so die Einschätzung der
Mitarbeiterin, auch die Möglichkeit zur Weiterbildung gefehlt. An diesem Manko wurde gearbeitet,
so dass dem Fraktionspersonal heute verschiedene Typen von Fortbildungen offen stehen. Dazu ge-
hören Basisschulungen, in denen Grundkenntnisse des Systems und der Politiken und Politikprozesse
der EU vermittelt werden. Darüber hinaus haben EU-Experten der Fraktion ein Planspiel für Mitarbei-
ter entwickelt, die bereits eine gewisse EU-Grundkompetenz besitzen. Sie schlüpfen darin in die Rol-
len verschiedener Akteure eines europäischen Rechtssetzungsprozesses und spielen das Verfahren
selbst nach. Dieses Planspiel ist zum Stand der Interviews einmal gelaufen und wird von der befrag-
ten Fraktionsreferentin positiv bewertet.
Neben den Angestellten auch die Politiker in die Kompetenzförderung einzubeziehen, wird
als wünschenswert, zugleich aber als wenig aussichtsreich gesehen, da diese für die Teilnahme an
entsprechenden Maßnahmen weitaus schwieriger zu gewinnen seien als ihre Mitarbeiter.
„Wir haben zwar auch mal gesagt, wir müssen die Abgeordneten da deutlich stärker mit ins Boot nehmen,
damit sozusagen die politische Bedeutung auch stärker von der Ebene her gesehen wird, es ist aber ein
sehr, sehr dickes Brett, was man da bohrt, das ist sehr mühsam. Abgeordnete zum Beispiel zu einem Plan-
spiel zu kriegen, ist glaube ich… weiß ich nicht, ob das möglich ist.“ (Ref. Fraktion 1)
Die weitere Entwicklung des Konzeptpapiers inklusive der Verwaltungsaspekte war zum Zeitpunkt
der Untersuchung noch offen – die Inhaberin der Vorstands-Referentenstelle kann sich schließlich
erst seit deren Besetzung mit der Umsetzung befassen –, jedoch besteht von Seiten des Fraktionsvor-
standes ein Interesse an seiner Weiterverfolgung:
„[D]ieses ganze Thema, wie man sich im Bereich Europapolitik und Beteiligung Bundestag besser aufstellt
und wie man das intern in der Fraktion umstrukturiert, ist ja eine entscheidende Frage für alle Fraktionen
[…].“ (Ref. Fraktion 2)
3.3.8 Bundestagsabgeordnete
Die grüne Bundestagsfraktion zeichnet sich durch die Besonderheit aus, dass sie über drei Sprecher
im Bereich der Europapolitik verfügt: Europa allgemein, Auswärtige Beziehungen der EU sowie Ost-
europa. Für die Vergabe der europapolitischen Zuständigkeiten – die Interviews deckten die Bereiche
„Europa“ und „Auswärtige Beziehungen der EU“ ab – spielt wie bei den Sprecherposten insgesamt
das persönliche Interesse eine zentrale Rolle. Vor der formalen Wahl durch die Fraktionsversamm-
lung können die Abgeordneten ihre Präferenzen nennen. Diese speisten sich in den hier betrachteten
Fällen aus einem besonderen Interesse für Außenpolitik und einige osteuropäische Länder sowie aus
häufigen Berührungspunkten mit Europapolitik in früheren fachpolitischen Tätigkeiten. Flankiert wird
die europapolitische Arbeit von Mitgliedschaften in verschiedenen Parlamentariergruppen des Bun-
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
64
destages, etwa der deutsch-kroatischen, sowie in diversen Parlamentarischen Versammlungen wie
Europarat oder OSZE.
Die beiden Sprecher für Europa und für Auswärtige Beziehungen der EU sind ordentliche
Mitglieder des EUA. Die beiden weiteren dort vertretenen Abgeordneten der Grünen sind Fachpoliti-
ker aus den Bereichen Agrarpolitik und Rechtspolitik. Die stellvertretenden Mitglieder decken darü-
ber hinaus die Bereiche Finanzpolitik, Entwicklungspolitik, Umwelt- und Verbraucherschutz, Energie-
politik sowie maritime Politik ab. Es handelt sich bei den Mitgliedern des Ausschusses aus der Grü-
nenfraktion also weniger vorrangig um EU-Experten als vielmehr um ein Team, das verschiedene
Politikbereiche abdeckt, die zu den Kernbereichen der Europapolitik gehören. Dies wird bei der Be-
setzung des Ausschusses auch explizit angestrebt, um der Querschnittsnatur der im Ausschuss be-
handelten Themen Rechnung zu tragen. Aus jedem Arbeitskreis mit Ausnahme des kleinen AK 5,
„Wissensgesellschaft und Generationen“, sind Abgeordnete als ordentliches oder stellvertretendes
Mitglied im Ausschuss vertreten. Dies wird nach Aussage der beiden befragten MdB auch stets ange-
strebt:
„Und ich hab dann immer versucht, dass ich […] möglichst aus jedem AK jemanden hatte, zumindest einen
Stellvertreter hatte, so dass alle Spezialgebiete der parlamentarischen Arbeit, die europapolitisch relevant
sind, vertreten sind.“ (MdB 2)
„Der EUA ist ja ein interdisziplinäres Gremium und jemand, der sich ausschließlich mit den Details der EU-
Politik auskennt, der Komitologie, hilft ja nicht wirklich weiter“ (MdB 1)
Eine solch breite thematische Aufstellung der Fraktion im EUA, dies ergibt die Recherche der Aus-
schussmitglieder in den zurückliegenden Wahlperioden, hat sich spätestens seit der 16. Wahlperiode,
also der dritten in der Existenz des EUA, herausgebildet. Auf diese Weise soll auch ein Vorteil für die
fachpolitische Arbeit der Fraktion erreicht werden, da Europapolitik in zahlreichen Fachbereichen im
Bundestag eine Rolle spielt:
„[F]ür die Leute, die in den anderen Ausschüssen europäische Themen mit bearbeiten, ist das natürlich ei-
ne gute Geschichte, Mitglied oder Stellvertretung im Europa-Ausschuss zu machen.“ (MdB 2)
Die fachliche Expertise in europapolitischen Fragen wird von Wissenschaftlichen Mitarbeitern
in den jeweiligen Abgeordnetenbüros unterstützt. Jeweils einer der Mitarbeiter ist, in der Regel ne-
ben anderen Tätigkeiten, speziell für die Arbeit des Abgeordneten im EUA zuständig. Einer der Inter-
viewten gab an, bei der Auswahl seiner Büroleitung sei EU-Expertise stets ein Einstellungskriterium
gewesen. Allerdings ist dies in der Fraktion nicht formal für Wissenschaftliche Mitarbeiter etwa in
stark vergemeinschafteten Politikbereichen festgelegt, sondern liegt im Ermessen jedes einzelnen
MdB.
Um über die europapolitische Dimension ihres Fachbereiches ausreichend informiert zu sein,
unterhalten die Abgeordneten eine Vielzahl von Kontakten. Von den Fraktionsmitarbeitern im Ver-
bindungsbüro bekommen die Abgeordnetenbüros relevante Informationen zu ihren Politikbereichen
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
65
direkt zugeschickt. Ein zweiter Informationsweg besteht über den „Umweg“ des Wissenschaftlichen
AK-Koordinators, falls das Verbindungsbüro den richtigen Adressaten nicht kennt oder aus der Sicht
des Koordinators einen relevanten Empfänger vergessen hat. Auch für Nachfragen steht das Verbin-
dungsbüro zur Verfügung. Eines der befragten MdB-Büros gab an, diesen Kontakt etwa zweimal mo-
natlich zu nutzen. Die Übermittlung von Dokumenten und Neuigkeiten aus Brüssel wird von den Ab-
geordneten und ihren Büros als sehr nützlich eingeschätzt. Nicht nur die Informationen an sich, son-
dern auch die Unterstützung im Zeitmanagement wird positiv beurteilt.
„[Es ist] auch hilfreich, dass die Kollegin uns sagt, was da der Zeithorizont auf europäischer Ebene ist. Und
dass sie natürlich auch gleich die Bundestagsebene mitdenken kann.“ (MA MdB 1)
Über die Fraktionsmitarbeiter im Verbindungsbüro steht den Abgeordneten zudem ein großes Kon-
taktnetzwerk zur Verfügung, auf das nach Bedarf direkt zugegriffen werden kann, indem das Büro
beispielsweise Gesprächstermine für reisende Abgeordnete oder Arbeitsgruppen macht, oder aus
dem Informationen mittelbar über die Fraktionsmitarbeiter in Brüssel nach Berlin gelangen. Auf den
wöchentlichen Bericht aus Brüssel des Europareferats der Bundestagsverwaltung sowie auf die für
seine Ausschussarbeit relevanten Sachstandsberichte zu dort behandelten Vorlagen hat jedes MdB
über das Intranet des Bundestages Zugriff.
Zu EP-Abgeordneten aus Deutschland besteht ein weites Beziehungsnetz. Beide befragten
Bundestagsabgeordnete gaben an, in ihren fachpolitischen Bereichen enge Kontakte zu MdEP zu
unterhalten. Die Kontakte wurden von einem Interviewpartner als sehr dicht und weitgehend kon-
fliktfrei beschrieben. Im Vordergrund stehen thematisch orientierte Verbindungen zwischen jeweils
einem Abgeordneten jeder Ebene. Dabei spielt die unterschiedliche Arbeitsstruktur der beiden Par-
lamente eine Rolle: Die MdB haben breitere Zuständigkeitsbereiche als die MdEP.
„Also ist es klar, dass wir eher mit den MdEPs im Bereich Außenpolitik Kontakt haben wie jetzt zum Bei-
spiel Franziska Brantner, aber dann gibt's auch dadurch, dass wir auch allgemeine Europapolitik machen,
auch sowas wie… ja, dass man sich halt zur Kohäsionspolitik mit der entsprechenden Person in Kontakt
hält.“ (MA MdB 1)
Der Austausch erfolgt per Telefon und Mail, aber auch die Büros, die einige MdEP in Berlin unterhal-
ten, spielen dafür eine Rolle. Persönliche Treffen zwischen einzelnen Abgeordneten beider Ebenen
gibt es ebenfalls, wenn auch nicht zu festen Terminen. Die Häufigkeit gab einer der Abgeordneten
mit etwa einmal im Monat an. Immer wieder gibt es auch gemeinsame Veranstaltungen zu fachpoli-
tischen Themen. So führten ein MdB und ein MdEP aus demselben fachpolitischen Bereich kürzlich
eine gemeinsame Anhörung im EP durch, bei der das MdB als Ko-Veranstalterin auftrat. Auch öffent-
liche Veranstaltungen wie Diskussionsrunden werden immer wieder von zwei oder mehr Parlamen-
tariern der unterschiedlichen Ebenen gemeinsam durchgeführt. Zur Europäischen Bürgerinitiative
etwa arbeiteten zwei MdB und ein MdEP zusammen. Der europapolitische Sprecher der Bundestags-
fraktion begleitete das Thema parlamentarisch im Bundestag, während das ebenenübergreifende
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
66
Team öffentlich in verschiedenen Städten für das Anliegen warb. Ein weiterer Fall der Zusammenar-
beit, der in einem Interview genannt wurde, schloss neben einem MdEP, Mitgliedern eines Arbeits-
kreises der Bundestagsfraktion und dem europapolitischen Sprecher der Bundestagsfraktion auch
den Justizsenator eines Bundeslandes ein. So konnte die Zusammenarbeit bei diesem Thema, dem
sogenannten Swift-Abkommen zwischen der EU und den USA über den Austausch personenbezoge-
ner Daten, auf allen drei Ebenen koordiniert angegangen werden. Neben parlamentarischen Initiati-
ven in EP und Bundestag wurde auch ein Antrag im Bundesrat eingebracht. Der gute Kontakt zwi-
schen den Beteiligten hat es hier ermöglicht, abgestimmt vorzugehen.
„[D]ie haben sich eben sehr früh zusammengesetzt und überlegt, wie sie mit Swift umgehen, und dann hat
eben auf allen drei Ebenen eine sehr dezidierte Abstimmung stattgefunden […].“ (MA EP-Fraktion)
Obwohl die Zusammenarbeit also vorrangig auf einer thematischen Ebene stattfindet und
dabei natürlich auch persönliche Faktoren wie Bekanntschaft aus der Partei eine Rolle spielen, wird
das Beziehungsnetz durchaus als „strukturell“ oder „systematisch“ betrachtet. Dabei wird auf der
Ebene des EP der Koordinator der Europagruppe als wichtiger Verbindungsmann zur Europagruppe
genannt. Eine Struktur und Systematik wird auch mit der bestehenden Vernetzung der Mitarbeiter
begründet. Denn die Kontakte erstrecken sich stets auch auf die Büros der Abgeordneten, die dann
mit ihren Konterparts in den MdEP-Büros in Brüssel in Kontakt stehen, und dies wird durch Mitarbei-
terreisen nach Brüssel gefördert.
„[D]as ist schon auch strukturell. Also wir haben so ein Verfahren, dass zum Beispiel die Mitarbeiter jetzt
auch von allen Fachausschüssen in Abständen, wie auch immer, nach Brüssel fahren, sich dort mit den
Mitarbeitern der Abgeordneten zusammensetzen, um zu gucken, wie funktioniert das EP eigentlich, um
die Sensibilität für Arbeitsprozesse zu erhöhen. Also es gibt nicht nur diesen Austausch auf der Abgeordne-
tenebene, sondern mindestens so intensiv auch auf der Mitarbeiterebene, also die für Europapolitik zu-
ständig sind, die Wissenschaftlichen Mitarbeiter sowieso, aber auch von Fachabgeordneten […]. Da ist kei-
ner zu verpflichtet, aber das wird schon häufig genutzt. Also häufiger in den letzten fünf Jahren, das ist al-
so viel intensiver geworden.“ (MdB 2)
Eine systematische Zusammenarbeit oder Abstimmung der Positionen zu EU-Vorlagen findet
nicht statt. Wohl aber wird bei großen europapolitischen Themen wie beispielsweise dem Umgang
mit der Finanzkrise intensiv das Gespräch mit Mitgliedern der Europagruppe gesucht. Dazu nehmen
gelegentlich auch Europaabgeordnete an Fraktionssitzungen oder Arbeitskreissitzungen der Bundes-
tagsfraktion teil. Zum Teil bemühen sich MdEP bei wichtigen Themen auch, ihre Arbeit in der Bun-
destagsfraktion vorzustellen und dafür zu sensibilisieren, damit auch MdB die Thematik aufgreifen
und innerhalb des Bundestages dazu aktiv werden. Aufgrund der internationalen Zusammensetzung
der EP-Fraktion finden solche Besuche und Inputs nur in die eine Richtung statt.
„[W]enn […] ein deutscher EP-Abgeordneter hier in die grüne Fraktion kommt, ist es irgendwie selbstver-
ständlich und da mokiert sich auch keiner, aber wenn ein deutscher Bundestagsabgeordneter in die ge-
mischte Grünen-EP-Fraktion kommt, dann gibt es eben aus anderen Ländern einige Leute doch immer, die
sich ein bisschen bedrängt fühlen, wenn da die Deutschen jetzt plötzlich auch noch mit einem Bundes-
tagsabgeordneten in der EP-Fraktion auftauchen. […] [D]ie deutschen Grünen sind natürlich immer die
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
67
stärksten hier, immer am meisten und so und da gibt's dann natürlich so Sensibilitäten und das muss man
auch verstehen.“ (MdB 2)
Insgesamt wird der Austausch mit EP-Abgeordneten der eigenen Partei von den interviewten Bun-
destagsmitgliedern klar als Gewinn, der schnelle Informationsfluss auf direktem Wege als äußerst
positiv und nützlich bewertet, da er den Wissenshorizont erweitert.
„[E]s ist für beide Seiten in aller Regel ein Kompetenzgewinn.“ (MdB 2)
Was die Kontakte zur Kommission angeht, bestehen große Unterschiede zwischen den Abge-
ordneten. Ein befragtes MdB gab an, bislang über eine punktuelle Nachfrage zu einem bestimmten
Thema hinaus keine regelmäßigen Kontakte in die Kommission zum Erhalt von Informationen und
zum Austausch zu unterhalten, was auch mit dem noch relativ neuen Bundestagsmandat begründet
wurde. Entsprechende Informations- und Austauschkanäle aufzubauen wird also nicht abgelehnt,
sondern für die Zukunft durchaus als möglich erachtet. Ein anderes MdB sprach von guten persönli-
chen Kontakten in die Kommission, die auch Besuche auf seinen Reisen nach Brüssel umfassen. Für
die gesamte Fraktion sieht er hier allerdings Ausbaupotenzial. Eine langjährige Fraktionsmitarbeite-
rin, die einen guten Überblick über die Vernetzung ihrer Fraktion hat, bestätigte dieses uneinheitliche
Bild. Persönliche Erfahrungen und Bekanntschaften einzelner Abgeordneter spielen dabei eine Rolle.
