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Z.a ¨ rztl. Fortbild. Qual. Gesundh.wes. (ZaeFQ) 101 (2007) 119–123 Im Blickpunkt Evidenzbasiertes Seminar im Studium verbes- sert Versta ¨ndnis, aber nur wenig die perso ¨nli- che Haltung zu diagnostischer Unsicherheit in der Allgemeinmedizin Antonius Schneider , Stefanie Joos, Kathrin Biessecker, Gunter Laux, Sabine Ludt, Joachim Szecsenyi Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Universita ¨ tsklinikum Heidelberg Zusammenfassung Der medizinische Fortschritt begu ¨ nstigt die zunehmende Entwicklung von diagnostischen Tests, deren Sensitivita ¨ ten, Spezifita ¨ten und positiven Vor- hersagewerte in Abha ¨ ngigkeit von niedrigen Vortestwahrscheinlichkeiten allerdings bislang selten evaluiert sind. Unkenntnisse in evidenzbasierten diagnostischen Strategien fu ¨ hren zu Fehleinscha ¨ tzungen bezu ¨ glich der diagnostischen Treffsicherheit im hausa ¨ rztlichen Arbeitsalltag und damit einhergehend zu Fehlurteilen bezu ¨ glich der Finanzierungsnotwendigkeit von Tests. Mit dieser Studie soll untersucht werden, ob ein Seminar zu evidenzbasierter Diagnostik zu einem besseren Versta ¨ ndnis diagnostischer Strategien fu ¨ hrt. Damit einhergehend wird u ¨ berpru ¨ ft, inwiefern durch eine derartige Lehrveranstaltung die Fehleinscha ¨ tzungen zur Diagnostik im hausa ¨ rztlichen Arbeitsalltag und zur Finanzierungsnotwendigkeit von Tests korrigiert werden ko ¨ nnen. Insgesamt nahmen 424 Studenten aus zwei Studienjahren an einer Befragung vor und nach einem 90-minu ¨ tigen Se- minar teil. 71% der Studenten waren der Meinung, dass Tests aufgrund einer Ressourcenrestriktion nicht bezahlt werden, obwohl die Untersu- chungen berechtigt sein ko ¨ nnten. Nach dem Seminar stimmten noch 59% dieser Frage zu (po0,001). Die Forderung nach einer pauschalen Bezah- lung von Tests konnte um beinahe 25% reduziert werden (po0,001). Demgegenu ¨ ber waren 21% der Studenten sowohl vor als auch nach dem Seminar der Meinung, dass die reduzierte diagnostische Treffsicherheit auf eine geringere Kompetenz der Hausa ¨ rzte zuru ¨ ckzufu ¨ hren sei. Insofern schien ein einmaliges Seminar zu evidenzbasierter Diagnostik zwar eine A ¨ nderung auf der kognitiven Ebene herbeizufu ¨ hren, die perso ¨ nliche Hal- tung zur diagnostischen Unsicherheit in der Allgemeinmedizin konnte je- doch nur wenig beeinflusst werden. Hierfu ¨ r sind vermutlich nachhaltigere bzw. kontinuierliche Unterrichtskonzepte notwendig. Eine Verankerung von Prinzipien der evidenzbasierten Medizin im Ausbildungscurriculum, inklusive des Umgangs mit Unsicherheit im medizinischen Alltag, scheint somit dringend erforderlich. Sachwo ¨ rter: Evidenzbasierte Medizin, Allgemeinmedizin, Medizinische Ausbildung, Diagnostische Unsicherheit, Bayes’sches Theorem An Evidence-based Seminar Changes Cognition rather than Medical Students’ Personal Attitudes towards Diagnostic Uncertainty in a Primary Care Setting Abstract Progress in medical research has led to an increased number of diagnostic tests. However, the diagnostic accuracy of these tests often lacks evalua- tion in the primary care setting. Ignorance of evidence-based diagnostic strategies may cause a distorted estimation of diagnostic certainty in www.elsevier.de/zaefq ARTICLE IN PRESS Korrespondenzadresse: Dr. Med. Antonius Schneider, Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Universita ¨ tsklinikum Heidelberg, Voßstrasse 2, Geba ¨ ude 37, 69115 Heidelberg, Tel.: 06221/564743; Fax: 06221/561972. E-Mail: [email protected] (A. Schneider) Z.a ¨ rztl. Fortbild. Qual. Gesundh.wes. (ZaeFQ) doi:10.1016/j.zgesun.2007.01.007 119

