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WICHTIGER HINWEIS ZU DIESEM ARTIKEL Bei diesem im Februar 2017 entstandenen Artikel handelt es sich um eine Vorabveröffentlichung eines Kapitels aus dem „Handbuch Soziale Arbeit mit geflüchteten Kindern und Familien“ . Der Autor Timon Marszalek ist Geschäftsführer von SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V. und bedankt sich bei den Herausgebern für die Genehmigung zur Vorabveröffentlichung. Über das Handbuch: Das Buch vermittelt Wissen für die Soziale Arbeit mit geflohenen Menschen, über Fluchtgründe und Fluchtwege, über Herkunft und Kultur, über rechtliche und admi- nistrative Bedingungen, über Konzepte und Methoden für eine gelingende Praxis. Kinder, Jugendliche und Familien, die nach Deutschland geflohen sind, prägen Lebenserfahrungen mit Not und Krieg, Perspektivlosigkeit und Gewalt. Dies ist eine Herausforderung und Aufgabe Sozialer Arbeit in Deutschland. Das Praxishandbuch gibt Antworten auf die Fragen, was eine Sozialpädagogin oder ein Sozialarbeiter in der Arbeit mit geflohenen Menschen einerseits über Fluchtgründe und Fluchtwege, über Herkunft und Kultur, über rechtliche und administrative Bedingungen und andererseits über eine gelingende Praxis, über sozialpädagogische Konzepte und Methoden in den Bereichen Jugendhilfe, Schule, Gesundheit und Arbeit wissen muss. Quelle: https://www.beltz.de/fachmedien/paedagogik/buecher/produkt_produktdetails/35312- handbuch_soziale_arbeit_mit_gefluechteten_kindern_und_familien.html, (abgerufen am 24.06.2017) Das Buch mit der ISBN 978-3-7799-3133-1 ist ca. 900 Seiten stark und wird ab dem 25.09.2017 im Beltz-Verlag erhältlich sein.

Fluchtrouten wie flüchten Menschen nach Europa? · 2020. 1. 14. · Fluchtrouten–wieflüchtenMenschennachEuropa? 1 Einleitung,StatistikenundBegriffe GeflohenwirdweltweitnichterstseitdemJahr2015

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WICHTIGER HINWEIS ZU DIESEM ARTIKEL

Bei diesem im Februar 2017 entstandenen Artikel handelt es sich um eine Vorabveröffentlichung einesKapitels aus dem „Handbuch Soziale Arbeit mit geflüchteten Kindern und Familien“ . Der AutorTimon Marszalek ist Geschäftsführer von SOS MEDITERRANEE Deutschland e. V. und bedankt sich beiden Herausgebern für die Genehmigung zur Vorabveröffentlichung. Über das Handbuch:

Das Buch vermittelt Wissen für die Soziale Arbeit mit geflohenen Menschen, überFluchtgründe und Fluchtwege, über Herkunft und Kultur, über rechtliche und admi-nistrative Bedingungen, über Konzepte und Methoden für eine gelingende Praxis.

Kinder, Jugendliche und Familien, die nach Deutschland geflohen sind, prägen Lebenserfahrungen mitNot und Krieg, Perspektivlosigkeit und Gewalt. Dies ist eine Herausforderung und Aufgabe SozialerArbeit in Deutschland.

Das Praxishandbuch gibt Antworten auf die Fragen, was eine Sozialpädagogin oder ein Sozialarbeiterin der Arbeit mit geflohenen Menschen einerseits über Fluchtgründe und Fluchtwege, über Herkunftund Kultur, über rechtliche und administrative Bedingungen und andererseits über eine gelingendePraxis, über sozialpädagogische Konzepte und Methoden in den Bereichen Jugendhilfe, Schule,Gesundheit und Arbeit wissen muss.

Quelle: https://www.beltz.de/fachmedien/paedagogik/buecher/produkt_produktdetails/35312-handbuch_soziale_arbeit_mit_gefluechteten_kindern_und_familien.html,

(abgerufen am 24.06.2017)

Das Buch mit der ISBN 978-3-7799-3133-1 ist ca. 900 Seiten stark und wird ab dem 25.09.2017 imBeltz-Verlag erhältlich sein.

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PRÄAMBEL

Warum müssen Menschen auf der Flucht nach Europa im Mittelmeer ihr Leben riskieren? Welchen Einflusshat das sogenannte ’Schließen‘ von Grenzanlagen auf Migrationsbewegungen? Was hat die Politik derEuropäischen Union (EU) und ihrer Mitgliedsstaaten mit dem massenhaften Sterben im Mittelmeer zu tun?

