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Die Zeitung der Roten Fabrik Nr. 257– Dezember 2009 Nachdenken über Wirtschaft Diese Ausgabe der Fabrikzeitung widmen wir dem ema Wirtschaft. Über ein Jahr ist vergangen seit dem denkwürdigen Zusammenbruch der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008. Misstrauen über die Solidität von Geschäftspartnern breitete sich in der Finanzwelt aus. Man geschäfte- te nicht mehr. Die Börsenkapitalisierung aller Aktienmärkte weltweit ging von ihrem Höchststand mit 62 Billionen US$ im Oktober 2007 auf noch25 Billionen US$ im März dieses Jahres zurück, errech- nete die «Finanz & Wirtschaft». Geld, der Treibstoff allen Wirtschaftens, die Grundlage für Investitionen und damit auch Arbeitsplätze, wurde knapp. So knapp, dass sich viele Nationalstaaten entschlossen, in ungeheurem Masse neues Geld in die Wirtschaft hineinzupumpen um zu verhindern, dass das Unglaubliche passiert: Ein Zusammenbruch des markt- wirtschaftlichen Systems. Das sei wirk- lich knapp gewesen, raunt man in Banker- kreisen; eine Sache von Tagen oder Stunden, las man im deutschen Wochen- magazin «Der Spiegel». Zumindest die Angst vor dem Kollaps war real. Der moderne, vom Goldstandard befreite Kapitalismus sei eine «glaubensba- sierte Wirtschaftsform», formulierte der englische Schriftsteller Julian Gough in einem Essay im britischen «Prospect»– Magazin. Zu Recht. Der Wert auch des Papierscheines in unseren Händen steht und fällt mit dem Aggregat unserer Wert- schätzung desselben. Genau weil unsere Einschätzungen sich ändern, unser Wissen Grenzen hat, werden Marktwirtschaften immer wieder Krisen erfahren. Markt- wirtschaft heisst, mit Unsicherheit zu bezahlen für die Möglichkeit Träume zu realisieren. Marktwirtschaft beruht auf Illusionen Einzelner über die Zukunft. Marktwirtschaft ist Traumwirtschaft im doppelten Sinne. Zurzeit hofft man wieder. Die weltweite Marktkapitalisie- rung stieg bis Oktober wieder auf 42 Billionen Dollar. Die Wirtschaftsleistung vieler Staaten zieht wieder an. Wenn die Zentralbanken nun die Geldmengen nicht sauber kontrollieren, werden wir bald in die nächste Krise namens Inflation stolpern, so fürchten bereits manche. Es ist schwer ein Fazit aus dieser Krise zu ziehen. Ein Beispiel: Einerseits hat der Staat an Einfluss gewonnen, er kontrolliert nun ganze Wirtschaftszweige stärker. Andere sehen den Einfluss der Wirtschaft zunehmen, da der Staat das Personal, das er zur Kontrolle einsetzt wie im Falle der schweizerischen Finanzmarktaufsicht Finma, teils direkt aus Wirtschaftsunter- nehmen abgeworben hat. Der Wilderer sei auch ein guter Wildhüter, argumentier- te der Finma-Chef. Die Resultate der Krise sind auch in anderen Bereichen, wie der viel kritisierten Rating Branche, welche die Kreditwürdigkeit von Unter- nehmen beurteilt, uneindeutig. Klar falsch ist allerdings, dass «die Wirt- schaftstheorie» die ewige Krisenanfällig- keit nie verstanden hätte. Und dass dies an dem schon immer falschen Men- schenbild der ökonomischen eorie liege. Professor Michael S. Aßländer aus Kassel kritisiert scharf die Fehlinterpreta- tion der Schriften von Adam Smith, dem Begründer der modernen Wirt- schaftstheorie (Seite 4). Lukas Rühli von der Avenir Suisse (Seite 3) analysiert die Grenzen des aktuellen Über-Hypes um John Maynard Keynes, dessen Lebensauf- gabe die Rettung des Kapitalismus vor der Krise war und dessen Ansätze die aktuelle Wirtschaftspolitik von den USA bis in die Schweiz bestimmen. Keynes sah staatliche Wirtschaftsförderung als Mittel, um die riesige Arbeitslosigkeit der dreissiger Jahre zu bekämpfen. Ausserdem belauschten wir ein Gespräch zweier arbeitsloser Studienabgänger aus Zürich (Seite 6) um zu erfahren, wie sich das anfühlt, zuwenig Arbeit. Und wir skypten mit einem Londoner Investmentbanker, der zuviel Arbeit hat (Seite 7). Auch auf die aktuellen Studentenproteste in Zürich gehen wir ein. Philosophiestudent Marco Toscano sieht die hierzulande wie auch international flackerenden Proteste im Kontext einer Debatte um Eigentumsrech- te an Wissen (Seite 8). Und damit direkt als ökonomisch interpretierbares Phäno- men. Sozusagen als Resultat der Krise. Von Hannes Grassegger – 1 –

Fabrikzeitung 257 Nachdenken über Wirtschaft

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Über ein Jahr ist vergangen seit dem denkwürdigen Zusammenbruch der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008. Misstrauen über die Solidität von Geschäftspartnern breitete sich in der Finanzwelt aus. Doch was hat das alles mit uns zu tun und warum haben wir überhaupt Zeit darüber nachzudenken?

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Die Zeitung der Roten FabrikNr. 257– Dezember 2009

Nachdenkenüber Wirtschaft

Diese Ausgabe der Fabrikzeitung widmen wir dem Thema Wirtschaft. Über ein Jahr ist vergangen seit dem denkwürdigen Zusammenbruch der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008. Misstrauen über die Solidität von Geschäftspartnern breitete sich in der Finanzwelt aus. Man geschäfte-te nicht mehr. Die Börsenkapitalisierung aller Aktienmärkte weltweit ging von ihrem Höchststand mit 62 Billionen US$ im Oktober 2007 auf noch25 Billionen US$ im März dieses Jahres zurück, errech-nete die «Finanz & Wirtschaft». Geld, der Treibstoff allen Wirtschaftens, die Grundlage für Investitionen und damit auch Arbeitsplätze, wurde knapp. So knapp, dass sich viele Nationalstaaten entschlossen, in ungeheurem Masse neues Geld in die Wirtschaft hineinzupumpen um zu verhindern, dass das Unglaubliche passiert: Ein Zusammenbruch des markt-wirtschaftlichen Systems. Das sei wirk-lich knapp gewesen, raunt man in Banker-kreisen; eine Sache von Tagen oder Stunden, las man im deutschen Wochen-magazin «Der Spiegel».

Zumindest die Angst vor dem Kollaps war real. Der moderne, vom Goldstandard befreite Kapitalismus sei eine «glaubensba-sierte Wirtschaftsform», formulierte der englische Schriftsteller Julian Gough in einem Essay im britischen «Prospect»–Magazin. Zu Recht. Der Wert auch des Papierscheines in unseren Händen steht und fällt mit dem Aggregat unserer Wert-schätzung desselben. Genau weil unsere Einschätzungen sich ändern, unser Wissen Grenzen hat, werden Marktwirtschaften immer wieder Krisen erfahren. Markt-wirtschaft heisst, mit Unsicherheit zu bezahlen für die Möglichkeit Träume zu realisieren. Marktwirtschaft beruht auf Illusionen Einzelner über die Zukunft.

