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Fehlermanagement im medizinischen Alltag armin wunder Frankfurt am Main, 12. Juni 2019

Fehlermanagement im medizinischen Alltag · PowerPoint-Präsentation Author: Goethe-Universität Created Date: 5/16/2019 6:52:26 PM

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Fehlermanagement im

medizinischen Alltag

armin wunder

Frankfurt am Main, 12. Juni 2019

Was erwartet Sie heute?

Fehler ≠ Fehler?

Unerwünschtes Ereignis

Kritisches Ereignis

Aktive Fehler

Zwischenfall

Behandlungsfehler (juristischer Begriff!)

Kunstfehler

Sorgfaltsmangel

Verschulden

Begriffswirrwarr - Pragmatismus

Im Gesundheitswesen besteht um den Begriff „Fehler“ ein wahres

Begriffswirrwarr.

Pragmatische Definition in der Praxis:

Ein Fehler ist das, was Sie als Fehler empfinden.

Das ist jeder Vorfall, von dem Sie behaupten: Das war eine Bedrohung für das Wohlergehen des Patienten und sollte nicht passieren. Ich möchte nicht, dass es noch einmal passiert.

Definition Aktionsbündnis Patientensicherheit

Eine Handlung oder ein Unterlassen, bei dem

eine Abweichung vom Plan,

ein falscher Plan oder

kein Plan vorliegt.

(APS Glossar, www. aps-ev.de)

Unerwünschtes Ereignis

Ein für den Patienten schädliches Ereignis, das durch die

medizinische Versorgung ausgelöst wird und nicht durch die

Erkrankung.

• Ein falscher Plan für ein richtiges Ziel.

• Ein richtiger Plan falsch ausgeführt.

Was ist Patientensicherheit?

Die Abwesenheit unerwünschter Ereignisse in der

Gesundheitsversorgung und

alle Aktivitäten zu ihrer Vermeidung

Warum beschäftigen wir uns überhaupt

damit?

„Malpractice crisis“:

steigende Kompensationszahlungen der Haftpflichtversicherer für

Behandlungsfehler in 1980er Jahren

Harvard Medical Practice Study 1991

To Err Is Human 1999

30.121 Patientenakten in 51 Kliniken gescreent

In 3,7 % der Patientenakten unerwünschtes Ereignis

Davon 13,6 % zum Tode führend

Für die Kliniken des Staates New York geschätzt jährlich

98.609 adverse events, davon 27.179 vermeidbar

Bericht des Institute of Medicine an die Regierung der

USA „To Err Is Human“ (1999):

Schätzung, dass zwischen 44.000 und 98.000 Amerikaner

pro Jahr an adverse events sterben!

Beispiele für fehlende Sicherheitskultur

Händedesinfektion

Regeln sind für die anderen da!

Ein Fehler wird schnell behoben- „geflickt“

Wir neigen dazu, jemanden beschuldigen zu wollen

Wenn ich mich angegriffen fühle, verteidige ich mich

Komplexe Systeme

Sind dadurch gekennzeichnet,

dass es viele interagierende Teile gibt

dass es schwer bis unmöglich vorherzusagen ist, wie das System

reagiert, wenn man nur die einzelnen Teile kennt

Wie entstehen Fehler in komplexen

Systemen?

Aktive Fehler treffen auf latente Bedingungen

Latente Bedingungen oder latentes Versagen:

Fehlerprovozierende Umstände oder schwache Sicherheitsbarrieren

Betreffen Personalressourcen, Architektur von Kliniken, Auswahl

von Ausrüstung etc. (Patienten-fern)

Verursachen allein keine unerwünschten Ereignisse

Aktive Fehler:

Unsichere Handlungen oder echte Fehler

z. B. der Verzicht auf Sicherheitschecks (Patienten-nah)

Können unmittelbare Auswirkungen haben

James Reason. Human error: models and management. BMJ 2000;320:768–70

Das Schweizer-Käse-Modell

Schaden

Risiko

Sicherheitsbarriere

äußere Faktoren

Human factors - Einflussgrößen

Sammelbegriff für

psychische,

kognitive und

soziale Einflussfaktoren in sozio-technischen Systemen und Mensch-

Maschine-Systemen

Medizin = sozio-technisches System,

z. B. Anästhesiearbeitsplatz = Mensch-Maschine-System

Typische aktive Fehler

Verwechseln!