Bekämpft die EU tatsächlich Schmugglernetzwerke oder fördert sie sie gar mit ihren ’migrationspolitischenMaßnahmen‘? Welche Debatten müssen wir wirklich führen, um Migration und Flucht besser zu verstehenund langfristig steuern zu können?

Dies sind zentrale Fragen, die wir uns bei der Arbeit als zivile Seenotretter*innen immer wieder stellen.Häufig kommen wir dabei zu ernüchternden Erkenntnissen. Zivile Organisationen für die Seenotrettung(engl. SAR – search and rescue) wie SOS MEDITERRANEE wurden und werden immer wieder vonPolitiker*innen und in den Medien für ihre lebensrettende Arbeit diskreditiert. Von den zugrunde liegendenProblemen, den tiefsitzenden Ursachen für Flucht und Migration, wird damit effektiv abgelenkt. Dasgleiche tun populistische Parteien mit ihrer angstschürenden Propaganda. Es ist erschreckend, wie vielePolitiker*innen nicht bereit oder nicht in der Lage sind, die Gründe für Flucht und Migration sachlichund reflektiert zu diskutieren. Wie bekommen wir als Zivilgesellschaft einen Wandel zustande, weg vondieser verfehlten Politik?

Anhand einiger Beispiele und entlang der Prinzipien europäischer Grenz- und Migrationspolitik wird indiesem Artikel versucht, einige dieser Fragen zu erörtern. Wenngleich diese kurze Abhandlung selbstver-ständlich nicht die Lösungen auf sämtliche hier aufgeworfene zivilisatorische Herausforderungen gebenkann, so sollen die Leser*innen doch zum Nachdenken über die Phänomene der gesellschaftlichen undpolitischen Gegenwart bewegt werden.

Ein herzlicher Dank für die tatkräftige und moralische Unterstützung während des Verfassens diesesArtikels geht insbesondere an Klaus Bade, Heiko Kauffmann, Sophie Beau, Susanne Meyer, Verena Papke,Jana Ciernioch, Dirk Braunheim, Florian Steiner und Carolyn Whitten.

Timon Marszalek,Berlin, Juni 2017

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Fluchtrouten – wie flüchten Menschen nach Europa?

1 Einleitung, Statistiken und BegriffeGeflohen wird weltweit nicht erst seit dem Jahr 2015 – auch wenn es in Medienberichten manchmal soklingt, als sei Flucht ein neuartiges, bedrohliches Phänomen der Menschheitsgeschichte. Vor allem inAnbetracht der Medienberichterstattung lohnt es sich, einen kritischen Blick auf einige Statistiken zuwerfen und häufig verwendete zentrale Begriffe zu entschlüsseln.

In vielen Teilen der Welt verlassen Menschen dauerhaft ihr Zuhause in der Hoffnung, anderswo ein Leben inWürde – zugegeben ein weiter Begriff – zu leben. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCRzählt mit über 65 Millionen Personen weltweit die höchste von ihm jemals verzeichnete Zahl von Menschenauf der Flucht (vgl. UNHCR 2017, o. S.). Etwa ein Drittel davon sind gemäß UNHCR-Syntax Flüchtlingeund Asylsuchende, während zwei Drittel der Flüchtenden sog. Binnenvertriebene, also Vertriebene imeigenen Staat, sind.

In seiner Statistik zählt das UNHCR jedoch nur diejenigen, die vor bewaffneten Konflikten und Verfolgungfliehen, nicht jedoch solche, die ihre Lebensgrundlage wegen ökologischer Krisen verloren haben. DurchDürreperioden, Überschwemmungen und andere Folgen von Umweltzerstörung und Klimawandel sowiedurch Rohstoffhandel und Landraub verdrängte Menschen tauchen in der Statistik des UNHCR nicht auf(vgl. Dorsch u. a. 2016, S. 4 ff.). Entscheidend ist die vielfältige Überschneidung der Wanderungsmotivemit unterschiedlicher Prioritätenfolge: „Den größten Anteil an der gegenwärtigen globalen Migrationhaben Menschen, die eine Mischung aus Armut, Ausbeutung, Gewalt, Umweltkatastrophen und Chan-cenlosigkeit zur Flucht bewegt. Sie sind auf der Suche nach einem besseren Leben und wollen sich nichtdamit abfinden, keine Perspektive zu haben und sozial ausgeschlossen zu sein“ (vgl. Dorsch u. a. 2016, S. 4).

