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Fischer Weltgeschichte Band 13 Byzanz Herausgegeben von Franz Georg Maier Byzantinische Geschichte galt den Historikern bis zum 19. Jh. vorwiegend als »langdauernder Zerfallsprozeß einer großen klassischen Vergangenheit«. Unter neuen Kategorien historischen Verstehens aber ist Byzanz als ein eigenständiges historisches Gesamtphänomen ins Blickfeld getreten. Seine fast tausendjährige Geschichte wirft Fragen nach Eigenart, historischer Rolle und nach den besonderen Faktoren auf, die dieses Reich so lange lebens- und widerstandsfähig erhielten. Der Herausgeber, Prof. F.G. Maier, zeigt in seiner Einleitung diese geographischen, ökonomischen und sozialen wie auch die kulturellen und religiösen Faktoren auf, er macht Strukturen sichtbar, die das Reich durch die Jahrhunderte seines Bestehens zugleich stabil und anpassungsfähig erhielten. In seiner jahrhundertelangen Abwehr gegen den vordringenden Islam, als Hüter griechischer Kultur und als Vermittler zwischen Abendland und Orient erfüllte Byzanz eine Funktion, die uns das immer noch ein wenig fremdartig wirkende Vielvölkerreich im Gesamtrahmen der europäischen Geschichte naherückt. Deutlich wird auch, daß die byzantinische Kultur zu schöpferischen Leistungen fähig war, die tief auf die mittelalterliche Welt, zumal auf die Balkanländer und Rußland, eingewirkt haben. Die Darstellung des geschichtlichen Ablaufs durch den Herausgeber und die anderen Autoren des Bandes belegt diese Thesen im einzelnen. Dr. Judith Herrin verfaßte das Kapitel über den Bilderstreit; Dr. H.J. Härtel bearbeitete die Frage der Beziehungen von Byzanz zu den Slawen; von Dr. W. Hecht stammen die Kapitel ›Die Makedonische Renaissance‹ und ›Das Zeitalter der Komnenen‹; das Kapitel über den Vierten Kreuzzug schrieb Hermann Beckedorf; den Niedergang von Byzanz schließlich stellte Prof. D.M. Nicol dar. Der Band ist in sich abgeschlossen und mit Abbildungen, Kartenskizzen, Herrschertafeln und einem Literaturverzeichnis ausgestattet. Ein Personen- und Sachregister erleichtert dem Leser die rasche Orientierung. Der Herausgeber dieses Bandes Franz Georg Maier, 1

Fischer Weltgeschichte, Bd.13, Byzanz

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Fischer Weltgeschichte Band 13

Byzanz Herausgegeben von Franz Georg Maier

Byzantinische Geschichte galt den Historikern bis zum 19. Jh. vorwiegend als langdauernder Zerfallsproze einer groen klassischen Vergangenheit. Unter neuen Kategorien historischen Verstehens aber ist Byzanz als ein eigenstndiges historisches Gesamtphnomen ins Blickfeld getreten. Seine fast tausendjhrige Geschichte wirft Fragen nach Eigenart, historischer Rolle und nach den besonderen Faktoren auf, die dieses Reich so lange lebens- und widerstandsfhig erhielten. Der Herausgeber, Prof. F.G. Maier, zeigt in seiner Einleitung diese geographischen, konomischen und sozialen wie auch die kulturellen und religisen Faktoren auf, er macht Strukturen sichtbar, die das Reich durch die Jahrhunderte seines Bestehens zugleich stabil und anpassungsfhig erhielten. In seiner jahrhundertelangen Abwehr gegen den vordringenden Islam, als Hter griechischer Kultur und als Vermittler zwischen Abendland und Orient erfllte Byzanz eine Funktion, die uns das immer noch ein wenig fremdartig wirkende Vielvlkerreich im Gesamtrahmen der europischen Geschichte naherckt. Deutlich wird auch, da die byzantinische Kultur zu schpferischen Leistungen fhig war, die tief auf die mittelalterliche Welt, zumal auf die Balkanlnder und Ruland, eingewirkt haben. Die Darstellung des geschichtlichen Ablaufs durch den Herausgeber und die anderen Autoren des Bandes belegt diese Thesen im einzelnen. Dr. Judith Herrin verfate das Kapitel ber den Bilderstreit; Dr. H.J. Hrtel bearbeitete die Frage der Beziehungen von Byzanz zu den Slawen; von Dr. W. Hecht stammen die Kapitel Die Makedonische Renaissance und Das Zeitalter der Komnenen; das Kapitel ber den Vierten Kreuzzug schrieb Hermann Beckedorf; den Niedergang von Byzanz schlielich stellte Prof. D.M. Nicol dar. Der Band ist in sich abgeschlossen und mit Abbildungen, Kartenskizzen, Herrschertafeln und einem Literaturverzeichnis ausgestattet. Ein Personen- und Sachregister erleichtert dem Leser die rasche Orientierung. Der Herausgeber dieses Bandes Franz Georg Maier,

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geb. 1926 in Stuttgart, 1951 Dr. phil. an der Universitt Tbingen. 19521956 als Forschungsstipendiat in Rom, Sizilien und Griechenland; Mitglied der britischen Kouklia Expedition in Cypern. 1963 ordentlicher Professor fr Alte Geschichte an der Universitt Frankfurt/Main. 1966 Leiter der Archologischen Expedition in Alt-Paphos/Cypern. Ab 1966 ord. Professor der Geschichte an der Universitt Konstanz. 1972 ord. Professor der Alten Geschichte an der Universitt Zrich; inzwischen emeritiert. F.G. Maier, dessen Forschungsgebiete die Geschichte des Altertums und des Nahen Ostens sowie die Archologie Cyperns sind, verffentlichte 1955 Augustin und das antike Rom, 1959/1961 zwei Bnde Griechische Mauerbauinschriften, 1964 Cypern. Insel am Kreuzweg der Geschichte und 1973 Archologie und Geschichte. Ausgrabungen in Alt- Paphos/Cypern. Er verfate 1968 fr den Fischer Taschenbuch Verlag Die Verwandlung der Mittelmeerwelt (Fischer Weltgeschichte, Band 9). Mitarbeiter dieses Bandes Hermann Beckedorf (Universitt Zrich) Kapitel 6 Dr. Hans-Joachim Hrtet (Universitt Mnchen) Kapitel 3 Dr. Winfried Hecht (Rottweil) Kapitel 4 und 5 Judith Herrin, Ph. D. (London) Kapitel 2 Prof. Dr. Franz Georg Maier (Universitt Zrich) Vorwort, Einleitung und Kapitel 1 Prof. Dr. Donald M. Nicol (London University) Kapitel 7 Diana Lutz, M.A. (Konstanz) bersetzte die Kapitel 2 und 7 aus dem Englischen VorwortIf the Past were ever past, there would be no use in recalling it. Freya Stark

Eine Geschichte von Byzanz bedarf heute keiner Rechtfertigung mehr. Sie kann freilich nicht der phantasievolle Bilderbogen von Hofkabalen, Meuchelmorden und orientalischem Luxus sein, wie er auf dem Hintergrund imposanter Schlachtgemlde einer publikumswirksamen Trivialhistorie als Staffage dient. Was unser Interesse verdient, ist die historische Rolle von Byzanz mit ihren

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weitreichenden Wirkungen, sind die grundstzlichen Probleme und durchgngigen Strukturen der byzantinischen Gesellschaft. Allein eine nahezu tausendjhrige Selbstbehauptung als Herrschaftssystem und Machtschwerpunkt ist ein ungewhnliches historisches Faktum. Unter den Grostaaten der Weltgeschichte hat nur das Chinesische Reich mit fast 2000 Jahren ungebrochener Kontinuitt eine lngere Lebensdauer aufzuweisen. Das berleben des Byzantinischen Reiches angesichts stndiger Bedrohung war weniger in der zuflligen Gunst uerer Umstnde begrndet als in einer hochorganisierten staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung; der byzantinische Staat gehrt zu den groen absolutistisch-brokratischen Herrschaftssystemen der Geschichte.1 Doch die historische Leistung von Byzanz erschpft sich nicht in solcher Selbstbehauptung als politisches System. Im Byzantinischen Reich entfaltete sich eine schpferische, intellektuell verfeinerte Kultur, die ber alle Krisenzeiten hinweg eine erstaunliche Regenerationsfhigkeit bewies. Bis ins Hochmittelalter hinein wahrte Konstantinopel seinen Rang als geistiges und knstlerisches Zentrum der europisch-nahstlichen Welt. Nur darum konnten auf das abendlndische Mittelalter, auf den Nahen Osten und vor allem auf den Balkanraum geschichtliche Wirkungen von einer auerordentlichen Vielfalt und Dichte ausgehen, die bis in die Gegenwart sprbar sind. Wenn sich byzantinische Geschichte als Verteidigung einer Lebensform2 beschreiben lt: Was war dann diese Lebensform? Welche Elemente und Krfte formten und vernderten durch Jahrhunderte die byzantinische Gesellschaft? Geschichte ist fortgesetzte Fragestellung solcher Art. Ihr besonderes Interesse gilt den Voraussetzungen, Formen und Ursachen gesellschaftlichen und geistigen Wandels dem Ineinandergreifen politischer, sozial-konomischer und kultureller Krfte in jenen Antrieben und Mechanismen, die angesichts vernderter uerer und innerer Bedingungen in einem etablierten sozialen System Formverwandlungen in Gang setzen. Eine die Identitt bis zur Unkenntlichkeit aushhlende Generalisierung ist dabei freilich genauso intellektuelle Falschmnzerei wie jene kurzschlssige Aktualisierung historischer Probleme, die uns eine Handlungsanweisung fr die Gegenwart verspricht. Gegen solche gngige Deformation der Geschichte den historistischen Mythos der Individualitt zu beschwren oder mit Ranke zu glauben, es genge zu sagen, wie es eigentlich gewesen sei, ntzt allerdings wenig. Sachgerechte historische Fragestellung bedarf einer die spezifisch historischen Denkkategorien befruchtenden wie kontrollierenden Kooperation mit den systematischen Sozialwissenschaften; sie kann auf Strukturanalyse und typologischen Vergleich nicht verzichten. Die Geschichte der byzantinischen Gesellschaft bietet unter solchem Aspekt ein aufschlureiches Beobachtungsfeld. In ihren permanenten Faktoren und bestimmenden Strukturen mischen sich typische Elemente, die einer vergleichenden Analyse zugnglich sind, und individuelle Zge, die durch die besonderen Bedingungen des byzantinischen Schicksals geprgt sind. Ein Problem stellt sich in einer traditionell geprgten Gesellschaft von so hoher

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Lebenszhigkeit in besonderer Schrfe: das der Adaptionsfhigkeit an vernderte Lebensbedingungen, der Mglichkeit von Reform und Wandel. Damit verknpft sich notwendig die Frage nach den Grnden fr die Widerstandskraft von Byzanz. Sie ist historisch von hherem Interesse als die so oft errterte Frage nach den Ursachen seines Niedergangs. Geschichtsschreibung bleibt der Versuch, die Entwicklung einer bestimmten Gesellschaft in der Zeit zu beschreiben. Prinzipiell setzt sich auch in Soziologie und Politikwissenschaft langsam die Einsicht durch, da Strukturanalysen ohne Bercksichtigung von Zeitfaktor und genetischem Aspekt wenig ergiebig sind. Am konkreten Fall Byzanz erweist sich bei schrferem Zugriff immer wieder, da eine rein analytischsystematische Aufarbeitung historischer Phnomene im Grunde auch typologisch unbrauchbar ist. Die bedeutende Rolle bestimmter durchgngiger Strukturen mag das politische und soziale System von Byzanz bei flchtiger Beobachtung statisch erscheinen lassen: aber im Grunde ist es ebensosehr durch Vernderung wie durch Beharrung gekennzeichnet. Elemente, Formen und Funktionen dieser Gesellschaft unterliegen vielfltigen, zum Teil tiefgreifenden Wandlungen, wenn auch das Tempo dieses Wandels in den einzelnen Phasen der byzantinischen Geschichte unterschiedlich ist. Darum verbieten sich in vielen Fllen generelle strukturanalytische Aussagen ber Byzanz es sei denn, man wendet jene Form der Generalisierung an, die Befunde nicht durch Vergleich ins rechte Licht rckt, sondern sie durch allzu hohen Abstraktionsgrad letztlich verschleiert. Entstehen und Entwicklung einer konkreten historischen Einheit zu beschreiben kann jedoch keinen Rckzug auf Schilderung der Ablufe bedeuten; der Horizont darf nicht durch bloe Ereignisgeschichte verstellt werden. Geschichtliche Darstellung ist zwar ihrem prinzipiellen Ansatz nach diachronisch und synthetisch. Doch schliet das formal wie inhaltlich synchrone Querschnitte, die analytische Funktionen erfllen, nicht aus. Ereignisgeschichte und Querschnitt sind fr eine sachgerechte historische Darstellung komplementr. Nur in ihrer Verbindung wird es mglich, mit den Ablufen zugleich Strukturen zu erfassen und nach Wirkfaktoren zu fragen tatschlich zu einer Lebensgeschichte des byzantinischen Staates zu kommen. Darum schien es geboten, in einem einleitenden Kapitel wenigstens einige der bergreifenden Fragestellungen und Gesichtspunkte zu skizzieren, deren eine Wrdigung der geschichtlichen Leistung von Byzanz heute nicht entraten kann. Der Herausgeber hat vor kurzem in dieser Reihe erklrt, fr die Zeit vom 4. bis zum 8. Jahrhundert msse der mittelmeerische Geschichtsproze und Kulturraum als Einheit betrachtet werden.3 Tatschlich wird nur in dieser synchronen Gesamtperspektive ein Grundzug der historischen Entwicklung in diesen Jahrhunderten deutlich: das Auseinanderbrechen der alten Welt des Imperium Romanum in drei neue Welten, die bei aller lange noch sprbaren, auf gemeinsamen Traditionen beruhenden Verwandtschaft klar getrennte Herrschafts- und Kulturbereiche mit eigenen geistigen, wirtschaftlichen und