„Das ist sehr unterschiedlich nach meiner Einschätzung. Also es gibt […] Abgeordnete oder Büros oder
auch Referenten, die […] waren in Brüssel, haben dort Leute in der Kommission getroffen, die mit ihren
Themen sozusagen dort befasst sind, und haben so eine Art Kontakt aufgebaut, der auch irgendwie hält,
also der auch oft dazu führt, dass die immer mal wieder zumindest sich austauschen. […] [W]ie so oft,
nicht, hängt das dann auch oft an Personen oder es hängt daran, ob man da positive Erfahrungen gemacht
hat, ob sowas dann funktioniert und wie lange das funktioniert. Und es gibt andere, die diesen Weg bisher
gar nicht für sich entdeckt haben.“ (Ref. Fraktion 1)
Zu Abgeordneten anderer nationaler Parlamente wird zum Austausch über europapolitische
Fragen kaum Kontakt unterhalten. Die Berührungspunkte zu anderen Parlamentariern liegen in den
Parlamentarischen Versammlungen des Europarats und der OSZE, also außerhalb der Befassung mit
konkreten EU-Vorlagen. Aus diesen Verbindungen gehen in der Regel keine gemeinsamen Initiativen
oder inhaltliche Absprachen oder Informationsanfragen hervor. Ein Interviewpartner verwies dabei
auf das relativ geringe Potenzial der Grünen, die nur in wenigen nationalen Parlamenten in der EU
stark vertreten sind. Zudem ist der Deutsche Bundestag das einzige nationale Parlament, dessen
Brüsseler Dependance eine duale Struktur aus Verwaltungs- und Fraktionsangehörigen hat. Brüsseler
Kontaktleute anderer nationaler grüner Parlamentsfraktionen gibt es somit nicht.
„[U]nser Problem natürlich in Anführungsstrichen ist, dass die anderen Parlamente nicht so ein Büro ha-
ben wie wir, das heißt, es gibt keine anderen grünen Fraktionen von der nationalen Ebene in Brüssel. Das
heißt, somit fällt das dann halt so ein bisschen weg.“ (Ref. Verbindungsbüro Fraktion)
NGOs und Thinktanks, die im Fachgebiet der Interviewperson auf der europäischen Ebene
aktiv sind, werden als wertvolle Informationslieferanten, der Austausch mit ihnen als sehr wichtig
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
68
betrachtet. Diesem Austausch dient auch die Teilnahme an thematisch wichtigen Konferenzen und
Kongressen. Ferner werden auch Vertreter von NGOs nach Berlin eingeladen.
„Also das läuft im Grunde sehr, sehr gut, das kann ich nicht anders sagen. Und ich denke, dass das den an-
deren Fraktionsmitgliedern ganz genauso geht, also dass wir da nicht alleine dastehen.“ (MdB 1)
Die Bundesländer sind für die Informationsgewinnung und den Austausch im Bereich der
Europapolitik begrenzt relevant. Eine Bedeutung wird den Informationen der Landesvertretungen in
Brüssel zugerechnet. Diese gelten als gut informiert und ihre Berichte über Verhandlungen im Rat als
aufschlussreich, da diese meist ausführlicher seien als die entsprechenden Berichte der Bundesregie-
rung und Konflikte stärker beleuchteten. Die Landesvertretungen hätten, wie ein Abgeordneter sag-
te, ein ähnliches Interesse wie die Oppositionsfraktionen: von allen Seiten Informationen zu bekom-
men.
„Also, zur konkreten Informationsgewinnung kommt von den Bundesländern recht wenig. Wenn, dann
diese Berichterstatter-Berichte der Länder […]. Und die sind schon relativ hilfreich für uns, weil sie meist
ausführlicher sind als die der Bundesregierung. Und mehr auch auf Konflikte eingehen.“ (MA MdB 1)
Ein tatsächlicher Austausch mit Landespolitikern wird nur im Rahmen der Europa-Bund-Länder-
Treffen beschrieben, auf denen thematische Diskussionen stattfinden, beispielsweise zur Kohäsions-
politik. Angesichts der wenigen grün mitregierten Länder wird aber auch hier keine systematisch
stärkere Zusammenarbeit mit solchen Ländern als mit anderen gesehen.
Insgesamt ist die Vernetzung der Fraktion in der Europapolitik aus Sicht desjenigen Europa-
Fachpolitikers, der die längste parlamentarische Erfahrung hat, in den vergangenen Jahren spürbar
intensiver geworden, werden die möglichen Informationskanäle besser genutzt – nicht nur von euro-
papolitischen Experten der Fraktion, sondern auch von Fachpolitikern.
Stehen ausschussübergreifende Themen auf der Tagesordnung des Bundestages, spielen für
die fraktionsinterne Koordinierung neben der gewöhnlichen Abstimmung zwischen den Mitarbeitern
auch die Obleutetreffen, die Zusammenkunft aller Ausschuss-Obleute der Grünenfraktion, eine Rolle.
Vor allem in der Vorbereitung auf den Lissabonvertrag waren europäische Angelegenheiten oft Ge-
genstand dieser Treffen, da fachbereichsübergreifende Themen wie Verfahrensänderungen im Bun-
destag besprochen werden mussten.
Die Ausweitung der Subsidiaritätskontrolle durch die Umsetzung des Lissabon-Vertrags hat
keine Zuständigkeitsänderung gebracht. Verantwortlich für die Beachtung der Subsidiaritätsprüfung
ist innerhalb der Fraktion jeweils das Büro des Abgeordneten, der sich für die Fraktion mit einer Vor-
lage beschäftigt. Insgesamt wird dieses Instrument aber für die Fraktion nicht als besonders bedeut-
sam eingestuft, da es mit einem Quorum versehen ist und daher für eine einzelne nationale Parla-
mentsfraktion weniger interessant ist. Die Möglichkeit der Stellungnahmen nach Art. 23 GG bietet
dagegen die Option, sich tatsächlich inhaltlich zu positionieren.
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
69
Die Frage nach der Nutzung direkter Kontakte in die EU-Kommission für den Versuch, Politik
auf der europäischen Ebene zu beeinflussen, wird von den Abgeordneten sehr unterschiedlich be-
antwortet. Zum Teil ergeben sich diese Unterschiede bereits aus dem Vorhanden- oder eben Nicht-
vorhandensein entsprechender Kontakte. Ein MdB, das noch nicht über Kontakte in die Kommission
verfügt, kann sich deren Aufbau durchaus als sinnvoll und erstrebenswert vorstellen. Abhängig ge-
macht wird dies von den bearbeiteten Themen.
„[W]enn wir uns vielleicht dem nächsten Thema widmen, […] wo wir uns jetzt erstmal einarbeiten und da
kann es in einem, anderthalb Jahren natürlich schon sein, dass man da auch intensiver mit den Kommissi-
onsmitarbeitern zusammenarbeitet und versucht, an der einen oder anderen Stelle Einfluss zu nehmen.
Also das wird am Ende so sein […].“ (MdB 1)
Das andere MdB gab an, bei einigen Themen häufiger in direkten Gesprächen mit Kommissionsmit-
arbeitern die Position der Fraktion deutlich gemacht zu haben. Vonseiten der Kommission werde dies
positiv aufgenommen.
Ein formaler Weg der direkten Mitsprache auf der europäischen Ebene ist die Teilnahme an
Konsultationen der Kommission zu ihren Vorhaben, beispielsweise zu Grün- und Weißbüchern. So-
wohl einzelne Abgeordnete und Gruppen von Abgeordneten als auch die Gesamtfraktion auf Initiati-
ve eines einzelnen Parlamentariers nehmen immer wieder an Konsultationen teil. Dies wird durch-
weg als sinnvolle Möglichkeit betrachtet, die eigene Position zu einem bestimmten Vorhaben der
Kommission zum einen frühzeitig, zum anderen über einen zusätzlichen Kanal neben dem national-
parlamentarischen in die politische Diskussion einzubringen. Ein Abgeordnetenbüro begründete die-
se Einschätzung damit, dass die Kommission in der Diskussion mit dem Rat auf eine Konsultation
verweisen könne, wenn zahlreiche Parlamente und Abgeordnete daran teilgenommen haben, was
der Position der Kommission mehr Gewicht verleihen kann. Insofern ermöglicht die Teilnahme an
einem Konsultationsverfahren zwar nicht das Werben für ein spezifisches eigenes Anliegen, wohl
aber, falls ein gemeinsames Interesse vieler Parlamentarier vorliegt, das Einbringen dieser Position in
Verhandlungen zwischen EU-Institutionen auf indirektem Wege.
3.3.9 Europaabgeordnete
Die Angaben der befragten Europaabgeordneten zu ihren Verbindungen in die Bundestagsfraktion
spiegeln diejenigen der Bundestagsabgeordneten wider. Beide MdEP, und in der Vergangenheit auch
der Bundesvorsitzende als früherer MdEP, unterhalten engen Kontakt zu ihren fachpolitischen Kon-
terparts in Berlin. Einer gab an, diesen Kontakt auch über sein Büro im Bundestag zu halten. Die Tref-
fen zweier für ihn fachlich relevanten Bundesarbeitsgemeinschaften nimmt einer der beiden nach
Möglichkeit wahr. Die persönliche langjährige Erfahrung als Bundestagsabgeordneter wird von einem
für seine Tätigkeit als Europaparlamentarier als nützlich gesehen, sein Kontaktnetz in die Bundestags-
fraktion ist dadurch besonders eng.
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
70
Unter den befragten MdEP befindet sich eines, das mitwirkungsberechtigtes Mitglied im EUA
des Bundestages ist. Die Übernahme dieses Sitzes ist für ihn ein Ausdruck seines generellen Interes-
ses an einer engen Verbindung zum Bundestag und zu den europapolitischen Fachpolitikern seiner
Fraktion, da er allgemein den Kontakt zwischen EP und nationalen Parlamenten für sehr wichtig hält.
Dementsprechend bedauert er die Tatsache, dass eine tatsächliche Teilnahme an den Sitzungen
praktisch nicht möglich ist und begrüßt, dass mit den vier neu angesetzten jährlichen Terminen an
Montagen oder Freitagen Bewegung in die Sache gekommen ist.47 Auf entsprechende Änderungen
habe er auch gegenüber dem Bundestagspräsidenten gedrungen. Der Austausch zwischen Parlamen-
tariern aus Bundestag und EP wird von den MdEP als sehr wichtig beschrieben: Da ein Großteil der
Gesetzgebung in Deutschland auf europäische Impulse zurückgeht, sei es nur gut, wenn möglichst
frühzeitig ein Austausch stattfinde. So könnten beispielsweise grüne MdEP bei grünen MdB für ein
Vorhaben werben. Auch in Richtung EP sei der Austausch wichtig, da auch der EP-Fraktion Rücken-
wind aus den nationalen Parlamenten in den Verhandlungen des Parlaments mit Rat und Kommissi-
on nutzen könne.
Im Rahmen der Untersuchung wurde über die geführten Interviews hinaus versucht, Daten
über die Teilnahme der mitwirkungsberechtigten MdEP aller Fraktionen an den Sitzungen des EUA zu
erhalten, um diese auf mögliche Unterschiede in der Wahrnehmung der Teilnahmemöglichkeit zu
analysieren. Das Sekretariat des EUA führt nach eigenen Angaben allerdings keine entsprechende
Statistik.48 Nach Aussage eines Sekretariatsmitarbeiters macht der EUA von der Möglichkeit aller
Ständigen Ausschüsse, weitere MdEP zu seinen Beratungen hinzuzuziehen49, keinen Gebrauch. Inso-
fern lässt sich diesbezüglich keine Aussage treffen. Allerdings weisen die Angaben der Interviewpart-
ner sowohl auf Ebene des EP als auch auf Ebene des Bundestages darauf hin, dass die persönlichen
Beziehungen zwischen Parlamentariern beider Ebenen für den Austausch eine wichtigere Rolle spie-
len als die institutionalisierte Teilnahme an Ausschusssitzungen.
So gibt es, wie im Abschnitt über die Bundestagsabgeordneten bereits angesprochen, anlass-
bezogene Zusammenarbeit beispielsweise über gemeinsame Veranstaltungen oder in einzelnen EU-
Vorhaben. Dass Kollegen aus dem Bundestag Anfragen nach Informationen in europapolitischen An-
gelegenheiten oder konkreten EU-Vorlagen stellen, kommt bei beiden befragten MdEP anlassbezo-
gen vor, ist aber nicht die Regel.
Insgesamt sehen beide eine zunehmende Öffnung der Bundestagsabgeordneten gegenüber
ihren Kollegen im EP, die sich in einer langsamen Intensivierung der Kontakte zwischen beiden Seiten
niederschlage. Der Austausch, zugleich aber auch die Autonomie, die die Europagruppe gegenüber
47
Diese Neuerung nannte auch der Leiter des Referats PA 1 im Interview. 48
Schriftliche Auskunft des EU-Ausschusssekretariats vom 08.11.2010. 49
§93a Abs. 4 GOBT.
3 Die Europäisierung der grünen Bundestagsfraktion: Fallbeschreibung und Ergebnisse der Interviews
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der Partei und der Bundestagsfraktion genießt, sei bei den Grünen traditionell besonders stark aus-
geprägt:
„Wir Grünen sind ja sowieso die Europapartei, nicht nur von außen, auch von innen, also wir haben da
schon enge Kontakte, wir haben auch Differenzen eben mit unserer Bundestagsfraktion auch ausgetragen
bei europapolitischen Fragen oder bei Umweltfragen.“ (MdEP 1)
„[E]s gibt auch Europaparlamentarier, die werden von ihren nationalen Parteien quasi, nicht gerade am
Gängelband geführt, aber so ähnlich. Das ist bei uns Grünen traditionell schon ganz anders.“ (MdEP 1)
Dass beide Parteivorsitzende Erfahrung als MdEP haben und daher wissen, „wie Europa tickt“, wird
als positiv gesehen.
Dem Austausch zwischen Bundestagsfraktion und Europagruppe dienen auch Zusammen-
künfte der jeweiligen Spitzen. Zu den Klausuren der Bundestagsfraktion werden der Sprecher der
Europagruppe, Reinhard Bütikofer, und die Ko-Vorsitzende der EP-Fraktion, Rebecca Harms, eingela-
den. Auch zwischen dem Vorstandspersonal der Bundestagsfraktion und den beiden genannten Füh-
rungspersonen auf EP-Ebene gibt es etwa ein- bis zweimal jährlich Treffen.
Dass Kollegen aus der Bundestagsfraktion versuchen, in Gesprächen mit der Kommission
direkt auf der europäischen Ebene Vorhaben zu beeinflussen, ist den beiden MdEP nach eigenen
Aussagen nicht bekannt. Als Europaabgeordnete seien sie auch nicht involviert, was einer mit der
traditionellen Autonomie der Europagruppe innerhalb der deutschen Grünen in Verbindung bringt.
Einer gab an, auch in seiner Zeit als MdB nichts Entsprechendes unternommen zu haben.
4 Analyse und Hypothesenprüfung
72
4 Analyse und Hypothesenprüfung
Im Folgenden werden auf der Grundlage der in Kapitel 3.3 zusammengefassten empirischen Daten
die Hypothesen aus dem Theoriekapitel geprüft. Dazu werden die Informationen in den nachstehen-
den vier Abschnitten entlang der vier betrachteten Dimensionen der Europäisierung analysiert. Eine
Zusammenfassung der Ergebnisse erfolgt in Kapitel 4.5.
4.1 EU-Expertise
Die Hypothesen lassen erwarten, dass die Fraktion ihre EU-Expertise gezielt gestärkt hat, um ihre
Handlungsfähigkeit zu bewahren. Kompetenz in Form geschulter Mitarbeiter und Abgeordneter so-
wie speziell für den Bereich der Europapolitik zuständigen Personals fördert die Fähigkeit der Frakti-
on, die parlamentarischen Möglichkeiten der Mitsprache in und der Kontrolle der Europapolitik der
Regierung zu nutzen und eigene Standpunkte zu präsentieren – über Ausschussarbeit, insbesondere
im EUA, Debattenteilnahme und parlamentarische Initiativen.