Tatsächlich nimmt die globale soziale Ungleichheit zwischen reich und arm rasant zu und hat längstgroteske Formen angenommen. Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt heute fast die Hälfte des welt-weiten Vermögens, während 1,2 Milliarden Menschen mit weniger als einem Euro pro Tag einen schieraussichtslosen Kampf ums Überleben führen (vgl. Dorsch u. a. 2016, S. 4). Acht Männer der Welt besitzenso viel Vermögen wie die Hälfte der Menschheit (vgl. Oxfam 2017, S. 1).

Wir betrachten hier drei Personengruppen: Migranten, Asylsuchende und Flüchtlinge. Diese Begriffe werdenimmer wieder durcheinandergebracht und teils uneinheitlich verwendet. Die humanitäre OrganisationÄrzte ohne Grenzen verwendet diese Begriffe wie folgt (Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor;vgl. MSF 2016, S. 2).

Ein Migrant ist eine Person, welche sich außerhalb des Territoriums des Staates aufhält, dessen Staats-angehörigkeit sie trägt oder deren Bürger sie ist, und die sich mehr als ein Jahr in einem fremden Landaufhält, unabhängig von den Ursachen der Migration, ob freiwillig oder unfreiwillig, und unabhängig vonder Art der Migration, ob regulär oder irregulär.

Ein Asylsuchender ist eine Person, die in einem anderen Land als ihrem Heimatland Sicherheit vor Verfol-gung und ernsthafter Schädigung sucht, und die eine Entscheidung über ihren Antrag auf Flüchtlingsstatusim Rahmen der geltenden internationalen und nationalen Instrumente erwartet.

Ein Flüchtling ist entweder (a) eine Person, die sich aufgrund begründeter Angst vor Verfolgung wegenihrer Abstammung, Religion, Nationalität, politischen Meinung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmtensozialen Gruppe außerhalb des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, aufhält, und welche nicht inder Lage oder – aufgrund einer solchen begründeten Angst – nicht gewillt ist, vom in dem betreffendenLand angebotenen Schutz Gebrauch zu machen oder (b) ein Staatenloser, der sich aufgrund der obengenannten fundierten Angst außerhalb des Landes aufhält, in dem er sich zuvor üblicherweise aufgehaltenhat, und der nicht in der Lage oder – aufgrund einer solchen begründeten Angst – nicht gewillt ist, dorthinzurückzukehren.

Die Organisationen der Vereinten Nationen (VN), die sich hauptsächlich mit Migration, Flucht undVertreibung beschäftigen, sind das Flüchtlingshilfswerk UNHCR und die Internationale Organisation für

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Migration IOM (International Organization for Migration). UNHCR und IOM erstellen häufig zitierteStatistiken, die sowohl Regierungen als auch weiteren VN-Organisationen als Grundlage für politischebzw. strategische Entscheidungen dienen.

Eine aufschlussreiche Analyse lieferte das Overseas Development Institute (ODI) in einem Bericht vomSeptember 2016, welches die Mobilität von Menschen in Europa anhand der Anzahl von Asylanträgenerrechnet statt nur registrierte Ankömmlinge in einem Land zu zählen. Als Ankömmlinge in einem Landwerden bei UNHCR und IOM Migranten und Flüchtlinge gezählt, die nach einem Grenzübertritt an einembesetzten Grenzposten (oder einer dafür vorgesehenen Behörde) Asyl beantragen. Die VN-Organisationenzählen hierbei jedoch lediglich die Fälle offener Migration (engl. ’overt migration’). Die Fälle verdeckterMigration (engl. ’covert migration’) bleiben dabei unberücksichtigt. Ebenfalls auffällig ist, dass sichUNHCR, IOM und Frontex bei ihren Statistiken vielfach widersprechen (vgl. ODI 2016, S. 18 ff.).