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politischen Gravitationszentren bilden. Einer dieser drei neuen Bereiche ist Byzanz; sein Zentrum Konstantinopel. Fr die weitere Geschichte des byzantinischen Staatsund Kulturraumes und seines Ausstrahlungsbereiches sind aber trotz einer fortdauernden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Osmose die Wechselbeziehungen mit der historischen Umwelt nicht mehr in gleicher Weise grundlegend. Ein Wechsel der Perspektive bei gleichbleibendem Gegenstand ist daher nicht nur mglich, sondern in bestimmter Weise sogar von der Sache selbst her erfordert. Der Versuch, historischen Charakter und geschichtliche Rolle zu erschlieen und zugleich typologisch wichtige Elemente zu erfassen, macht die Darstellung der Geschichte von Byzanz als einer eigenen Geschichte notwendig. Einleitung: Byzanz als historisches Problem Zerfall und Untergang des Rmischen Reiches (E. Gibbon) oder Gre und Niedergang von Byzanz (Ch. Diehl): schon die Formulierung des historischen Themas zeigt den Wandel im Urteil ber Erfolg und Versagen, historische Rolle und Leistung von Byzanz. Geschichtsmythen sind zhlebig. Gibbons Entwurf der byzantinischen Geschichte als langdauernder Zerfallsproze einer groen klassischen Vergangenheit die denkwrdige Abfolge von Revolutionen, die im Lauf von fast 13 Jahrhunderten den soliden Bau menschlicher Gre allmhlich unterhhlte und schlielich zerstrte4 fgte sich nur allzu gut in den Verkrzungsproze der historischen Perspektive im 19. Jahrhundert. Aus nationalstaatlicher Blickenge erschien das Byzantinische Reich vom europischen Mittelalter her als bedeutungslos; aus klassizistischer Begriffsenge wurde es als orientalisch und dekadent gleich doppelt negativ bewertet. William Lecky formulierte im Jahre 1869 nur eine gngige Auffassung: Das allgemeine Urteil der Geschichte ber das Byzantinische Reich geht dahin, da es ohne Ausnahme die niedrigste und verchtlichste Form der Kultur darstellt, die es bisher gab ... Keine andere dauerhafte Zivilisation war so vllig aller Formen und Elemente der Gre bar ... Die Geschichte dieses Reiches ist eine monotone Reihe von Pfaffen-, Eunuchen- und Weiberintrigen, von Vergiftungen, Verschwrungen, allgemeiner Undankbarkeit und immerwhrendem Brudermord.5 Noch Arnold Toynbee war ein sptes Opfer dieses Begriffs einer ohne Schpferkraft und Originalitt dahinvegetierenden Gesellschaft, die sich dennoch tausend Jahre lang zu sterben weigert ein jeden Klassizisten erbitterndes rgernis. Hundert Jahre nach Lecky haben neue Kategorien historischen Verstehens ebenso wie eine intensive Detailforschung, die zunehmend auch Byzanz vor Byzanz (griechisch-hellenistische und sptrmische Grundlagen der byzantinischen Kultur) und Byzanz nach Byzanz (in der Geschichte der Balkanvlker und Rulands) in ihre Arbeit einbezog, das Bild der byzantinischen Gesellschaft und ihrer geschichtlichen Rolle nachhaltig verndert. Eine Anschauung von Byzanz als eigenstndigem historischem Gesamtphnomen ist gewonnen, deren zunehmend differenziertere Aspekte es oft schwierig machen,

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das Byzantinische zu benennen, ohne in inhaltslose Formeln oder blo negative Definitionen zu verfallen.6 Eine gewisse Fremdheit bleibt der byzantinischen Geschichte trotzdem. Der Grad unserer Distanz ist zwar geringer als gegenber der arabisch-islamischen oder der chinesischen Geschichte. Der Hintergrund gemeinsamer Traditionen im europischen Westen und byzantinischen Osten verfhrt sogar dazu, subtile und doch prinzipielle Unterschiede zu bersehen. Wer aber je byzantinische Kunst mit Ruhe betrachtet hat, mu sich von einem merkwrdigen Gefhl des Bekannten und zugleich Fremden Rechenschaft geben. Das geht nicht allein auf einen schon vor den Kreuzzgen einsetzenden Entfremdungsproze zwischen beiden Kulturbereichen zurck, fr den konfessioneller Antagonismus ebensosehr verantwortlich war wie ein stark antiwestlich akzentuierter byzantinischer Zivilisationshochmut. Mit entscheidend ist, da sich Byzanz keinem Begriff von Geschichte fgt, der den historischen Proze als Fortschritt versteht. Wir haben zwar Gibbons offen zur Schau getragenes, naivaufklrerisches Konzept des Fortschritts aufgegeben. Aber schon unser linearprogressives Verstndnis des (ursprnglich durchaus anders konzipierten) Abfolgeschemas Antike Mittelalter Neuzeit erweist zur Genge, wie sehr unsere Kategorien historischen Verstehens unbewut durch den Begriff einer Entwicklung als Fortschritt vorgeprgt sind. Das Verfallsschema ist nur die Kehrseite der Fortschrittskategorie und beide sind der Geschichte von Byzanz letztlich nicht angemessen.

I. Raum und Herrschaft Der Raum kann Geschichte so entscheidend prgen wie die Umwelt das Individuum. Ob es dabei wiederkehrende Gesetzmigkeiten gibt, ist umstritten; da aber im Einzelfall Byzanz bestimmte geographische Faktoren geschichtsbildend wirkten, ist unbezweifelbar. Die Grenzen des byzantinischen Staates entsprachen ursprnglich dem bei der Reichsteilung von 395 durch Theodosius geschaffenen Ostrmischen Reich. Diese Reichsteilung war kein bloer Akt administrativer Willkr. Griechischer Osten und lateinischer Westen des Imperium Romanum unterschieden sich lngst in Formen und Tiefenwirkung der Kultur ebenso deutlich wie in ihrer wirtschaftlichen und demographischen Lage. Grere Menschenreserven und hhere Produktivkraft verliehen der stlichen Reichshlfte eine berlegene Widerstands- und Regenerationskraft. Das wurde grundlegend fr den Verlauf der byzantinischen Geschichte. Der ursprngliche byzantinische Herrschaftsraum war stndigen Wandlungen und am Ende einem drastischen Kontraktionsproze unterworfen. In der justinianischen Zeit reichte er von Spanien zur syrischen Wste, von der Donau und vom Schwarzen Meer zur Kste von Nordafrika. Die auenpolitische

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Katastrophe des 7. Jahrhunderts brachte den Verlust der afrikanischen und asiatischen Provinzen auer Kleinasien und fast des gesamten Balkans. Auf eine erneute Expansion durch die Reconquista der makedonischen Kaiser folgte die Verfallszeit der Palaiologen-Dynastie, in der das byzantinische Territorium nur noch die Umgebung der Hauptstadt und einige kleine Gebiete in der Peloponnes umfate. Als entscheidende Kernzonen erwiesen sich in dieser Entwicklung Kleinasien, Griechenland und die angrenzenden Regionen des sdlichen Balkans, wo besonders Makedonien und Thrakien eine wichtige Rolle als Kornkammer und Menschenreservoir spielten. Der Einflubereich byzantinischer Kultur hat dagegen stets die 395 gezogenen Grenzen umfat und noch ber sie hinausgegriffen. Damit wurde eine ursprnglich nur als Verwaltungsgrenze gedachte Trennlinie zu einem bis heute in der Geschichte der Balkanlnder nachwirkenden Faktor: weil die Dizesen Macedonia (das heutige Griechenland) und Dacia (das sdliche Serbien) dem Ostreich zugeschlagen wurden, gerieten weite Teile des slawischen Balkans unter byzantinischen und nicht unter westeuropischen Kultureinflu. Die demographische Struktur des byzantinischen Herrschaftsraumes ist beim Fehlen statistischer Daten nur in Umrissen erfabar. Fr die Einwohnerzahl, ihre Schwankungen und ihre regional verschiedene Dichte gibt es lediglich allgemeine Anhaltspunkte. Im 4. Jahrhundert erreichte die Gesamtbevlkerung des Imperiums wohl knapp ein Viertel der modernen Bewohnerzahl des gleichen Gebiets; die stlichen Provinzen, vor allem Kleinasien, Syrien und gypten mit ihren zahlreichen Stdten, waren dabei zweifellos dichter besiedelt.7 Wieweit wiederkehrende Seuchen, Hungersnte und auenpolitische Katastrophen im Byzantinischen Reich zu einem Bevlkerungsrckgang fhrten, lt sich mit Zahlen nicht belegen. Genausowenig ist die ethnische Zusammensetzung der Reichsbevlkerung im einzelnen zu bestimmen. Sie war schon im Imperium Romanum uneinheitlich und schwer erkennbaren Verschiebungsprozessen unterworfen. Noch mehr gilt das fr den byzantinischen Staat, dem der Begriff der Nationalitt fremd war und der immer wieder (etwa in der slawischen Landnahme) neue ethnische Faktoren zu assimilieren hatte.

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Abb. 1: Das Imperium Romanum in seiner grten Ausdehnung und die territoriale Entwicklung des Byzantinischen Reiches

Klar erkennbar ist dagegen ein wirtschaftliches Geflle. In den Ostprovinzen mit ihrer hheren Bevlkerungsdichte und strker entwickelten stdtischen Struktur lag seit langem der Schwerpunkt von gewerblicher Produktivitt, Kapital und Steuerkraft. Sie besaen nicht zuletzt dank der engen Verbindungen mit den angrenzenden Lndern des Orients die wichtigsten Zentren von Gewerbe und Handel. Hier war das Bank- und Kreditwesen hher entwickelt als in den westlichen Provinzen, die eher als Mrkte und Rohstofflieferanten fungierten. Die Krise der Vlkerwanderung hat die wirtschaftliche berlegenheit und hhere Stabilitt des stlichen Reichsteils noch verstrkt. Im Westen gingen mit der Auflsung der sptrmischen Verwaltung Wirtschaft, Verkehr und Finanzpotential zurck. In Kleinasien, Syrien und gypten war dagegen die konomische Situation der Landwirtschaft wie der groen stdtischen Zentren kaum tangiert. Mit der politischen Umwelt Roms bernahm der byzantinische Staat auch gravierende auenpolitische Probleme des Imperiums. Entscheidende Landgrenzen von Byzanz lagen in zwei traditionellen Krisenrumen: an der unteren Donau und in Syrien-Armenien. Durch Jahrhunderte andauernder politischmilitrischer Druck in diesen Zonen machte den Zweifronten- Krieg zu einer Konstante byzantinischer Geschichte. An der Donau-Grenze gelang es zwar zunchst, den Sto der germanischen Vlkerwanderung nach Westen abzulenken. Doch seit dem 6. Jahrhundert schuf die slawische Landnahme auf dem Balkan einen noch greren und dauerhafteren Gefahrenherd. Nach Osten besa die rmische Welt seit langem ein dichtes Netz wirtschaftlicher und