Marktwirtschaft ist Traumwirtschaft im doppelten Sinne. Zurzeit hofft man wieder. Die weltweite Marktkapitalisie-rung stieg bis Oktober wieder auf 42 Billionen Dollar. Die Wirtschaftsleistung vieler Staaten zieht wieder an. Wenn die Zentralbanken nun die Geldmengen nicht sauber kontrollieren, werden wir bald in die nächste Krise namens Inflation stolpern, so fürchten bereits manche. Es ist schwer ein Fazit aus dieser Krise zu ziehen. Ein Beispiel: Einerseits hat der Staat an Einfluss gewonnen, er kontrolliert nun ganze Wirtschaftszweige stärker. Andere sehen den Einfluss der Wirtschaft zunehmen, da der Staat das Personal, das er zur Kontrolle einsetzt wie im Falle der schweizerischen Finanzmarktaufsicht Finma, teils direkt aus Wirtschaftsunter-nehmen abgeworben hat. Der Wilderer sei auch ein guter Wildhüter, argumentier-te der Finma-Chef. Die Resultate der Krise sind auch in anderen Bereichen, wie der viel kritisierten Rating Branche, welche die Kreditwürdigkeit von Unter-nehmen beurteilt, uneindeutig.

Klar falsch ist allerdings, dass «die Wirt-schaftstheorie» die ewige Krisenanfällig-keit nie verstanden hätte. Und dass dies an dem schon immer falschen Men-schenbild der ökonomischen Theorie liege. Professor Michael S. Aßländer aus Kassel kritisiert scharf die Fehlinterpreta-tion der Schriften von Adam Smith, dem Begründer der modernen Wirt-schaftstheorie (Seite 4). Lukas Rühli von der Avenir Suisse (Seite 3) analysiert die Grenzen des aktuellen Über-Hypes um John Maynard Keynes, dessen Lebensauf-gabe die Rettung des Kapitalismus vor der Krise war und dessen Ansätze die aktuelle Wirtschaftspolitik von den USA bis in die Schweiz bestimmen. Keynes sah staatliche Wirtschaftsförderung als

Mittel, um die riesige Arbeitslosigkeit der dreissiger Jahre zu bekämpfen. Ausserdem belauschten wir ein Gespräch zweier arbeitsloser Studienabgänger aus Zürich (Seite 6) um zu erfahren, wie sich das anfühlt, zuwenig Arbeit. Und wir skypten mit einem Londoner Investmentbanker, der zuviel Arbeit hat (Seite 7). Auch auf die aktuellen Studentenproteste in Zürich gehen wir ein. Philosophiestudent Marco Toscano sieht die hierzulande wie auch international flackerenden Proteste im Kontext einer Debatte um Eigentumsrech-te an Wissen (Seite 8). Und damit direkt als ökonomisch interpretierbares Phäno-men. Sozusagen als Resultat der Krise.

Von Hannes Grassegger

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Die Zeitung der Roten FabrikDezember 2009

Nachdenkenüber Wirtschaft

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Die Zeitung der Roten FabrikDezember 2009

Hoch in der Krise. Die Antizyklische Theorie

Er ist der wichtigste Ökonom des 20. Jahrhun-derts. Doch wer im Wirtschaftsboom John Maynard Keynes zitierte, war out. Wer nun in der aktuellen Weltwirtschaftskrise Keynes Krisenbekämpfungkonzepte anwendet, ist in. Dabei ist Keynes Relevanz weder höher noch tiefer als vor der Krise. Eine Erklärung.

«Der Kapitalismus basiert auf der merkwür-digen Überzeugung, dass widerwärtige Menschen aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen werden.» So schrieb John Maynard Keynes 1936, sieben Jahre nach Beginn der Grossen Depression von 1929 in seiner «General Theory of Employment, Interest and Mo-ney». Keynes führte den Staat als Akteur in der Wirtschaftstheorie ein und erschütterte damit die Welt der sogenannten Klassischen Ökonomie nachhaltig. Dabei wollte er eigentlich den Kapitalismus retten. Retten vor der ewigen Krisenanfälligkeit und der damit einhergehenden Gefahr, dass das Experiment Marktwirtschaft irgendwann einfach beendet wird.

Der grösste Ökonom des 20. Jahrhundertes war eigentlich gar keiner. 1883 in Cam-bridge geboren, studierte Keynes Mathema-tik, Philosophie und Geschichte. Zur Öko-nomie kam er erst auf mehrfaches Drängen seines Freundes Alfred Marshall, einer der einflussreichsten klassischen Nationalöko-nomen seiner Zeit. Keynes Interdisziplinari-tät erleichterte es ihm, das Dogma der Allheilkräfte der freien Marktwirtschaft zu brechen, ohne letztere gleich grundsätzlich abzulehnen. Keynes war Pragmatiker.

Kritik der klassischen Wirtschaftstheorie

Mit der eingangs zitierten Aussage bezog er sich auf die berühmte These von Adam Smith (1723 – 1790), nach welcher das in- dividuelle Streben nach persönlichem Profit in einem System freier Preise durch die unsichtbare Hand des Marktes zum maxi-malen Gemeinwohl führt. Die selbsternann-ten Verfechter Smiths’ Thesen – die soge-nannten (Neo-)Klassiker – vergassen und vergessen zuweilen gerne, dass Smith für das Funktionieren dieses Mechanismus ein gewisses Mass an moralischer Integrität des Einzelnen voraussetzte. Dem Markt als schlichtem Mechanismus aber wohnt keine Moral inne. Die brauchte es auch nicht, denn alles war ja gut. Vor der Krise. In der heilen Theoriewelt der Klassiker konnte der Staat keine positive Rolle spielen. In ihr findet der Markt immer von alleine ein stabiles Gleichgewicht, solange Preise, also auch Löhne, frei spielen. Was auf den Arbeitsmarkt übertragen Vollbeschäftigung bedeutet. Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre erschütterte den Glauben an diese klassische Selbstregulierung des Mark-tes. Trotz frei fallender Löhne stieg die Arbeitslosigkeit unaufhaltsam. Die klassi-sche Nationalökonomie konnte dieses Phä-

nomen nicht erklären – im Gegensatz zu Keynes. Er bereicherte die ökonomische Theorie um das Konzept Unsicherheit und rückte vom Menschenbild des rational und vorausschauend handelnden homo oeconomicus ab. Keynes Akteure werden von ihrem Bauchgefühl – den animal spirits – getrieben. Ihr Konsum und damit ihre Nachfrage hängt vom aktuell verfügbaren Einkommen ab und nicht etwa, wie von den Klassikern propagiert, vom gesamten Lebenseinkommen, das sie in der alten, klassischen Theoriewelt mit Erwartungssi-cherheit schon im Vorhinein kennen. Preis- und Lohnerwartungen passen sich bei Keynes nur zögerlich der Realität an. Die Nachfrage kann somit auch bei völlig flexib-len Preisen und Löhnen dauerhaft zu gering sein, um die Produktionskapazitäten der Wirtschaftsakteure auszuschöpfen. Erhöhte, unfreiwillige Arbeitslosigkeit ist die Folge.