Evidenzbasiertes Seminar im Studium verbessert Verständnis, aber nur wenig die persönliche Haltung zu diagnostischer Unsicherheit in der Allgemeinmedizin

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ARTICLE IN PRESS

�Korrespondenzadresse:37, 69115 Heidelberg, Tel.:

E-Mail: antonius.schneid

Z.arztl. Fortbild. Qudoi:10.1016/j.zgesu

Z.arztl. Fortbild. Qual. Gesundh.wes. (ZaeFQ) 101 (2007) 119–123

www.elsevier.de/zaefq

Im Blickpunkt

Evidenzbasiertes Seminar im Studium verbes-sert Verstandnis, aber nur wenig die personli-che Haltung zu diagnostischer Unsicherheit inder AllgemeinmedizinAntonius Schneider�, Stefanie Joos, Kathrin Biessecker, Gunter Laux, Sabine Ludt, Joachim Szecsenyi

Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Universitatsklinikum Heidelberg

Zusammenfassung

Der medizinische Fortschritt begunstigt die zunehmende Entwicklung vondiagnostischen Tests, deren Sensitivitaten, Spezifitaten und positiven Vor-hersagewerte in Abhangigkeit von niedrigen Vortestwahrscheinlichkeitenallerdings bislang selten evaluiert sind. Unkenntnisse in evidenzbasiertendiagnostischen Strategien fuhren zu Fehleinschatzungen bezuglich derdiagnostischen Treffsicherheit im hausarztlichen Arbeitsalltag und damiteinhergehend zu Fehlurteilen bezuglich der Finanzierungsnotwendigkeitvon Tests. Mit dieser Studie soll untersucht werden, ob ein Seminar zuevidenzbasierter Diagnostik zu einem besseren Verstandnis diagnostischerStrategien fuhrt. Damit einhergehend wird uberpruft, inwiefern durch einederartige Lehrveranstaltung die Fehleinschatzungen zur Diagnostik imhausarztlichen Arbeitsalltag und zur Finanzierungsnotwendigkeit von Testskorrigiert werden konnen. Insgesamt nahmen 424 Studenten aus zweiStudienjahren an einer Befragung vor und nach einem 90-minutigen Se-minar teil. 71% der Studenten waren der Meinung, dass Tests aufgrundeiner Ressourcenrestriktion nicht bezahlt werden, obwohl die Untersu-

Dr. Med. Antonius Schneider, Abteilung Allgemeinmedizin u06221/564743; Fax: 06221/[email protected] (A. Schneider)

al. Gesundh.wes. (ZaeFQ)n.2007.01.007

chungen berechtigt sein konnten. Nach dem Seminar stimmten noch 59%dieser Frage zu (po0,001). Die Forderung nach einer pauschalen Bezah-lung von Tests konnte um beinahe 25% reduziert werden (po0,001).Demgegenuber waren 21% der Studenten sowohl vor als auch nach demSeminar der Meinung, dass die reduzierte diagnostische Treffsicherheit aufeine geringere Kompetenz der Hausarzte zuruckzufuhren sei. Insofernschien ein einmaliges Seminar zu evidenzbasierter Diagnostik zwar eineAnderung auf der kognitiven Ebene herbeizufuhren, die personliche Hal-tung zur diagnostischen Unsicherheit in der Allgemeinmedizin konnte je-doch nur wenig beeinflusst werden. Hierfur sind vermutlich nachhaltigerebzw. kontinuierliche Unterrichtskonzepte notwendig. Eine Verankerungvon Prinzipien der evidenzbasierten Medizin im Ausbildungscurriculum,inklusive des Umgangs mit Unsicherheit im medizinischen Alltag, scheintsomit dringend erforderlich.