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kultureller Verbindungen. Aber zugleich war sie seit dem 3. Jahrhundert im Perserreich der Sassaniden mit einem hochzivilisierten, straff organisierten Staatswesen konfrontiert, dessen Anspruch auf die politische Kontrolle des syrisch- kleinasiatischen Raums zum stndigen Konflikt fhren mute. Auch hier wechselte mit der Vernichtung des Sassanidenreiches durch das Kalifat im 7. Jahrhundert nur der Gegenspieler, nicht die politische Grundkonstellation; arabische und spter trkische Armeen lsten die persische Panzerreiterei ab. Zwei geographische Faktoren vor allem bedrohten angesichts dieser auenpolitisch-strategischen Konstanten Bestand und Widerstandskraft des Byzantinischen Reiches: die Randlage der reichsten und fruchtbarsten Gebiete (Nordafrika, gypten und Syrien) und das Fehlen natrlicher Barrieren, die an der Donau wie in der syrischen und afrikanischen Wste eine wirksame Verteidigung der Reichsfronten erleichtert htten. Beide Momente wurden mit entscheidend fr den schnellen Verlust der Ostprovinzen und Afrikas im 7. Jahrhundert und damit fr die Beeintrchtigung der ursprnglichen gnstigen Wirtschaftslage des Reiches. Als positive Faktoren erwiesen sich dagegen die gnstigen geographischen Voraussetzungen fr eine Seeherrschaft im Mittelmeer und vor allem die starke Defensivposition des Kerngebietes Kleinasien, das neben Thrakien wichtigstes Menschenreservoir war. Das kleinasiatische Hochland ist nach Sdosten durch die Taurus- und AmanusBarriere abgeschirmt, ebenso an der gefhrdeten Sdkste weithin durch steil zum Meer abfallende Gebirgszge geschtzt. Das eigentlich militrgeographische Problem liegt in Armenien, das im Gegensatz zur Sdostfront gut passierbare Taldurchgnge aufweist. Ein zentraler geopolitischer Faktor der byzantinischen Geschichte war die Situation der Hauptstadt: mehr als tausend Jahre lang war Konstantinopel dank der auergewhnlichen Vorteile seiner Lage Lebenszentrum und letzte Widerstandszelle des Reiches. Schon der arabische Staatsphilosoph Ibn Khaldun sah in der Rolle der byzantinischen Hauptstadt seine Theorie von der Funktion dynastischer Zentren besttigt.8 Eine dominierende Mittelposition zwischen Asien und Europa machte Konstantinopel geographisch zur Reichszentrale, erlaubte notfalls aber auch eine Abriegelung der Ostgebiete vom Balkan. Mit der strategischen Hauptverbindung zwischen den persischen und den germanischslawischen Fronten beherrschte die Stadt auch den wichtigen Landhandelsweg zwischen Donaubecken und Euphrat. Zugleich lag sie fr Seekriegfhrung und Seehandel gleichermaen gnstig zwischen Schwarzem Meer und gis, mit direkten Verbindungen nach Syrien, gypten, Nordafrika und Italien. Stndig modernisierte Verteidigungsanlagen machten den grten Handelsplatz des Mittelmeeres auch zur strksten Festung, die im Lauf ihrer langen Geschichte nur zweimal erobert werden konnte (1204 und 1453). Konstantins auf politischen, wirtschaftlichen und strategischen Erwgungen basierende Entscheidung, im Jahre 330 die neue Reichshauptstadt an der Stelle des alten Byzantion am Bosporus zu begrnden, erwies sich im Wechsel der

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Geschicke immer wieder als richtig. Sie akzentuierte die Gewichtsverlagerung im Imperium, die ebenso durch die wirtschaftliche berlegenheit der stlichen Reichshlfte wie durch die militrische Lage bedingt war. Aber zugleich spielten religise und religionspolitische Motive mit: die neue Hauptstadt sollte frei von der Last heidnischer Traditionen und berlebter politischer Erinnerungen sein. Das zweite Rom, in dem ein ffentlicher heidnischer Kult nicht mehr erlaubt war, war ein christliches Rom. II. Die historische Rolle von Byzanz Das sptrmische Imperium des 4. und 5. Jahrhunderts umspannte die gesamte mediterrane Kulturwelt mit ihren durch Rom erschlossenen Randgebieten von Schottland bis zur Sahara, von der marokkanischen Atlantik-Kste bis zum oberen Euphrat. In der Krise der Vlkerwanderung zerfiel der Westen des Reiches in eine Gruppe germanischer Feudalstaaten. In den stlichen Provinzen dagegen lebten in einem nach absolutistischen und zentralistischen Prinzipien organisierten Herrschaftssystem staatliche Ordnung, Rechtsnormen und politische Ideen des Imperium Romanum weiter; damit verbanden sich das Christentum griechischer Prgung und eine hellenistische, stark durch orientalische Einflsse gefrbte Kultur. Aus der Synthese dieser Traditionen erwuchs ein historisches Gebilde von erstaunlicher Lebensflle und Regenerationskraft. Als politische und wirtschaftliche Gromacht wie als Kulturpotenz besa das Byzantinische Reich als Erbe Roms lange eine dominierende, anfnglich sogar eine einzigartige Position. In einer Zeit der Dezentralisation und der lokalen Horizonte lag hier das eigentliche historische Kraftfeld des Raumes; das neue Rom war sein bestimmendes geistiges Zentrum. Der Aufstieg des Islam setzte der zweihundertjhrigen Rolle von Byzanz als einziger Weltmacht am Mittelmeer ein Ende. Aber bis zum Ausgang des Hochmittelalters blieb das Byzantinische Reich der Staat mit der wirksamsten Verwaltung, dem schlagkrftigsten Heer und der grten Finanzkapazitt im europischmediterranen Raum; bis zum Erstarken der Seerepubliken Genua und Venedig spielte es die fhrende Rolle im Mittelmeer- und Orienthandel. Konstantinopel war unbestritten die Hauptstadt der europischen Kultur. Selbst als mit den Kreuzzgen der religise Gegensatz zwischen lateinischem Westen und griechischem Osten auf das politische Gebiet bergriff und der Konflikt mit den westlichen Staaten entscheidend zum Niedergang beitrug, bte das Byzantinische Reich noch fr 250 Jahre eine dreifache geschichtliche Funktion aus: Abwehr gegen den Islam, berlieferung der griechischen Kultur und geistige Vermittlung zwischen Abendland und Orient. An den Folgen des Vakuums, das nach dem Fall von Konstantinopel fr die Balkanlnder entstand, lt sich die Bedeutung der achthundertjhrigen Abwehrleistung auf den Schlachtfeldern von Syrien, Armenien, Sizilien und

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Kleinasien ablesen. Doch diese passive Funktion eines christlich-orientalischen Pufferstaates, hinter dessen Schirm sich Staatenwelt und Kultur der germanischromanischen Vlker Mitteleuropas entfalten konnten, wird oft zu einseitig in den Vordergrund gerckt. Die geschichtliche Rolle von Byzanz beschrnkte sich nicht auf die bloe auenpolitisch-militrische Selbstbehauptung einer Promachie gegen den Islam (Jacob Burckhardt). Seine Schlsselrolle in dem groen weltgeschichtlichen Wirkungszusammenhang einer jahrtausendealten Auseinandersetzung zwischen Ost und West, Orient und Okzident, ist begrndet in einer geistigen Selbstbehauptung angesichts des Absterbens der antiken Kultur im Westen und des Aufbruchs des Orients im Islam. Byzanz wirkte nicht blo als Wahrer der klassischen Tradition in Krisenzeiten, als Verwalter eines geschtzten Bereichs, in dem griechisch-hellenistische Literatur, Wissenschaft und Kunst berleben konnten. In einem schpferischen Aneignungsproze entstand aus der Verbindung von griechischem Erbe, christlichen Traditionen und orientalischen Elementen die brillanteste und leistungsfhigste Kultur des frhen Mittelalters. Die Fhigkeit von Byzanz, einen bedeutenden Einflu auf die Formation angrenzender Kulturen auszuben, entspringt dieser berlegenheit geistiger Leistungen und knstlerischer Schpfungen, nicht allein seiner machtpolitischen Stellung oder den unbezweifelbaren Attraktionen seiner materiellen Zivilisation. Radius und Tiefenwirkung der byzantinischen Ausstrahlung differieren. Der Islam, das mittelalterliche Europa wie die slawischen Vlker des Balkans gehren in ihren Bereich. Selbst nach dem politischen Untergang von Byzanz dauert sie in der griechischen Orthodoxie wie in der Geschichte der slawischen und russischen Vlker fort. In der griechischen Kirche ist byzantinische Tradition bis heute direkt fabar: Dogma, Struktur der Frmmigkeit und Kunst sind reines Erbe von Byzanz. Doch auch die Geschichte der Araber und Trken (und damit in einer gewissen Hinsicht des modernen Nahen Ostens) ist nicht begreifbar ohne die Wirkungen von Byzanz auf Staat und Kultur des Islam eine Tatsache, die schon im 14. Jahrhundert ein so unverdchtiger Zeuge wie Ibn Khaldun festgestellt hat. Die geschichtlichen Wirkungen auf Politik, staatliche Ordnung und Kultur der mittelalterlichen Staatenwelt Westeuropas waren vielfltig. Das Byzantinische Reich griff nicht nur machtpolitisch in die Konflikte der westlichen Reiche ein. Es hat ihr Herrscherzeremoniell, ihren politischen Stil und ihre politischen Ideen ebenso beeinflut wie durch den Einstrom byzantinischer Waren und Luxusgter ihre materielle Kultur. Am nachhaltigsten aber wirkte Byzanz auf Kunst und geistige Welt des frhen und hohen Mittelalters ein. Das ist in der karolingischen und ottonischen Kunst ebenso fabar wie in der Entwicklung der Kirchenmusik und des Mnchtums. Sekundre Zentren einer solchen Ausstrahlung waren zeitweise von Byzanz beherrschte Gebiete wie Venedig und Unteritalien. Hier hat der kulturelle Einflu das Ende der politischen Herrschaft lange berdauert. Die Rolle der vor den Trken nach Italien flchtenden

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byzantinischen Gelehrten fr die Entstehung der Renaissance ist freilich lange berbewertet worden. Die italienische Renaissance war in erster Linie ein lateinisch-rmisches Phnomen, in ihrer an den klassischen griechischen Leistungen orientierten Kunst sogar durchaus antibyzantinisch. Dennoch reicht byzantinischer Einflu ber die Gestaltung der mittelalterlichen Welt hinweg in die Formation des modernen Europa hinein; wesentliche Elemente seiner Kultur entstammen griechisch-rmischen, durch Byzanz bewahrten und vermittelten Traditionen. Weitreichender und im Vergleich mit dem Westen ungleich tiefer und dichter war die Ausstrahlung byzantinischen Daseins auf die slawischen Vlker und Ruland. Im Moment der slawischen Landnahme war der Balkan ein weithin verwstetes geistiges Niemandsland, die Neuankmmlinge selbst fast ohne Tradition hherer Kultur. Um so eindringlicher war durch Jahrhunderte die auch im persnlichen Erleben einzelner Slawen aufzuweisende Wirkung der Metropole Byzanz; Konstantinopel wurde fr sie gleichbedeutend mit Kultur. Direkte politische Herrschaft, gezielte Mission und die auergewhnliche Fhigkeit, fremde Eliten zu byzantinisieren, setzten einen Durchdringungsproze in Gang, der sich ebenso nachhaltig politisch wie religis und kulturell auswirkte. Serben, Kroaten, Bulgaren, Ungarn und Russen wurden nicht nur in der spezifischen Form ihres christlichen Glaubens und in ihrer volkssprachlichen Liturgie, sondern viel umfassender in ihrer geistigen und knstlerischen Welt durch den byzantinischen Kulturtyp geprgt, wie das etwa Malerei und Kirchenbau bezeugen. Was Rom fr die germanischen Vlker des Westens bedeutete, war Byzanz fr die slawische Welt: die Quelle von Religion und Kultur. Das Byzantinische Reich ist damit entscheidend verantwortlich fr die geistige Grenzscheide zwischen Mittel- und Osteuropa. Fr die Slawen unter trkischer Herrschaft wurden, wie fr die Griechen, orthodoxer Glaube und byzantinisch geprgte Kultur ein Medium nationaler Selbstbehauptung. Das aber schuf ein bis heute auch politisch wirksames historisches Faktum. Die Welt der slawischorthodoxen Christenheit verfgt als Erbe von Byzanz bei allen machtpolitischideologischen Differenzen ber grundlegende Gemeinsamkeiten in Denken und Weltsicht. Hier ist eine eigene Form europischer Kultur entstanden, die Renaissance, Aufklrung und industrielle Revolution nicht durchmachte und dann pltzlich im spten 19. Jahrhundert diese historische Lcke berspringen mute. Ein Verstndnis Rulands ist zu einem gewissen Grade von der Einsicht in solche historischen Bedingtheiten abhngig. Orthodoxe und byzantinische Traditionen leisteten der Einigung der russischen Vlker unter Moskau Vorschub; mit dem Anspruch, das dritte Rom zu sein, begrndete es seine Fhrungsrolle im slawischen Osten. Das russische Sendungsbewutsein ist vielleicht die heute noch am strksten sprbare geschichtliche Fernwirkung von Byzanz.