Die Grünenfraktion wird im EUA von vier ordentlichen sowie vier stellvertretenden Mitglie-
dern vertreten. Diese bilden fraktionsintern die Arbeitsgruppe Europa. Dass bei der Besetzung des
EUA in der Fraktion auf die Abdeckung einer Politikbereich-Palette geachtet wird, die sowohl Euro-
papolitik als solche als auch weitgehend vergemeinschaftete und europapolitisch stark relevante
Themengebiete einschließt, zeigt, dass der Bedeutung Europas für viele Politikbereiche strategisch
Rechnung getragen wird. Fachpolitiker aus unterschiedlichen europapolitisch relevanten Themenbe-
reichen bringen ihr jeweiliges Fachwissen in die Arbeit im EUA ein und sind andererseits in der Lage,
in ihrem Gebiet die europäische Dimension mitzudenken (vgl. Holzhacker 2005: 436). Dies trägt zu
der Möglichkeit bei, Europapolitik in allen Politikbereichen zu betreiben. Mit Fachpolitikern aus dem
Bereich Landwirtschaftspolitik befinden sich unter den EUA-Mitgliedern Experten für eines der Poli-
tikfelder mit dem höchsten Anteil europäischer Impulse für die nationale Gesetzgebung (vgl. Töller
2004: 32f). Auch die Bereiche Recht und Finanzen sind in hohem Maße europäisch beeinflusst, so
dass die Besetzung des EUA durch die Fraktion als deutliches Europäisierungsindiz gewertet werden
kann.
Dass der Bereich Europa bei den Grünen durch besonders viele, nämlich drei, Bundestagsab-
geordnete abgedeckt wird, kann dagegen nicht eindeutig als Hinweis für eine besondere Europa-
Sensibilität der Fraktion oder für das Vorhandensein eines besonders hohen Niveaus an Europa-
Expertise interpretiert werden. Einerseits spricht das Selbstbild der Partei durchaus für eine entspre-
chende Differenzierung im Bereich Europapolitik. Sowohl Abgeordnete des Bundestages als auch
Abgeordnete des EP sehen die eigene Partei als ausgesprochene „Europapartei“:
4 Analyse und Hypothesenprüfung
73
„[V]om politischen Selbstverständnis der ganzen Fraktion eigentlich ist ja Europapolitik schon sehr zentral
und wichtig und alle finden das für das grüne Profil einfach ein wichtiges Thema […].“ (MdB 2)
Andererseits entspricht die kleinteilige Zuteilung von Sprecherposten der Gewohnheit der Grünen-
fraktion, fast jedem Abgeordneten eine entsprechende Zuständigkeit zu übertragen. Dadurch, so die
Aussage zweier Parlamentarier, soll auch den neu in den Bundestag gewählten Mitgliedern die Mög-
lichkeit eingeräumt werden, sich in einem Bereich zu profilieren und öffentlich wahrgenommen zu
werden (vgl. von Oertzen 2006: 151f). Dementsprechend sind 57 der 68 Fraktionsmitglieder Sprecher
für einen bestimmten Politikbereich. Damit weisen die Grünen im Vergleich aller Bundestagsfraktio-
nen sowohl absolut als auch anteilig an der Fraktionsstärke die höchste Zahl an fachpolitischen Spre-
chern auf.50
Die Europakompetenz auf der Mitarbeiterebene wurde in den vergangenen Jahren mehrfach
durch personelle Aufstockungen erhöht, und zwar sowohl in Berlin als auch Brüssel. Mittlerweile sind
für die Fraktion als Ganzes – also ungeachtet der persönlichen Mitarbeiter der Abgeordneten – fünf
Personen der Arbeitsebene für Europapolitik zuständig. Drei davon sind im Brüsseler Verbindungsbü-
ro des Bundestages angesiedelt. Dies ist gemessen an der Fraktionsstärke eine bemerkenswert hohe
Zahl. Nur die CDU/CSU-Fraktion ist mit vier Mitarbeitern, davon drei Referenten und eine Sachbear-
beitung, stärker vertreten. Alle anderen Fraktionen haben weniger Personal in Brüssel. In Anbetracht
dessen, dass die Grünen die kleinste Bundestagsfraktion sind, ist der Aussage einer Mitarbeiterin
zuzustimmen:
„Also das deutet schon auch auf ne gewisse Prioritätensetzung hin.“ (Ref. Verbindungsbüro Fraktion)
Neben der zentralen Frühwarn- und Informationsvermittlungs-Funktion, auf die noch eingegangen
wird, ist das Brüssel-Büro der Fraktion eine wichtige Auskunftsstelle, bei der Abgeordnete und Ange-
stellte Hintergrundwissen und aktuelle Entwicklungen wie beispielsweise den Stand von Verhandlun-
gen zwischen den EU-Institutionen erfragen können. Einen deutlichen Stellenausbau gab es auch in
Berlin. Der Arbeitskreisstruktur der Fraktion entsprechend gibt es dort wie für andere Politikbereiche
schon lange eine Referentenstelle für den Bereich Europapolitik. Diese ist dem AK 4 zugeordnet, der
die AG Europa beinhaltet. Neben der fachlichen Zuarbeit für die Mitglieder des EUA fallen auch
Koordinationsaufgaben in den Zuständigkeitsbereich dieser Stelle. Die Koordination der Europapolitik
wurde darüber hinaus stark aufgewertet und personell ausgebaut, indem eine speziell für diesen
Bereich zuständige Referentenstelle beim Geschäftsführenden Fraktionsvorstand eingerichtet wurde.
Für die Stelleninhaber der mit Europapolitik befassten Referentenstellen, sowohl in Berlin als
auch in Brüssel, gilt, dass sie aus früheren beruflichen Tätigkeiten, in den meisten Fällen auch Studi-
um – alle sind Politologen – und Praktika, über eine sehr gute Kenntnis der politischen Prozesse im
System der EU verfügen. Die Personen kommen also nicht aus unterschiedlichen fachpolitischen
50
Für den Vergleich wurden die Internetauftritte der Fraktionen herangezogen.
4 Analyse und Hypothesenprüfung
74
Bereichen und haben eine entsprechend geprägte Perspektive auf Europa, sondern sind auf europäi-
sche Policymaking-Prozesse, Strukturen und die Beteiligungsmöglichkeiten des Bundestages sowie
die Bedeutung europäischer Politik für die deutsche Innenpolitik spezialisiert. Diese Spezialisierung
ist eine gute Voraussetzung dafür, andere in der Fraktion für Europapolitik sensibilisieren zu können
und dazu beizutragen, dass die europäische Dimension in den unterschiedlichen fachpolitischen Be-
reichen mitgedacht und einbezogen wird.
Um dies zu fördern, haben sich die Europa-Referenten dementsprechend dafür eingesetzt,
allen fachpolitischen Fraktionsmitarbeitern Weiterbildungsmöglichkeiten anzubieten, um deren Eu-
ropakompetenz zu erhöhen und somit Europapolitik stärker als Innenpolitik zu betreiben. Die EU-
Expertise der Mitarbeiter zu stärken ist von Bedeutung, da diese an sämtlichen EU-bezogenen Tätig-
keiten ihrer Abgeordneten beteiligt sind wie beispielsweise an Kontakten zum EP oder an der Vorbe-
reitung parlamentarischer Initiativen und der Ausschussarbeit. Mit dem im Konzeptpapier „Europa-
fähigkeit der Fraktion stärken“ zusammengefassten Maßnahmen wird über die Ebene der Mitarbei-
ter in der gesamten Fraktion versucht, Europapolitik in allen Fachbereichen zu verankern. Zum einen
geschieht dies über die fachliche Fortbildung von Mitarbeitern, die mit Basisschulungen und einem
Planspiel zwei Stufen umfasst und somit sowohl Anfänger als auch Personen mit Grundkenntnissen
anspricht. Zum anderen wird die Vernetzung von Mitarbeitern mit ihren jeweiligen fachlichen Kon-
terparts in der EP-Fraktion gefördert, was der Strukturbildung in der Zusammenarbeit zwischen Bun-
destags- und Europaabgeordneten dienlich ist. Letztlich soll EU-Expertise über diese Maßnahmen
dezentralisiert werden. Im Bereich der Fortbildung wurde somit ein integrierter Ansatz etabliert, der
Wissen und Vernetzung umfasst. Zwar sind die Angebote nicht verpflichtend, der Ausbau der Euro-
pakompetenz wurde auf diese Weise jedoch systematisiert.
Kenntnisse des europäischen politischen Systems und der Beteiligungsrechte des Bundesta-
ges sind allerdings bislang nicht standardmäßig Voraussetzung für die Besetzung von Mitarbeiterstel-
len in allen vergemeinschafteten Politikfeldern. Während es Bemühungen gibt, diese Kompetenzen
im Personalbestand zu verbessern, existiert für die Einstellung neuer Mitarbeiter bislang keine dies-
bezügliche fraktionsweite Regelung. Europakompetenz hat also nicht den Rang einer Standardquali-
fikation. Entsprechende Einstellungskriterien anzuwenden, ist dem einzelnen Abgeordneten überlas-
sen. Dementsprechend ist es wahrscheinlich, dass dies gerade dort, wo ein Ausbau an Europakompe-
tenz nützlich wäre, also in Büros von Parlamentariern, die nicht europa-fachspezifisch arbeiten, nicht
in hohem Maße geschieht. Hier besteht also durchaus Ausbaupotenzial.
Insgesamt aber lässt sich für den Bereich „Expertise“ konstatieren, dass die Analyse die theo-
retischen Erwartungen bestätigt hat. Ein Ausbau von Sachverständnis als Dimension der Europäisie-
rung ist deutlich erkennbar.
4 Analyse und Hypothesenprüfung
75
4.2 Informationskanäle
Gemäß den Hypothesen ist zu erwarten, dass die Fraktion verschiedene Informationskanäle etabliert
hat, um in der Europapolitik Deutschlands effektiv mitarbeiten zu können. Diese Kanäle dienen dazu,
die „Informationslücke“ zwischen der Bundesregierung und der Grünenfraktion zu schließen (vgl.
Raunio/Hix 2000). Inwiefern alle Dimensionen des europäischen Mehrebenensystems in diesem Sin-
ne genutzt werden, wird im Folgenden untersucht.
Von den Beziehungen der Bundestagsfraktion zur europäischen Ebene nehmen diejenigen zu
grünen Europaabgeordneten den größten Raum ein. Zahlreiche Abgeordnete und ihre Angestellten
pflegen Kontakte zu Kollegen im EP. Meist handelt es sich dabei um fachliche Konterparts, die in et-
wa zu denselben Themen arbeiten. Im Rahmen dieser Beziehungen findet ein fachlicher Austausch
über Telefon, Mail und gelegentliche gegenseitige Besuche statt. Punktuell kommt es zu Zusammen-
arbeit in einzelnen politischen Vorhaben der EU. So werden immer wieder gemeinsame öffentliche
Veranstaltungen wie Podiumsdiskussionen, etwa im Wahlkreis eines MdB, durchgeführt. Als Beispiel
für eine weitere Kooperationsform, obgleich diese eher selten auftreten dürfte, wurde von einem
MdB-Büro auch eine gemeinsame Anhörung im EP genannt, bei der ein MdB als Ko-Veranstalter ne-
ben einem MdEP auftrat. Wo ein enger Kontakt und ein gutes persönliches Verhältnis zwischen Ab-
geordneten bestehen, kann ein regelmäßiger Austausch auch in parallele parlamentarische Initiati-
ven münden. Dies zeigt das Beispiel des drei Ebenen übergreifenden koordinierten Vorgehens in der
parlamentarischen Beratung des sogenannten Swift-Abkommens. Bei den Kontaktpersonen von
Bundestagsabgeordneten im EP handelt es sich weit überwiegend um deutsche Abgeordnete. Dies
zeigt, dass persönliche Bekanntschaften für das Zustandekommen von Austausch- und Arbeitsbezie-
hungen von großer Bedeutung sind. Daneben dürften auch die gemeinsame Sprache und der ge-
meinsame politische Hintergrund eine Rolle spielen. Die Kontakte laufen in der Regel sehr formlos
und direkt ab. Aus der Perspektive der Gesamtfraktion betrachtet ist somit ist ein Großteil der Bezie-
hungen zum EP auf einer persönlichen Ebene angesiedelt und wenig systematisiert.
„[…] es ist wirklich sehr unterschiedlich, grade welche Themen Konjunktur haben, oder auch bis hin zu der
Frage, wie sich zwei Abgeordnete, also einer aus dem Bundestag, einer aus der Europafraktion, auch di-
rekt kennen, […] in der Regel funktioniert das wirklich sehr formlos und selbstverständlich.“ (MA EP-
Fraktion)
Strukturelle Komponenten beinhalten die Beziehungen allerdings durchaus, und zwar durch
die Tätigkeiten koordinierender Stellen. Die Europareferenten der Bundestagsfraktion, die Wissen-
schaftlichen Koordinatoren der Arbeitskreise sowie der Koordinator der Europagruppe sind zwar in
die persönlichen Kontakte zwischen einzelnen MdB und MdEP in der Regel nicht eingebunden, ver-
mitteln allerdings solche Kontakte und werben für ihre Intensivierung. An Kooperationen zwischen
Gruppen von Abgeordneten sind sie als Koordinatoren etwa über die Organisation von Telefonkonfe-
renzen fallweise beteiligt. Eine Voraussetzung für vermittelnde und koordinierende Tätigkeiten ist die
4 Analyse und Hypothesenprüfung
76
gute Kenntnis der jeweiligen Agenden beider Ebenen. Dies ist dadurch sichergestellt, dass sowohl die
Leiterin des Fraktionsbüros in der Brüssel-Dependance des Bundestages als auch der Koordinator der
Europagruppe häufig in Berlin sind und dort an Gremiensitzungen und Besprechungen mit Frakti-
onsmitarbeitern teilnehmen. Die Gruppe der Referenten und Koordinatoren trägt darüber hinaus zu
einer Verstetigung der Kommunikation zwischen Bundestagsfraktion und Europagruppe bei, indem
sie Arbeitskreis- und Arbeitsgruppenreisen nach Brüssel organisiert. Der systematischeren Nutzung
von Kontaktmöglichkeiten dient auch die Förderung der Vernetzung von Mitarbeitern, die neuer-
dings auch Bestandteil des beschrieben Konzeptpapiers zur Stärkung der Europafähigkeit der Frakti-
on ist. Auch Mitarbeiter der EP-Fraktion werden zur Vernetzung angeregt, indem Berlin-Reisen für sie
organisiert werden. Zudem dienen auch wechselseitige Einladungen zu Fraktionsklausuren und Tref-
fen zwischen den Fraktionsvorsitzenden beziehungsweise den Sprechern der Europagruppe der
Kenntnisnahme der jeweiligen Agenden.
Eine institutionelle Austauschmöglichkeit für die Europa-Fachpolitiker der Fraktion und ein-
zelne Europaabgeordnete besteht über die Inklusion von Europaparlamentariern in den EUA. In
Übereinstimmung mit der einschlägigen Literatur (vgl. Auel 2006b, Hölscheidt 2001, Sterzing/Tidow
2001) ergibt die Analyse, dass diese Möglichkeit jedoch kaum praktische Auswirkungen hat, da auch
die mitwirkungsberechtigten grünen MdEP aufgrund terminlicher Überschneidungen kaum je an
Sitzungen des EUA teilnehmen. Für den einen der beiden befragten Abgeordneten kann allerdings
festgestellt werden, dass er besonders enge Beziehungen zu Bundestagskollegen pflegt und großes
Interesse an einem Austausch hat, was auch ein Grund für die formale Mitgliedschaft im EUA sein
dürfte.
Sowohl auf der Mitarbeiter- als auch auf der politischen Ebene wurde weiterhin nach der
Existenz institutionalisierter Formen des Austauschs der Fraktion mit den MdEP der Partei gefragt.
Um MdEP als ständige Informationsquelle zu nutzen und die Agenda der EU-Institutionen stets im
parlamentarischen Bundestags-Alltag im Blick zu bewahren, könnte eine Institutionalisierung in Form
regelmäßiger Treffen mit festen Teilnehmerkreisen hilfreich sein. Dies ist zum einen auf Ebene der
Gesamtfraktionen denkbar, zum anderen auf einer thematischen Ebene, also zwischen Arbeitskrei-
sen oder Arbeitsgruppen der Bundestagsfraktion und denjenigen MdEP, die auf die korrespondie-
renden Politikfelder auf der EU-Ebene spezialisiert sind. Die Interviews ergaben, dass es entspre-
chende Zusammenkünfte in einem festen Rhythmus nicht gibt. Dies schließt die gelegentliche Teil-
nahme einzelner MdEP an Sitzungen von Arbeitskreisen oder Arbeitsgruppen der Bundestagsfraktion
nicht aus, beschränkt diese allerdings auf anlassbezogene Kooperationen. Der Austausch ist also auf
das Engagement einzelner interessierter Parlamentarier angewiesen und verbleibt somit auf einer
Ad-hoc-Basis. Dies gilt weitgehend auch für das fest installierte ebenenübergreifende Forum, das
auch die Ebene der Bundesländer einschließt, das halbjährliche Europa-Bund-Länder-Treffen. Denn
4 Analyse und Hypothesenprüfung
77
es ist nicht als Zusammenkunft aller Parlamentarier in verschiedenen thematischen Foren konzipiert,
sondern hat jeweils nur ein einziges Thema und zieht daher nie die Gesamtheit der grünen Parlamen-
tarier an. So fungiert es zwar zum einen als regelmäßige Kommunikationsplattform der Europapoliti-
ker der Partei, da diese regelmäßig an den Treffen teilnehmen. Bei ihnen kann man also durchaus
von einem institutionalisierten Austausch sprechen. Über die Europaspezialisten hinaus umfasst es
jedoch nur sporadisch die Fachpolitiker. Je nach Thema des Treffens kommen beispielsweise die Par-
lamentarier und Parteimitglieder, die sich mit Strukturpolitik beschäftigen, zusammen. Hier kann das
Treffen einen Anlass für Vernetzungen bieten, aus denen ein selbst initiierter regelmäßiger Aus-
tausch entstehen kann. Ein regelmäßiges Forum für Letzteres bietet das Europa-Bund-Länder-Treffen
für Fachpolitiker jedoch nicht.