Versprechen!

Verhören!

Vergreifen!

häufig in Routinesituationen, in denen man nicht über den

nächsten Handlungsschritt aktiv nachdenkt

häufig in Situationen, in denen man schnell handeln muss

Lernen aus Fehlern

Über unerwünschte Ereignisse sprechen

in Klinik oder Praxis (interdisziplinär!)

in Fallkonferenzen, Teambesprechungen, Qualitätszirkeln

Fehlerberichtssysteme

Unerwünschte Ereignisse analysieren

Maßnahmen entwickeln, um zukünftig ähnliche Ereignisse zu

vermeiden

Maßnahmen umsetzen und prüfen, ob sie wirken

Konstruktiver Umgang mit Fehlern/

hemmende Faktoren:

Die Illusion, gut ausgebildete Kräfte machen keine Fehler

Furcht vor Kollegen

Scham

Angst vor Sanktionen

Konstruktiver Umgang mit Fehlern/

hemmende Faktoren:

Ausgeprägte Hierarchie

Angst zu versagen

Das Empfinden eines Fehlers als persönliche Schwäche

Der Anspruch perfekt zu sein

Angst vor Haftung

Konstruktiver Umgang mit Fehlern/

fördernde Faktoren:

Sanktionsverzicht

Achtung vor Fehlereingeständnissen

Wertschätzung im Kollegenkreis

Anonymität der Fehlermeldungen

Konstruktiver Umgang mit Fehlern/

fördernde Faktoren:

Offenheit für Fehler

Systemische Betrachtung von Fehlern

Das Bewusstsein, dass dauernd Fehler gemacht werden

Patientenbeschwerden werden als Hinweis gesehen und

geschätzt

Fehlerberichtssysteme in der Praxis

Fehlerbuch

Fehlertabelle

Ein fiktiver Patient in der elektronischen Patientendatenbank

Fehlertabelle

CIRS- „Critical Incidents Reporting System“

Auf Deutsch: Meldesystem für kritische Ereignisse.

Charakteristika effektiver Meldesysteme:

Unabhängigkeit

Sanktionsfreiheit

Anonymität bzw. Vertraulichkeit

Grundhaltung: Dank statt Tadel

Einfacher Zugang

Erfassung von Beinahe-Fehlern

Feedback-Funktion

Klinikinternes Fehlerberichtssystem

z. B. Universitätsspital Zürich

800 Betten, 42 Kliniken

2008: in 21 Kliniken Berichtssystem eingerichtet

große Akzeptanz der Mitarbeiter/innen

> 300 Berichte in < 1 Jahr

Zentrales Risikomanagement wertet Berichte mit den Kliniken

zusammen aus

Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren

Patientenfaktoren

Faktoren der Tätigkeit

Individuelle Faktoren des Mitarbeiters

Teamfaktoren

Arbeitsbedingungen

Organisations- und Managementfaktoren

Kontext der Institution

Mangelnde Sicherheitsbarrieren

Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren

Patientenfaktoren

Krankheitszustand

Soziale, körperliche, psychische Bedingungen

Sprache, Ausdrucksfähigkeit

Beziehung zwischen Patient und Praxis/Station/Team

Persönlichkeit

Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren

Faktoren der Tätigkeit

Gestaltung des Prozesses/Ablaufs

Gibt es Protokolle?

Sind Standards vorhanden?

Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren

Individuelle Faktoren des Mitarbeiters

Wissen

Fähigkeiten

Ausbildung

Stress

Gesundheit

Motivation

Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren

Teamfaktoren

Verbale/geschriebene Kommunikation

Teamstruktur

Supervision

Hierarchie

Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren

Arbeitsbedingungen

Personalausstattung/Qualifikation

Arbeitsbelastung

Geräteausrüstung/Design/Wartung

Umgebungsbedingungen wie Lärm, Licht, Ablenkungen

Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren

Organisations- und Managementfaktoren

Ressourcen

Beschränkungen

Vorhandensein und Umgang mit Regeln

Vorschriften

Sicherheitskultur

Prioritäten

Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren

Kontext der Institution

Wirtschaftliche Situation

Vorgaben durch Gesetzgeber

Vorgaben durch BG

Vorgaben durch Versicherer

QM

Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren

Mangelnde Sicherheitsbarrieren

Sind Sicherheitsbarrieren vorhanden?