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III. Die Fhigkeit zu berleben: Politische und soziale Strukturen Die Ursachen des Niedergangs von Byzanz sind lange diskutiert worden. Doch bedeutsamer scheint die Frage nach den Bedingungen und Krften, die angesichts stndiger Bedrohung von auen und innen Leistung, Dauer und berleben mglich machten. In den groen Themen und durchgngigen Strukturen der byzantinischen Geschichte werden neben Elementen von Schwche und Zerfall auch die Krfte sichtbar, die zu Widerstand, Stabilisierung und Wandel befhigten. Unter diesen Elementen der Lebenskraft spielte angesichts der Gre wie der ethnischen und religisen Komplexitt des byzantinischen Staates die Struktur des politischen Systems eine entscheidende Rolle. Machtpolitische Selbstbehauptung gehrt zum Leben jedes Staates. Doch selten hat sie eine so dominierende und zum Teil dramatische Rolle gespielt wie in der Geschichte von Byzanz. Phasen der berlegenheit und Expansion wechselten mit Zeiten der Defensive und der Gebietsverluste. Im Grunde kam das Reich aus der Situation stndiger Abwehrkmpfe im Osten und auf dem Balkan nie heraus. Die Bewahrung der politischen Einheit und der Weltstellung als Gromacht zwischen den Staaten des Orients und des germanischromanischen Westens hat daher militrisch wie finanziell stndig erhebliche Krfte der byzantinischen Gesellschaft gebunden. Der Krieg hat genauso wie die Religion ihre innere Entwicklung in vielfacher Weise geprgt. Der imperiale Anspruch von Byzanz berforderte Mglichkeiten und Krfte des Staates und wirkte darum auf die Dauer als ein Faktor des Zerfalls. Doch er entsprang einer tief verwurzelten Ideologie, in der sich heterogene Elemente zu einer kompakten politischen Theologie verbanden. Byzanz verstand sich als Hter einer politischen Tradition, fr die in Nachfolge der orientalischen Weltreichsidee Herrschaft im Grunde eins und unteilbar war. Da Macht in dieser Welt nur legitim sei, wenn sie von dem einen Kaiser in Konstantinopel delegiert werde dieser Anspruch wurde nie aufgegeben, so irreal und skurril er in spterer Zeit war. Der byzantinische Herrschaftsanspruch war freilich tiefer begrndet als nur in der antik-rmischen Staatstradition. Die Verbindung der imperialen Idee mit dem Gedanken der christlichen Politeia machte das Reich im Bewutsein seiner Herrscher und Brger zu einer nicht nur auf machtstaatliche Kategorien und Faktoren gegrndeten Ordnung. Reich und Kaiserherrschaft galten als Endziel eines gttlichen Planes mit dieser Welt. Im christlichen Imperium als notwendigem Teil der Heilsgeschichte waren Rmerreich und Gottesvolk zu einer Gemeinschaft geworden. Die berzeugung, da das Reich dem Willen Gottes entsprang, mute weitreichende Folgen fr die Deutung seiner geschichtlichen Aufgabe haben. Der Anspruch des Staates ging nicht nur auf Behauptung der Herrschaft; sein Auftrag war zugleich Schutz und Verbreitung des wahren Glaubens. Weil das Reich gttliche Ziele fr die Menschheit verwirklichte, stand es unter dem Schutz der Engel und Heiligen. Die kaiserlichen Heere fochten unter Christus-Monogramm und Marien-Ikonen;

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bernatrliche Hilfe war zu erwarten, wenn es um die Verteidigung des Reiches als der christlichen Gesellschaft ging. Auch fr die Ordnung von Staat und Gesellschaft in Byzanz hatte diese politische Theologie grundlegende Konsequenzen: dem Herrscher als Instrument Gottes war die Bewahrung der rechten Ordnung sozialen Lebens aufgegeben. Schon die hellenistische Staatstheorie begriff die absolute Herrschaft des Monarchen als imitatio Dei, den recht geordneten Staat als Abbild des Kosmos. Diese philosophische Begrndung des Absolutismus mit der Deutung des Herrschers als Mandatar der hchsten Macht wurde vom Christentum bernommen und durch die alttestamentliche Idee der gttlichen Erwhlung des Knigs zustzlich begrndet. Wie das Reich einen gttlichen Auftrag erfllte, so war der kaiserliche Herrschaftsanspruch auf die Gnade und den Willen Gottes gegrndet. Der rechtglubige Herrscher war Stellvertreter Gottes auf Erden und Gesalbter des Herrn, seine Untertanen waren idealiter alle Christen. Der kaiserliche Absolutismus des berkommenen politischen Systems war so nicht nur machtpolitisch, institutionell und staatsrechtlich fundiert, sondern zugleich ideologisch- religis. Politische Struktur wurde verstanden als Abbild des himmlischen Knigreiches: wie es nur einen Gott gibt, kann es nur einen Kaiser geben nur eine zentral e Entscheidungsinstanz: Alles hngt von der Weisheit des Kaisers ab, und mit Gottes Hilfe werden durch kaiserliche Frsorge alle Dinge beschtzt und erhalten.9 In seinen Hnden war alle Autoritt konzentriert: er war alleiniger Ursprung der Macht, einzige Quelle des Rechts und regierte mit unumschrnkter Gewalt. Den gttlichen Ursprung der kaiserlichen Autoritt verkndeten Predigten und Schriften der Kirche ebenso wie Kaisermnzen und Hofzeremoniell. Insignien und Zeremoniell, ursprnglich unter starkem persischem Einflu ausgebildet, hatten keine bloe Reprsentationsfunktion, sondern besaen fr die Untertanen eine tiefe Symbolik. Das perlengestickte Diadem, der gold- und edelsteinverzierte Purpurmantel, das Zepter genauso wie der Kniefall der Untertanen, der Weihrauch und die von eigenen Palastchargen gewahrte feierliche Ruhe bei Amtshandlungen: all das manifestierte die dem gewhnlichen Leben weit entrckte Majestt des Herrschers. Durch das rhmenswerte System unseres Hofzeremoniells wird die kaiserliche Macht in groer Pracht und Schnheit dargestellt; sie erfllt fremde Vlker wie unsere eigenen Untertanen mit Bewunderung.10 Hofzeremoniell hat keine andere Qualitt als ein Gottesdienst in der Kirche: es ist imperiale Liturgie. Politisches Bewutsein dieser Art mute ein entschieden traditionalistisches politisches Denken befrdern. Zwar wurden Mibrauch der Herrschaft, innenpolitische Mistnde und auenpolitische Entscheidungen in Konstantinopel hufig leidenschaftlich diskutiert. Aber grundstzlich blieb der von Gott gewollte christliche Absolutismus fr Herrscher und Untertanen eine unbestrittene Selbstverstndlichkeit des Lebens. Andere Formen politischer Ordnung erschienen (wie das Eusebios im Hinblick auf die Demokratie

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formulierte) als Chaos und Skandal. Abgesehen von einigen eher abstrusen Staatsentwrfen der Sptzeit gab es darum im Byzantinischen Reich keine politische Theorie als Errterung mglicher alternativer Systeme: das schien so sinnlos wie berflssig. Aus dem Verstndnis kaiserlicher Herrschaft als Theokratie ergab sich das Beharren auf einem bestimmten politischen und sozialen System. Die politischen Strukturen der frhbyzantinischen Gesellschaft entstammten genauso wie ihre sozialen Formen und wirtschaftlichen Grundlagen dem Imperium Romanum Christianum. Indem aber im Zusammentreffen von historischer Situation und politischer Theologie der sptrmische Staat Diocletians und Konstantins als Erfllung eines eschatologischen Heilsplanes begriffen wurde, erhob man eine durchaus zeitbedingte Lsung politischer und sozialer Probleme zu einer berzeitlichen Norm, einem metaphysisch legitimierten Idealtypus von Herrschaft und gesellschaftlicher Ordnung. Das wurde von unabsehbarer Bedeutung fr den Charakter des byzantinischen Lebens und das Schicksal der byzantinischen Gesellschaft, weil auch grundlegende Faktoren der wirtschaftlichen und sozialen Situation sich durch Jahrhunderte kaum vernderten. Bei allem Wandel in Staat und Gesellschaft blieben bestimmte Strukturen, Konstanten und Konflikte in der byzantinischen Geschichte dauernd wirksam. Wie der Herrschaftsanspruch der rmischen Reichsidee erhielt sich das Herrschaftssystem eines zentralistisch-brokratischen Absolutismus bis in die Sptzeit. Ebenso bestndig war das Geflle zwischen Bedarf und Produktion, die komplementre Tendenz zur wirtschaftlich-sozialen Reglementierung und die bedeutende Rolle des Grogrundbesitzes. Der autokratische Absolutismus erwies sich fr fast tausend Jahre als Grundzug und entscheidendes Stabilisierungselement des politischen Systems von Byzanz. Die Idee der Herrschaft kraft gttlichen Rechts gab der kaiserlichen Autoritt eine transzendente Legitimation, die den Staat der Willkr der Armee entzog. Dennoch blieb dieses hufig unzuverlssige Machtinstrument der entscheidende Machtrckhalt, zumal ein dynastisches Prinzip erst in der Sptzeit anerkannt wurde. Es gab zwar immer wieder eine verhltnismig dauerhafte Nachfolgesicherung durch das Adoptions- und Kooperationsrecht des regierenden Kaisers. Doch im Prinzip blieb die byzantinische Monarchie eine Wahlmonarchie, in der jedermann ohne Qualifikation der Geburt oder der Ausbildung den Thron besteigen konnte. Bei der Einsetzung eines neuen Kaisers wirkten die Akklamation durch die Armee, den Senat und das Volk von Konstantinopel zusammen; de facto wurde die entscheidende Wahl meist von der Armee, seltener von einflureichen zivilen Funktionren getroffen. Ein militrischer Staatsstreich hat in der Tat einige der besten Kaiser von Heraklios bis Nikephoros Phokas auf den Thron gebracht. Die byzantinische Theorie der Herrschaft war allerdings nicht die einer einfachen weltlichen Wahlmonarchie: der Kaiser war zugleich von Gott erwhlt. Die Akklamation bedurfte der kanonischen Besttigung durch Krnungsriten,

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die seit Leon I. (474) der Patriarch von Konstantinopel durchfhrte. Diese religise Sanktionierung der Autoritt des Statthalters Gottes war immerhin so wichtig, da sie in manchen Fllen durch religionspolitische Zusagen erkauft wurde. Die eigentmliche Konzeption der Kaiserwahl erlaubte es brigens, in diesem streng absolutistischen System auch Revolte und Absetzung des Herrschers zu legitimieren, indem Armee, Senat und Volk einen neuen Kaiser anstelle des alten inkompetenten Herrschers proklamierten. In der Theorie gab es kein Gegengewicht gegen eine exzessive Machtausbung des Kaisers. Die Kontrolle ber einen umfangreichen und straff zentralisierten Verwaltungsapparat garantierte auch im Regelfall zusammen mit der Verfgung ber die Armee die Durchsetzung des kaiserlichen Willens. Dennoch stie die Autokratie in der politischen Realitt auf deutliche Schranken; zu viele gelungene Staatsstreiche erweisen, wie instabil die Position der byzantinischen Krone war. Der Versuch, ein zentralisiertes politisches System zu schaffen, traf wie in vergleichbaren historischen Situationen auf die Opposition bestimmter politischer und sozialer Gruppen. Strkster Gegenspieler der Kaisermacht war die groe grundbesitzende Aristokratie; auf der Bewahrung einer delikaten Balance zwischen dieser Klasse und dem kaiserlichen Verwaltungsapparat beruhte die Sicherheit der Herrschaft. Genauso wirkten die Armee und die Kirche mit ihren Mglichkeiten der Massenbeeinflussung als machtbeschrnkende Elemente. Der Einflu der Kirche auf den Kaiser ist trotz ihrer im ganzen staatsfrommen Haltung nicht zu unterschtzen; schlielich konnte schon der Besitz des Patriarchen ber das Schicksal eines Herrschers entscheiden. Aber vielleicht mehr als diese realpolitischen Momente beschrnkte das Gesetz die kaiserliche Autokratie. Der Herrscher war zwar die Quelle allen Rechts. Aber immer wieder haben die Kaiser eine hhere Souvernitt des Rechts anerkannt und ihre Verpflichtung betont, die fundamentalen Stze des rmischen Rechts zu achten. Nicht zuletzt darum war die Kaiserherrschaft im Verstndnis der Byzantiner keine willkrliche Tyrannei. Das nderte freilich nichts daran, da der byzantinische Staat durch eine einheitliche, berall gltige Rechtsordnung und durch eine ausgedehnte Reichsverwaltung bis ins letzte Dorf alle Lebensbereiche zu beherrschen suchte. Ein hochorganisierter und komplexer Herrschaftsapparat erfllte und koordinierte vielfltige Funktionen: auswrtige Politik und Diplomatie, Fhrung und Versorgung der Streitkrfte, Regulierung der Whrung, Erfassung von Steuern und Abgaben wie Kontrolle des sozialen und wirtschaftlichen Lebens berhaupt. Die byzantinische Verwaltung war in vieler Hinsicht eine bemerkenswerte Institution: ungemein kostspielig, sprichwrtlich korrupt, in Geist und Methoden durchaus reaktionr wie alle Brokratien aber doch fr Jahrhunderte die wirksamste administrative Organisation der europischnahstlichen Welt. Ihre Existenz war ein Hauptelement der Stabilitt und Lebensdauer des Reiches; unter unfhigen Kaisern wie whrend innenpolitischer Krisen und Palastrevolutionen arbeitete sie unbeeindruckt weiter und bewahrte