Obgleich der Kontakt der Bundestagsfraktion zu den grünen MdEP als Informationskanal für
die Europapolitik und somit auch als Instrument zur Effektivierung der Europapolitik der Fraktion auf
institutioneller Ebene durchaus ausbaufähig erscheint, schätzten Interviewpartner auf politischer wie
auf Arbeitsebene seine Entwicklung positiv ein. Der Austausch zwischen MdB und MdEP habe sich in
den vergangenen Jahren verdichtet, sagen MdB, MdEP und langjährige Mitarbeiter übereinstim-
mend. Insbesondere Fachpolitiker, die nicht auf Europa spezialisiert sind, beschäftigten sich mittler-
weile stärker mit der europäischen Dimension ihrer Politikfelder und gingen stärker auf ihre themati-
schen Konterparts in der Europagruppe zu. Die Offenheit der MdB für Rat und Meinung ihrer Kolle-
gen im EP habe zugenommen, meinen die befragten Europaabgeordneten.
Ein noch weniger einheitliches Bild als die Kontakte zu MdEP ergibt die Frage nach der Nut-
zung der EU-Kommission als Informationslieferant in der Europapolitik. Während manche Abgeord-
nete und ihre Mitarbeiter ihre thematisch relevanten Ansprechpartner in der Kommission persönlich
kennen und über telefonische oder Mail-Nachfragen zu einzelnen Aspekten hinaus diese auch gele-
gentlich auf Brüssel-Reisen treffen, haben andere noch nie Kontakt mit der Kommission aufgenom-
men. Auch hier tragen in Einzelfällen AK- oder AG-Reisen nach Brüssel zum Aufbau von Kontakten
bei, die dann vom jeweiligen Abgeordnetenbüro, nicht aber von einer koordinierenden Stelle der
Fraktion gepflegt werden. Von einem tatsächlichen Informationskanal der Fraktion zur Kommission
kann folglich nicht gesprochen werden.
Verbände und Thinktanks werden von Abgeordneten wie auf allen Politikfeldern auch in der
Europapolitik genutzt. Zur Herstellung von Kontakten dienen Reisen nach Brüssel ebenso wie Teil-
nahmen an Konferenzen und Tagungen. Je nach thematischem Bereich sind in Brüssel ansässige Ver-
bände als Informationsquelle und als Partner für einen inhaltlichen Austausch sehr geschätzt, so et-
wa im Bereich der Umweltpolitik. Die Herstellung und Aufrechterhaltung entsprechender Beziehun-
gen liegt im Bereich der persönlichen Zuständigkeit des einzelnen Abgeordneten, wobei das Frakti-
onsbüro in der Brüsseler Vertretung des Bundestages Hilfestellung bieten kann.
4 Analyse und Hypothesenprüfung
78
Das Büro stellt insgesamt einen sehr wichtigen Informationskanal dar. Die Fraktionsmitarbei-
ter dort pflegen Kontakte zu allen EU-Institutionen und zu Verbänden. Sie sammeln Informationen zu
allen Politikbereichen, filtern und sortieren diese und leiten sie in die Fraktion in Berlin weiter. Der
enge Kontakt zu den Arbeitskreisen in Berlin und die genaue Kenntnis, die die Brüsseler Fraktions-
mitarbeiter von der politischen Agenda der Bundestagsfraktion haben, ist die Grundlage für eine
möglichst effektive Informationstätigkeit. Mit dem Wissen über die aktuellen Themen und Vorhaben
der Fraktion können die Mitarbeiter in Brüssel Informationen passgenau aufnehmen und vermitteln.
Das eigene Personal als Ergänzung zu den Serviceleistungen der Bundestagsverwaltung im Brüsseler
Verbindungsbüro verbessert den Informationsfluss, da ein Vertrauensverhältnis zwischen den Frakti-
onsangehörigen besteht.
„[W]enn ich von der Verwaltung wäre, dann würden die natürlich jetzt nicht so offen mit mir reden und
sagen, was sie denn demnächst alles grad planen, Anträge oder Positionspapiere.“ (Ref. Verbindungsbüro
Fraktion)
Auf diese Weise kann das Brüssel-Büro der Fraktion als „Horchposten“ oder Frühwarneinheit dienen,
die frühzeitiges parlamentarisches Engagement zu EU-Vorlagen ermöglicht.
Neben der Informationstätigkeit an sich dient das Büro wie beschrieben auch der Herstellung
direkter Kontakte zwischen Fraktionsmitgliedern und EU-Institutionen, MdEP und Verbänden. Als EU-
Experten und Netzwerker können die Mitarbeiter im Büro passgenaue Kontakte vermitteln. Der In-
formationskanal Verbindungsbüro wurde seit 2007 zweimal personell ausgebaut, sodass die Grünen-
fraktion in diesem Bereich über vergleichsweise gute Möglichkeiten verfügt.
Die europäische Ebene ist nicht die einzige, die von einer mitgliedsstaatlichen Parlaments-
fraktion zwecks Informationsfluss für die Europapolitik genutzt werden kann. Auch die transnationale
und die nationale Dimension kommen für die Etablierung entsprechender Austauschbeziehungen in
Frage. Die Analyse der Rechercheergebnisse in Kapitel 3.3 ergibt, dass transnationale Kontakte bis-
lang allerdings kaum zu EU-Politik-relevanten Informationskanälen ausgebaut wurden. Grüne Abge-
ordnete in anderen Mitgliedsstaaten werden nicht gezielt um die Weitergabe von Kenntnissen über
Entwicklungen auf der EU-Ebene oder ähnliches gebeten. Zwar sind insbesondere die EU-
Fachpolitiker der Bundestagsfraktion auch Mitglied in verschiedenen Parlamentarischen Versamm-
lungen oder Parlamentariergruppen und haben dadurch Zugang zu ausländischen Kollegen. Für den
auf konkrete EU-Politiken bezogenen Informationsaustausch spielen diese Bekanntschaften aller-
dings keine große Rolle. Gemeinsame Initiativen gehen aus Kontakten zu Kollegen aus anderen nati-
onalen Parlamenten kaum hervor. Es lässt sich auch nicht feststellen, dass zu Schwesterparteien, die
in ihrem jeweiligen Land an der Regierung beteiligt sind, besonders intensive Informationsbeziehun-
gen bestehen – dies verwundert kaum, da grüne Regierungsbeteiligungen in Nachbarländern selten
sind. Auch von Regierungsbeteiligungen abgesehen sind die Grünen nur in wenigen EU-Staaten ähn-
lich stark wie in Deutschland. Das Potenzial für die Etablierung EU-Politik-relevanter Informationska-
4 Analyse und Hypothesenprüfung
79
näle scheint also insgesamt nicht besonders groß, sondern nur für einzelne Staaten vorhanden. Ein
Ausbau in diesem Bereich hat für die Bemühungen zur Stärkung der Europafähigkeit in der Fraktion
derzeit keine Priorität.51
Im nationalen Raum scheint der Informationsfluss zur Bundestagsfraktion nur wenig stärker
ausgeprägt. Die Bundesländer werden zwar über die Berichte ihrer EU-Vertretungen aus Rats-
Verhandlungen als Wissenslieferanten genutzt, ein wirklicher Austausch mit ihnen besteht jedoch
nicht. In den Berichten der Ländervertretungen in Brüssel kann insbesondere die Beschreibung von
Konflikten im Rat auch für die Bundestagsfraktion aufschlussreich sein. Sie ergänzt die regelmäßige
Unterrichtung des Bundestages durch die Bundesregierung um einige Aspekte. Die Fraktionsmitar-
beiter im Brüsseler Büro und einzelne Abgeordnetenbüros machen sich die ähnliche Ausgangslage
der Bundesändern zunutze, welche wie die Grünen als Oppositionsfraktion ein Interesse daran habe,
sich aus unabhängigen Quellen neben der Bundesregierung informiert zu halten. Systematische di-
rekte Beziehungen zu Bundesländern zum Erhalt von Wissen, die über punktuelle Kontakte zu einzel-
nen Personen in Landesregierungen mit grüner Beteiligung und die gelegentliche Teilnahme der
Brüsseler Fraktionsmitarbeiter an thematischen Stammtischen der Landesvertretungen hinausgehen,
gibt es auf Fraktionsebene aber nicht. Der umgekehrte Informationsfluss von der Bundestagsfraktion
in die Fraktionen der Bundesländer nimmt einen größeren Raum ein.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich die grüne Bundestagsfraktion, um in der Euro-
papolitik von der Bundesregierung unabhängig und frühzeitig informiert zu sein, innerhalb des euro-
päischen Mehrebenensystems vernetzt hat beziehungsweise noch dabei ist, ihre Vernetzung auszu-
bauen. Am bedeutendsten ist die Vernetzung mit der europäischen Ebene. Als zentraler Informati-
onskanal wurde das Fraktionsbüro in der Brüssel-Dependance des Bundestages ausgebaut. Bezie-
hungen zur EP-Fraktion bestehen stärker auf der persönlichen als auf der Fraktionsebene, was erste
Befunde anderer Studien bestätigt (vgl. Auel 2006b). Von systematischen, institutionellen Aus-
tauschbeziehungen lässt sich hier kaum sprechen, wenn auch die Kontakte zwischen MdB und MdEP
dichter geworden sind. Systematisch sind dagegen die Bemühungen der Fraktion, die Herstellung von
Kontakten zwischen MdB und MdEP sowie ihren Mitarbeitern durch die Vermittlung von Ansprech-
partnern und die Organisation von Reisen nach Brüssel zu fördern. Die theoretisch abgeleitete Erwar-
tung, dass eine Europäisierung auch hinsichtlich der Informationsquellen der Fraktion stattgefunden
hat, ist somit grundsätzlich bestätigt – wenngleich noch Ausbaupotenzial vorhanden ist. Für eine
abschließende Bewertung ist es zu diesem Zeitpunkt zu früh, scheint es doch noch laufende Entwick-
lungen zu geben. Dass Informationskanäle in der nationalen und in der transnationalen Dimension
bislang kaum existieren und derzeit auch nicht systematisch aufgebaut werden, ist teilweise mit der
51
Die Situation wäre vermutlich anders, darauf wies auch eine Fraktionsmitarbeiterin hin, wenn andere natio-
nale Parlamente für ihr Brüsseler Büro dasselbe Modell wie der Bundestag gewählt hatten und somit auch die
Fraktionen vertreten wären.
4 Analyse und Hypothesenprüfung
80
Größe der Partei und dem geringen Umfang der Regierungsbeteiligung in Deutschland und in den EU-
Staaten zu erklären.
4.3 Fraktionsinterne Koordinierung der EU-Politik
Koordination ist in einer arbeitsteiligen Organisation wie einer Bundestagsfraktion notwendig, da
verschiedene Mitglieder unterschiedliche Aufgaben wahrnehmen, die Fraktion nach außen hin aller-
dings kohärent auftreten muss. Informationen müssen rechtzeitig an die richtige Stelle gelangen. In
der Europapolitik besteht spezifischer Koordinationsbedarf, da europäische Inputs in nahezu allen
Politikbereichen zu finden sind, der Abstimmungsbedarf hier also zahlreiche MdB-Büros und Gremien
umfasst. Gemäß den Europäisierungshypothesen ist zu erwarten, dass die Grünenfraktion Routinen
zur fraktionsinternen Koordinierung ihrer EU-Politik entwickelt hat. Diese dienen dazu, Informatio-
nen aus verschiedenen Informationskanälen zu verteilen, zu verarbeiten sowie Positionen abzustim-
men, letztlich also der Ausübung von Kontrolle und Mitwirkung in der EU-Politik der BRD. Die koordi-
nierenden Tätigkeiten verschiedener Fraktionsmitarbeiter wurden in Einzelabschnitten des Kapi-
tels 3.3 beschrieben. Die folgende Analyse fasst die Koordination der Europapolitik der Fraktion ins-
gesamt zusammen, geleitet von folgenden analytischen Gesichtspunkten: Welche besonderen Ein-
richtungen wurden speziell für die EU-Koordination neu geschaffen? Wird der Tatsache Rechnung
getragen, dass Europapolitik Bestandteil jedes fachpolitischen Gebietes ist – und wie?
Die europapolitische Koordination der Fraktion erfolgt größtenteils relativ dezentral. Das
bedeutet, es wurde und wird versucht, Europapolitik in den jeweils analogen innenpolitischen Fach-
gebieten zu verankern. Zu diesem Zweck wurden koordinierende Zuständigkeiten für Europapolitik
teils Personen des Fraktionspersonals zugeschlagen, die bereits in dem Politikfeld, dem sie zugeord-
net sind, koordinierende Aufgaben haben. Teils liegt die Zuständigkeit bei zentralen Stellen, von de-
nen aus explizit auf die Beschäftigung mit Europapolitik in allen Fachbereichen hingewirkt werden
soll und die bei übergreifenden europapolitischen Themen vermitteln, abstimmen und Monitoring
betreiben (Abb. 5). Zu den dezentralen Stellen gehören die Wissenschaftlichen Mitarbeiter der Abge-
ordneten, die Wissenschaftlichen Arbeitskreiskoordinatoren und die Fachreferenten der Arbeitskrei-
se. Als zentrale neue Stelle wurde diejenige der Fraktionsreferentin beim Fraktionsvorstand „Europa-
politik – Monitoring und Koordination“ eingerichtet. Daneben obliegen auch der Fraktionsreferentin
für Europapolitik organisatorische und abstimmende Aufgaben in der Europapolitik.
Die Entwicklung der zentralen Koordinationsstellen zeigt, dass die Koordination im EU-
Bereich in zwei Schritten deutlich gestärkt wurde. Dies geschah zunächst durch die Addierung der
Ebene „Europa“ zur Referentenstelle „Koordination Bund – Länder – Kommunen“ beim Fraktionsvor-
stand. Mit dem zweiten Schritt, der Ausgliederung des EU-Bereichs in eine eigene Stelle, wurde die
fraktionsübergreifende Europa-Koordination noch einmal deutlich aufgewertet. Wie Europapolitik
4 Analyse und Hypothesenprüfung
81
innerhalb der Fraktion koordiniert wird, wird im Folgenden anhand der Beschäftigung mit einer EU-
Vorlage erläutert.
EU-Vorlagen werden dem Bundestag von der Bundesregierung zugeleitet. Das Europareferat
PA 1 der Bundestagsverwaltung erarbeitet für alle zugeleiteten Unionsvorlagen Priorisierungsvor-
schläge inklusive eines Vorschlages, welche Vorlage in welchem Ausschuss behandelt werden sollte.