… zuverlässig?

… bekannt?

Hätten diese das Ereignis verhindern können?

Die „traditionelle“ personenorientierte

Perspektive

Ein kritisches Ereignis tritt auf:

„Es gibt eben Einzelpersonen, die Fehler machen” – bestimmte

Einzelpersonen sind „nachlässig, leicht-sinnig und schuld“

Die Einzelperson wird beschuldigt, bestraft und fortgebildet sowie

ermahnt, „besser aufzupassen“

Die so „optimierte Einzelperson“ soll die Sicherheit verbessern

(nach Fletcher, NPSA 11/2003 und Reason 1994)

Die systemorientierte Perspektive

Menschen machen Fehler!

Fehlerträchtige Situationen und schlechtes organisatorisches

Design verursachen Fehler

Der Schwerpunkt liegt auf allen verursachenden Faktoren, nicht

nur auf den Handlungen einzelner

Geräte und Prozesse (das System) müssen verändert werden, um

die Sicherheit zu verbessern

(nach Fletcher, NPSA 11/2003 und Reason 1994)

Was hilft nicht gegen Fehler?

Besser aufpassen!

Dran denken!

Mehr Konzentration!

Aufmerksamer sein!

Klüger sein!

Zirkel des klinischen Risikomanagements

(pdca-Zirkel)

act:

Risiken

überwachen

check:

Risiken

vermindern

plan:

Risiken

erkennen

do:

Risiken analy-

sieren/bewerten

Surgical safety checklist

8 Kliniken weltweit

Komplikationsrate bis 30 Tage postoperativ

Vor und nach Einführung der Checkliste

Jeweils knapp 4.000 Patienten (Kontroll/Intervention)

Vor Anästhesie-Beginn

Vor Op-Beginn

Vor Op-Ende

Ergebnisse

Vorher

Todesrate 1,5 %

Komplikationsrate 11%

Nachher

Todesrate 0,8 %

Komplikationsrate 7 %

Ergebnisse

Gründe?

Zuverlässigere präoperative Antbiotikagabe

Zuverlässigere Tupferzählung

Zuverlässigere Patientenidentifikation

Beobachtung?

Checkliste erzwang verändertes Verhalten von Individuen und Teams

Was nimmt mein Patient?

Daten aus einer Studie

Abweichungen in der ärztlichen Dokumentation gegenüber den

Angaben des Patienten:

144/153 Patienten (94,1%)

pro Patient: Median 3 (0 bis 13 Abweichungen)

Abweichungen der Patientenangaben gegenüber der

Arztdokumentation:

111/153 Patienten (72,5%)

pro Patient: Median 1 (0 bis 23 Abweichungen)

Medikationsabgleich - brown bag review

Klinik: Bei Aufnahme und bei Verlegung innerhalb einer Klinik wird

geprüft, welche Medikamente der Patient bisher genommen hat

Praxis: In regelmäßigen Abständen wird überprüft, ob und wie der

Patient die verordneten Medikamente und welche frei-

verkäuflichen Arzneimittel er nimmt

Anzahl nicht korrekter Medikationspläne reduziert

Anzahl Medikationsfehler insgesamt reduziert

Wie reagieren Patienten auf Fehler?

Patient (first victim): Unsicherheit, Angst, Trauer, Depression, Wut,

Verlassenheit

Welche Reaktion auf einen Fehler wünschen sich Patienten?

Entschuldigung / Bestätigung / Erklärung,

dass Fehler aufgetreten ist 52 %

Zusicherung, dass alles getan wird,

damit es nicht noch einmal passiert 31 %

Sanktionen gegen Beteiligte 8 %

(Healthcare Commission 2007. Spotlight on complaints)

Wie reagieren irrende Menschen auf Fehler?