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die staatliche Kontinuitt. Das Weiterleben traditioneller Titulaturen erweckt dabei zu Unrecht den Eindruck eines statischen Systems. Die byzantinische Reichsverwaltung hat sich vielmehr bei aller Schwerflligkeit im Verlauf der Entwicklung als verhltnismig flexibel und anpassungsfhig erwiesen. So wurde etwa das sptrmische Prinzip der Trennung ziviler und militrischer Gewalt unter den vernderten Bedingungen des 7. Jahrhunderts aufgegeben. Bestimmte Grundzge der von Diocletian und Konstantin geschaffenen Herrschaftsstruktur blieben aber trotz Vernderung und Reform lange wirksam: Zentralismus, Brokratisierung und umfassende Kontrollmechanismen im administrativen Gefge; Verklammerung zentraler Instanzen mit einer durchgegliederten Regionalverwaltung; hierarchische Abstufung und differenzierte Aufgabentrennung in den Verwaltungsfunktionen; Sonderrolle des Hofes mit seinen einflureichen Palastwrdentrgern als Nebenregierung Elemente, die den Sachzwngen der Komplexitt in einem Staat dieser Gre wie dem Mitrauen des Absolutismus gegen seinen eigenen Apparat Rechnung trugen. Zwei weitere, durch Jahrhunderte erfolgreiche Faktoren byzantinischer Selbstbehauptung waren Diplomatie und Streitkrfte. Die Methoden byzantinischer Auenpolitik eine wohlberlegte Mischung von Gewalt, Nachgiebigkeit und Geld entwickelten bewhrte rmische Traditionen weiter (vgl. unten S. 70), die sich dann ins Osmanische Reich vererbten. Sie trugen entscheidend dazu bei, den Einflubereich von Byzanz auszuweiten und sein internationales Prestige aufrechtzuerhalten. Die byzantinische Flotte besa zeitweise eine dominierende Position im Mittelmeer. An den Landfronten mit ihrem stndigen Kriegsrisiko erwies sich eine verhltnismig kleine, aber mobile und hochtrainierte Berufsarmee fr lange Zeit als modernstes und bestes Kriegsinstrument in Europa und im Nahen Osten. Verwaltung, Diplomatie und Streitkrfte setzten eine hohe Wirtschaftskraft und eine effiziente Finanzverwaltung voraus. Darum blieb der Drang, alle Lebensuerungen der Untertanen, vor allem ihre Wirtschafts- und Steuerkraft, bis ins einzelne durch genaue Unterlagen zu erfassen, ein Merkmal des byzantinischen Staates bis in seine Sptzeit. Eine solche Politik war weniger brokratischer Selbstzweck als bitter notwendige und am Ende vergebliche Reaktion auf zwei Konstanten der byzantinischen Geschichte. Die in Jahrhunderten grundstzlich wenig vernderte innen- und auenpolitische Situation erzwang den Unterhalt eines umfangreichen Herrschaftsapparates und zugleich eine dauernde Grenzverteidigung; daraus resultierte ein stndiger hoher Finanzbedarf. Dem stand trotz der lange fast unerschpflich scheinenden Wirtschaftskraft von Byzanz ein im Grunde verhltnismig schwaches konomisches System gegenber. Das war durch den agrarischen Grundcharakter der byzantinischen Wirtschaft und durch die begrenzte Produktionsleistung der Landwirtschaft bedingt. Ein immer wieder sprbares Geflle zwischen Bedarf und Erzeugung hatte einschneidende Wirkungen. Es

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zwang den Staat zu intensiver Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die Reichsverwaltung diente nicht zuletzt als ein kompliziertes Abgabenerfassungssystem mit umfassenden Kontrollfunktionen; die Erfassung und Erschlieung wirtschaftlicher Reserven zhlte zu den wichtigsten Aufgaben der Brokratie. Es gelang auch zeitweise, die Wirtschaft zu aktivieren und die Whrung zu stabilisieren. Aber mit dem dauernden Anstieg der Kosten von Brokratie und Armee wurde mehr und mehr ein Dirigismus zum dominierenden Prinzip, der durch restriktive Regelungen und fiskalistische Ausbeutung die binnenwirtschaftlichen Initiativen einschrnkte. Da dieser Dirigismus die eigentlichen Strukturmngel weder sah noch bekmpfte, nderte sich die konomische Grundsituation qualitativ nie. Das Byzantinische Reich verfgte zwar ber eine ausgewogenere und komplexere wirtschaftliche Struktur als der Westen. Die konomische Rolle der Stdte mit ihren vor allem auf Gewerbe und Handel basierenden Produktionsformen war keineswegs unerheblich, wenn auch regional verschieden. Doch selbst in den am strksten urbanisierten Provinzen waren die Stdte am Gesamtsteueraufkommen nur mit etwa 5 Prozent beteiligt. Das vorhandene Kapital war berwiegend in Land angelegt; der grte Teil der Bevlkerung (bis zu 90 Prozent) lebte von und in der Landwirtschaft. Trotzdem blieb die Ernhrungsdecke dnn; denn schtzungsweise 19 auf dem Lande arbeitende Personen waren notwendig, um den fr eine in der Stadt lebende Person notwendigen berschu zu erzielen. Eine sprbare Produktionssteigerung wurde nicht in erster Linie durch den staatlichen Dirigismus verhindert. Die byzantinische Wirtschaftspolitik hat zwar das ihrige zur Lhmung der Privatinitiative und zur Austrocknung des Kapitalmarktes beigetragen. Doch in der Frderung von Gewerbe und Handel, dem Schutz und der Entwicklung des kleinen Bauerntums, dem Kampf gegen die Entvlkerung erreichte sie zeitweise Erfolge; die Erhaltung einer international akzeptierten Goldwhrung war eine der groen Leistungen des byzantinischen Staates. Am Zunftsystem, das fr die gewerbliche Ttigkeit im gesamten Byzantinischen Reich bestimmend blieb, liee sich etwa zeigen, da die Verbindung wirtschaftlichen Monopols und staatlicher Intervention durchaus nicht nur negative Seiten hatte. Weder Fiskalismus noch Dirigismus haben Phasen einer begrenzten wirtschaftlichen Prosperitt verhindert; das lt sich schon aus der Geschichte des stlichen Reichsteils im 5. Jahrhundert oder aus der des justinianischen Staates ablesen. Was einen kontinuierlichen und langfristigen Produktionsanstieg, eine Strkung der wirtschaftlichen Ressourcen und damit das Entstehen einer weniger krisenanflligen konomischen Basis fr Staat und Gesellschaft verhinderte, waren strukturelle Mngel: das Fehlen expandierender Mrkte fr gewerbliche Produkte, das ungnstige Verhltnis zwischen Produzenten und Verbrauchern, ein wenig entwickeltes und kostenintensives Transportwesen, nicht zuletzt aber verglichen mit der im Westen langsam einsetzenden

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Entwicklung ein technologischer Stillstand der Landwirtschaft, Anbaumethoden und agrarische Technik verharrten auf dem traditionellen Stand frherer Jahrhunderte; das erlaubte keinen Ersatz extensiver durch intensive Bewirtschaftungsformen. Das mangelnde Interesse an einer Entwicklung neuer, arbeitskraftsparender und produktionsfrdernder mechanischer Kraftquellen war keine Folge der ohnehin zahlenmig sehr zurckgegangenen Sklaverei. Es war offenbar bedingt durch den Mangel an ausreichendem Investitionskapital (der mit der traditionellen Re-Investierung gewerblicher Gewinne in Landbesitz zusammenhing), mehr aber noch durch eine sozialpsychologisch-intellektuelle Barriere, die schon der ltere Plinius beschrieben hat: die konventionelle Verachtung banausischer Ttigkeiten in den gebildeten Schichten bot keinerlei Anreiz zur praktischen Auswertung vorhandener naturwissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse. Die endemischen Finanzschwierigkeiten des byzantinischen Staates mit ihren direkten Rckwirkungen auf die Auenpolitik lieen sich darum nie grundstzlich, sondern nur fr begrenzte Phasen berwinden. Das ndert jedoch nichts daran, da Byzanz durch sein verhltnismig komplexes geldwirtschaftliches System, seine Produktionskraft und seine nicht unbetrchtlichen Staatseinnahmen anderen Staaten fr lange Jahrhunderte klar berlegen blieb. Erst seit dem Ende des 11. Jahrhunderts setzten mit dem bergewicht des Grogrundbesitzes und dem Rckgang des freien Kleinbauerntums wie mit dem Verlust der Kontrolle ber Fernhandel und stdtische Wirtschaft an die italienischen Seerepubliken jene sozialen und konomischen Vernderungen ein, die die Wirtschaftskraft und damit die finanzielle Kapazitt des Staates unterhhlten, die ein Sttzpfeiler der Macht und Widerstandskraft von Byzanz gewesen war. Die Wirtschaftspolitik zeitigte schwerwiegende, zum Teil unbeabsichtigte und in ihren Konsequenzen nicht berschaubare gesellschaftliche und politische Folgen. Die Beharrungsfhigkeit sozialer Strukturen in Byzanz geht nicht zuletzt auf stndige regulierende Eingriffe des Staates zurck. Die straffe Bindung des einzelnen an Stand und Beruf, wie sie der sptrmische Staat anstrebte (vgl. FWG 9, S. 91 ff), wurde zwar aufgegeben. Aber politisch-administrative Manahmen und unvernderte konomische Grundbedingungen verfestigten im Widerspiel der gesellschaftlichen Krfte den Konflikt zwischen dem Herrschaftsanspruch der Zentrale, reprsentiert durch Kaiser und stdtischen Beamtenadel, und der groen landbesitzenden Aristokratie, die gegen zentralistische und absolutistische Methoden opponierte. Diese Auseinandersetzung zwischen dem Monarchen, dessen Ziel eine zentralistische politische Ordnung mit gesichertem Zugriff auf alle Entscheidungsprozesse und staatlichen Ressourcen ist, und einer traditionellen Fhrungsschicht, deren berkommene Machtpositionen wie wirtschaftliche Interessen durch eine solche Politik eingeschrnkt werden, blieb ein zentrales Thema der byzantinischen Geschichte. Sie gehrt zu jenen strukturellen Problemen, die sich typologisch mit

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den Bedingungen anderer Groreiche vergleichen lassen. Typischen Charakter hat dieser Konflikt auch darin, da die Politik der Zentrale Rckhalt bei sozialen Gruppen sucht, deren Interesse in einer Schwchung der aristokratischen Elite liegt. Die besonderen Formen dieses gesellschaftlichen und innenpolitischen Grundkonflikts in Byzanz entspringen der trotz des agrarischen Gesamtcharakters verhltnismig komplexen wirtschaftlichen Struktur. Im Westen wurde fr lange Zeit der soziale und kulturelle Lebensraum zunehmend auf die Bereiche von Gutsherrschaft und Kloster eingegrenzt; einer schmalen Schicht des Grundadels stand die als Halbfreie auf dem Lande arbeitende Masse der Bevlkerung gegenber. In Byzanz aber blieb ein differenzierteres, zu einem ausgewogeneren sozialen System tendierendes Verhltnis von Stadt und Land, von Grogrundbesitz und freiem Bauerntum die Basis der Entwicklung. Der Aufstieg der Grundherrschaft als wirtschaftlicher Rckhalt der Fhrungsschicht war das beherrschende soziale Phnomen der sptrmischen Zeit gewesen eine der ungeplanten Nebenwirkungen der dirigistisch-fiskalistischen Zwangswirtschaft (vgl. FWG 9, S. 85 ff). Auch in der byzantinischen Gesellschaft spielte der Grogrundbesitz weiterhin eine ebenso bezeichnende wie bedeutsame Rolle. Aber daneben blieb die Stadt als Zentrum wirtschaftlichen und geistigen Lebens ein wichtiger Faktor. Als einziger mittelalterlicher Staat besa das Byzantinische Reich Grostdte, deren Gewicht sich nicht nur kulturell nachdrcklich fhlbar machte; es verfgte damit auch ber eine (wenngleich kleine) stdtische Oberschicht als Gegengewicht zum Grundadel. Aus ihr stammte der Typus des Beamten-Gelehrten, der als Nachwuchs fr die obersten Rnge der Reichsverwaltung wie als Chance sozialen Aufstiegs fr das gesellschaftliche System von Byzanz hchst bedeutsam war. Zudem wurde in Byzanz trotz der massiven Absorptionstendenzen der groen Gutsbezirke das freie Kleinbauerntum mit seinen als eigene Steuerbezirke fungierenden Dorfgemeinschaften nicht verdrngt, wenn es auch nach Umfang und Bedeutung erhebliche Wandlungen durchmachte. Das trug zur gleichmigeren Verteilung von Eigentum und Einkommen auf dem Lande bei und wirkte vermutlich zeitweise einem Bevlkerungsrckgang entgegen. Die Existenz dieser sozialen Schicht war von eminenter Bedeutung fr die wirtschaftliche Stabilitt wie fr die politische Widerstandskraft des Staates. Bei der Auseinandersetzung zwischen Grogrundbesitz und freiem Bauerntum ging es nicht nur um eine konomische und soziale Frage, sondern um ein innenpolitisches und finanzpolitisches Problem erster Ordnung. Die Klasse des groen landbesitzenden Adels war nicht nur eine wirtschaftliche Macht. Mit ihren zentrifugalen Sonderinteressen bedrohte sie die Durchsetzung von politischen Entscheidungen der Zentrale und deren Verfgung ber die Provinzen und deren Einknfte zumal die Provinzialstdte weitgehend in Abhngigkeit von den lokalen Magnaten gerieten. Der kleine Bauernbesitz bildete die entscheidende Schranke gegen das weitere Wachsen der groen