Besonders die jüngsten Zahlen der Asylanträge in Deutschland sind in diesem Zusammenhang irre-führend. 2015 wurde etwa eine halbe Million in Deutschland angekommener Menschen in Unterkünfte(sog. Erstaufnahmeeinrichtungen) gebracht, bevor sie einen Antrag auf Asyl stellen konnten. Möchteman den Anteil verdeckter Migration nach dem ODI-Prinzip errechnen, muss man beispielsweise beimVergleich von „Ankömmlingen in einem Land“ zu „gestellten Asylanträgen in einem Land“ die Anzahlder in die Erstaufnahmeeinrichtungen gebrachten Menschen, die noch kein Asyl beantragen konnten,hinzurechnen – rund eine halbe Million Menschen Ende 2015. Die um diesen und andere Effekte (wie z. B.Mehrfachregistrierung) bei der Zählung von Ankömmlingen und Registrierung von Asylanträgen bereinig-ten Zahlen weisen für das Jahr 2015 eine Diskrepanz von 660.000 Menschen auf. Mit anderen Worten:es wurden 1,1 Millionen Ankömmlinge registriert, aber 1,7 Millionen Asylanträge (inkl. der wartendenPersonen) gestellt. Dieser immense Unterschied (1,1 zu 1,7 Millionen), dem in der Regel wenig bis keineBeachtung geschenkt wird, wird vom ODI als Anteil verdeckter Migration bezeichnet. Diese Beobachtungist im Zusammenhang mit den Fluchtrouten ungemein wichtig, denn die Statistiken zu Fluchtroutenerfassen bis zu 60% der Asylbewerber nicht. Mehr wissenschaftlicher Mut und ein kritischerer Umgangmit Zahlen wären vielerorts wünschenswert, um das Phänomen der Flucht nach Europa besser zu verstehen.

In der sozialen Arbeit mit geflüchteten Kindern und Familien in Deutschland sollte es nicht in ersterLinie darauf ankommen, ob es sich um Flüchtlinge, Migranten oder Asylsuchende handelt, und auch dieStatistiken und Maßzahlen sollten eine eher untergeordnete Rolle spielen. Es geht vielmehr um Menschen,die nicht selten ihr Leben und ihre Gesundheit riskiert haben, um nach Europa zu gelangen – unabhängigvon der Motivation für die Flucht und unabhängig von ihrem legalen Status.

Eine entscheidende Rolle in diesem Zusammenhang spielen in diesem Handbuch hingegen folgende Betrach-tungen. Im Jahr 2015 war mehr als die Hälfte der Flüchtlinge weltweit unter 18 Jahren alt (vgl. UNICEF2016, S. 17). Im Jahr 2016 waren 91% der in Italien geflüchteten Kinder sog. unbegleitete minderjährigeFlüchtlinge (UmF); im Vergleich dazu lag der Anteil an UmF in Griechenland im selben Zeitraum beinur 17% (vgl. UNICEF 2017, o. S.). Was es bedeuten muss, als unbegleitetes Kind die Reise nach Europaanzutreten, kann man höchstens vage erahnen, wenn Mädchen und Jungen von sexueller Ausbeutung,dem willkürlichem Einsperren in Internierungslagern, dem Entzug von Nahrung und Wasser oder derSklaverei ähnlichen Arbeitsbedingungen während ihrer Reise berichten (vgl. UNICEF 2016b, S. 2 ff.) unddas deutsche Auswärtige Amt dem Land Libyen „allerschwerste systematische Menschenrechtsverletzungen“und „KZ-ähnliche Bedingungen“ selbst in den zugänglichen Internierungslagern attestiert (vgl. SPON2017, o. S.). Die Torturen, die Menschen auf der Flucht nach Europa erlitten haben, werden sich in vielenFormen auf die praktische soziale Arbeit mit Geflüchteten auswirken.

2 Fluchtrouten und -formenPrinzipiell können Menschen auf drei Wegen Europa erreichen: auf dem Luftweg, dem Landweg und demSeeweg. Eine Unterteilung in eine bestimmte Anzahl von Routen ist allerdings irreführend, impliziertsie doch zweierlei: erstens, dass wir wissen, wie Menschen nach Europa fliehen (siehe oben: verdeckteMigration), und zweitens, dass das Verschließen einer übersichtlichen Anzahl von Wegen Migration ver-hindern kann (siehe unten: Verschließen von Fluchtrouten). Beide Annahmen sind falsch und bergen dieGefahr, gravierende politische Fehlentscheidungen zu treffen, gibt es doch nicht z. B. acht Fluchtroutennach Europa, wie Frontex erklärt (vgl. Frontex 2017, o. S.), sondern ein Vielfaches davon.