Und hier kommt bei Keynes der Staat ins Spiel: Über schuldenfinanzierte Steuersen-kungen oder staatliche Investitionsprogram-me kann er die Nachfrage erhöhen und somit die Arbeitslosigkeit senken. Dies funktioniert nur, weil die Individuen ihren Konsum nicht völlig rational und lang-fristig bis in die Ewigkeit planen. Denn langfristig müssten Steuersenkungen oder zusätzliche Staatsausgaben in der Gegen-wart Steuererhöhungen in der Zukunft zur Folge haben. Und wären somit einkom-mensneutral – und damit irrelevant für den homo oeconomicus. Diesen Kritikpunkt der Klassiker schmetterte Keynes locker ab: «Langfristig sind wir alle tot.»

Die Krise des Keynesianismus

Der Höhenflug des Keynesianismus hielt an bis zur Ölkrise in den 1970er Jahren. Der damalige rapide Preisanstieg des Erdöls führte zu drastischen Produktionsrückgän-gen in der Industrie. Die staatlichen Nach-frageprogramme schmissen Geld auf den Marktplatz, führten diesmal aber einfach nur in die Inflation. Trotz der hohen Ar-beitslosigkeit, die eigentlich lohn- und preissenkend wirken sollte. Produktionska-pazitäten blieben unausgeschöpft, die Wirtschaft schrumpfte weiter. Obwohl man doch nach Keynes Weisungen gehandelt hatte. Keynes Theorie erschien unkorrekt. Dass ein solcher angebotsseitiger Schock nicht durch nachfrageorientierte keynesiani-sche Politik bekämpft werden kann, und deren Scheitern somit keine Aussagen über die Korrektheit der keynesianischen Theorie zulässt, sollte sogar Homöopaten einleuch-ten. Nichtsdestotrotz verhalf die Ölkrise den Neoklassikern aus Chicago um Milton Friedman und Robert Lucas zum Durch-bruch, der in der Reagan-Thatcher Ära kulminierte. Bis weit in die Nullerjahre wurde dem Keynesianismus kaum Kredit eingeräumt. Kritisiert wurden insbesondere die Annahme, der Einzelne hätte animal

spirits, sprich irrationale Preiserwartungen, sowie die fehlende systematische, sprich: mathematische, Herleitung des menschli-chen Verhaltens.

Keynes fragwürdiges Hoch

All dies änderte sich mit der aktuellen Weltwirtschaftskrise, die einige Parallelen zur «Great Depression» der dreissiger Jahre aufweist. Als das Ausmass der Krise erkannt wurde, senkten Staaten die Zinssätze prak-tisch auf Null und überboten sich mit riesigen Konjunkturprogrammen. Die Talsohle scheint nun früher erreicht als erwartet, schon überrascht manches Land mit nach oben korrigierten Konjunktur-prognosen. Keynes Theorie scheint wieder zu funktionieren. Diese plötzliche Rehabili-tation ist mit ebenso viel Vorbehalt zu betrachten wie die voreilige Abschreibung seiner Thesen in den siebziger Jahren.

Erstens ist es fragwürdig, ob zusätzliche Staatsausgaben die Wirtschaft tatsächlich in dem vermuteten Ausmass ankurbeln. Keynes nannte dies den Multiplikator-Effekt: Zusätzliche Staatsnachfrage erhöhe die Produktion, mehr Löhne würden ausbe-zahlt, somit steige der Konsum, was die Nachfrage und damit die Produktion aber-mals erhöhe und so weiter. Keynes schätzte, dass ein zusätzlich vom Staat ausgegebener Franken die Wirtschaftsleistung über die Zeit um 2.5 Franken erhöhte. Aktuelle Schätzungen sehen jedoch einem Wert nahe 1.0. Dies würde bedeuten, dass ein Staats-eingriff zumindest mittelfristig keine positi-ven Folgen zeitigt. Besonders in einem Land wie der Schweiz, das einen grossen Teil seiner Konsumgüter importiert. Zweitens missverstand Keynes den Staat. Er sah den Staat als wohlwollenden Dikta-tor, welcher sich ohne Eigeninteressen in den Dienst der Bürger stelle. Aber Regie-rungen handeln eigennützig. Konjunk-turprogramme sind für sie besonders inter-essant, wenn sie die Lorbeeren selbst ernten. Die Kosten in Form enormer Staatsdefizite sollen die Nachfolger tragen. Aufgrund ihres politischen Systems befindet sich die Schweiz diesbezüglich in einer guten Lage: Weil die Regierung vom Parlament und nicht wie in anderen Staaten vom Volk gewählt (also belohnt) wird, sieht sie sich weniger stark gezwungen, um des Volkes Gunst zu kämpfen. Die daraus resultie-renden «politischen Konjunkturzyklen» sind hierzulande darum weniger ausgeprägt als in den meisten anderen Staaten. Das gibt zur Hoffnung Anlass, dass die aktuellen staatlichen Investitionsprogramme in der Schweiz vergleichsweise nachhaltig wirken.

Von Lukas Rühli, lic. oec. publ. Musikjourna-list und Research Assistant der Avenir Suisse

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Die Zeitung der Roten FabrikDezember 2009

Sympathie und EigennutzAdam Smith und die

moralphilosophischen Grundlagen der Wirtschaft

Persönlicher Gewinn sei der Motor allen menschlichen Handelns. So zitieren Marktli-berale Adam Smith. Doch damit wird der Vater der Wirtschaftswissenschaften missinter-pretiert. Ein Beitrag zur Aufklärung.

Adam Smith zählt wohl zu den am häufigs-ten zitierten und am seltensten gelesenen Autoren. Nicht zuletzt diesem Umstand verdankt sich vermutlich auch die Vielzahl der populären Irrtümer, die mit seinem Werk in Verbindung gebracht werden. So gilt Adam Smith vielen Ökonomen vor allem als Verfechter eines rein an der Selbst-steuerung der Märkte orientierten Laissez-faire Kapitalismus, als Erfinder des homo oeconomicus und als geistiger Vater der «unsichtbare Hand». Die meisten dieser Behauptungen entbehren jedweder wissen-schaftlichen Grundlage. Bestenfalls ansatz-weise lässt sich zwischen den Zeilen des «Wealth of Nations» der homo oeconomicus erahnen. Die Behauptung, Adam Smith hätte dieses Menschenbild tatsächlich ver-treten, basiert entweder auf mangelnder Kenntnis des Werkes oder auf böswilliger Verdreh-ung der Tatsachen.