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Grundherrschaften. Auf ihm beruhten auch im wesentlichen Mae Finanzkraft und Verteidigungskapazitt des Reiches. Nur dem darin liegenden mehrfachen Interesse des Staates verdankt das freie Bauerntum trotz seiner prekren Situation, der stndigen Bedrohung seiner Unabhngigkeit durch eine aus Miernten oder Steuerdruck resultierende Verschuldung, sein langes berleben. Denn der Versuch, gegen die Ausbreitung des Grogrundbesitzes diese soziale Schicht als Steuerquelle und Menschenreservoir fr die Armee zu sichern, ja zu vergrern, wurde fr Jahrhunderte zu einem Kernmotiv kaiserlicher Politik. Freilich fhrten dabei unumgngliche Rcksichten auf die Militraristokratie der Provinzen und der Druck wiederkehrender finanzieller Krisensituationen allzu hufig zu einem Kurs, der zwischen dem Schutz des freien Bauerntums und seiner unertrglichen Belastung schwankte. Die Balance zwischen staatlicher Macht und lokalen Magnaten verschob sich entsprechend den Zwngen der politischen und militrischen Situation immer wieder. Sieger in diesem Dauerkonflikt mit seiner fast unentwirrbaren Verflechtung war am Ende die Schicht der groen Grundbesitzer. Wohl wurde ihre beherrschende Stellung seit den Reichsreformen des 7. Jahrhunderts zunchst durch eine Renaissance des Frei- und Wehrbauerntums abgelst. Aber zumindest seit dem spten 9. Jahrhundert verschoben sich trotz aller Gegenmanahmen der Kaiser aus der Makedonen-Dynastie die Gewichte wieder unaufhaltsam zugunsten des Grundadels. Damit war nicht nur seit dem Ende des 11. Jahrhunderts das Schicksal der freien Kleinbauern besiegelt. Im Konflikt mit dem zivilen Beamtenadel der Hauptstadt zeichnete sich gleichzeitig die entscheidende Gefahr ab, die vom grundbesitzenden Militradel der Provinzen ausging: seine dominierende Position bedrohte nicht nur die administrative und finanzielle Verfgungsgewalt der Zentrale in den Provinzen, sondern mit der Vernderung der militrischen Organisation durch das Pronoia-System nun auch die Kontrolle der Streitkrfte und damit der Auenpolitik. Der Triumph der groen Grundbesitzer und der davon untrennbare Untergang des freien Bauerntums erwies sich als entscheidender Faktor in der Auflsung des byzantinischen Staates. IV. Kirche und Kultur als Formkrfte der Gesellschaft Wie der kaiserliche Absolutismus mit seinem brokratischen Herrschaftsapparat blieben soziale Macht und geistliche Autoritt der Kirche bis in die Sptzeit ein tragendes Element der byzantinischen Gesellschaft: die orthodoxe Religion war ein einigendes Element in der Vielfalt der Vlker im Reich. Konstantins Entscheidung, das Christentum als legitime Religion im Imperium Romanum anzuerkennen, hat weitreichende Auswirkungen auf die geschichtliche Welt der kommenden Jahrhunderte gehabt. Die Kirche wurde ein Trger gesellschaftlicher Macht neben Kaiser, Heer und Verwaltung; zugleich vernderten sich ihre institutionellen und personellen Strukturen wie ihre sozialen Funktionen

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nachhaltig (vgl. FWG 9, S. 4869). Der Aufstieg des Christentums erwies sich als ein entscheidender Faktor im Wandel der sptrmischen Gesellschaft. Was im Ineinanderwirken des absolutistischen politischen Systems und der geistigen Revolution des neuen Glaubens an sozialen und individuellen Leitbildern und Lebensformen entstand, lebte in Byzanz weiter. Der Staat als christliche Politeia, die Begrndung aller Politik und sozialen Ordnung in Gottes Willen und Ratschlu: das bedeutete den tiefen und selbstverstndlichen Einflu des Christentums auf das ffentliche wie auf das persnliche Leben. Der Glaube war fr den einzelnen wie fr die Gemeinschaft ein entscheidender Weg, Probleme des Daseins zu lsen. Liturgie und Heiligenverehrung gehrten unabdingbar zum privaten Tageslauf wie zu staatlichen Funktionen. Soziale Frsorge entsprang aus der Verpflichtung, in Not geratenen Mitchristen zu helfen. In Bildung und Literatur waren profane Traditionen untrennbar mit der christlichen berlieferung verschmolzen; die byzantinische Kunst war in einem sehr strengen und umfassenden Sinne religise Kunst. Der Glaube vernderte Weltgefhl und Weltbegreifen aller Schichten; er drang auch mit seinen theologischen Problemen tief in die Massen ein. In den groen Dogmenkmpfen nahm die gesamte Bevlkerung leidenschaftlich Partei; Verhandlungen und Beschlsse der Konzilien wurden mit einer heute kaum mehr verstndlichen Intensitt diskutiert und kritisiert. Es ging hier nicht um abstrakte theologische Formeln, um eine Affre des Klerus und der Gebildeten, sondern fr jedermann um das eigene Leben: um die Gewiheit der Erlsung durch Bekenntnis zum rechten Glauben. Sie schien weit wichtiger als die Lsung sozialer und politischer Probleme: War der klassische Grieche nach Aristoteles Definition ein politisches Lebewesen, so war der byzantinische Grieche ohne Zweifel ein kirchliches.11 Exemplarisch erscheint die enge Verflechtung von Religisem und Sozialem im byzantinischen Mnchtum. Sein Rckgriff auf rigoristische und asketische Ideale des Urchristentums artikulierte immer wieder den Widerspruch gegen die Besitzergreifung dieser Welt durch die Kirche. Dieses weltflchtige Element mit seiner Suche nach der abgeschiedenen Kontemplation als vollkommenem Gottesdienst hat sich gerade in der griechischen Kirche immer erhalten, auch in der Sonder form der Sulenheiligen. Das hohe spirituelle Ansehen des Mnchtums bewog in der byzantinischen Geschichte selbst hchste Wrdentrger zum freiwilligen Rckzug aus Welt und Karriere ins Kloster. Aber die Mnche waren nicht nur eine Verkrperung christlichen Protests und ein Gewissen der Kirche. Sie spielten zugleich eine bedeutsame soziale und politische Rolle. Besonders die zahlreichen Klster der groen Stdte waren fr die Breitenwirkung der Kirche durch seelsorgerische Betreuung und Armenfrsorge ebenso unentbehrlich wie als kirchenpolitisches Macht- und Propagandainstrument von Bischfen und Patriarchen. Diese Doppelrolle des Mnchtums tritt schon im 6. und 7. Jahrhundert und dann vor allem im

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Bilderstreit zutage. Aber auch in spteren Jahrhunderten wurde Konstantinopel mehr als einmal von Mnchsunruhen erschttert. Der geistige Einflu der Kirche auf die Reichsbevlkerung wie ihre wirtschaftliche und soziale Position lassen sich kaum berschtzen. In wenigen anderen historischen Gesellschaften durchdringt der Glaube hnlich dicht alle Bereiche des Lebens, sind die Verflechtungen von Spirituellem und Materiellem enger, die Gegenstze schrfer. Die Wechselwirkung von Staat und Kirche, Gesellschaft und Religion schuf darum auch mehr als anderswo schwerwiegende, nie vllig ausgetragene Probleme. Die groen, aber auch bedenklichen Mglichkeiten der Verbindung von Staat und Kirche zeichneten sich schon zu Beginn des 4. Jahrhunderts prophetisch in der politischen Theologie des Eusebios von Caesarea ab. Die von ihm propagierte heilsnotwendige Einheit von Imperium und Evangelium konnte fr Reich und Kirche ebenso fruchtbar wie gefhrlich werden. Dennoch wurde diese Reichstheologie, in der religise Eschatologie zur politischen Ideologie umgedeutet war, fr groe Teile der Kirche das Leitbild einer Stellung zum Staat vor allem im griechischen Osten. Das schlo andere, aus dem dialektischen Verhltnis eines Teils der Christenheit zur Welt geborene Antworten nicht aus: die augustinische Richtung eines loyalen Mitrauens gegenber der politischen Ordnung als verkehrter Ordnung des sndigen Menschen oder eine apokalyptische Feindschaft gegen den Staat schlechthin. Dennoch gibt es eine berraschende Gemeinsamkeit. Nahezu alle Richtungen im sptrmischen und byzantinischen Christentum haben die bestehende politische und gesellschaftliche Ordnung hingenommen und grundstzlich akzeptiert. Bestimmte Elemente der christlichen Lehre waren zwar auf Weltverwandlung angelegt und konnten revolutionr wirken. Aber das Evangelium bot ebenso zahlreiche Argumente, die als Sttze einer etablierten Ordnung dienlich waren. Nach Konstantin hat die Kirche aus theologischen wie aus pragmatischen Motiven die Bewahrung des Bestehenden untersttzt. Sie hat immer wieder die kaiserliche und staatliche Autoritt als gottgegebene Herrschaftsgewalt interpretiert und die daraus entspringende Untertanenpflicht betont. Kritik und Wirken der Christen beschrnkten sich auf Beseitigung von Mistnden oder Verbesserung einzelner Elemente; eine durchgreifende Reform von Staat und Gesellschaft wurde nicht angestrebt. Eine ursprnglich revolutionre weil antigeschichtliche Eschatologie hatte sich zu politischgesellschaftlichem Konservativismus gewandelt, der eine stabilisierende Funktion ausbte. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, da auch in der Reichstheologie trotz aller Hinwendung zum irdischen Erfolg die urchristliche eschatologische Zukunftshoffnung nicht vllig unterdrckt war. Das Bewutsein von der Vorlufigkeit aller irdischen Ordnungen schlug damit am Ende auch hier durch. Aus der Erwartung des in Christus bereits angebrochenen neuen ons wird die irdische Welt als alter on zu einer bloen Zwischenzeit, fr die