Diese Priorisierungsvorschläge werden innerhalb der Grünenfraktion getrennt nach Ausschüssen von
Fraktionsreferenten geprüft. Bei allen Vorlagen, die aus Sicht des PA 1 dem EUA zugeleitet werden
sollten, ist dies die Europareferentin. Je nach Ergebnis der Prüfung muss der Vorschlag der Verwal-
tung entweder im Gespräch mit den anderen Fraktionen revidiert werden oder er wird unverändert
akzeptiert. Steht eine EU-Vorlage dann auf der Tagesordnung eines Ausschusses, fällt sie wie jede
Vorlage nationalen Ursprungs je nach Thema in den Zuständigkeitsbereich eines Abgeordneten der
Fraktion. Sind andere Ausschüsse mitberatend, was bei Unionsvorlagen wie bei nationalen Gesetz-
entwürfen und Anträgen regelmäßig der Fall ist, so kommt es innerhalb der Fraktion zu inhaltlichen
Abstimmungen zwischen den Büros der beteiligten Abgeordneten. Die Wissenschaftlichen Mitarbei-
ter der Abgeordneten werden dann wie bei innenpolitischen Vorlagen koordinierend tätig. Wenn die
Fraktion einen eigenen Antrag zu einer EU-Vorlage einzubringen plant, sind wie bei rein nationalen
Angelegenheiten Fraktionsreferenten oder Wissenschaftliche Mitarbeiter des betreuenden Abgeord-
neten damit betraut:
„[E]s gibt eigentlich keine besonderen Verfahren. Also das ist wie in anderen Sachen […]. […] [W]enn meh-
rere Ausschüsse oder mindestens zwei zuständig sind, gibt es eben überall diese Abstimmungsverfahren
zwischen den Mitarbeitern.“ (MdB 2)
Eine intensivere Koordinierung wird notwendig, wenn der EUA in sehr großen, viele Sachbe-
reiche übergreifenden Vorlagen federführend ist. Dies war beispielsweise in der Behandlung der
Europa-2020-Strategie der Fall. Die Bedeutung solcher stark übergreifenden Themen erschließt sich
Fachpolitikern in mitberatenden Ausschüssen häufig nicht unmittelbar, weshalb sie sich thematisch
nicht betroffen fühlen. Hier greift die Europareferentin der Fraktion koordinierend ein. Als Europaex-
pertin hat sie die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass große europäische Vorhaben ohne eindeutigen
thematischen Schwerpunkt nicht im parlamentarischen Alltag der Fraktion untergehen, sondern aktiv
begleitet werden. Koordinationsarbeit bedeutet für die Europareferentin insofern oft, zunächst Auf-
klärungs- und Überzeugungsarbeit in den beteiligten Abgeordnetenbüros zu leisten, also die Bedeu-
tung der Vorlage für die verschiedenen Fachbereiche der Fraktion darzulegen und für eine eigene
Initiative zu werben. In der anschließenden inhaltlichen Abstimmung zwischen Fachpolitikern und
Fachreferenten, der Diskussion und dem Beschluss des Antrags in den betroffenen AK laufen die
Fäden bei ihr zusammen. Sie betreut die Vorlage auch im weiteren parlamentarischen Ablauf: Sie
arbeitet nicht nur beteiligten Abgeordneten etwa in Form von Sprechzetteln inhaltlich zu, sondern
hält auch die Tätigkeit der beteiligten AK oder Abgeordnetenbüros im Blick und erinnert gegebenen-
4 Analyse und Hypothesenprüfung
82
falls an notwendige Aktivitäten, kurzum: sie betreibt in einzelnen themen- und AK-übergreifenden
EU-Vorlagen ein umfassendes Monitoring. Da dies von einer Referentenstelle mit genuin fachpoliti-
scher Zuständigkeit aus nur in Einzelfällen möglich ist, und um ein umfassenderes Mainstreaming
europapolitischer Themen in allen Fachbereichen zu erreichen, wurde in jüngster Vergangenheit die
neue Referentenstelle beim GfV geschaffen. Durch die Ansiedlung beim Vorstand erfährt das Moni-
toring, das von hier aus künftig geleistet werden soll, eine besondere Autorität.
Bei manchen AK-übergreifenden Themen tritt als Koordinationsinstanz auch das Obleutetref-
fen in Erscheinung. Als Gremium, in dem alle Ausschuss-Obleute der Fraktion zusammenkommen,
um die Ausschussarbeit der Fraktion abzustimmen, befasst es sich gelegentlich auch mit großen EU-
Vorhaben. Ein Beispiel ist der Lissabon-Vertrag, in dessen Vorfeld etwa zu erwartende Themen, die
auf die Ausschüsse zukommen, bereits vorab zu erörtern versucht wurden.
Ein Nebeneinander von dezentraler und zentraler Koordinierung je nach thematischer
Reichweite prägt auch den Umgang mit EU-bezogenen Informationen (Abb. 5). Je nach inhaltlichem
Bezugsradius gelangen diese an unterschiedliche Schnittstellen in der Fraktion. Die Schnittstelle zwi-
schen dem Fraktionsbüro in der Brüsseler Niederlassung der Bundestagsverwaltung und der Fraktion
in Berlin ist dezentral angesiedelt. Die Informationen und Dokumente aus Brüssel, die ja bereits von
Fraktionsmitarbeitern vor Ort sortiert werden, sollen auf möglichst direktem Wege zu den Abgeord-
neten gelangen, für deren Arbeit sie nützen sollen. Dazu werden sie zumeist direkt an das jeweilige
Büro geschickt, per Kopie zusätzlich an den jeweiligen Wissenschaftlichen AK-Koordinator, der bei
Bedarf noch weitere Abgeordnetenbüros informieren kann. Nur wenn kein geeigneter Empfänger
bekannt ist, ein Thema im Brüsseler Fraktionsbüro aber dennoch für relevant gehalten wird, wird die
Aufgabe der Weiterleitung vollständig an einen Wissenschaftlichen AK-Koordinator übertragen. In
jedem Falle ist dieser in der Lage, bei besonders wichtigen, vielleicht mehrere Politikbereiche betref-
fenden Themen koordinierend einzugreifen. Insofern wurde die Funktion der Wissenschaftlichen
Koordinatoren der AK als überblickswahrende Instanz in ihrem jeweiligen Fachbereich auf die Euro-
papolitik ausgeweitet. Diese Konstruktion der Schnittstellen zwischen Brüsseler „Horchposten“ und
Berliner Fraktion trägt dazu bei, Europapolitik als Querschnittsaufgabe zu verstehen und zu behan-
deln, da EU-bezogene Informationen ohne Umweg über eine koordinierende Stelle direkt an die
fachpolitischen Einheiten gelangen.
4 Analyse und Hypothesenprüfung
83
Abbildung 5: Europapolitischer Informationsfluss und europapolitische Koordination innerhalb der
grünen Bundestagsfraktion. Quelle: eigene Darstellung
Zwischen der Bundestagsverwaltung und der Grünenfraktion existieren je nach Reichweite
des thematischen Bezugs unterschiedliche Schnittstellen (Abb. 5). Die Behandlung der Priorisie-
rungsvorschläge wurde bereits thematisiert. Die Vorschläge beziehen sich jeweils auf einen bestimm-
ten Ausschuss und gehen entsprechend durch die Hände des zuständigen Fraktionsreferenten.
Sachstandsberichte und die wöchentlichen Berichte aus Brüssel des PA 1 werden dezentral in den
einzelnen MdB-Büros je nach thematischem Interesse ausgewertet. Für den Umgang mit den Euro-
papolitischen Vorausschauen des Referats PA 1 hat die Fraktion dagegen ein besonderes Verfahren
entwickelt. Zwar wird es von den Beteiligten als noch nicht fest etabliert betrachtet, doch über mög-
liche veränderliche Details hinweg lässt sich feststellen, dass hier eine zentral gesteuerte Koordinie-
rung stattfindet. Mit ihr soll die Europapolitik in die herkömmliche jährliche Schwerpunktsetzung der
Fraktion eingegliedert werden. Schnittstelle zwischen PA 1 und Fraktion sind in Bezug auf die Euro-
papolitischen Vorausschauen also nicht die fachpolitischen Abgeordnetenbüros oder die AK, sondern
ein Team aus Europafachleuten, dem die Vorstandsreferentin und die Leiterin der Fraktionsnieder-
4 Analyse und Hypothesenprüfung
84
lassung im Brüsseler Verbindungsbüro angehören. Dieses Expertenteam berät zunächst unter sich,
welches die wichtigsten europapolitischen Themen für die Fraktion in den kommenden zwölf Mona-
ten sein könnten. Dazu entwickelt es Vorschläge für parlamentarische Initiativen, die im Laufe des
Jahres sinnvoll erscheinen. Anschließend werden diese Überlegungen in Gesprächsrunden mit den
Wissenschaftlichen Koordinatoren und Fraktionsreferenten jedes Arbeitskreises einzeln beraten. Mit
Blick auf die großen Linien der Gesamtfraktion werden so für jeden AK europapolitische Schwerpunk-
te festgelegt, die gleichrangig mit innenpolitischen Schwerpunkten verfolgt werden sollen. Ein spezi-
elles Verfahren der zentralen Koordinierung soll also dafür sorgen, dass Europapolitik als Quer-
schnittsthema behandelt wird. Die Festlegung von Schwerpunkten soll der Fraktion frühzeitiges par-
lamentarisches Handeln ermöglichen. Indem die Europapolitik dabei mithilfe eines speziellen Verfah-
rens berücksichtigt wird, wird auf ihre Eingliederung in den ganz normalen Arbeitsprozess der Frakti-
on hingewirkt.
Insgesamt bestätigt die Analyse also die theoretische Erwartung, dass die Fraktion Routinen
zur Koordinierung ihrer Europapolitik entwickelt hat. Im Wesentlichen wurde die Europapolitik in die
„ganz normale“, dezentrale Fachpolitik eingegliedert. Spezielle zentrale Monitoringverfahren wurden
für themenübergreifende Angelegenheiten entwickelt, die wiederum die fachpolitische Eingliede-
rung, genauer die Berücksichtigung europapolitischer Vorhaben in der täglichen Fachpolitik, sicher-
stellen sollen. Die Ansiedlung der dafür zuständigen neuen Referentenstelle beim Fraktionsvorstand
hat den Vorteil, dass übergeordnetes Koordinieren und Monitoring von einer außerhalb der thema-
tisch gegliederten Arbeitskreise liegenden Position aus oft effektiver ist. Die Rückendeckung vom
Vorstand verschafft der Monitoringstelle Autorität und zugleich Neutralität gegenüber den Fachpoli-
tikern und Fachreferenten.
„Das hat was zu tun mit… ja, ein Arbeitskreis will sich auch ungern von anderen so reinregieren lassen, […]
aber auch einfach damit, dass es häufig die politische Rückendeckung auch vom Vorstand braucht, um be-
stimmte Konflikte aufzuklären.“ (Ref. Fraktion 1)
Entsprechend dem Ziel, Europapolitik als Querschnittsthema zu verankern – nach der Gleichung „Eu-
ropapolitik = Innenpolitik“ – gibt es auch keine zentrale Schnittstelle für die Bündelung EU-bezogener
Informationen, die die Fraktion bezieht. Diese werden möglichst dezentral übermittelt. Nur dort, wo
ein Übersehen der Europapolitik innerhalb der Fachpolitik droht oder wo die Arbeit verschiedener
Arbeitskreise aufeinander abgestimmt werden muss, sind Koordinierungsstellen zwischengeschaltet.
Überall sonst wurde die koordinierende Tätigkeit dezentraler Stellen in ihrem jeweiligen Fachgebiet
auf die Europapolitik ausgeweitet, so die der Wissenschaftlichen Mitarbeiter in den Abgeordneten-
büros, der Obleute, der AK-Koordinatoren und der Fraktionsreferenten.
Bei der Bewertung der übergreifenden Koordinierungs- und Monitoringverfahren ist zu be-
achten, dass diese sich noch in der Etablierungsphase befinden. Das Verbindungsbüro des Bundesta-
ges in Brüssel und somit manche Serviceleistungen der Verwaltung für die Fraktionen gibt es erst seit
4 Analyse und Hypothesenprüfung
85
wenigen Jahren. Noch jünger ist die Referentenstelle beim Fraktionsvorstand in ihrem jetzigen Zu-
schnitt. Details der genauen Ausgestaltung des Monitorings können sich also durchaus noch ändern.
Aus der gesamten Struktur der Europapolitik-Koordinierung ergibt sich nichtsdestotrotz die klare
Stoßrichtung, dass Europapolitik als Querschnittsaufgabe verstanden wird. Gerade die Organisation
des Kommunikationsflusses zwischen Verbindungsbüroreferenten und Fraktion zeigt dies sehr an-
schaulich. Europapolitik „in Reinform als Querschnittsaufgabe“ zu behandeln (Beichelt 2009: 271)
kann sich also keineswegs nur in der Etablierung der Parlamentarischen Geschäftsführung als zentra-
le Schnittstelle zwischen Verbindungsbüromitarbeitern und Fraktion niederschlagen, wie Beichelt
(2009) mit Blick auf die CDU/CSU-Fraktion schreibt, sondern gerade auch in einem dezentralen Mo-
dell wie dem der Grünen52. Im Vergleich zu einer zentralen Schnittstelle bleibt hier die Autonomie
der einzelnen Fachpolitiker gewahrt, ohne dass es zu zeitlichen Verzögerungen in der Informations-
übermittlung kommt, da keine Zwischeninstanz eingeschaltet wird. Einen gewissen vorbeugenden
Schutz vor Übermittlungspannen bietet die gleichzeitige Information des jeweiligen AK-Koordinators,
der zugleich in die Schwerpunktsetzung der Fraktion eingebunden ist und so das Mainstreaming der
Europapolitik, also ihre Berücksichtigung in allen Fachbereichen, im Blick behalten kann.
4.4 Einflussnahme auf der europäischen Ebene
Gemäß den Hypothesen über die Europäisierung einer Bundestagsfraktion in Kapitel 2.2.3 ist nicht zu
erwarten, dass die Fraktion als Gesamtes, als Organisation, Vorkehrungen getroffen hat, um politi-
schen Einfluss direkt auf der EU-Ebene ausüben zu können. Der Europäisierungsmechanismus greift
hier nicht, da entsprechende Maßnahmen nicht der Handlungslogik der Fraktion als institutionell
geprägte Organisation, nicht der Zielverfolgung im institutionell bedingten Umfeld dienen.
Tatsächlich liefern die Interviews, in denen gezielt nach entsprechenden Aktivitäten und Zu-
ständigkeiten gefragt wurde, keinerlei Hinweise, dass in dieser Hinsicht fraktionsumfassend systema-
tisch vorgegangen wird. Referenten der Fraktion bieten zwar Hilfestellung im Kontakteknüpfen zu
politischen Akteuren der EU-Ebene. Gezielte Lobby-Aktivitäten gegenüber Kommission oder Rat an-
zuregen, zu fördern oder zu unterstützen, gehört dagegen nicht zu ihren Aufgaben. Dies gilt glei-
chermaßen für die Referenten in Berlin und im Verbindungsbüro wie für den Koordinator der Euro-
pagruppe. Es lässt sich also klar feststellen, dass eine Koordination politischer Einflussversuche durch
Bundestagsabgeordnete innerhalb der Fraktion nicht stattfindet.
Dieser Befund bedeutet keineswegs, dass es innerhalb der Fraktion keine Ambitionen gibt,
direkte Kontakte zur Kommission auch dazu zu nutzen, politische Positionen im persönlichen Ge-
52
Beichelts 2009: 271f) Bewertung beruht allein auf der Frage, wie die Bundestagsfraktionen den Kontakt zu
ihren Mitarbeitern in Brüssel organisiert haben. Demnach ist in der Unionsfraktion die Parlamentarische Ge-
schäftsführung die zentrale Schnittstelle, in der SPD-Fraktion der Stellvertretende Fraktionsvorsitz mit themati-
scher Zuständigkeit für Europapolitik, bei FDP wie Linksfraktion ein Stellvertretender Fraktionsvorsitzender
oder AK-Vorsitzender mit außenpolitischer Zuständigkeit.
4 Analyse und Hypothesenprüfung
86
spräch kundzutun. Abgeordnete, die entsprechende Kontakte pflegen, tun dies durchaus. Ein befrag-
tes Fraktionsmitglied sprach offen darüber, von seinen guten Kontakten in die Kommission öfters in
diesem Sinne Gebrauch gemacht zu haben. Seiner Einschätzung nach werde dies auch positiv aufge-
nommen, da der Kommission an einem Austausch mit nationalen Parlamentariern gelegen sei. Von
persönlichen Beziehungen, die sich ein MdB in der Kommission aufbauen kann, hängt hierbei viel ab.