Gesundheitsberufe (second victim):

negative Folgen für das Privatleben (17%)

Beschuldigungen durch Patienten/Angehörige (32 %)

keine Unterstützung durch Kollegen (22 %)

(Aalsand OG et al. Qual. Saf. Health Care 2005;14:13-17)

reduzierte Lebensqualität, mehr depressive Symptome

(West CP et al. JAMA 2006;296:1071-8)

Was tun nach einem Zwischenfall?

Weiteren Schaden verhüten!

Empathie!

„Es tut uns leid!“

Erklären WAS passiert ist, keine Vermutungen

Medizinische Folgen erklären und Unterstützung anbieten

Was tun nach einem Zwischenfall?

Ursachenanalyse und glaubwürdig versichern, dass die Akteure

aus dem Fehler lernen

Beziehung zum Patienten aufrecht erhalten, ggfs. neues

Behandlungsteam anbieten

Wer?

EINE Person, zu der Patient/Angehörige Vertrauen hat

Schwere Zwischenfälle sind Chefsache!

SAFE

Situation: Was ist eigentlich passiert?

Akteure: Wer war beteiligt?

Folgen: Welche Folgen hatte das Ereignis?

Erklärung: Was hat zu dem Ereignis und dem Ergebnis

beigetragen?

SAFE - Situation

Situation: Was ist eigentlich passiert?

„nackte“ Tatsachen aufführen

chronologische Reihenfolge

wenn es ein komplexes Ereignis ist: nehmen Sie Papier und Stift zur

Hand

SAFE - Akteure

Akteure: Wer war beteiligt?

Was wussten die beteiligten Personen zu welchem Zeitpunkt?

Wer hat was wann und wie verstanden?

Welche Handlungsmöglichkeiten hatten die beteiligten Personen?

SAFE - Folgen

Folgen: Welche Folgen hatte das Ereignis?

Müssen wir jetzt sofort etwas tun

(z. B. weiteren Schaden vermeiden)?

Für den Patienten (oder Angehörige)?

Für die beteiligten Personen, für die Einrichtung?

SAFE - Erklärung

Erklärung: Was hat zu dem Ereignis und dem Ergebnis beigetragen?

Welche aktiven Handlungen haben beigetragen?

Was waren die inneren Rahmenbedingungen

(innerhalb der Einrichtung)?

Was waren die äußeren Rahmenbedingungen?

Benutzen Sie dafür die Checkliste für die Fallanalyse und

gehen Sie systematisch alle beitragenden Faktoren durch.

Fallanalyse: ein Beispiel

Situation: Was ist passiert?

Hektischer Tag, 2 von 3 Helferinnen sind krank bzw. in Urlaub. Bei

einem Patienten soll die wöchentliche i.v.-Gabe von MTX erfolgen.

Eine Spritze (ohne Label u.ohne beiliegende Ampulle) liegt parat

und wird dem Patienten i.v. verabreicht.

Es handelte sich aber nicht um MTX, sondern um eine für die i.m.-

Gabe vorbereitete Spritze mit Vitamin B-Komplex 2 ml + Novocain

2% 2 ml (gleiche Farbe).

Akteure: Wer war beteiligt?

Arzt, MFA, Patient

Folgen: Welche Folgen hatte das Ereignis?

Patient blieb nach Aufklären über den Fehler für zwei Stunden in

der Praxis zur Überwachung. Keine Rhythmusstörungen oder

Bradykardie aufgetreten.

(Beispielbericht: www.jeder-fehler-zaehlt.de)

Das Ergebnis der Fallanalyse

Erklärung: Was hat zu dem Ereignis und dem Ergebnis beigetragen?

Unterschiedliche Personen für Vorbereitung des Medikaments

und Gabe der Spritze.

Vorbereitete Spritze nicht beschriftet!

Der Inhalt der Spritze sieht aus wie das Medikament,

das gegeben werden soll.

Das Ergebnis der Fallanalyse

Erklärung: Was hat zu dem Ereignis und dem Ergebnis beigetragen?

Person, die injiziert, vergewissert sich nicht, was die Spritze

enthält.

Hohe Arbeitsbelastung durch fehlendes Personal!

thanks and take care…