Den Wenigsten ist bekannt, dass Smith neben seinem berühmten ökonomischen Werk ein zu seiner Zeit nicht minder be-rühmtes Standardwerk der Moralphiloso-phie veröffentlichte, in dem er das «Mitfüh-len-Können» als natürliches Empfinden des Menschen und somit als Grundlage der Moral beschreibt.

Ein reflektierendes Individuum

Der Mensch, so Smith, sei in der Lage, sich sowohl in seinen Mitmenschen hineinzuver-setzen und so die Angemessenheit seines Verhaltens in einer gegebenen Situation zu beurteilen, als auch sein eigenes Handeln im Spiegel des gedachten Urteils seiner Mitbürger zu betrachten. Er sei beseelt vom Wunsche, in diesem Urteil nicht allzu schlecht abzuschneiden und dämpfe daher das Mass seiner Selbstliebe auf jenes Niveau herab, dass allgemein noch als schicklich anerkannt wird. So schreibt er in seiner «Theorie der ethischen Gefühle»: «Mag es darum auch wahr sein, dass jedes Individu-um in seinem Herzen naturgemäss sich selbst der ganzen Menschheit vorzieht, so wird es doch nicht wagen, den anderen Menschen in die Augen zu blicken und dabei zu gestehen, dass es diesem Grund-satz gemäss handelt. Jeder fühlt vielmehr, dass die anderen diesen seinen Hang, sich selbst den Vorzug zu geben, niemals wer-den nachfühlen können …» Smith entwirft das Bild des «unparteiischen Zuschauers» der als gedachter innerer Richter, dem keines unserer Motive verborgen bleibt, die moralische Angemessenheit unseres Han-delns im Spiegel des Urteils unserer Mit-menschen bewertet.

Vom «Eigennutz maximierenden» homo oeconomicus keine Spur. Um diese These des von reiner Selbstliebe getriebenen Menschen im Werk Adam Smiths dennoch aufrecht zu erhalten wird gerne auf die so genannte «Umschwungtheorie» verwie-sen, der zufolge sich Adam Smith nach seinem Frankreichaufenthalt in den Jahren 1764-1766 vom Idealisten zum Materialis-ten bekehrt habe. Daher vertrete Smith in seinem «Wealth of Nations» ein anderes Menschenbild als in seiner «Theory of Moral Sentiments» und betrachte nun die Eigenliebe des Menschen als das wahre und ausschliessliche Motiv seines Handelns. Diese Sichtweise wurde insbesondere in der deutschsprachigen Wissenschaft als so genanntes «Adam-Smith-Problem» disku-tiert. Mit David Raphael und Alec Macfie, zwei ausgezeichneten Kennern des Werkes, muss jedoch festgehalten werden: «Das soge-nannte Adam Smith Problem war ein Pseu-do-Problem, das auf Ignoranz und Missver-ständnissen basierte.»

Profundes Halbwissen der Ökonomen

Zu den wahrscheinlich wirkmächtigsten Me- taphern im Werk Adam Smiths zählt wohl die «unsichtbare Hand». Insbesondere unter Ökonomen hat sich das profunde Halbwis-sen festgesetzt, Adam Smith habe damit den Marktmechanismus bezeichnet, dessen Wirkweise er nur erahnen, aber eben noch nicht vollständig beschreiben konnte: In einem System flexibler Preise, so die Annah-me, garantiere der Marktmechanismus stets eine optimale Güter- und Faktoralloka-tion. Diese segensreiche Wirkung der «un-sichtbaren Hand» erlaube es den einzelnen Wirtschaftssubjekten, stets nach ihrem eigenen Vorteil zu handeln, da garantiert sei, dass das egoistische Streben des ein-zelnen zum Wohle der Gemeinschaft wirk-sam werde. Es gehört bis heute zum Stan-dardrepertoire der neoklassischen Ökono-mie sich in Sachen Deregulierung auf eben diese «unsichtbare Hand» und ihre wohl-tätige Wirkung zu berufen.

Allerdings ist Adam Smith weder der «geis-tige Vater» dieser Metapher noch bezeichnet die «unsichtbare Hand» den Marktmecha-nismus, den Smith sehr wohl kannte und als solchen in seinem ersten Buch über den «Wohlstand der Nationen» ausführlich darstellte. Vielmehr ist sie Ausdruck eines harmonischen Weltverständnisses, demzu-folge die natürliche Ordnung der Dinge generell zum Besten des Menschen wirke.Bereits vor Smith hatte der französische Philosoph Montesquieu in seinem berühm-ten Buch «De l’Esprit des Lois» eine ver-gleichbare Metapher in ähnlicher Absicht verwendet. Er geht davon aus, dass eine «unsichtbare Kraft» die egoistischen politi-schen Ambitionen der Einzelnen stets zum Wohle des gesamten Staatskörpers wirksam

werden lässt, auch wenn der Einzelne glaubt, durch sein Handeln ausschliesslich seinen Privatinteressen zu dienen. Selbst für die Formulierung der «unsichtbaren Hand» kann Smith kein Recht auf Origina-lität beanspruchen. Wie David D. Raphael aufweist, entstammt der Ausdruck einem Bonmot seiner Zeit und diente als Idiom zur Umschreibung des «göttlichen Wir-kens» in der Welt.

Das wahre Konzept des Adam Smith

Smith glaubt, dass in einem System der «natürlichen Freiheit» die in der Welt wir-kenden Prinzipien ganz von selbst zu einem Zustand führten, der sich durch ein Min-destmass an Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich auszeichne. Allerdings unterliegt auch das Ergebnis der natürlichen Ord-nung dem moralischen Urteil des «unpartei-ischen Zuschauers». Dort wo die «unsicht-bare Hand» versagt oder dort wo höhere Werte des Allgemeinwohls auf dem Spiel stehen, bedarf es der «sichtbaren Hand» eines ordnenden Staates. Weder überant-wortet Smith die Steuerung wirtschaftlichen Verhaltens ausschliesslich dem Marktme-chanismus noch predigt er das Streben nach Eigennutz als alleinigen Handlungsantrieb des Menschen. Vielmehr geht er davon aus, dass auch das wirtschaftliche Handeln des Menschen durch allgemeine Regeln des Anstands und ein natürliches Gefühl für Gerechtigkeit begrenzt sei. Wer heute glaubt, den Markt über die Moral stellen zu dürfen und sich dabei auf Adam Smith beruft, verkennt die tatsächliche Intention seiner Schriften. Gerhard Streminger ist wohl recht zu geben, wenn er schreibt: «Smith, der kein Apostel des Manchester-Liberalismus war, kann nicht dafür verant-wortlich gemacht werden, dass andere seinen Wealth of Nations wie eine Wäsche-leine benutzten, um ihre subjektiven Mei-nungen daran aufzuhängen, wohl aber könnte diese Tatsache auf eine Schwachstel-le seiner Philosophie hinweisen: Das Ge-rechtigkeitsempfinden ist nicht so tief in der menschlichen Natur verankert, wie Smith angenommen hat.»