Sachworter: Evidenzbasierte Medizin, Allgemeinmedizin, Medizinische Ausbildung, Diagnostische Unsicherheit, Bayes’sches Theorem

An Evidence-based Seminar Changes Cognition rather than Medical Students’ PersonalAttitudes towards Diagnostic Uncertainty in a Primary Care Setting

Abstract

Progress in medical research has led to an increased number of diagnostictests. However, the diagnostic accuracy of these tests often lacks evalua-

tion in the primary care setting. Ignorance of evidence-based diagnosticstrategies may cause a distorted estimation of diagnostic certainty in

nd Versorgungsforschung, Universitatsklinikum Heidelberg, Voßstrasse 2, Gebaude

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general practice and may increase pointless application of diagnostic tests.This study investigates the attitudes of students towards diagnostic ac-curacy and evaluates whether a seminar about evidence-based diagnosishas an impact on these attitudes. 424 medical students were asked tocomplete a questionnaire before and after a 90-minute seminar. Beforethe seminar, 71% of the students thought that due to a lack of resourcessome diagnostic tests – although necessary – are not being reimbursed. Atthe end of the seminar, this proportion was reduced by 12% (po0.001).The call for global reimbursement for all diagnostic tests was reduced by25% (po0.001). In contrast, there was no change in the proportion of

1Zur besseren Lesbarkeit wverwendet, gemeint sind selbschlechter.

120

students (21%) that incorrectly attributed diagnostic uncertainty to alower competence of the general practitioner. Thus, it seems that after asingle seminar there was a cognitive change concerning the application ofdiagnostic tests rather than a change in the personal attitudes of studentstowards diagnostic uncertainty in primary care. In this context, the con-tinuous implementation of the principles of evidence-based medicine wo-uld be necessary to improve the students’ decision-making skills on thebasis of a critical attitude including the reasonable handling of uncertain-ties in medical care.

ird die mannliche Formstverstandlich beide Ge-

Z.arztl. Fortbi

Key words: evidence-based medicine, general practice, medical education, diagnostic uncertainty, Bayes’ theorem

Einleitung

Der medizinische und technische Fort-schritt fuhrt zur Entwicklung einer stei-genden Zahl von diagnostischenVerfahren, die in der Regel auch anPrazision zunehmen. Viele diagnosti-sche Tests sind daher aus dem Kran-kenhausalltag nicht mehr wegzuden-ken, wie z.B. Troponin T zur Herzin-farkt-Diagnostik [1] oder der Einsatzvon Tumormarkern wie Prostata-spezi-fisches Antigen (PSA) zur Diagnostikdes Prostatakarzinoms [2]. Allerdingswurden diese Verfahren in der Regel imklinischen Setting entwickelt und derenpositive und negative Vorhersagewerteauch dort evaluiert. Problematisch isthierbei, dass die Pravalenz ( ¼ Vortest-wahrscheinlichkeit) und Schwere vonErkrankungen im hausarztlichen Be-reich geringer ist als beispielsweise imKrankenhaus. Durch die Abhangigkeitdes positiven Vorhersagewertes – alsoder Wahrscheinlichkeit, dass ein Test-positiver auch wirklich krank ist – vonder Krankheitspravalenz kommt es je-doch zu erheblichen Verschiebungender Vorhersagewerte, wie bereits Lust-ed erkannt hatte [3]. Letztlich ist daherbei vielen diagnostischen Verfahren un-klar, ob die im klinischen Setting eva-luierten diagnostischen Kenngroßenauf die allgemeinmedizinische Versor-gung ubertragen werden konnen [4].Aufgrund der reduzierten positivenVorhersagewerte (hier auch als dia-gnostische Treffsicherheit bezeichnet)und der mangelnden Ubertragbarkeitvon diagnostischen Studien ist die dia-gnostische Unsicherheit ein standigerBegleiter im hausarztlichen Arbeitsall-tag [5].Obwohl diese Zusammenhange offen-sichtlich sind, wird von Meinungsbild-

nern bzw. pharmazeutischer Industriesuggeriert, dass es moglich sei, zahlrei-che Erkrankungen fruhzeitig diagnosti-zieren zu konnen, wenn die Tests nurausreichend eingesetzt wurden. Daaber nicht alle Tests von der Gesetzli-chen Krankenversicherung bezahltwerden, denken irrtumlicherweisenicht nur Patienten1, sondern haufigauch Arzte, dass diagnostische Testsaus Kostengrunden nicht von denKrankenkassen ubernommen werden.Unter Ausblendung der Defizite in derwissenschaftlichen Evaluation wirddann auf eine Zweiklassenmedizin ge-schlossen. Daruber hinaus wird von derreduzierten diagnostischen Treffsicher-heit haufig auf eine schlechtere Versor-gungsqualitat in der Primarversorgunggeschlossen [5].Im Rahmen eines Seminars haben wirversucht, den Studenten diese Zusam-menhange bereits fruhzeitig zu erkla-ren, um die kommenden Arzte besserfur die medizinische Entscheidungsfin-dung vorzubereiten. Ziel der vorliegen-den Studie war die Uberprufung, obdurch dieses Seminar eine Anderungdes Meinungsbildes zum Einsatz dia-gnostischer Tests und zur diagnosti-schen Treffsicherheit in der Hausarzt-praxis erreicht werden kann.