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eine Weltvernderung nicht zu gewrtigen ist, aber auch gar nicht notwendig erscheint (vgl. FWG 9, S. 7076). Die besondere Problematik von Religion und Gesellschaft in Byzanz liegt darin, da diese historische Welt weder ideell noch real die uns so gelufige reinliche Scheidung des Daseins in den geistlichen und den weltlichen Bereich kannte. Kirche und Staat bilden nicht zwei nebeneinanderstehende selbstndige Gewalten, stehen freilich auch nicht im Verhltnis der ber- und Unterordnung zueinander, sondern bilden eine mystische Einheit, zwei Aspekte desselben Lebens erlster Christen ... Es ist bei Kaiser und Patriarch der eine selbe Geist, hen pneuma, nur die Gaben, die charismata, sind verschieden.12 Begriffe wie staatliche Kirchenpolitik oder Vermischung theologischer und politischer Motive bleiben im Grunde wenn auch unumgngliche Hilfskonstruktionen, die der geistigen Struktur der byzantinischen Staats- und Weltanschauung nicht adquat sind. Glaubenskampf und politische Aktivitt erschienen als untrennbar: Ausbreitung des Evangeliums und Bekehrung der Heiden wie Verteidigung des Glaubens und Bewahrung der Bekenntniseinheit waren Staat und Kirche gemeinsam aufgegeben. Mission und Diplomatie, religise Propaganda und wirtschaftliche Erschlieung neuer Lnder gingen darum in Byzanz wie kaum sonstwo Hand in Hand. Umgekehrt aber wirkten innerkirchliche Bewegungen und gesellschaftlich-politische Entwicklungen in oft schwer berechenbarer Weise aufeinander ein. Wenn politische und kirchliche Loyalitt zusammenfielen, war mit der Einheit der Kirche auch die Einheit des Reichsgefges gefhrdet. Mit dem Schisma drohte der Brgerkrieg oder zumindest gefhrlicher politischer Separatismus. Das zwang den Staat zur Intervention. Das Eingreifen der skularen Gewalt in dogmatische Streitigkeiten wurde zur Staatsrson. Damit barg die als Verpflichtung begriffene enge Verzahnung staatlicher und kirchlicher Aufgaben fr beide Seiten ebensoviel Last und Gefahr wie Frderung und Gewinn. Religion konnte genauso leicht zum Instrument der Politik werden wie der Staat zum Diener der Kirche. Die Problematik einer politischen Theologie, fr die das religise Schisma nicht nur die staatliche Einheit, sondern auch die Sicherheit der gttlichen Gnade fr das Reich bedrohte, trat in der Stellung des Kaisers zur Kirche besonders deutlich hervor. Die Gunst der Gtter zu sichern war schon in den Staaten des alten Orients eine der ersten Herrscheraufgaben. Diese Tradition ging in die hellenistische Staatstheorie ein; sie spiegelte sich in der Stellung des heidnischen Kaisers als Pontifex maximus. Dem christlichen Kaiser die Rolle des propagator et defensor fidei zuzuschreiben schien darum nur folgerichtig, war er doch erwhltes Instrument und Statthalter Gottes auf Erden. Konstantin war nur der erste in einer langen Reihe von Herrschern, die tief berzeugt von ihrer gottgegebenen Pflicht zum Schutz von Glaubenswahrheit und Kircheneinheit mit oft gewaltsamen Mitteln in theologische Streitfragen eingriffen. Er schuf ein kirchenpolitisches Instrument von hchster Bedeutung. Bischfe und Patriarchen

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besaen zwar Lehrautoritt, aber keine Lehrgewalt; noch galt die Ranggleichheit aller Bischfe als Hter der Glaubensberlieferung. Bischofsversammlungen, die Synoden, berieten dogmatische und theologische Fragen. Mit der durch Konstantin einberufenen Kirchen Versammlung von Nikaia (325) entstand eine dem Gesamtreich zugeordnete Institution: die allgemeine Synode oder das kumenische Konzil die Versammlung aller christlichen Bischfe zu Beratung und Beschlufassung ber liturgische, dogmatische und hierarchische Fragen. Doch wenn auch der Kaiser dank seiner skularen Machtmittel Bischofssthle schuf und besetzte, Verordnungen ber Kirchenzucht und Liturgie erlie und Konzilien und Kirche in Glaubensfragen seinen Willen aufzwingen konnte: der gelufige Begriff des Csaropapismus ist eine ebenso unhistorische Perspektive wie die Reduktion der das Reich erschtternden Glaubensstreitigkeiten auf bloe politische Konflikte. Nach der auf die Dauer sich durchsetzenden theologischen Lehre war der Kaiser nicht das mit unumschrnkter Verfgungsgewalt ausgestattete Haupt der Kirche; er besa weder priesterliche Wrde noch Lehrgewalt. Schon Justinian hat (entgegen gewissen im 5. Jahrhundert feststellbaren Tendenzen auf kirchlicher Seite, den Imperator auch zum Sacerdos zu machen) in seiner 6. Novelle eine klare Unterscheidung zwischen Sacerdotium und Imperium formuliert: Die grten Gaben, die Gottes Gte den Menschen verlieh, sind Priestertum und Kaisertum. Das eine dient den gttlichen Dingen; das andere herrscht ber die Menschen und nimmt sich ihrer an. Aus einem gemeinsamen Ursprung stammend, ordnen beide in ihrer Weise das menschliche Leben. Das entspricht bereits der Theorie, die im 9. Jahrhundert offiziell festgelegt wurde: vom weltlichen und geistlichen Amt als zwei unabhngigen, sich berschneidenden und doch harmonisch verbundenen Wirkungsformen der grundstzlich gleichen und einen Gewalt, die vom gttlichen Willen ausgeht. Bischof und Kaiser verkrpern zwei Aspekte einer Aufgabe in einer Welt. Das Prinzip gleichberechtigter Zusammenarbeit von Kirche und Staat, Patriarch und Kaiser ist freilich oft einseitig ausgelegt worden. Aber Grenzen oder Durchsetzbarkeit des kaiserlichen Willens in der Kirche waren weniger eine Frage der Theorie als der praktischen Machtverhltnisse. Eine hnlich unbestrittene Herrschaft ber die Kirche wie Justinian, der Patriarchen absetzte und dogmatische Entscheidungen durch Verordnungen traf, haben nur wenige byzantinische Herrscher gewonnen. Die Haltung der Kirche gegenber dem kaiserlichen Kirchenregiment schwankte durch Jahrhunderte zwischen Unterwerfung, Anpassung und Konflikt. Synoden und Konzilien zeigten immer wieder eine Neigung, klar formulierten Herrscherwnschen zu entsprechen oder sogar eine bergeordnete geistliche Autoritt des Kaisers anzuerkennen. Aber schon das monophysitische Schisma und der Bilderstreit offenbarten, zu welch hartnckigem Widerstand die Kirche fhig war, wenn es um grundstzliche Fragen in Dogma und Ritus oder um Privilegien ging. Nicht selten erwies sich

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dann der Patriarch mit der Hierarchie von Erzbischfen, Bischfen und Klerus hinter sich als eine Figur von ebenbrtiger Macht. Es ist eine offene Frage, ob mit der Bindung der byzantinischen Kultur an feste Formen des byzantinischen Staatskirchentums zunehmend die Fhigkeit verlorenging, neue soziale Formen und kulturelle Leitbilder zu schaffen. Sicher ist, da die weitgehende Identitt von Reich und Kirche, orthodoxem Glauben und byzantinischer Existenz die Widerstandskraft des Staates strkte. In einem Vielvlkerstaat hielt wenigstens fr lange Zeit das Bekenntnis zu einem gemeinsamen Glauben sozial und ethnisch heterogene, ja antagonistische Krfte zusammen. Anstelle fehlender gemeinsamer kultureller und nationaler Traditionen wurde die christliche Religion das Medium einer Integration. hnlich wie das Chinesische Reich gegenber den Mongolen besa Byzanz gegenber starken fremden Minderheiten eine erstaunliche Assimilationsfhigkeit; das erwies sich etwa an den seit dem 7. Jahrhundert in das Reich eingedrungenen Slawen. Selbstbezeichnung und Selbstbewutsein der Byzantiner als Rhomer im Gegensatz zu den Heiden, den Hellenes, bezeugen diese Gleichsetzung religiser und nationaler Konfession: Rhomaios ist derjenige Brger des allein legitimen Rmischen Reiches von Konstantinopel, der zugleich den allein richtigen Glauben dieses Reiches, die Orthodoxia, besitzt, und damit eingegliedert ist in die einzige gottgewollte Kulturgemeinschaft dieser Welt: die vorwiegend griechisch und christlich bestimmte Kulturgemeinschaft des Ostrmischen Reiches.13 Die byzantinische Kultur ist in einer wesentlichen Hinsicht traditional: Das Problem von berlieferung und Aneignung spielt eine ebenso groe Rolle wie im politisch-sozialen Bereich. Sie ist freilich nicht das, als was die Byzantiner selbst sie immer wieder zu deuten versuchten: eine einfache Weiterfhrung der klassischen Tradition griechischer Bildung, Literatur und Kunst. Zweifellos bezeugt sich in den Renaissancen der byzantinischen Kultur die weiterwirkende Macht klassischer Vorbilder wie deren Kehrseite: Preziositt, berspitzter Formalismus und konventionelle Nachahmung. Doch mag auch die literarische Vorlage klassisch sein der Geist der byzantinischen Kultur ist es nicht. Ihr Ursprung lag im Hellenismus, in einer durch lokale und nationale Traditionen der von Alexander dem Groen eroberten orientalischen Gebiete vielfltig umgeformten griechischen berlieferung. Etwas vom Weltverstndnis und der spezifischen geistigen Energie des Hellenismus manifestiert sich im Individualismus, in der Neugierde und in der Weitlufigkeit der Byzantiner ebenso wie im Rckgriff auf Ergebnisse und Formen der hellenistischen Wissenschaft, Kunst und Architektur. Auf ihrem Weg nach Byzanz hat die hellenistische Kultur freilich eine entscheidende Wandlung durchgemacht. Die Auseinandersetzung mit dem Christentum, die in dem Moment begann, in dem Klemens und Origenes christliche Glaubenswahrheiten in Begriffen der zeitgenssischen neuplatonischen Philosophie formulierten, brachte ein neues schpferisches

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Element in die Tradition. Mit dem intellektuellen Klima vernderte sich die emotionale Atmosphre; die Angst des vereinzelten, von Dmonen umstellten Individuums wurde gebannt durch den Glauben. In der sptantiken Synthese von Christentum und hellenistischer Bildung blieb die geistige Tradition der Griechen Grundlage der byzantinischen Kultur nicht vermittelt, sondern in einem direkten berlieferungszusammenhang. Das hatte eine sehr bedeutsame Wirkung. Das antike Erbe begegnet nicht als eine fremde, zu Auseinandersetzung zwingende Leistung, sondern als ein selbstverstndliches Stck eigener Vergangenheit. Zusammen mit einem aus dem byzantinischen Lebensgefhl entspringenden Konservativismus begrndet das jenen grundstzlich beharrenden Zug, der bei aller inneren Bewegtheit die byzantinische Kultur prgt. Der Wille zu einer bestimmten, in ihrer Bewertung feststehenden Form verkrpert sich in ihren Schpfungen. Was wir Renaissancen nennen, bedeutete nicht die Aneignung neuer Elemente, sondern nur den reineren Rckgriff auf die wahre Tradition. Bezeichnend fr die byzantinische Kultur war ihre doppelte Sprache. Die bildende Kunst kannte zwar eine einheitliche Formensprache; im brigen aber stand den breiten Bevlkerungsmassen mit ihrer volkssprachlichen Vulgrliteratur eine durch anspruchsvolle klassizistische Bildung geprgte Oberschicht gegenber. Durch Jahrhunderte unvernderte Formen und Inhalte der Erziehung gaben der Fhrungselite von Byzanz ihre erstaunliche, allen Wechsel berdauernde Uniformitt in Sprache, Haltung und Lebensstil. Das war fr den Zusammenhalt dieser Schicht ebenso bedeutsam wie fr ihre Integrationsfhigkeit; nicht umsonst gehrte es zu den Methoden byzantinischer Politik, die Angehrigen fremder Fhrungsschichten in Konstantinopel, im politischen und kulturellen Bannkreis der Zentrale, zu erziehen. Diese Bildungstradition formte auch den wichtigen Typus des BeamtenGelehrten. An ihm wird besonders deutlich, da die Hhe der intellektuellen Kultur in Byzanz (wo Bildung anders als im Westen fr die Oberschicht selbstverstndlich, aber auch fr Angehrige der Mittelschichten durchaus erreichbar war) ein entscheidendes Element der Lebenskraft war. Der Erfolg byzantinischer Politik nach innen und auen basierte zu einem erheblichen Ma auf Routine und erprobten Methoden, aber auch auf bewuter und gezielter Weiterentwicklung von Erfahrungen. Ein auf sorgfltiger intellektueller Ausbildung beruhender Einsatz von Reflexion und Theorie als Mittel politischen Handelns lt sich in den Methoden von Auenpolitik und Diplomatie verfolgen, klarer vielleicht noch in der Entwicklung einer regelrechten byzantinischen Kriegswissenschaft. Die Frage nach dem Charakter der Kultur ist die Frage nach dem historischen Ort der byzantinischen Gesellschaft berhaupt. War auenpolitisch eine prekre Existenzbewahrung zwischen Orient und Okzident Grundfigur des byzantinischen Schicksals, so brach innerhalb von Kultur und Gesellschaft der Antagonismus beider Welten in groen Auseinandersetzungen auf. Form und Strke orientalischer Einflsse berechtigen