So sagt das MdB über seine guten Erfahrungen mit dem Meinungsaustausch mit Kommissionmitar-
beitern:
„Das gibt es schon häufiger.“ (MdB 2)
In Bezug auf die Nutzung dieser Möglichkeit in der Fraktion insgesamt ist seine Einschätzung dagegen
anders:
„Aber das gibt es nicht regelmäßig und häufig, also das ist unterschiedlich, glaube ich.“ (MdB 2)
In dieselbe Richtung geht auch die Antwort eines anderen MdB, das bis zum Zeitpunkt des Interviews
noch keine entsprechenden Vorstöße unternommen hatte, dies aber für die Zukunft für durchaus
sinnvoll und wahrscheinlich hält:
„[D]a kann es in einem, anderthalb Jahren natürlich schon sein, dass man da auch intensiver mit den
Kommissionsmitarbeitern zusammenarbeitet und versucht, an der einen oder anderen Stelle Einfluss zu
nehmen. Also das wird am Ende so sein […].“ (MdB 1)
Die Bezeichnung gezielter Dialoge mit Kommissionsangehörigen als „Lobbyarbeit“ oder „Lobbying“
wurde von den befragten MdB im Interview fraglos akzeptiert. Deutlich wurde dabei in den sehr un-
terschiedlichen Antworten, dass eine klare Trennung von Gesprächen, die eher zur Information über
Vorhaben der Kommission gesucht werden und Gesprächen, die (auch) der Übermittlung der eigenen
Position – der Lobbyarbeit – dienen, nicht immer möglich ist – zumal ein Gespräch durchaus beiden
Intentionen folgen kann. Für beides gleichermaßen gilt, wie eine Fraktionsmitarbeiterin sagte:
„Sowas kann man aber nicht koordinieren und wird auch nicht koordiniert.“ (Ref. Fraktion 1)
Deutlich wurde in der Untersuchung auch, dass das direkte Gespräch mit Kommissionsmitarbeitern
als zusätzliche Möglichkeit der politischen Wirkung gesehen wird – neben der parlamentarischen
Arbeit im Bundestag. Diese wird klar als vorrangig betrachtet. Im Selbstverständnis der Fraktionsmit-
glieder ist ihr primäres und „angestammtes“ Handlungsfeld der Bundestag, in dem politischen Ein-
fluss und öffentliche Wirkung über die Arbeit in Ausschüssen und Plenum zu erzielen suchen – in rein
innenpolitischen wie in europapolitischen Angelegenheiten gleichermaßen. Die Befunde bestätigen
also die theoretische Annahme und bekräftigen somit das Bild der Bundestagsfraktion als institutio-
nell bedingtem Akteur, wie es in Kapitel 2.2 gezeichnet wurde.
„[D]ie Kontrolle der Regierung, das ist erstmal der Hauptweg. Und dann gibt es natürlich auch noch die
Kollegen im Europäischen Parlament, mit denen man reden kann, also das ist dann sozusagen die europäi-
sche Ebene, die selber auch Einfluss hat. Und natürlich gibt es dann auch die dritte Möglichkeit, dass man
schon frühzeitig die Position, die man hat, hier in Brüssel kundtut […].“ (Ref. Verbindungsbüro Brüssel)
4 Analyse und Hypothesenprüfung
87
Hinweise auf eine Zusammenarbeit bei Kommissionskontakten mit Parlamentariern aus an-
deren Mitgliedsstaaten ergaben sich in den Interviews nicht. Auch das gemeinsame Vorsprechen von
MdB und MdEP in gemeinsamer Sache bei der Kommission ist offenbar nicht üblich. Einige Reaktio-
nen auf die Fragen zu diesem Aspekt zeigen auch, dass die Sensibilität für die Autonomie der grünen
Europagruppe in dieser Hinsicht Vorsicht gebietet. Wenn Bundestagsabgeordnete auf der EU-Ebene
aktiv werden, kann dies auch als Eindringen in den „Hoheitsbereich“ der Europaparlamentarier auf-
gefasst werden. So gaben nicht nur beide befragten MdEP an, keine Kenntnis von entsprechenden
Kooperationen zu haben, einer verwies in diesem Zusammenhang auch auf die Eigenständigkeit der
Grünen EP-Fraktion gegenüber ihren nationalen Parteien.
Während die bisher behandelten Wege der politischen Einflussnahme auf der EU-Ebene in-
formeller Natur sind, gibt es für nationale Parlamente und Parlamentarier mit den Konsultationen
der Kommission auch eine formale Möglichkeit, sich in den europäischen Rechtsetzungsprozess ein-
zubringen. Die Kommission bietet bei manchen Vorhaben, beispielsweise, wenn sie ein Grün- oder
Weißbuch herausgibt, eine Möglichkeit zur Meinungsäußerung an. Sowohl Parlamente als Ganzes
und einzelne Ausschüsse als auch Fraktionen oder einzelne Abgeordnete können sich daran beteili-
gen. Diese Option wird innerhalb der Grünenfraktion von einzelnen oder von Gruppen von Abgeord-
neten gelegentlich genutzt, und auch die Gesamtfraktion nimmt ab und an auf Betreiben eines ein-
zelnen Mitglieds an solchen Verfahren teil. Die Initiative geht dabei nicht von einer koordinierenden
Stelle aus, sondern vom individuellen MdB. Es hängt also von der Kenntnis des Verfahrens und vom
Engagement Einzelner ab, ob diese Möglichkeit genutzt wird. Angesichts der positiven Einschätzung,
die die befragten Europa-Fachpolitiker von der Teilnahme an Konsultationen der Kommission haben,
ist hier also durchaus noch Potenzial für eine systematischere Nutzung vorhanden.
4.5 Zusammenfassung und Auswertung
Werden die untersuchten Dimensionen der Europäisierung insgesamt betrachtet, so ist festzustellen,
dass Europäisierung in allen erwarteten Bereichen stattgefunden hat. Die Hypothesen wurden durch
die Analyse bestätigt. Der auf der Grundlage einer institutionalistischen Auffassung der Bundestags-
fraktionen konzipierte theoretische Ansatz hat sich als schlüssig erwiesen. In der Grünenfraktion hat
ein starker Ausbau der EU-Expertise in Form eines Stellenausbaus stattgefunden und ein Programm
zur Weiterbildung der Mitarbeiter wird entwickelt. Über die Fraktionsreferenten im Verbindungsbüro
des Bundestages in Brüssel bestehen vielfältige Kontakte zu öffentlichen und privaten politischen
Akteuren, die sowohl der Frühwarnung der Fraktion als auch ihrer von der Bundesregierung unab-
hängigen Information in allen europapolitischen Bereichen dienen. Zwischen der Bundestagsfraktion
und der Europagruppe gibt es ein informelles Kontaktnetz über einzelne Abgeordnete in ihren jewei-
ligen fachpolitischen Gebieten sowie eine strukturelle Schnittstelle über den Koordinator der Euro-
4 Analyse und Hypothesenprüfung
88
pagruppe, die Europareferenten der Bundestagsfraktion und die Wissenschaftlichen Arbeitskreisko-
ordinatoren. Institutionalisierte Arbeitstreffen zwischen beiden Ebenen finden in größeren zeitlichen
Abständen in Form des Europa-Bund-Länder-Treffens statt. Der geringen Vertretungsrate der Partei
in Landesregierungen und Regierungen anderer EU-Staaten entsprechend sind auf Europapolitik be-
zogenen Informationskanäle in diesen Ausprägungen bislang wenig existent. Für die Koordination der
EU-Politik innerhalb der Fraktion wurde ein überwiegend dezentral geprägtes Modell geschaffen, in
dem die koordinierenden Aufgaben von Abgeordnetenbüros, Arbeitskreiskoordinatoren und Frakti-
onsreferenten auf EU-Vorlagen in ihrem jeweiligen Bereich ausgedehnt wurde. Unterstützt wird die
Eingliederung der Europapolitik in die Fachpolitiken durch zentrale Koordinierungsstellen, die sich
schwerpunktmäßig um die Begleitung themenübergreifender Vorlagen kümmern sowie durch ihre
Einbeziehung in das Verfahren der Schwerpunktsetzung für das jeweils kommende Jahr. Für das zent-
rale Monitoring wurde eigens eine Referentenstelle beim Geschäftsführenden Vorstand geschaffen.
Die Teilnahme an Konsultationen der Kommission erfolgt bislang wenig abgestimmt, sondern nach
Ermessen einzelner jeweils fachpolitisch betroffener Abgeordneter – was der Handhabung europäi-
scher Angelegenheiten als fachpolitischer Angelegenheiten entspricht, aber noch Raum für eine Ef-
fektivierung lässt. Einzelne Parlamentarier haben ihren Aktivitätsbereich auf die EU-Ebene ausgewei-
tet, indem sie persönliche Kontakte zur Kommission auch dazu nutzen, ihren Standpunkt außerhalb
des formalen parlamentarischen Verfahrens anzubringen. Wie es die institutionalistische Hypothese
erwarten lässt, findet ein solches Vorgehen jedoch nicht auf breiter Basis der Fraktion und nicht ko-
ordiniert, sondern rein individuell statt.
Die festgestellten Europäisierungsschritte in den Dimensionen Expertise, Informationskanäle
und fraktionsinterne Koordinierung tragen dazu bei, die Handlungsfähigkeit der Fraktion in einer von
der europäischen Integration betroffenen Umwelt, insbesondere gegenüber einer europäisierten
Bundesregierung, aufrechtzuerhalten. Sie zielen darauf, die eigene Binnenorganisation aufrechtzuer-
halten sowie die Aufgaben der Kontrolle, der Gesetzgebung und der Repräsentation weiterhin wahr-
nehmen zu können, was gemäß Hypothese eins ohne entsprechende Maßnahmen gefährdet wäre.
Wie Hypothese zwei es benennt, spielen für die Implementierung von Europäisierungsmaßnahmen
einflussreiche Akteure innerhalb von Fraktion und Partei eine bedeutende Rolle. Die Annahme, dass
aufgrund des personellen Austausches zwischen Europa- und Bundestagsfraktion beziehungsweise
Bundespartei erkennbare Europäisierungsschritte vorgenommen wurden, hat sich als plausibel er-
wiesen. Fraktionsmitglieder mit EU-Erfahrung haben sich für die Etablierung europafähigkeitsför-
dernder Mittel etwa durch die Erarbeitung eines Maßnahmenkatalogs eingesetzt. Neben profilierten
Politikern haben sich auch engagierte Fraktionsangestellte als Beförderer der Europäisierung heraus-
destilliert, deren Wirkmächtigkeit jedoch stark von der Unterstützung aus der politischen Ebene ab-
hängt, was wiederum für die Bedeutung von „norm entrepreneurs“ (Börzel/Risse 2003) spricht.
4 Analyse und Hypothesenprüfung
89
Die Analyse hat auch gezeigt, dass, was bei einer institutionalistischen Betrachtungsweise
nicht überraschen kann, dem Tatendrang europapolitisch sensibler Akteure starke Beharrungskräfte
entgegenstehen können, die sich nicht aus einer inhaltlich anderen Position, sondern aus dem Beste-
hen auf die eigene Autonomie ableiten. Eingriffe in Form eines übergeordneten Monitorings in den
jeweils fachpolitisch definierten Zuständigkeitsbereich eines Arbeitskreises etwa haben dann eine
erhöhte Chance auf Wirksamkeit, wenn sie nicht von einer gleichrangigen, sondern von einer expo-
nierten Stelle aus erfolgen, die ihr nicht nur den Bonus des besseren Überblicks, sondern auch einer
zusätzlichen Autorität verleiht. Anpassungen konservativer Organisationen, als die Fraktionen in die-
ser Arbeit betrachtet wurden (vgl. Kapitel 2.2.1), an ihre veränderte Umwelt erfolgen in der Regel in
kleinstmöglichem Umfang und ohne grundlegende Reformen. So ist es auch zu erklären, weshalb ein
in dieser Arbeit theoretisch als wichtiger Informationskanal der Grünenfraktion – derjenige zu den
grünen MdEP – bislang wenig institutionalisiert ist. Beziehungen zu Mitgliedern anderer Parlamente,
also grundsätzlich auch zu Europaabgeordneten, liegen traditionell im Bereich des persönlichen Er-
messens jedes Fraktionsmitglieds. Eine stärkere Systematisierung in Institutionalisierung in diesem
Bereich würde eine Neudefinition dieser Beziehungspflege als Aufgabe der Fraktion als Ganzes vo-
raussetzen. Dies würde einen gewissen Eingriff in die persönliche Zuständigkeit und Entscheidungs-
freiheit des einzelnen Abgeordneten bedeuten. Eine stärkere Institutionalisierung und zentrale Steu-
erung in diesem Bereich erscheint daher voraussetzungsvoller als beispielsweise die Schaffung neuer
Stellen im Brüsseler Verbindungsbüro oder die Einbeziehung der Europapolitischen Vorausschauen in
die Schwerpunktsetzung der Fraktion, obwohl auch Letztere mit großem Aufwand verbunden ist.
4.5.1 Weitergehende Überlegungen zur Präzisierung des Theorieansatzes
Der erbrachte Nachweis, dass beide Hypothesen ebenso empirisch ergiebig wie theoretisch fundiert
sind, liefert nun die Möglichkeit zur genaueren Betrachtung ihrer Gewichtung. So lag es nicht im Fo-
kus dieser Arbeit, zu klären, welchen Anteil einzelne der als „norm entrepreneurs“ in Frage kommen-
den Akteure an den einzelnen Schritten der Europäisierung haben. Eine detaillierte Aufschlüsselung
des Gewichts beider Hypothesen könnte die Zielsetzung einer eigenen, stärker auf die Theoriediskus-
sion ausgerichteten Arbeit sein. Zum einen können Fallstudien durchgeführt werden, um zu einer
exakteren Einschätzung des Ausmaßes der Wirkung von Normunternehmern zu kommen. Das Ziel
einer solchen Studie wäre es, zu ermitteln, wie sich normunternehmerisches Handeln einzelner Per-
sonen auswirkt. Bei den Grünen könnte sich beispielsweise das jüngst eingerichtete „Zukunftsforum
Europa“ der Bundespartei, an dem Parteimitglieder aus EP, Bundesvorstand, Bundestagsfraktion und
der BAG Europa teilnehmen, als Expertenrunde erweisen, aus der persönliches Engagement und
innovative Ansätze zur Europäisierung von Fraktion und Partei hervorgehen. Zum anderen bietet sich
ein vergleichendes Design an. Mit einer komparativen Studie, die mehrere Bundestagsfraktionen
einbezieht, kann die Bedeutung von Normunternehmern für die Europäisierung aller Bundestagsfrak-
4 Analyse und Hypothesenprüfung
90
tionen ermittelt werden. Das Ergebnis einer derartigen Untersuchung könnte zu einer veränderten
theoretischen Gewichtung der relevanten Variablen führen. Möglicherweise steht am Ende empirisch
und theoretisch motivierter Erwägungen die Erkenntnis, dass „norm entrepreneurs“ als intervenie-
rende Variable auf den Europäisierungsmechanismus „Erhalt der Handlungsfähigkeit“ einwirken. Die
hier erfolgte Untersuchung hat bereits unterstrichen, dass dem ermunternden und fördernden Enga-
gement einzelner Personen in der Fraktion für die Berücksichtigung europäischer Politiken sowie
Informations- und Vernetzungsmöglichkeiten nicht unerhebliche Bedeutung zukommt. Sollte sich
herausstellen, dass Normunternehmer erst dafür sorgen, dass der Europäisierungsmechanismus
greift, so wäre der Kausalzusammenhang etwas anders darstellbar. „Norm entrepreneurs“ wären
dann nicht als parallel verlaufender Europäisierungsmechanismus zu konzipieren, sondern als Ver-
stärkung oder Aktivierungsmechanismus für den Hauptmechanismus „Erhalt der Handlungsfähig-
keit“. Wie schlüssig diese Konzeption die Kausalwirkung bei der Europäisierung von Bundestagsfrak-
tionen einfängt, können letztlich weitere empirische Fallstudien und vergleichende Untersuchungen
zeigen.
Auch in einem weiteren Bereich liefert die vorstehende Analyse Anhaltspunkte für eine Präzi-
sierung des theoretischen Konzepts für die Europäisierung von Fraktionen. Ganz im Sinne einer ex-
plorativen Fallstudie hat sie nicht nur die vier theoretisch abgeleiteten Europäisierungsdimensionen
beleuchtet, sondern auch Hinweise auf eine weitere Dimension geliefert. Die Auseinandersetzung
mit der Koordinierungspraxis der Grünenfraktion im Bereich der Europapolitik hat gezeigt, dass es
durch Anpassungsleistungen an die Folgen der europäischen Integration innerhalb von Parlaments-
fraktionen zu Verschiebungen im Kräfteverhältnis kommen kann. Durch die Etablierung zentraler
Koordinierungsverfahren können vormals sehr eigenständig agierende fachpolitische Bereiche einen
Teil ihrer Handlungsautonomie verlieren. Solange sich koordinierende Tätigkeiten durch europapoli-
tische Referenten oder ähnliche Stellen auf einzelne fachbereichsübergreifende Vorlagen beschrän-
ken, ergibt sich daraus sicherlich kein Autonomieverlust für einzelne Abgeordnetenbüros und Fachre-
ferenten. Ein solcher wird aber wahrscheinlicher, wenn Entscheidungen über parlamentarische Initia-
tiven der Fraktion ganz oder teilweise an Stellen übergehen, die eigens für Monitoring- und Koordi-
nationsaufgaben eingerichtet wurden. Dies dürfte in besonderem Maße gelten, wenn entsprechende
Stellen mit besonderer Autorität beziehungsweise ausdrücklichem Rückhalt der Fraktionsspitze oder
deren explizitem Auftrag ausgestattet sind. Werden beispielsweise europapolitische Agenden für die
Gesamtfraktion zentral ausgearbeitet, zu deren Umsetzung die Abgeordnetenbüros angehalten sind,
so stärkt dies je nach Ansiedlungsort der zentralen Instanz die Kompetenzen etwa des Fraktionsvor-
standes. Ähnliche Effekte sind bei der Schaffung einer zentralen Informationsschnittstelle zwischen
Fraktion und Verbindungsbüro etwa bei der Parlamentarischen Geschäftsführung zu erwarten, so es
eine entsprechende Schnittstelle in einer Fraktion geben sollte. Welches Ausmaß Kräfteverschiebun-
4 Analyse und Hypothesenprüfung
91
gen durch Umstrukturierungsmaßnahmen innerhalb von Parlamentsfraktionen infolge der europäi-
schen Integration haben, wäre für weitere Studien eine durchaus relevante zusätzliche Fragestellung
im Katalog der Europäisierungsdimensionen.