Methode

Entwicklung der lehrveranstaltung

Im Rahmen des Querschnittsfachs

’’Pravention und Gesundheitsforde-

rung/Gesundheitsokonomie’’, an demsich die Abteilung Allgemeinmedizinund Versorgungsforschung beteiligt,

wurde ein 90-minutiges Seminar zurevidenzbasierten Diagnostik entwi-ckelt. Insgesamt wird dieses Seminarjahrlich funf Mal mit jeweils 40–50 Stu-denten durchgefuhrt. Als Lernziel wur-de die Entwicklung eines Verstandnis-ses fur die Zusammenhange zwischenVortestwahrscheinlichkeit und positi-vem Vorhersagewert definiert. Hieraufaufbauend sollen die Studenten erken-nen konnen, welche Umstande bzw.Maßnahmen notig sind, damit einScreening auf Tumoren sinnvoll seinkann. Damit einhergehend sollte ver-standen werden, dass die diagnostischeTreffsicherheit im hausarztlichen Ar-beitsalltag geringer ist als im klinischenSetting.

Ablauf des Seminars

1.

ld. Q

Erklarung der diagnostischen Be-grifflichkeiten von Sensitivitat, Spe-zifitat und positiver Vorhersagewert(PPV, positive predictive value) mitAufzeigen der rechnerischen Zusam-menhange anhand der Vierfelder-Tafel. Genutzt wird dabei ein Bei-spiel mit niedriger Vortestwahr-scheinlichkeit. Hierdurch sollten dieStudenten verblufft und neugieriggemacht werden, warum der posi-tive Vorhersagewert auch bei hoherSensitivitat und Spezifitat geringsein kann [6].

2.

Fur die Selbsterarbeitung erfolgteeine Aufteilung in mehrere Klein-gruppen. Die Studenten sollten an-hand zweier klinischer Fallbeispielezur Tumordiagnostik mit PSA dieSensitivitat, Spezifitat und PPV er-rechnen. In einem modifizierten Fall-beispiel trat der Tumor mit einerniedrigeren Pravelanz und geringe-ren Selektion auf [7], in dem ande-

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Ta

1

2

34

Ab

Ab

ren Beispiel handelte es sich um eineStudie, die mit einem Kollektiv mithoherer Tumorpravalenz durch-gefuhrt wurde [8]. Die Endergebnis-se wurden vor dem Seminar jeweilsdargestellt.

3.

Durch eine gemeinsame Diskussionwurde erarbeitet, dass sich rechne-rische Unterschiede aufgrund derunterschiedlichen Selektionsstrate-gien (populationsbezogener Ansatzvs. Zeitungsinserat) und Pravalenzergeben.

4.

Die Bedeutung dieser Zusam-menhange wurde dann in einemImpulsreferat betont. Es wurde dar-gestellt, dass White et al. [9] in einergroßen epidemiologischen Studie �die vierzig Jahre spater Green et al.

belle 1. Erlauterung der Fragen.

. Mittlerweile werden zahlreiche VorsorgeuntersuchuKrankenkassen nicht bezahlt werden (Individuelle Gsich nur reichere Patienten eine bessere Versorgun

. Eigentlich sollte jede Vorsorgeuntersuchung von deund damit verhindert werden konnen.

. In der Allgemeinarztpraxis konnen Fehldiagnosen

. In der Allgemeinarztpraxis konnen Fehldiagnosen

te ilung Allgemeinm ed izin und Versorgungsfors chung

BERICHTEN VON

GES AMTPRÄVAL

DENKEN AN MED

b. 1. Pravalenz und Morbiditat in den verschiedenen

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[10] wiederholte � nachwies, dassinnerhalb eines Monats von 1000Menschen insgesamt 750 Patientenuber Beschwerden klagen, aber nur250 einen Arzt aufsuchen, 9 in einKrankenhaus eingewiesen werdenund nur einer in einer Universitatskli-nik aufgenommen wird. Hierbei ver-deutlichten wir die Selektion, bei derdie Vortestwahrscheinlichkeit vonErkrankungen von Hausarztpraxisvia Facharzt bis zum Universitats-krankenhaus deutlich ansteigt (Ab-bildung 1).