Von Michael S. Aßländer, Universität Kassel, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften

LiteraturempfehlungSmith, Adam (1985): Theorie der ethischen Gefühle, hrsg. von Walther Eckstein. Hamburg, 3. Auflage

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Arroganz als Ausweg. Ein Gespräch zwischen zwei arbeitslosen Akademikern.

S: Sich Dienstagmorgens im Café treffen und sagen können, dass man sich Vormit-tags nichts mehr vorgenommen hat ...

A: So sieht sie aus, die Arbeitslosigkeit.

S: Wie lange geht das bei dir eigentlich schon so?

A: Ich denke immer, es seien drei Monate. In Tat und Wahrheit habe ich mich auf Anfang Mai angemeldet, bin also schon ein halbes Jahr arbeitslos. Da es in meinem Bereich einfach wenig Jobs gibt, hatte ich mich auf zwei, drei Monate Arbeitslosigkeit nach Abschluss des Studiums eingerichtet. Nun muss schon langsam mal was gehen!

S: Es ist also ein relativ klar umrissenen Job, den du suchst?

A: Ja.

S: Das geht mir ganz anders. Es gibt wahr-scheinlich einfach zu viel, was ich machen könnte. Wenn ich vor dem Computer sitze und nach Stellen suche, bieten sich mir theoretisch extrem viele Möglichkeiten. Zu viele, als dass ich sie alle seriös evaluieren könnte. In dieser Situation kommt dann die Frage nach dem übergeordneten Ziel auf: Was will ich eigentlich? Man hat ja nur ein Leben und da sollte man schauen, dass man das bitte richtig angeht. Da komme ich gerade nicht wirklich weiter.

A: Ich glaube, die Beschäftigung mit den grossen Fragen setzt eine gewisse grund-sätzliche Sicherheit voraus. Wenn die fehlt, wenn man gerade auf dünnem Boden steht, dann kann man sich das gar nicht leisten, dann will man erst mal wieder festeren Boden unter den Füssen. Geht zumindest mir so.

S: Was mich wahnsinnig verunsichert, ist das Ausbleiben jeglicher Rückmeldung. Gerade bei Bewerbungsschreiben ist das extrem: Da versuchst du deine Person, dein Leben, in Worte zu fassen. Dann schiesst du dieses Leben ins All hinaus und wartest auf eine Reaktion. Irgendwann kommt dann eine standartisierte Absage – eine Absage an dein ganzes Leben. Das ist doch immer wieder eine furchtbare Erniedrigung.

A: Egal ist das einem nicht.

S: Was ich auch extrem erniedrigend finde, ist, wenn ich diese ganzen Schmalspurheinis in super Positionen sehe. Leute, die ich kenne, die nie besonders interessante Sachen gemacht haben. Jungs, denen ich mich eindeutig intellektuell überlegen fühle. Wenn ich sehe, wie die sich ganz hervorragend eingliedern, toll versorgt sind mit klasse Jobs und glänzender Karriere ... Ein arroganter Gedanke, ich weiss.

A: Arroganz scheint mir ein nahe liegender Ausweg aus der enormen Verunsicherung, die diese Situation mit sich bringt.

S: Das Harte ist, dass ich neidisch bin auf Leute, von denen ich nie dachte, dass ich die einmal beneiden würde. Da kommt na- türlich schon auch der Gedanke, dass die vielleicht was drauf haben, wovon ich keine Ahnung hab.

A: Gerade Bewerbungen schreiben bedeutet ja auch ein ständiges Hinterfragen. Das macht einen mürbe. Man muss sich über- legen, wie die Dinge wirken, die da über einen selber im Lebenslauf stehen. Was muss jemand denken, der ohne weitere Information den Titel meiner Magisterarbeit liest? Kriegt der da nicht tatsächlich eine ganz falsche Vorstellung darüber, wer ich bin? Oder ist diese Vorstellung am Ende doch gar nicht so falsch?

S: Wir machen uns Sorgen, unsere Lebens-läufe könnten nahe legen, wir seien schräge Typen. Vielleicht sind wir das ja wirklich.

A: Genau. Apropos schräge Typen: Ich hab ja tatsächlich schon angefangen, Wikipedia-Artikel zu schreiben.

S: Wirklich? Jetzt weiss man, wo’s herkommt.

A: Ich glaube im Ernst, die ganze Web 2.0- Geschichte speist sich zu einem nicht un- wesentlichen Teil daraus, dass es einfach gerade eine Menge unterbeschäftigte, gut gebildete Leute gibt. Schau dir mal diese ganzen Musikblogs an, die seit ein paar Jahren gedeihen. Da stecken eine Menge Leute unendlich viel Arbeit rein. Das läuft kaum nebenher als Hobby.

S: Die wuchernden Hobbys sind eine Gefahr. Ich habe gerade etwas Angst, dass meine Plattensammlung mich verschlingt.

A: Es ist seltsam, nachdem mir in jungen Jahren die Aufhebung der Trennung von Arbeit und Hobby als absolut erstrebenswert galt, wünsche ich mir nun, ich hätte diese Trennung: Ich will eine Arbeit, für die ich mich zwar interessieren kann, die aber ganz gerne genug weit weg von meinen ureige- nen Interessen ist. Die will ich lieber als Hobby betreiben können. Einzig zur Freude ohne Zwang und vielleicht auch ohne gross-en Anspruch. Es gibt da natürlich Schnitt-mengen, aber die prinzipielle Trennung finde ich mittlerweile gut. Möglicherweise Anzeichen einer reaktionären Wende in meinem Leben.

S: Ich will auch nicht, dass meine Liebe zur Musik zu einem Beruf ausartet. Was du reaktionäre Wende nennst, das ist eigentlich schon früh meine Ansicht gewesen. Mir war schnell klar, dass ich trennen will zwischen Hobby und Beruf. Dieser Hippie-Gedanke, dass alles eins sein soll, das fand ich schon mit Anfang 20 nicht gut.

A: Ach ja? Ich bin auf eine Art auch gerade ganz froh, dass ich mein Leben aus solchen Gründen nie so total auf die Arbeit ausgerichtet habe. Ich verfüge auch ohne Arbeitsstelle über ein funktionierendes soziales Netz und weiss mich auch ohne diesen Rahmen ganz gut zu beschäftigen. Ich kann es auf jeden Fall auch geniessen, dass ich gerade so viel Zeit habe. Das drängende Problem ist für mich nicht so sehr der fehlende Rahmen, sondern viel- mehr das fehlende Geld.

S: Wie viel kriegst du im Monat.

A: Knapp 2000.- Franken Mein letzter Job war eine unterbezahlte Assistenzstelle.

S: Ich kriege 3000.- Franken

A: Das macht einen Unterschied. Bei mir häufen sich die Mahnungen. Das ist unangenehm, aber es hilft nichts: Ich muss einfach warten, bis das Geld von der Kasse auf meinem Konto ist. Dann kommt Kran-kenkasse, Miete, Telefon usw. Das fliesst durch die Finger wie nichts. Die klassischen Sorgen halt.