Über die Erkenntnis der Ausprägung der abhängigen Variablen hinaus liefert die Analyse auch
Hinweise darauf, welche Faktoren für deren Ausprägung relevant sind. Diese Informationen könnten
zunächst für ein erweitertes Untersuchungsdesign, das mehrere Fraktionen einbezieht, verwendet
werden. Auf diese Weise kann ihre Bedeutung als Drittvariablen genauer eruiert werden. Stellt sich
heraus, dass sie auf die Auswirkung der unabhängigen Variablen einen entscheidenden Einfluss ha-
ben, dass also eine Interaktion vorliegt (vgl. Diekmann 2005: 602ff), ist der Theorieansatz mit ihnen
weiter zu präzisieren. Als Drittvariable scheint aufgrund der vorstehenden Analyse zum einen die
Größe einer Fraktion relevant. In einer kleinen Fraktion wie der grünen kennen sich die Abgeordne-
ten gegenseitig recht gut, was die dezentrale Abstimmung auch europapolitischer Positionen im di-
rekten Kontakt zwischen den Abgeordnetenbüros erleichtert. Auch die dezentrale Schnittstelle zwi-
schen Fraktionsmitarbeitern im Brüsseler Verbindungsbüro und den MdB-Büros bietet sich in einer
kleinen Fraktion eher an, und in einer kleinen Partei bestehen vermutlich mehr persönliche Bekannt-
schaften zwischen MdB und MdEP, weshalb eine zentrale Koordinierung entsprechender Kontakte
weniger zwingend erscheinen mag. Die Größe einer Fraktion korreliert zudem mit ihren finanziellen
Mitteln: Wächst eine Fraktion von einer Wahlperiode auf die andere, so ist ein Stellenausbau eher
finanzierbar. Der Größenaspekt ist außerdem nicht nur hinsichtlich der betrachteten Fraktion selbst
relevant, sondern offensichtlich spielt auch die Stärke der (Schwester-)Partei außerhalb der Ebene
des Bundes eine Rolle. Ist diese in anderen EU-Staaten relativ unbedeutend, so besteht für Informa-
tionskanäle in dieser Dimension kein großes Potenzial und sie zu etablieren erscheint wenig erstre-
benswert. Ähnliches gilt für Bundesländer. Ist eine Partei auf Bundesebene in der Opposition, in eini-
gen Ländern aber erheblich stärker und Regierungspartei, so können Austauschbeziehungen in diese
Richtung als Grundlage für die Europapolitik besonders ertragreich sein und dementsprechend steigt
die Wahrscheinlichkeit, dass sie bestehen oder angestrebt werden. Neben dem Größenaspekt dürfte
auch die Einstellung zur europäischen Integration in der Programmatik einer Partei und Fraktion als
Drittvariable relevant sein. In einer Fraktion, die eine Vertiefung und Ausdehnung der Integration für
wünschenswert hält, wird Europapolitik vermutlich eher als Querschnittsaufgabe betrachtet, an der
sich alle Fachpolitiker in ihrem jeweiligen fachpolitischen Bereich beteiligen. Dies begünstigt ein de-
zentrales Koordinierungsmodell. Und nicht zuletzt ist zu erwarten, dass die Einstellung zur europäi-
schen Integration einen Einfluss auf die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Europäisierung einer
Fraktion hat, was wohl im Vergleich verschiedener EU-Staaten am deutlichsten werden dürfte, da
alle großen deutschen Parteien generell pro-europäisch eingestellt sind (vgl. Poguntke 2008).
4 Analyse und Hypothesenprüfung
92
4.5.2 Praxisrelevante Schlussfolgerungen
Die vorliegende Arbeit hat nicht das primäre Ziel, Handlungsempfehlungen für Bundestagsfraktionen
zu erarbeiten. Verknüpft man jedoch die Befunde der Analyse mit den Überlegungen zu interagie-
renden Drittvariablen, so sind Rückschlüsse auf einige Möglichkeiten der weiteren Europäisierung
mit dem Ziel der Wahrung der Handlungsfähigkeit der Fraktion naheliegend. Diese sollen im Folgen-
den kurz beleuchtet werden.
Die Dezentralität der Beziehungen zwischen Bundestagsfraktion und EU-Ebene ist wie be-
schrieben nachvollziehbar und hat einerseits durchaus ihre Berechtigung, da sie der Arbeitsteilung
und Spezialisierung in einer Fraktion Rechnung trägt. Informationen kommen am schnellsten an der
richtigen Stelle, nämlich dem einzelnen Abgeordnetenbüro, an, wenn dieses sich selbst um Anfragen
und Kontakte kümmert. Eine intensivere Förderung und Unterstützung dabei, etwa durch die Ar-
beitskreiskoordinatoren, könnte aber hilfreich sein. Ausbaufähig scheinen darüber hinaus insbeson-
dere die institutionalisierten Beziehungen zwischen Bundestagsfraktion und grünen Europaparla-
mentariern, die bislang nur in Form des großen Europa-Bund-Länder-Treffens existieren und somit
einen Großteil der Fachpolitiker nur gelegentlich einbeziehen. Eine systematischere Vernetzung der
Bundestagsfraktion mit den grünen MdEP würde zum einen auch diejenigen Fachpolitiker, die bislang
wenig europapolitisch aktiv sind, in einen regelmäßigen Austausch mit ihren EP-Kollegen bringen.
Zum anderen würde so die Abhängigkeit des Informationsflusses von einzelnen Personen und per-
sönlichen Bekanntschaften verringert und die Zuverlässigkeit und Stetigkeit des Austausches erhöht.
Der Informationsfluss würde auch bei zunehmender Fraktionsgröße, die angesichts der Gewichtsver-
schiebung im Parteiensystem in den vergangenen Jahren als mögliche Entwicklung in Rechnung ge-
stellt werden muss, auf eine stabile Basis gestellt. Eine gangbare Option zur Verstetigung in diesem
Sinne wären regelmäßige Treffen zwischen Arbeitsgruppen oder Arbeitskreisen der Bundestagsfrak-
tion und den grünen EP-Abgeordneten, die sich denselben Themen zuordnen. Aus solchen thema-
tisch strukturierten Zusammenkünften mit übersichtlichem Teilnehmerkreis könnten sich konstante
Arbeitsbeziehungen entwickeln. Den Beteiligten wäre im Optimalfall die Brüsseler und Straßburger
beziehungsweise Berliner Agenda ständig präsent, was die Berücksichtigung bei eigenen parlamenta-
rischen Aktivitäten erleichtern würde. Der zusätzliche Aufwand für die Einrichtung einer solchen,
beispielsweise alle zwei bis drei Monate stattfindenden, Versammlung wäre überschaubar und wür-
de wohl keine zusätzliche Personalstelle erfordern. Vorstellbar ist, dass er durch die Mitarbeiter bei-
der Seiten – auch viele MdEP verfügen über eine Bürokraft im Bundestag –, möglicherweise mit Fe-
derführung des jeweiligen Arbeitskreiskoordinators, abgedeckt werden könnte. Falls der Aufwand
dennoch zu groß erscheint, da die MdEP zusätzliche Reisen nach Berlin unternehmen müssten oder
Terminüberschneidungen im Wege stehen, wären Telefon- oder Videokonferenzen mit demselben
Teilnehmerkreis eine Alternative. Aber selbst ein jährliches thematisch strukturiertes Treffen wäre
4 Analyse und Hypothesenprüfung
93
bereits eine Steigerung der Austauschdichte im Vergleich zur heutigen Situation, wo Fachpolitiker
beider Ebenen auf dem Europa-Bund-Länder-Treffen nur sporadisch zusammenkommen. Fachlich
strukturierte Treffen mit überschaubarer Teilnehmerzahl scheinen in jedem Falle für die Intensivie-
rung des fachpolitischen Austausches sinnvoller als regelmäßige Koordinationstreffen zwischen allen
Abgeordneten der nationalen und der europäischen Ebene der Partei, wie sie in einigen niederländi-
schen Parteien praktiziert werden (Neunreither 2005: 484). Solche Großtreffen stellen zudem einen
enormen zusätzlichen Organisationsaufwand dar. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis separater fachpoliti-
scher Treffen wie hier vorgeschlagen dürfte erheblich günstiger ausfallen. Dies gilt auch im Vergleich
zu halbjährlichen Klausuren der Bundestagsfraktion in Brüssel, wie sie einem Mitarbeiter der Fraktion
als Zukunftsoption vorschweben:
„Und eine Idee, die jetzt noch nicht realisiert ist, aber die ich mir auch immer vorstelle, ist, dass wir als
Fraktion einmal im Rat eine Klausur in Brüssel machen, wo wir vielleicht Dinge mit dem Schwerpunkt Eu-
ropa als Thema aufsetzen und dann auch noch mal da vor Ort interessante Gesprächspartner haben.“ (MA
Fraktions-AK)
Der Organisationsaufwand für solche Klausuren, die auch Kontakte zu europäischen Gesprächspart-
nern umschließen könnten, wäre relativ hoch. Der „Bewusstseinserweiterung“ der MdB für die EU-
Agenda wären sie vermutlich dienlich, doch scheinen fachpolitische Foren der tatsächlichen Zusam-
menarbeit in Vorlagen und Vorhaben noch stärker zuträglich.
Die Fraktion versucht wie beschrieben, ihre Europafähigkeit auch über die Förderung der
Mitarbeiter zu stärken. Die Analyse hat gezeigt, dass die Mitarbeiterebene für die Entwicklung von
Koordinationsverfahren und somit für den Ausbau der Europafähigkeit einer Fraktion und ihrer Partei
sehr bedeutend ist. An der Europasensibilität und an der EU-bezogenen Expertise des Personals an-
zusetzen ist daher sinnvoll und wichtig, soll eine Fraktion in der Europapolitik in hohem Maße hand-
lungsfähig sein. Ein relativ einfacher Schritt, dies auch formal abzusichern, wäre die Verankerung von
EU-Kenntnissen als Standardqualifikation in allen Stellenausschreibungen in vergemeinschafteten
Politikbereichen. Dieses Einstellungskriterium würde von der Aufmerksamkeit des einzelnen Abge-
ordneten unabhängig gemacht. Dadurch würde die Europakompetenz mit hoher Wahrscheinlichkeit
gerade in jenen MdB-Büros gestärkt, in denen sie bislang weniger stark ausgeprägt ist. Schwieriger ist
im Vergleich dazu die Einbeziehung der politischen Ebene in das bestehende Weiterbildungspro-
gramm der Fraktion – anzustreben wäre dies aber allemal. Dies würde allerdings den Einsatz der
Fraktionsspitze voraussetzen, da sich Abgeordnete von Fraktionsangestellten kaum zur Teilnahme an
Fortbildungsangeboten animieren lassen dürften. Zuletzt sei die systematischere Nutzung der Kon-
sultationen auf EU-Ebene als Ausbaupotenzial genannt. Die Teilnahme an dieser Form der Erörterung
eines Vorhabens durch die Kommission gilt unter den Europapolitikern der Fraktion als sinnvoll. Es
scheint also ratsam, einen größeren Kreis an Abgeordneten für diese Option zu sensibilisieren. Neu
eröffnete Konsultationen könnten in das Frühwarnsystem über die Fraktionsmitarbeiter im Verbin-
4 Analyse und Hypothesenprüfung
94
dungsbüro einbezogen werden, um so den jeweils thematisch zuständigen Parlamentarier direkt auf
die Teilnahmemöglichkeit hinzuweisen. Denkbar wäre weiterhin, diese Zuständigkeit zusätzlich der
Vorstandsreferenten-Stelle für Monitoring und Koordination der Europapolitik oder den AK-
Koordinatoren zuzuordnen.
Potenzial für weitere Europäisierungsschritte besteht somit in allen drei Dimensionen, in
denen in der vorstehenden Analyse Veränderungen konstatiert wurden. Eine abschließende Bewer-
tung des Europäisierungsstandes der grünen Bundestagsfraktion indes kann mit dieser Feststellung
nicht verbunden werden. Die Untersuchung hat deutlich gemacht, dass der Prozess der Anpassung
an die europäisierte Umwelt noch im Gange ist. In Brüssel sind die Grünen wie alle Bundestagsfrakti-
onen erst seit wenigen Jahren vertreten. Die damit verbundene politische Koordinierung befindet
sich teils noch in der Erprobungsphase. Die genauen Zuständigkeiten der neuen Monitoringstelle
beim Fraktionsvorstand werden sich, wie so oft bei der Einrichtung eines neuen Postens, erst noch
herausbilden. Die Studie hat somit erstmals untersucht, was Europäisierung in einer Bundestagsfrak-
tion bedeutet und dafür einen analytischen Rahmen erarbeitet – weitere Untersuchungen können
darauf aufbauen.
5 Fazit und Ausblick
95
5 Fazit und Ausblick
Die vorliegende Arbeit hat sich mit der Frage beschäftigt, wie sich die grüne Bundestagsfraktion eu-
ropäisiert. Die Fragestellung hat zum einen mit dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom Juni 2009 einen aktuellen Anlass. Dieses enthält die Aufforderung an den Bundestag, seiner
Integrationsverantwortung nachzukommen und nimmt somit auch die Fraktionen europapolitisch in
die Pflicht. Zum anderen stößt die Studie in eine Forschungslücke vor. Während es einen umfangrei-
chen Literaturbestand zur Europäisierung des Bundestages als Institution gibt, waren seine Fraktio-
nen bislang unbeleuchtet. In einigen neueren Publikationen über die Europäisierung nationaler Par-
lamente wird dementsprechend gefordert, die relevanten Akteure stärker zu berücksichtigen. Auch
aus theoretischer Perspektive liegt eine Beschäftigung mit den Bundestagsfraktionen nahe. Demo-
kratietheoretische Erwägungen sprechen für eine genaue Untersuchung der parlamentarischen Mit-
wirkung in der Europapolitik der EU-Mitgliedsstaaten, um deren Beitrag zur demokratischen Legiti-
mation des gesamten Mehrebenensystems auszuloten. Für ein umfassendes Verständnis der Europa-
fähigkeit eines nationalen Parlaments ist die Kenntnis der europapolitischen Aktivitäten ihrer Frakti-
onen unverzichtbar. Auch institutionalistische Grundannahmen, von denen die meisten Europäisie-
rungsstudien implizit oder explizit geleitet sind, sprechen für eine Untersuchung der Fraktionseuro-
päisierung.
Grundgedanken des Neoinstitutionalismus waren auch die theoretische Basis dieser Arbeit.