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jedoch nicht zu dem Urteil, Byzanz sei als Staat wie als Kultur nachhaltig orientalisiert gewesen. Bezeichnenderweise werden gerade die Elemente orientalischer Tradition, die nicht bereits in der hellenistisch-sptrmischen Kultursynthese integriert waren, zum Konfliktsmoment. Was sich aber, im monophysitischen Schisma oder im Bilderstreit, gegen sie durchsetzte, war die hellenistische berlieferung. Byzanz darum als wiedererstandenes Hellas zu deuten ist freilich ebenso unzureichend. Jeder Versuch, grundstzliche Aspekte der byzantinischen Gesellschaft und Kultur in Formeln zu fassen, mu scheitern, wenn einseitig eine Dominante bestimmt werden soll. Entscheidend bleibt die bei aller Verschiedenheit der Wurzeln in ihrer Form eigenstndige Synthese: das harterrungene und immer wieder unter Kmpfen bewahrte Gleichgewicht hellenistischer, sptrmischer, christlicher und orientalischer berlieferung. V. Tradition und Wandel Historische Rolle wie durchgngige Faktoren der sozialen, politischen und geistigen Existenz formten einen in seiner Weise einzigartigen Stil des Lebens eine Haltung zur Welt, die wiederum bedingend auf gesellschaftliche Prozesse zurckwirkte. Durch alle Wandlungen kehren bestimmte Grundzge so regelmig wieder, da der Versuch einer Beschreibung des byzantinischen Charakters mglich scheint. Das gesellschaftliche und soziale Leben der Hauptstadt Konstantinopel spiegelt ihn in vielfltigen Brechungen, aber auch der Landedelmann Kekaumenos, ein skeptischer und illusionsloser, von common sense, Sparsamkeit und Mitrauen geprgter byzantinischer Lord Chesterfield, gibt einen seiner Aspekte wieder. Das byzantinische Temperament ist eine coincidentia oppositorum: intellektuelle Neugier, Freude an geschliffener Diskussion und subtilem Argument neben massivem Aberglauben und mystischer Exaltation; Raffinement, Eleganz, Freude an Luxus und hochgezchtete Eindrucksfhigkeit neben Geiz, Bestechlichkeit, skrupelloser Verschlagenheit, unbarmherziger Grausamkeit und leidenschaftlichem Ha. Ausdauer, Energie, Mut, Sensibilitt und Mitleid sind freilich mindestens ebenso bezeichnende Zge: ohne solche Qualitten ist das berleben von Byzanz gar nicht denkbar. Manchen negativen Zug macht zudem erst die Realitt byzantinischen Lebens mit seinen zahllosen ngsten und Gefahren verstndlich. Angesichts rcksichtsloser Steuereintreiber, unberechenbarer Beamter und willkrlicher Gouverneure, mchtiger Gutsbesitzer, Ruberbanden und stndig drohender Invasion barbarischer Stmme wurden Mitrauen und Verstellung zu Schutzmechanismen. Zugleich aber setzte der Mensch gegen die Bedrckung des Lebens sein Vertrauen ins Transzendente; Gegenpol und unverlierbarer Grundzug des byzantinischen Charakters sind Frmmigkeit und Hoffnung auf bernatrliche Hilfe. Der Glaube begrndet Eigenart und Einzigartigkeit von Weltbild und Lebenshaltung in Byzanz: sie sind letztlich nur theologisch zu verstehen. Nicht

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Devotionsformen oder Lehrwahrheiten sind dabei entscheidend, sondern jene besondere Form der Spiritualitt, die das byzantinische Leben auch auerhalb des engeren theologischen Bereichs prgt. Sie beruht auf der berzeugung, da alle Lebensbereiche dem einen gttlichen Schpfergeist entspringen und durch die Tat des einen Gottessohnes erlst sind. Diese Spiritualitt ist als Dualismus oder als Einheit der Gegenstze im Grunde unbyzantinisch beschrieben; auch der Begriff der Dialektik fhrt irre. Gegenstze, die uns als antagonistisch und mithin als Anla zu Widerspruch oder Sich-entscheiden-Mssen erscheinen, sind fr den Glauben in einer eigentmlichen Weise aufgehoben: als Teil der einen unbegreiflichen, aber alles durchdringenden, im Sein Gottes begrndeten Ordnung. Das unbewegte und allumfassende Sein Gottes ist Sinn und Inhalt aller Transzendenz. Weg zur Transzendenz ist nicht rationales Raisonnement, dialektische Zergliederung des Glaubens durch eine wissenschaftliche Theologie, sondern Versenkung in den Glauben durch Askese und Kontemplation. Meditation, nicht Aktion; Ruhe, nicht Fortschreiten diese Grundhaltung schafft sich ihren Ausdruck in der Unwandelbarkeit der Liturgie, im Zentralbau der Kirchen oder in der Ikone, die durch hieratische Strenge und Ausdruckskraft des Bildes den glubigen Betrachter in wortlose Versenkung zwingt. Heiliger und Mnch erreichen in der Stille jene ungetrbte Ruhe der betrachtenden Seele, die die byzantinische Hymnendichtung als mystische Kommunion feiert. In ihr verwirklicht sich das byzantinische Ideal. Was damit erlangt wird, ist freilich nur Andeutung, Parallele, Abbild: Gott als die unbewegte und doch ewig schpferische Ruhe. Eine Ahnung dieser unkrperlichen Unbewegtheit und Lebendigkeit des dreieinen Gottes, die der asketische Mnch in der Unsagbarkeit der Kontemplation erreichte, die ein Kirchenvater wie Gregor von Nyssa in platonisierenden Formeln tastend mitzuteilen suchte, erfuhr der einfache Glubige in greifbarer und bildhafterer Weise: durch die sein Leben stndig begleitende Liturgie und durch den festen Glauben an die Hilfe der zahllosen Heiligen, an die tgliche Mglichkeit des Wunders. Das gab ihm Gewiheit, Hoffnung und Kraft stillte jenes fr den Byzantiner so bezeichnende Bedrfnis nach persnlicher Erfahrung des Heiligen. Eine solche der statischen Momente nicht entbehrende Haltung wirft die Frage nach den Mglichkeiten des Wandels wie nach seiner Rechtfertigung im byzantinischen Weltbegreifen auf. Es war der groe westliche Irrtum Toynbees, Versteinerung zu sehen, wo es auf umgrenztem Grund sehr wohl Leben gibt wenn auch nicht jene zielgerichtete Bewegung, die wir gerne damit verwechseln. Stabilitt oder Schwche, Starrheit oder Wandlungsfhigkeit eines politischsozialen Systems sind von Mischung und Balance traditionaler und nichttraditionaler Elemente abhngig; dieses groe historische Thema von Tradition und Erneuerung, von Kontinuitt und Kreativitt wird in der byzantinischen Geschichte in besonderer Weise fabar.

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Die Macht des Bestehenden und beharrender Tendenzen war ohne Zweifel in Byzanz auergewhnlich gro. Der statische Zug, der tiefgegrndete Konservativismus dieser Gesellschaft mit ihrer Tendenz zur Ausbildung fester, dauerhaft gltiger Formen ist unbestreitbar. Politische Institutionen und gesellschaftliche Strukturen waren durch das sptrmische Imperium so stark vorgeprgt, da kaum Neubildung, hchstens Umformung mglich schien. In der byzantinischen Kultur erzeugte die Last griechischer Traditionen einen bemhten, schpferische Neuanstze oft unterdrckenden Klassizismus, etwa im bewuten Archaismus der Literatur, deren hchstes Ziel stilistische Imitation der groen altgriechischen Vorbilder blieb. Umgekehrt wirkten theologische Vorverstndnisse stagnierend auf die byzantinische Naturwissenschaft, indem berlieferte Denkanstze und Ergebnisse griechischer Forschung fr letztlich belanglos erklrt wurden: Es gengt fr uns zu wissen, da alle Dinge durch Gottes Geist geordnet sind und durch einen Willen, den wir nicht ergrnden knnen.14 Was Traditionen und etablierten Ordnungen solch bergroes Gewicht verlieh, war ein grundstzlich konservatives Bewutsein. Man glaubte nicht nur in der Literatur an die Klassik, an ein kanonisch gewordenes und verpflichtendes Erbe. Der Besitz endgltiger Wahrheiten und vollkommener Lsungen auch in Politik und Religion galt durch gttliche Offenbarung als garantiert: der Byzantiner war konservativ nicht nur aus Neigung oder aus der Indolenz einer durch Jahrhunderte geprgten Untertanengesinnung, sondern letztlich aus Religion. Intellektuelle Aktivitt war prinzipiell Neu-Begreifen und Neu-Auslegen des Alten, einmal Gltigen; diese Haltung durchdrang auch Gesellschaft und Politik. Prokops Kritik an Justinian zielte bezeichnenderweise nicht auf den rckwrtsgewandten Traditionalismus der kaiserlichen Politik; ihr eigentlicher Vorwurf richtete sich gegen die Neuerungen des Herrschers. Nun ist die undifferenzierte berzeugung von den zwangslufig negativen Folgen konservativen Handelns eine jener geschichtsverzerrenden Perspektiven, die gerade durch die byzantinische Geschichte fr den unbefangenen Betrachter widerlegt werden. Die positive Wirkung traditionaler Ordnungen erweist sich in der Stabilitt, die. es dem byzantinischen Staat dank einer zentralen Autoritt und einer permanenten, gut organisierten Zivilverwaltung ermglichte, Krisen besser zu berwinden als die westlichen Feudalstaaten oder die Nachfolgestaaten des Kalifats. Nur die beharrende, aber zugleich Kontinuitt sichernde Politik der Administration machte ein komplexes staatlichgesellschaftliches Gebilde wie das Byzantinische Reich zu lngerem berdauern fhig. Zudem hat diese konservative Zivilverwaltung lange ein Gegengewicht gegen das Entstehen des Feudalismus und einen berspitzten kaiserlichen Absolutismus gebildet. Auch die grundstzliche Unfhigkeit zum Wandel ist eine Legende. Zwar liegt der Nachdruck intellektueller Aktivitt anders als im Westen nicht auf Originalitt oder Innovation. Doch dem erheblichen Gewicht traditionaler Sachund konservativer Denkstrukturen stand in Byzanz durchaus die Fhigkeit zur

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Adaption an vernderte Bedingungen und zur schpferischen Reform gegenber. Ohne sie htte dieser Staat in einer sich wandelnden Welt nicht ein Jahrtausend berlebt. In seiner Geschichte haben sich immer wieder Prozesse sozialen und politischen Wandels vollzogen, die mehr waren als die berwindung momentaner Krisen mit vorgegebenen Mitteln. Die byzantinische Gesellschaft hat mehr als einmal ihre Institutionen an eine vernderte soziale Lage und eine verwandelte politische Umwelt angepat. Schon mit der Herrschaft des Heraklios im 7. Jahrhundert begannen einschneidende Vernderungen staatlicher Formen und gesellschaftlicher Strukturen. Sie zeigen, da Byzanz bei aller Beharrungskraft ein zur organischen Weiterentwicklung und zu neuen Lsungen fhiges soziales System war. Selbst in dem als besonders traditional geltenden Bereich des Rechts gab es Elemente des Wandels, so in dem in mancher Hinsicht revolutionren Gesetzbuch Leons III. oder in der Reform von Strafmaen und Strafarten. Auch in der Kultur erfate das scheinbare bergewicht klassizistischer Traditionen nur die Literatur und hier wiederum nur die kleine Schicht der Gebildeten. Auerhalb ihres Kreises entstand mit der volkssprachlichen Literatur etwas Neues als Reaktion auf den berzchteten Formalismus. Kunst und Architektur lassen sich ohnehin nicht als bloe Repetition oder sterile Wiederbelebung von Traditionen deuten. Vom Hhepunkt des neuen Stils im 6. Jahrhundert ber die Bltezeit des 11. und 12. Jahrhunderts bis zur Kunst der Palaiologen setzen sich im Rahmen der byzantinischen Formensprache immer wieder in hohem Mae Individualitt, Originalitt und Erfindungskraft durch. Im Kern der byzantinischen Kunst lebt nicht so sehr Traditionalismus als vielmehr orthodoxer Glaube verbunden mit dem geistigen Erbe des Hellenismus, der eine in Griechenland selbst im 4. Jahrhundert v. Chr. durch den Klassizismus abgeschnittene Bewegung auf das Irrationale weiterfhrt. In dieser schpferischen Einheit von Christentum und Hellenismus liegt die groe und originale Leistung des byzantinischen Griechentums. In den bedeutendsten Werken der Kunst ist der klassizistische Mantel fast verschwunden: sie sind reiner Ausdruck seiner besonderen Religiositt. Byzanz war konservativ und doch kreativ; Wandel und Vernderung sind ebenso bemerkenswert wie traditionalistisches Verharren. Das bedeutet freilich nicht, da die Lebensfigur von Byzanz die eines linearen Fortschritts war. Vernderung hatte hier selten radikalen Charakter; dazu war das beharrende Gewicht der Tradition zu gro. Der Versuch, Erneuerung konservativ als Rckkehr zur ursprnglichen Tradition zu interpretieren und dadurch zu legitimieren, ist ungemein bezeichnend; auch in Philosophie und Theologie wird das Neue hufig mit der Behauptung eingefhrt, hier wrden nur die Lehren der Vter ausgelegt und besttigt. Das war kein politischer Trick, durch den eine herrschende Gruppe unter dem Deckmantel der Restauration die eigene Macht festigende Innovationen lancierte. Im byzantinischen Weltbild war Innovation nicht systematisch zu begrnden; sie wurde von der Praxis erzwungen und

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pragmatisch vollzogen. Aber trotzdem kennt die byzantinis