S: Kenne ich. Was mich auch stresst, ist dass man in dieser Situation anfängt materielle Unterschiede ganz anders zu bemerken. Gerade in Zürich siehst du ja überall diese unglaublich teuer ausstaffierten Menschen rumrennen und realisierst, mit was für Lumpen du selber rumläufst. Man fängt an sich an den bitteren Gedanken zu gewöh-nen, dass es halt die Anderen sind, die die iPhones oder die neuen Computer haben. Mein Telefon ist derart armselig, dass ich tatsächlich darauf angesprochen werde.

A: Ach! (kramt sein Mobiltelefon hervor und legt es auf den Tisch).

S: (lacht) Was ist das für ein Modell! Von wann ist das? 2002? Auf jeden Fall ein Klassiker!

A: Ein Klassiker. Genau so sehe ich das auch. Das ist ja die eine Option die wir haben: Du machst aus deiner Armut einfach einen Style. Der einfachste Weg, der von dir beschriebenen Situation zu entgehen, wäre wohl, sich den Hausbesetzern an- zudienen. Der Mangel wäre dann nicht nur Mangel, sondern halt auch Style. Genau dar-auf habe ich aber nicht die geringste Lust: Ich will nicht von Seiten der Gesellschaft in ein solches Aussteigertum gedrängt werden.

S: Das ist ja kein zielgerichtetes Drängen. Es gibt ja keine Verschwörung gegen uns, weil wir völlig unbedeutend sind. Nobody cares.

A: Schon klar. Was ich meine: Ich will halt nicht in eine Szene rutschen, bloss durch den Druck der Umstände.

S: Das ist auf eine Art auch meine grosse Sorge, dass ich plötzlich in die Norm einer Gruppe falle, mit der ich mich eigentlich nicht identifiziere. Aus diesem Grund macht mir auch dieses Schulungsprogramm vom RAV, das ich besuchen soll, solche Sorgen: Ich will keine anderen Leute sehen, denen es so geht wie mir. Diese Schicksalsgemein-schaft, die einen da empfängt, da will ich nicht hin. Da Teil von zu sein, das ist der reinste Albtraum.

A: Meinst du nicht, dass das Zusammen-treffen mit Leuten in der gleichen Situation, etwas von dem Druck nehmen könnte, die eigene Arbeitslosigkeit ausschliesslich als persönliches Schicksal zu begreifen und eine andere, eine politische Perspektive darauf ermöglichen würde?

S: Es ist doch unser Versagen, dass wir jetzt hier sitzen, oder etwa nicht? Was mich be- trifft: Das kumulierte Resultat aller An- strengungen in meinem Leben ist, das keiner mich will – die absolute Nutzlosigkeit meiner selbst.

A: Ach komm! Wir wussten doch eigentlich schon immer, dass die Welt keinen Bedarf an uns hat.

S: Klar, theoretisch. Jetzt kriegst du dieses theoretische Wissen praktisch bestätigt. Ganz offiziell. Mit Stempel und allem. Da merkst Du einfach sehr deutlich, dass etwas rational erfasst zu haben und etwas am eige-nen Leib zu erleben, zwei Paar Schuhe sind.

Aufgezeichnet von Philipp Messner

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Page 7: Fabrikzeitung 257  Nachdenken über Wirtschaft

Die Zeitung der Roten FabrikDezember 2009

Zuviel Arbeit

Geplant war ein Interview mit einem jungen, äusserst erfolgreichen Zürcher Investment-banker in London. Einblicke in die Lebenswelt eines wirklich Vollbeschäftigten wollten wir liefern. Aber für Reflektion war keine Zeit. Urs hatte zuviel Arbeit.

[31.10.2009 18:52:09] hannes grassegger: Urs?

[31.10.2009 21:03:11] hannes grassegger: du, ich wollte gern mit dir ein kleines inter-view machen. für eine kleine kulturzeitung. wenn du magst auch anonym

[31.10.2009 21:03:54] hannes grassegger: ich will den kulturorientierten lesern mal erzählen, wie ein beruf wie deiner von innen aussieht

[31.10.2009 21:04:13] hannes grassegger: telefonisch oder schriftlich ist möglich

[31.10.2009 21:04:26] hannes grassegger: geänderter namen: kein problem

[02.11.2009 13:08:40] Urs Lüthi: hi, was'n das fuern blatt?

[02.11.2009 13:09:22] hannes grassegger: mini blatt

[02.11.2009 13:09:28] hannes grassegger: fabrikzeitung

[02.11.2009 13:13:10] Urs Lüthi: dann wohl am besten anonym

[02.11.2009 13:14:19] Urs Lüthi: willst du fragen schicken? und dann gehen wir telefonisch durch? Soll ich ein foto machen (dubklte siloutte, city im Hinter-grund?) falls ich das kann?

[03.11.2009 13:22:55] hannes grassegger: lieber Urs, ich würde ein kleines skype interview vorschlagen.

[03.11.2009 13:23:00] hannes grassegger: du und ich im chat.

[03.11.2009 13:23:28] hannes grassegger: vielleicht am besten mit einer neuen skype identity deinerseits?

[03.11.2009 13:23:55] hannes grassegger: dann wär das eine zügige feierabendsache für uns beide. so 30-40 min?

[07.11.2009 14:34:56] hannes grassegger: hey!

[07.11.2009 14:34:58] hannes grassegger: rechner an?

[07.11.2009 14:35:06] hannes grassegger: ich dachte du surfst

[07.11.2009 14:35:07] hannes grassegger: ?

[07.11.2009 14:35:15] hannes grassegger: es ist samstag!

[09.11.2009 09:56:05] Urs Lüthi: rechner war aus, und wir surften!

[09.11.2009 10:30:10] hannes grassegger: schön von dir zu hören! Ich nutze die Chan-ce um Dir noch mehr Fragen zu stellen. Dein erster Deal, um wieviel Milliarden Euro gings da?

[09.11.2009 10:30:57] Urs Lüthi: VERTRAULICH

[09.11.2009 10:31:07] Urs Lüthi: €2bn

[09.11.2009 10:33:16] hannes grassegger: 2'000'000'000 €...also etwas über 3'000 000'000 CHF...das wären so ca 400 CHF für jeden, der in der Schweiz wohnt

[09.11.2009 10:33:44] hannes grassegger: Was machen Investmentbanker eigentlich? Und was machst Du im speziellen?

[09.11.2009 10:46:41] Urs Lüthi: ich gehe davon aus, dass das nicht wortfuerwort in den druck gehen soll?

[09.11.2009 10:48:52] hannes grassegger: eigentlich schon, aber du hast das recht über dein wort, kannst also alles redigieren was du gesagt hast. Zudem wird alles anonymi-siert, d.h. auch biographische Details die einen direkten Rückschluss ermöglichen.

[09.11.2009 10:49:21] hannes grassegger: Und Du kannst die Endversion autorisieren (oder eben nicht).