Von ihren parlamentarischen Funktionen ausgehend wurden die Bundestagsfraktionen als institutio-
nell eingebettete Akteure konzipiert, deren Handeln auf die Ziele Repräsentation, Beteiligung an der
Gesetzgebung und Kontrolle der Bundesregierung sowie Aufrechterhaltung der eigenen Binnenorga-
nisation ausgerichtet sind. Die erwarteten indirekten Reaktionen einer Bundestagsfraktion auf den
Einfluss des Integrationsprozesses auf ihre unmittelbare Umwelt wurden in zwei Hypothesen und
darauf aufbauend vier Europäisierungsdimensionen gefasst. Demnach wirkt eine Fraktion mit strate-
gischen Anpassungsleistungen an eine veränderte Umwelt, die ihr an institutionell gegebenen Zielen
orientiertes Handeln zu beeinträchtigen droht, ihrer Marginalisierung entgegen. Entsprechende An-
passungsleistungen sind dann zu erwarten, wenn „norm entrepreneurs“ deren Notwendigkeit erken-
nen und für sie werben. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung haben diese Hypothesen be-
stätigt. In zehn Telefoninterviews und drei schriftlichen Befragungen wurde eine Reihe von Europäi-
sierungsindikatoren erhoben und anschließend den vier Dimensionen zugeordnet. Die Analyse hat
ergeben, dass die grüne Bundestagsfraktion wie erwartet ihre Ressourcen in der europapolitischen
Expertise deutlich ausgebaut und Routinen zur internen Koordinierung in diesem Politikbereich etab-
liert hat. Zur Gewinnung unabhängiger Informationen hat sie eigene Informationskanäle und Vernet-
zungsinstrumente geschaffen, während es wie erwartet keine fraktionsumfassende Koordinierung
5 Fazit und Ausblick
96
von politischen Vorstößen direkt auf die EU-Ebene gibt. Sowohl die Art der fraktionsinternen euro-
papolitischen Koordinierung als auch die Beschaffenheit der EU-bezogenen Vernetzung folgt dabei im
Großen und Ganzen der dezentral-fachpolitisch gegliederten Grundstruktur der Fraktion. Dies kann
auch als ein Grund herangezogen werden, weshalb es bei der europapolitischen Vernetzung auf Frak-
tionsebene noch Ausbaupotenzial gibt. Neben der detaillierten Beschreibung der Europäisierung
einer Bundestagsfraktion hat die Analyse nicht nur eine Bestätigung beider Hypothesen erbracht,
sondern auch Hinweise für eine Präzisierung des theoretischen Konzepts. Der Erkenntnisgewinn der
Studie liegt im empirischen, im theoretisch-konzeptionellen wie im praktischen Bereich:
Mit der empirischen Erfassung eines umfangreichen Katalogs an Europäisierungsindikatoren
wurde erstmals empirisch untersucht, was Europäisierung für eine Fraktion eines nationalen Parla-
ments konkret bedeutet. Bezogen auf den Deutschen Bundestag liefert die Studie somit einen Bei-
trag zu einem detaillierteren Bild von dessen Europäisierung. Während sich die zahlreichen Untersu-
chungen zur Europäisierung der Parlamente in den EU-Mitgliedsstaaten fast ausnahmslos auf das
Parlament als Institution beziehen, fokussiert die vorliegende Arbeit zum ersten Mal auf deren zent-
rale Handlungseinheiten. Sie berücksichtigt die grundlegende Strukturierung des Bundestages in
Mehrheit und Opposition: Diese Struktur bewirkt, dass es im parlamentarischen Alltag in der Regel
kein einheitlich agierendes Parlament als Gegenspieler der Exekutive gibt, sondern dass das Handeln
der einzelnen Fraktionen unterschiedlichen Interessen folgt. Die Mehrheitsfraktionen stützen die
Regierung – in der europapolitischen Mitwirkung haben sie daher in der Regel kein Interesse an Stel-
lungnahmen nach Art. 23 GG, die sich inhaltlich gegen die Position der Bundesregierung richten. Auel
(2006b) hat auf der Grundlage dieses Gedankens erste Erkenntnisse über die „strategische“ Europäi-
sierung des Bundestages in Form europapolitischer Aktivitäten und Kontakte einzelner Abgeordneter
publiziert. Während diese Erkenntnisse einen ersten Einblick in die vielfältigen Europäisierungspro-
zesse, die „unterhalb“ der gesamtinstitutionellen Ebene ablaufen, ermöglichen, hat die vorliegende
Studie mit der Untersuchung einer Fraktion erstmals aggregierte Daten hervorgebracht und damit
eine Lücke gefüllt. Denn Beschreibungen der Anpassung des gesamten Bundestages an den Integra-
tionsprozess erbringen zwar genaues Wissen über die institutionellen Möglichkeiten, die dem Parla-
ment bei der europapolitischen Mitwirkung offenstehen, und Untersuchungen der individuellen eu-
ropapolitischen Aktivitäten einzelner Abgeordneter ermöglichen Rückschlüsse auf die Anreizstruktur
des europapolitischen Handelns. Analysen aus beiden Perspektiven vermögen jedoch nicht zu sagen,
was die strukturellen Voraussetzungen für die tatsächliche Nutzung der institutionellen Mitwir-
kungsmöglichkeiten des Bundestages sind und über welche tatsächliche europapolitische Hand-
lungsmöglichkeit die Fraktionen als zentrale Akteurseinheiten verfügen. Die Ergebnisse der obigen
Fallstudie erlauben eine erste deutliche Einsicht in diese Fragen. Denn für die Europafähigkeit des
Bundestages ist es mitentscheidend, dass seine Fraktionen über die Voraussetzungen verfügen, EU-
5 Fazit und Ausblick
97
Vorhaben prüfen und eigene Initiativen zu europäischen Politiken entwickeln können. Nur dann kann
der Bundestag als Ganzes seiner vom Bundesverfassungsgericht angemahnten „Integrationsverant-
wortung“ nachkommen.
Für die empirische Untersuchung wurde ein theoretischer Ansatz erarbeitet, der die Reich-
weite der Europäisierungsforschung auch im theoretischen Sinne ergänzt und eine Lücke füllt. Beste-
hende Ansätze sind dafür nicht geeignet. Bislang hat vor allem der „goodness-of-fit“ Ansatz von Bör-
zel und Risse (2003) Bekanntheit erlangt. Seine Anwendungsmöglichkeiten sind aufgrund der restrik-
tiven Annahme eines unmittelbaren Anpassungsdrucks allerdings auf solche Gegenstände begrenzt,
die direkten Auswirkungen der EU ausgesetzt sind. Fraktionen nationaler Parlamente gehören wie
im zweiten Kapitel der Arbeit ausgeführt nicht zu diesem Kreis (vgl. Benz 2005, Ladrech 2010). Mit
dem hier entwickelten Theorieansatz, der auf der Grundlage institutionalistischer Annahmen Reakti-
onen von Fraktionen auf Veränderungen ihrer Umwelt erwartet, wird für diese Akteurskategorie eine
Möglichkeit geboten, Europäisierung theoretisch fundiert zu erfassen und zu untersuchen. Ohne die
Berechtigung und die Tauglichkeit des „goodness-of-fit“-Ansatzes, die er für einen umfangreichen
Bereich der Europäisierungsforschung besitzt, anzufechten, wird ihm eine ergänzende Herange-
hensweise zur Seite gestellt, mit der über die Fraktionen auch die Europäisierungsschritte eines gan-
zen Parlaments aus einer vielversprechenden Perspektive näher untersucht werden können. Bei der
Identifizierung zweier Europäisierungsmechanismen wird dabei auf eine zentrale Forderung von im
Bereich der Europäisierung versierten Wissenschaftlern eingegangen: Die Voraussetzungen für das
Greifen der Mechanismen wurden benannt und die Hypothesen klar begründet. Dies sind die Bedin-
gungen dafür, dass das Feld der Europäisierungsforschung nicht immer weiter fragmentiert, sondern
die einzelnen Ansätze ihren jeweiligen Anwendungsmöglichkeiten klar zugeordnet werden können
und ihre jeweilige Reichweite definierbar ist (vgl. Knill 2009).
Über den Erkenntnisgewinn in der empirischen und in der theoretischen Dimension hinaus
sind die Ergebnisse der Fallstudie auch für die politische Praxis relevant. Sie zeigen nicht nur den
Stand der Europäisierung der untersuchten Bundestagsfraktion auf, sondern ermöglichen damit auch
eine Bewertung und gegebenenfalls Ergänzung durch weitere Maßnahmen. Wenngleich dies nicht
das vorrangige Ziel der Studie war, so wurden die empirischen Untersuchungsergebnisse doch ge-
nutzt, um diesbezüglich einige Vorschläge zu machen. Dies zeigt, dass Europäisierungsstudien der
politischen Praxis wichtige Anknüpfungspunkte an die politologische Forschung bieten. Obschon
politologische Forschung und Politikberatung unterschiedlichen Erkenntnisinteressen folgen und hier
keineswegs einer Vermischung das Wort geredet werden soll, so ist eine Befruchtung der politisch-
organisatorischen Praxis durch aktuelle Forschungsergebnisse doch letztlich auch aus demokratie-
theoretischer Perspektive zu begrüßen, wenn sie zu einer Stärkung der Möglichkeit, die institutionel-
len parlamentarischen Rechte wahrzunehmen, beiträgt.
5 Fazit und Ausblick
98
Neben dem erläuterten Erkenntnisgewinn bieten die Untersuchungsergebnisse ganz im Sinne
einer explorativen Studie auch die Möglichkeit, weitere relevante Forschungsfragen, -gegenstände
oder -projekte herauszudestillieren, die nun abschließend in Form eines Ausblicks angeführt werden.
Für die Einschätzung der Untersuchungsergebnisse spielt die zeitliche Dimension eine Rolle: Bei der
Europäisierung des Bundestages handelt es sich um einen fortlaufenden Prozess, und einige darauf
bezogene Maßnahmen der untersuchten Fraktion sind noch sehr jung, manche Verfahrensimplemen-
tationen noch nicht abgeschlossen. Dies dürfte auch in anderen Bundestagsfraktionen der Fall sein.
Behält man diesen Aspekt im Hinterkopf, so wäre doch zur Einordnung der in der grünen Bundestags-
fraktion festgestellten EU-bezogenen Koordinierungsstrukturen und -verfahren, ihrer Expertise sowie
ihrer Vernetzung in den Gesamtkontext des Deutschen Bundestages im Anschluss an diese Studie ein
Vergleich mit anderen Bundestagsfraktionen interessant. Der hier erarbeitete Forschungsansatz er-
möglicht dies. In einem komparativen Forschungsdesign können für die Untersuchung aller anderen
Fraktionen des Bundestags die hier verwendeten Europäisierungsdimensionen herangezogen wer-
den. Während Kenntnisse über die Europäisierung der anderen Fraktionen auch in einzelnen Fallstu-
dien zu erlangen sind, bietet eine vergleichende Studie darüber hinaus gehende Vorteile. Sie ermög-
licht es zum einen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Europäisierungsstrategien der Frakti-
onen festzustellen. Zum anderen könnten auf diese Weise interagierende Drittvariablen, die auf die
Ausprägung der Europäisierung einen Einfluss haben und die in der Auswertung der hier vorgenom-
menen Untersuchung teilweise bereits identifiziert wurden, genauer herausgearbeitet werden. Von
Interesse ist bei einem Vergleich der Bundestagsfraktionen beispielsweise auch die Frage, ob die
Zugehörigkeit zu Mehrheit oder Opposition eine Rolle für deren Europäisierung spielt. Oppositions-
mitglieder könnten ein stärkeres Interesse an unabhängigen Informationskanälen haben als Koaliti-
onsparteien. Anzunehmen ist darüber hinaus eine gewisse wechselseitige Beeinflussung der Fraktio-
nen. Da davon ausgegangen wird, dass sich die Bundestagsfraktionen aus dem Grund europäisieren,
dass sie ihre Handlungsfähigkeit erhalten wollen, sind Wechselwirkungen etwa in Form von Nachah-
mung denkbar. Ähnlich wie es im Bereich der negativen Integration zu regulativem Wettbewerb zwi-
schen nationalen Akteuren kommen kann (vgl. Knill/Lehmkuhl 1999), ist auch in der Europäisierung
der Fraktionen des Bundestages ein Wettbewerb um die Handlungsfähigkeit und damit die effektivs-
te Europäisierung plausibel vorstellbar. Mit der besten EU-Expertise, den ergiebigsten Informations-
kanälen und den effektivsten Koordinierungsmechanismen ausgerüstet zu sein, ist ein relevanter
Faktor für die parlamentarische Beschäftigung mit Europapolitik im Kontext des Parteienwettbe-
werbs.53 Insofern ist zu mutmaßen, dass Europäisierungsschritte einer Fraktion nicht ohne Wirkung
auf andere Fraktionen sind. In eine vergleichende Studie der Europäisierung mehrerer Fraktionen
wäre zur Eruierung dieses Faktors eine zeitliche Dimension mit einzubeziehen.
53
Immer in Rechnung zu stellen ist freilich die geringe Wahlkampf-Relevanz von EU-Themen (vgl. Kapitel 2.2.2).
5 Fazit und Ausblick
99
Über den nationalen Raum hinaus eröffnet die vorliegende Arbeit auch die Möglichkeit, Frak-
tionen in den Parlamenten anderer EU-Mitgliedsstaaten zu untersuchen. Der Europäisierungsansatz
wurde zwar originär für die Analyse der Bundestagsfraktionen entwickelt. Grundsätzlich ist er aller-
dings auf die Fraktionen anderer nationaler Parlamente innerhalb der EU übertragbar: Alle mitglieds-
staatlichen Parlamente sind insofern in einer vergleichbaren Situation, als die Auswirkungen der EU
auf sie prinzipiell indirekter Natur sind. Das Handeln ihrer Fraktionen orientiert sich an denselben
grundsätzlichen parlamentarischen Funktionen. Infolge der europäischen Integration findet es in
einer Umwelt statt, in der die nationale Regierung als Gegenüber tendenziell einen Informationsvor-
sprung besitzt und in der EU-Vorlagen zunehmend die parlamentarische Agenda bestimmen, wäh-
rend die Möglichkeit zur Bildung neuer, von der Regierung unabhängiger Informationskanäle be-
steht. Zwar verfügen die Fraktionen anderer nationaler Parlamente nicht über eigene Mitarbeiter als
Ansprechpartner in den nationalen Brüsseler Verbindungsbüros, da das deutsche Modell mit seiner
dualen Struktur singulär ist. Gemeinsam ist den mitgliedsstaatlichen Parlamenten jedoch, dass sie
einen EU-Ausschuss gebildet haben. Untersuchungen der europapolitischen Vernetzung, Hervorbrin-
gung von Expertise und internen Koordinierung würden aller Voraussicht nach die institutionelle
Bedingtheit der Europäisierung bestätigen. Schließlich unterscheiden sich die effektiven Mitwir-
kungsmöglichkeiten der nationalen Parlamente im Verhältnis zu ihrer Regierung deutlich voneinan-
der (vgl. Janowski 2005, Maurer/Wessels 2001). In komparativen Studien kann darüber hinaus der
Einfluss einer in Kapitel 4.5.1 bereits angesprochenen möglichen Drittvariable im europäischen Ver-
gleich eruiert werden: die Einstellung einer Partei zur europäischen Integration. Während im Bundes-
tag ausgesprochen integrationsskeptische Parteien nicht vertreten sind, bieten andere Mitgliedsstaa-
ten hier weitere Einsichtsmöglichkeiten. Denkbar ist, dass Fraktionen mit integrationsskeptischem
Hintergrund eine stärker zentral organisierte europapolitische Koordinierung implementiert haben,
um ablehnende Positionen gegenüber der Exekutive wirksamer vertreten zu können.
Solche zentral angelegten Koordinierungsmuster können auf Kosten der fachpolitischen Au-
tonomie innerhalb einer Fraktion gehen. Dieser Zusammenhang wurde in Kapitel 4.5.1 als mögliche
weitere Europäisierungsdimension angesprochen. Ein vergleichbarer Europäisierungseffekt ist etwa
in der europapolitischen Koordinierung der dänischen Regierung festzustellen, deren zentrale Steue-
rung in einem Spannungsverhältnis zur dänischen Verwaltungstradition mit ihren stark eigenständig
arbeitenden Ressorts steht (vgl. von Dosenrode 1998: 57). Inwieweit auch innerhalb von Parlaments-
fraktionen entsprechende Verschiebungen im Kräfteverhältnis als Folge von Europäisierungsmaß-
nahmen auftreten, kann aufbauend auf den hier entwickelten Forschungsansatz sowohl in einem
nationalen als auch in einem internationalen vergleichenden Forschungsdesign untersucht werden.
Mit einem entsprechenden Vergleich würde wie auch mit den übrigen vorgeschlagenen For-
schungsarbeiten ein weiterer interessanter Beitrag zur derzeit hochaktuellen Forschung im Bereich
5 Fazit und Ausblick
100
des Mehrebenenparlamentarismus geleistet. Durch die Eingliederung in das europäische Gesamtsys-
tem erfahren nationalstaatliche parlamentarische Systeme einen Wandel, der sich einerseits an den
institutionellen Strukturen und an Verschiebungen im Kräfteverhältnis verschiedener politischer Ak-
teure messen lässt und andererseits aus demokratietheoretischen Gründen Fragen hinsichtlich der
demokratischen Legitimation des Regierens innerhalb des Mehrebenensystems aufwirft. Bereits die
mit dieser Studie vorgelegten Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass sich dieser Wandel inner-
halb der Bundesrepublik nicht auf den Bundestag als Institution beschränkt, sondern dass auch eine
Fraktion sich an die veränderten Bedingungen ihrer Umwelt anpasst. Insofern schließt diese Arbeit
nicht nur eine Lücke in der weiter wachsenden Europäisierungsliteratur, sondern ergänzt auch das
umfassendere Forschungsthema des entstehenden europäischen Mehrebenenparlamentarismus um
einen relevanten Aspekt.
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