5.

Basierend auf diesen neu erworbe-nen Kenntnissen entwickelten wir inden verbleibenden 30–40 Minutenmit den Studenten zusammen Stra-tegien fur ein sinnvolles Screening

ngen von Kassenarzten angeboten, fur die die Paesundheitsleistung). Dies ist letztlich Ausdruck dg leisten konnen.n Kassen bezahlt werden, damit schwerwiegend

haufiger auftreten, weil schwerwiegende Erkranhaufiger als in der Klinik auftreten, weil die Kran

BESCHWERDEN

ENZ IN POPULATION

INISCHE VERSORGUNG

GANG ZUM HAUSARZT

ALTERNATIVE MEDIZINISCHEVERSORGUNG

FACHARZT

AMBULANZ-BESUCH

KRANKEN-HAUS

Gesundheitssektoren (modifiziert nach [10]).

9–123

(Verminderung von Selektion, Ent-wicklung von Qualitatsstandards,Nutzung von Tests mit hoher Test-gute). Dabei wurde vermittelt, furwelche Erkrankungen ein Screeningnach aktuellem wissenschaftlichenStandard sinnvoll ist (z.B. Kolosko-pie, Cervix-Abstrich) bzw. welcheMaßnahmen getroffen werdenmussen, damit solche MaßnahmenErfolg versprechend sind (z.B. Qua-litatssicherungsmaßnahmen, Ver-meidung von Selektion).

Befragung der Studenten

Es wurden die Studenten des Studien-jahrganges 2004 und 2005 (Winterse-mester 03/04 und 04/05) einge-schlossen. Vor Beginn und zum Ab-schluss des Seminars werden die Stu-denten zu Ihrer Meinung zurdiagnostischen Treffsicherheit befragt.Die Angaben waren anonymisiert, le-diglich Alter und Geschlecht wurden inErfahrung gebracht. Mit insgesamt vierFragen, die in Tabelle 1 wiedergegebensind, sollten die Meinungsanderungenauf der Haltungsebene und auf derkognitiven Ebene erfasst werden. Frage1 sollte die Haltung in Bezug auf not-wendige Versorgungsleistungen klaren.Mit Frage 2 wurde der kognitive Aspektuntersucht, also das Verstandnis derZusammenhange von Vortest- undNachtestwahrscheinlichkeit und dessenTransfer auf das Gesundheitswesen.Frage 3 zielte ebenfalls auf die kogni-tive Erfassung dieser Zusammenhangeund dessen Transfer auf das hausarzt-liche Handeln ab. Frage 4 wiederumsollte die Haltung zur hausarztlichenArbeit abbilden, die durch das Ba-yes’sche Theorem impliziert wird. DieUnterschiede wurden mit dem w2-Test

tienten selbst bezahlen mussen, da sie von dener Entwicklung einer Zweiklassenmedizin, in der

e Erkrankungen bereits im Fruhstadium erkannt

kungen dort weniger haufig vorkommen.kenhausarzte besser geschult sind.

121

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auf Signifikanz gepruft. Es wurde dasStatistik-Programm SPPS 11.0 furWindows verwendet.

Ergebnisse

Insgesamt nahmen 424 Studenten ander Veranstaltung teil, 245 (59,9%)weiblich, 145 (34,2%) mannlich, 25(5,9%) machten keine Angabe zumGeschlecht. Das Durchschnittsalter derFrauen war 22,7 und der Manner 23,7Jahre. Folgende Angaben wurden vorund nach der Lehrveranstaltung ge-macht (Abbildung 2).Auffallend ist die hohe Zahl an Studen-ten (70,9%), die vor der Lehrveranstal-tung der Frage 1 zustimmten. DieHaltung hierzu konnte bei 12,1% ge-andert werden (po0,001); d.h. aller-dings auch, dass 58% bei Ihrervorherigen Meinung geblieben sind.Bei Frage 2 bezuglich der Finanzierungvon diagnostischen Untersuchungenzeigte sich jedoch ein deutlicher Mei-nungsumschwung. Vor dem Seminarstimmten 73,7% zu, danach nur noch

Tabelle 2. Beurteilung des Seminars durch die S

Die Veranstaltung war lehrreich.Ich finde, ich habe wichtige neue Sachen gelernt.Die Veranstaltung war unterhaltsam.