[09.11.2009 10:50:20] Urs Lüthi: ok

[11.11.2009 10:50:19] hannes grassegger: Hi Urs, also nochmal:

[11.11.2009 10:50:20] hannes grassegger: Was machen Investmentbanker eigentlich? Und was machst Du im speziellen?

[12.11.2009 00:44:04] hannes grassegger: late at night. Du bist online. still at work?

[18.11.2009 23:07:51] hannes grassegger: Next try?

[18.11.2009 23:07:59] hannes grassegger: Was machen Investmentbanker eigentlich? Und was machst Du im speziellen?

[18.11.2009 23:11:02] hannes grassegger: okay. Du bist wieder online…was machst Du jetzt grade? Bist Du in Wuppertal angekommen für diese Beratung zur Unternehmensfusion? Wir hatten für jetzt das Interview vereinbart.

[19.11.2009 00:10:29] hannes grassegger: Ich stelle mir vor Du excelst auf Excel. Und musst total hart schreiben und ganz viel vorbereiten in Deinem Wuppertaler Hotelzimmer.

[19.11.2009 00:10:53] hannes grassegger: Währenddessen kommen ständig meine Skype Messages

[19.11.2009 00:11:44] hannes grassegger: Dein Blackberry surrt durch. Und damit es morgen auf keinen Fall im entscheidenden Moment versagt, steckst Du noch das Ladegerät ein.

[19.11.2009 00:12:28] hannes grassegger: Und während Du meine Skype Messages siehst, ärgerst Du Dich, mir versprochen zu haben, das mit dem Interview doch noch durch zu ziehen.

[19.11.2009 00:36:11] hannes grassegger: Und ich redigier hier mal den Text über Keynesianismus

[19.11.2009 01:34:06] hannes grassegger: Also denk ich eigentlich über Textstruk-turen nach, während Du über Wirtschaft nachdenkst.

[19.11.2009 01:34:12] hannes grassegger: gut nacht

[20.11.2009 11:05:58] Urs Lüthi: Hallo Hannes. alles ist etwas anders ge-wesen. ich bin doch nicht nach Wuppertal gefahren, sondern war hier in London und bin erst frueh am Morgen nachj Deutsch-land geflogen. Zu allem Überfluss wurde mein Handy geklaut. und ich habe nicht mal deine nummer. bitte schick mir die mal

[20.11.2009 11:12:13] Urs Lüthi: Also ein investment banker arbeitet bei einer investment bank, und die macht insbesondere 3 dinge: Handelt mit papieren jeglicher art, im auftrag von Kunden oder auf eingene Rechung, hilf fimen (und auch staaten) bei der beschaffung von kapital (v.a. auf dem public market aber auch im private market) und beraet unternehmen bei Mergers & Acquisitions, also beim Kauf, Verkauf von Unternehmensteilen, bei Fusionen, bei Beteiligungen, hier geht es um Prozess und Verhandlungsstrategien, Bewertung, und die Frage was mach aus Corporate Finance Sicht Sinn etc.

[20.11.2009 11:13:13] Urs Lüthi: Ich selbst arbeite in dem zulezt genannten teil der veranstaltung, habe also ueberhaupt nichts mit trading zu tun, davon verstehe ich ungefaehr so viel wie Du

[20.11.2009 11:16:07] Urs Lüthi: und iregendwie auch in dem zuerst genann-ten teil, weil wir durchaus Unternehmen bei der Beschaffung von Kapital auf dem priva-te market beraten, hierbei besteht die Kunst darin, zu verstehen, wer auf investorenseite an einer bestimmten Situation interesse haben koenne, und wie das entsprechend zu strukturieren ist.

[20.11.2009 16:35:35] hannes grassegger: Vielen Dank! Wie kam es dazu, dass Du Investmentbanker wurdest? Hattest Du das vor?

[20.11.2009 16:36:07] hannes grassegger: Vielleicht sollten die Leute verstehen wo Du herkommst. Du hast früher Philosophie studiert, Progrock Bands gehabt, ein Road-movie gedreht, für Radio Kuba gearbeitet, Zigarren geschmuggelt...stimmts?

[21.11.2009 18:26:54] hannes grassegger: Urs?

[14:48:13] hannes grassegger: Okay Urs, wenn Du jetzt nicht laut HALT! sagst, schliess ich das mal ab mit unserem Interview. Ein Skype Protokoll von Hannes Grassegger und Urs Lüthi (Name geändert)

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Page 8: Fabrikzeitung 257  Nachdenken über Wirtschaft

Die Zeitung der Roten FabrikDezember 2009

Die Studentenproteste haben ökonomische Gründe –

und Lösungen

Europaweit protestieren die Studenten an den Unis. Ihre Forderungen, klingen für viele Leute abstrakt. Kein Wunder: Denn die Anliegen der Studenten hängen letztlich mit einer Änderung der Eigen- tumsrechte zusammen.

Was wollen die eigentlich, fragt man sich, wenn man von den europaweiten Besetzun-gen von Universitäten liest. Bildung natür-lich. Aber wozu? In der Wissensgesellschaft ist Bildung ein Faktor, der über die Produk-tivität von Arbeitskraft entscheidet. Und Arbeitgeber bezahlen die produktivsten Arbeitnehmer am besten. Somit bestimmt das Niveau der Bildung im Wettbewerb um Lohn und Jobs auch das persönliche Einkommen.

Ist Bildung nichts Angeborenes und soll in einer Leistungsgesellschaft gerechterweise nur Leistung, also Produktivität, zählen, so wird Bildung gemäss dem dieses Jahr ver-storbenen Politiker und Soziologen Ralf Dahrendorf zum Bürgerecht. Dass alle sich bilden können sollen, die es wollen und die natürlichen Voraussetzungen dafür mitbrin-gen, scheint zur Idee der Chancengleichheit zu gehören. Chancengleichheit für den Arbeitsmarkt. Eine Bologna-Reform, die das Gros der akademischen Bildung markt-kompatibel macht, so dass Bildung und Ausbeutung der eigenen Humanressourcen mit minimalem Reibungsverlusten in lukra-tive Jobs transformiert werden können, ist im Sinne aller Beteiligten. Doppelt irritiert nun, dass Studierende sich an einer Uni aufhalten, um sie zu besetzen und den subventionierten Betrieb damit nicht nur lähmen, sondern mit dem Verbringen von unproduktiven Stunden die Gelegenheit opfern, an der Karriere zu feilen. Es ist, als ob sie die öffentliche Bildungsfabrik für Private mit einem privaten Nachtclub für die Öffentlichkeit verwechseln. Haben die Studenten eine Wahrnehmungsstörung?