0

50

100

150

200

250

300

350

400

450

t1 t2 t1 t2

Frage 1 Frage 2

p < 0.001 p < 0.001

Stimme nicht zuStimme zu

t1 = vor Seminar t2 = nach Seminar

Abb. 2. Meinungsbild zur diagnostischen Treffsiche

122

48,7%. Auf der kognitiven Ebenekonnte der reduzierte positive Vorher-sagewert mit der Pravalenz bzw.Schwere der Erkrankungen in Zusam-menhang gebracht werden (Frage 3).Hier zeigte sich nach der Veranstaltungein zustimmendes Ergebnis bei 64,6%der Studenten, wahrend vorher nur43,3% zustimmten. Bei Frage 4 falltauf, dass die Assoziation des reduzier-ten positiven Vorhersagewertes mit ei-ner schlechteren Ausbildungsqualitatder Hausarzte nicht vermindert werdenkonnte. Vor dem Seminar stimmten20,7% der Studenten dieser Frage zu,nach dem Seminar 22,1%. Insgesamtbeurteilten 84,9% der Studenten dasSeminar als lehrreich (Tabelle 2). 70,2%fanden, dass sie wichtiges neu gelernthaben, wobei mehr als 2/3 das Seminarals unterhaltsam erlebten.

Diskussion

Auf der kognitiven Ebene konnte miteinem einmaligen Seminar uber dieProblematik der diagnostischen Treffsi-

tudenten.

Trifft zu n (%) Unent-sch

354 (84,9) 61 (16,6292 (70,2) 107 (25,7283 (68,9) 110 (26,8

t1 t2 t1 t2

Frage 3 Frage 4

p < 0.001 p = 0.628

rheit bzw. Finanzierung von Tests.

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cherheit, wie sie durch das Bayes’scheTheorem beschrieben wird, durchauseine Meinungsanderung bewirkt wer-den. Beispielsweise wurde die Forde-rung nach einer pauschalen Bezahlungvon Tests um beinahe 25% reduziert.Allerdings deuten die Ergebnisse auchdie Schwierigkeit an, tatsachlich eineAnderung der personlichen Haltungmit einem einmaligen Seminar herbei-zufuhren. Auffallend war diesbezuglichder hohe Prozentsatz an Studenten, dieinitial der Meinung waren, dass dieVergutung von Tests aufgrund einerRessourcenrestriktion nicht erfolgt, ob-wohl diese Untersuchungen medizi-nisch berechtigt sein konnten. DieseMeinung konnte bei nur relativ weni-gen Studenten (12%) beeinflusst wer-den. Diese Ergebnisse unterstreichen,dass im Studentenunterricht vermehrtdie Grundsatze der evidenzbasiertenMedizin gelehrt werden sollten. Eineinmaliger Unterricht fuhrt vermutlichallenfalls zu einer kurzfristigen kogniti-ven Verarbeitung, wahrend eine Hal-tungsanderung eher durch einekontinuierliche kritische Reflexion desmedizinischen Wissens erreicht werdenkann. Vor dem Hintergrund des aus-gepragten Lernpensums zu medizi-nisch-klinischem Detailwissen bleibtjedoch wenig Raum, um strukturierte,studienbegleitende EBM-Seminare zuintegrieren. Universitaten, die dies be-reits realisierten, berichten in positiverWeise von der Fahigkeit ihrer Studen-ten, medizinisches Wissen kritisch re-flektieren zu konnen [11,12]. Letztlichist es die Aufgabe der Lehrenden, denzukunftigen Arzten eine kritische Hal-tung und Fahigkeit zu vermitteln, mitder sie das aktuell beste verfugbareWissen auf den individuellen Patientenanwenden und mit ihm daruber kom-munizieren konnen [13].Ahnlich sieht die Meinungsanderungzur hausarztlichen Arbeit aus. Die kog-nitive Ubertragung des Bayes’schen

ieden n (%) Trifft nicht zu n (%)

) 2 (0,5)) 17 (4,1)) 18 (4,4)

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Theorems gelang insofern, als dass derreduzierte positive Vorhersagewert vonTests direkt mit der Pravalenz von Er-krankungen in Zusammenhang ge-bracht werden konnte. In Bezug aufdie Haltung fallt auf, dass ca. 21% derStudenten vor Beginn des Seminars derMeinung waren, dass die reduziertediagnostische Treffsicherheit auf einegeringere Kompetenz der Hausarztezuruckzufuhren sei. Dieser Anteil wardurch den Unterricht nicht zu reduzie-ren. Es konnte sich hierbei um Studen-ten handeln, die eine niedrigereToleranz gegenuber diagnostischer Un-sicherheit aufweisen und von daher diegeringere Treffsicherheit als Ausdruckverminderter medizinischer Qualitatwahrnehmen. Gerrity et al. konntennachweisen, dass die Toleranz ge-genuber diagnostischer Unsicherheitbereits in Studienzeiten einen pradikti-ven Wert fur die spatere Berufswahl hat[14]. Studenten mit niedrigerer Tole-ranz neigten eher zu klinischen Tatig-keiten mit eindeutigeren Krankheits-bildern, wie beispielsweise Chirurgie.Eine hohere Toleranz hingegen gingeher mit der Berufswahl Richtung In-nere Medizin/Allgemeinmedizin oderPsychiatrie einher [14,15].Einschrankend muss gesagt werden,dass auch die Darstellung im Unterrichtden mangelnden Umschwung auf derHaltungsebene begunstigt habenkonnte. Letztlich handelte es sich umein Seminar mit ausgepragtem biome-trischen bzw. epidemiologischem Cha-rakter. Dies konnte erklaren, dass dieMeinungsbildung auf sachlicher/kogni-tiver Ebene stattfand, die personlicheEinstellung bzw. Haltung zur diagnos-tischen Unsicherheit in der Allgemein-medizin jedoch aufgrund des Semi-narcharakters zu kurz kam. Moglich-keiten zur Weiterentwicklung diesesAspektes bieten sich an durch Intensi-vierung des Kleingruppenunterrichts, indem die Studenten beispielsweise alsDiskutanten personlich die Rollen vonKlinikern bzw. Hausarzten ubernehmenund aus deren Sichtweise kritische

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Falle, wie z.B. Fehldiagnosen, vertretenmussen. Eine weitere Limitation ist,dass aufgrund der Anonymisierungkein pra-post-Vergleich auf individuel-ler Ebene moglich war, so dass die Mei-nungsanderung nur fur die Gesamt-gruppe nachvollzogen werden konnte.Aufgrund der hohen Zahlen konntendie Unterschiede dennoch signifikantund deutlich aufgezeigt werden.

Schlussfolgerungen

) 11

Zusammenfassend kann die Schluss-folgerung gezogen werden, dass beizahlreichen Studenten Fehlein-schatzungen bezuglich der diagnos-tischen Treffsicherheit im hausarz-tlichen Arbeitsalltag und damit ein-hergehend Fehlurteile bezuglich derFinanzierungsnotwendigkeit vonTests bestehen. Durch Seminare,die einen evidenzbasierten Zugangzur Medizin lehren, lasst sich diesjedoch zumindest auf der kognitivenEbene reduzieren.

� Ein kleiner, aber schwer zu beein-

flussender Anteil zeigt eine negativeHaltung gegenuber der hausarztli-chen diagnostischen Unsicherheit.Diese negative Haltung konnte ge-gebenenfalls durch kontinuierlichestudienbegleitende Unterrichtsver-anstaltungen zu evidenzbasierterMedizin beeinflusst werden. Einma-lige Seminare scheinen hierfur nichtausreichend zu sein.

� Zu fordern ware an dieser Stelle eine

umfanglichere Berucksichtigung vonEBM-Grundlagen in den Lehrplanen(z.B. systematische Medline-Recher-che,

’’critial appraisal’’,

’’diagnostic

reasoning’’, Umgang mit CochraneLibrary), um die Studenten auf einekompetente medizinische Entschei-dungsfindung vorbereiten zu kon-nen. Wichtig ist hierbei auch, dassein kritischer Umgang mit Unsicher-heiten im medizinischen Alltag undeine adaquate Kommunikation mitPatienten daruber gelehrt wird (

’’risk

communication’’).

9–123

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