Privateigentum an Wissen – geschaffen durch den Staat

Dahrendorfs Rede vom Bürgerrecht auf Bildung evoziert eine Doppelbödigkeit, die so ziemlich alle sozialökonomischen Begrif-fe ergreift:. Sein Bürgerrecht ist droit du bourgeois und droit du citoyen; Bildung ist Humankapital in der Ökonomie,politisches Kapital aber in der Lebenswelt der Zivilge-sellschaft. Nach geltender Lesart ist die Aufgabe des Staates das «Menschenrecht auf Privateigentum» zu garantieren. Nicht nur Gegenstände sind damit gemeint, sondern, auch Privateigentum an Wissen und Bildung. Kurz: Eigentum ist die recht-lich begründete Verfügungsgewalt über Gegenstände oder ideelle Güter. Der Staat bestimmt aber noch mehr als nur die Rechtsgrundlagen dafür, was generell Privateigentum werden darf. Aus der eigen-tümlichen Mischform des Eigentums aus besonderem und allgemeinem Interesse leitet der Staat sein Recht her, Eigentum-sungleichheit durch Umverteilung auszu-gleichen. Er verweist dabei darauf, dass Gesellschaft eine Kooperation von arbeiten-

den Individuen sei, die Gesellschaft also Mindestregeln für Ansprüche dieser Indi-viduen zu formulieren habe, die es für mögliche Gesellschaftsmitglieder sinnvoll werden lässt, an der Gesellschaft überhaupt teilzunehmen.

Grundeinkommen – Der Ansatz von Philipp van Parijs

Nur wenige, darunter der alternative belgi-sche Ökonom und Linguist Philipp Van Parijs, fordern auch die bedingungslose Subventionierung von solchen Mitgliedern der Gesellschaft, die sich dem Arbeitszwang der privatwirtschaftlich verwertbaren Arbeit verweigern. Nur, wieso sollen arbeitende Leute für den Konsum Nicht-Erwerbstätiger aufkommen? Van Parijs behauptet, dass es in der Realität unmöglich sei, zwischen verdientem und unverdientem Vorteil zu unterscheiden. Diese Einsicht kombiniert er mit dem Differenzprinzip des Politphiloso-phen John Rawls, das besagt, nur diejenige Ungleichheit sei legitim, die Schlechtestge-stellte besser stellt, als sie es wären, wenn es keine Ungleichheit gäbe. Daraus leitet van Parijs seine Forderung nach einem bedin-gungslosen Grundeinkommen ab. Weil van Parijs den Produktionsprozess ausser Acht lässt und den Tausch von Arbeit gegen Lohn zum Gegenstand moralischer Überlegungen macht, muss er die Arbeit besteuern – «um unsere Leben gegen die erzwungene Mobili-tät zu schützen, gegen die zerstörerische Globalisierung und um sich dem Despotis-mus des Marktes zu erwehren.» Anstatt den über die Investition lancierten Mehrertrag des Kapitals auf den Produktionsprozess und die in ihm stattfindende Verwertung der produktiven Arbeit zurückzuführen, spricht van Parijs der produktiven Arbeit einen weiteren Teil ihres Äquivalents ab.

Künstliche Verknappung ist bei Wissen kontraproduktiv

Erzeugt der Kapitalismus über die Privati-sierung von Produktionsfaktoren Ungleich-heit in der Verteilung des geschaffenen gesellschaftlichen Werts (Kapital als zu-gleich ökonomische und soziologische Kategorie), wird hernach versucht, die durch diese Privatisierung gesellschaftlich Benach-teiligten mittels Umverteilung der Lohnma-sse zu entschädigen. Damit wird Wohlstand künstlich knapp gehalten, und zwar nicht aufgrund demokratischer Entscheidung der Gesellschaft, sondern aufgrund einer öko-nomischen Rationalität, die der Subvention von privater Akkumulation durch die Allge-meinheit gleichkommt (vergleichbar der Situation, wenn eine Gemeinschaft für die Verschmutzung eines Flusses durch ein privates, diesen nutzendes Werk aufkommt). Ein in Wissensgesellschaften entscheidendes Beispiel der Subventionierung privater Vermögensanhäufung durch die Allgemein-heit ist die Institution des geistigen Eigen-tums. Es sichert den Eigentümern die aus-schliesslichen Verwertungsrechte an geistigen Gütern. Diese lassen sich einteilen in Inhalte/Information und Technologien zur Datenverarbeitung (z.B. Quellcodes).

Der private Lizenzeigner nimmt für das geistige Produkt der Entwickler, in das er investiert hat, Tantiemen, etwa so wie die Erben eines Schriftstellers für die Ausgaben seiner Werke. Die geistigen Produkte sind also nicht frei verfügbar, sondern werden in ihrem Bestand kontrolliert. So werden Information und Informationstechnologie künstlich knapp gehalten. An sich aber kennen Informationsgüter dank ihrer Ei-genschaften wie der unbegrenzten Reprodu-zierbarkeit nicht nur keine Knappheit, sondern ermöglichen auch Spillover-Effekte. Das heisst, sie verschwinden während des Konsums nicht einfach wie ein Brot beim Essen, sondern produzieren beim Konsum sogar Know-how. Open Source und Open Content sind Veränderungen an Eigentums-rechten und ermöglichen, dass ein geistiges Produkt von jedem Nutzer für sich genutzt, angepasst oder weiterentwickelt wird, ohne Kosten zu verursachen.

Open Source für die Universitäten

Open Source ist vielleicht ein Modell für die Art von Offenheit der Universität, die den Fluchtpunkt der Perspektive der Uni-Beset-zer bildet. Die beiden in Deutschland for-schenden Ökonomen Markus Pasche und Sebastian Von Engelhardt beantworten in ihrer Studie die Bedenken, dass die Logik von Open Source marktverzerrend wirke und falsche Anreize setze: «Die Preisstruk-tur, die sich deutlich von der Preisstruktur proprietärer Lösungen unterscheidet, spie-gelt sehr wohl den volkswirtschaftlichen Ressourceneinsatz wider und stellt auch keine Verzerrung dar. Sie ist lediglich Aus-druck einer völlig anderen Produktions-form.» Die letzte Bemerkung stellt eine er- staunliche Aussicht her: Der Gegenprozess zur Privatisierung. Das «Outsourcing» bestimmter Produktivkräfte und ihrer Faktoren aus dem Raum der privatisierten Akkumulation hinein in eine partizipative Öffentlichkeit. Eine Öffentlichkeit, die gerade nicht durch Ausschluss, sondern Einschluss von produktiver Arbeit gekenn-zeichnet ist, und die dabei eine andere Qualität annimmt. Und bei genauerer Betrachtung war das schon immer der Fall: Die so genannte Care Economy, die all die Arbeiten, die Menschen alltäglich qua Mensch für sich und ihre Umwelt wahrneh-men; die nicht monetär verwerte Pflege menschlicher (und ökologischer) Bedürfnis-se, die die privatisierte Ökonomie für ihren reibungslosen Ablauf immer voraussetzt, machen, so schätzt die Basler Nationalöko-nomin Mascha Madörin, etwa 70 Prozent des Bruttoinlandprodukts der Schweiz aus. Vielleicht wäre dies die Open Economy, in der Lehren, Pflegen und Forschen demokra-tischer und sachlicher vonstatten geht.

Von Marco Toscano, Philosophiestudent an der Universität Zürich

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