Nach Europa zu flüchten könnte sicherer und für mehr Menschen zugänglich sein als dies heute der Fall

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ist: in einem Flugzeug mit einem Flugziel innerhalb der EU. Ein Flugticket von einem internationalenFlughafen außerhalb Europas kostet mit vielleicht 1.000 Euro einen Bruchteil dessen, was Flüchtende aufihrer lebensgefährlichen Reise übers Mittelmeer an verschiedene Nutznießer ihres Elends bezahlen müssen.Warum also flüchten Menschen nicht auf dem Luftweg?

Die EU-Richtlinie 2001/51/EG sorgt seit über 15 Jahren dafür, dass nunmehr Fluggesellschaften de factodie eigentlich hoheitliche Aufgabe von EU-Grenzkontrollen weit ab von Europas Grenzen übernehmen.Befördert eine Fluggesellschaft einen Fluggast ohne gültige Papiere, drohen nicht nur die Rückführungauf eigene Kosten, sondern auch Strafen von mindestens 3.000 Euro, im Wiederholungsfall von bis zu500.000 Euro. Personal von Fluggesellschaften an internationalen Flughäfen kontrolliert nur Gültigkeitund Vollständigkeit von Einreisepapieren – und lehnt dabei wegen Androhung der oben genannten Strafenall diejenigen ab, die keine gültigen Dokumente besitzen. Darin eingeschlossen sind also auch Menschen,welche nach international geltendem Recht Schutz als Flüchtlinge genießen müssten. Auf einen Rechtsstreitund die Prüfung durch den Europäischen Gerichtshof, ob diese Richtlinie gegen Menschenrechte verstößt,hat es bislang keine Fluglinie ankommen lassen. Die reguläre Nutzung von Flugzeugen, um in die EUzu gelangen, ist für Flüchtlinge damit fast ausgeschlossen. Ausnahmen sind das Reisen mit falschenPapieren oder, im Regelfalle, die legale Einreise (z. B. mit einem Besucher- oder Touristenvisum) und dasÜberschreiten der im Visum festgelegten Aufenthaltszeit. Botschaften von EU-Ländern in Krisenländernsind oft monate- oder jahrelang geschlossen, sodass die Beantragung eines Visums gar nicht möglich ist.Humanitäre EU-Visa in Form der Beantragung eines Visums in Botschaften oder anderen Auslandsvertre-tungen außerhalb Europas könnten menschliches Leiden verringern: Dennoch urteilte der EuropäischeGerichtshof, dass EU-Staaten nicht zu dieser Maßnahme verpflichtet sind.

Über den Landweg und/oder den Seeweg in die EU zu kommen ist damit derzeit deutlich aussichtsreicher.Fluchtrouten über Land und Meer sind je nach Quelle unterschiedlich klassifiziert und benannt. BekannteRouten der letzten Jahre auf dem Weg nach Europa wurden typischerweise wie folgt klassifiziert (vgl.ODI 2016, S. 20 ff.; taz 2017, o. S.; Frontex 2017, o. S.):

1. dieWestafrikaroute: auf dem Seeweg von Mauretanien, Westsahara oder Marokko auf die KanarischenInseln

2. die westliche Mittelmeerroute: auf dem Seeweg von Marokko oder Algerien nach Spanien

3. die zentrale Mittelmeerroute: auf dem Seeweg von Tunesien oder Libyen nach Italien oder Malta

4. die östliche Mittelmeerroute: auf dem Seeweg und/oder Landweg über die Türkei (und über die vielbeachteten und drastisch Veränderungen unterworfenen Balkanrouten) nach Griechenland und/oderAlbanien und/oder Bulgarien

5. auf dem Landweg über die einzigen Festlandsgrenzen zwischen Afrika und Europa von Marokko indie spanischen Besitzungen Ceuta und Melilla

6. die Adriaroute: auf dem Seeweg vom Balkan nach Italien

7. die Polarroute: auf dem Landweg von Russland nach Finnland und Norwegen

8. die zentrale Osteuroparoute: über die Ukraine nach Rumänien, Slowakei, Ungarn oder Polen

9. die nördliche Osteuroparoute: über Belarus nach Polen, Lettland oder Litauen

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Abbildung 1: schematische Darstellung einiger Fluchtrouten nach Europa (u. a. basierend auf folgendenQuellen: IOM 2017, o. S.; taz 2017, o. S.; The Economist 2016, o. S.)

Eine Reihe von Faktoren können dabei die Fluchtroute bestimmen, unter anderem:

Faktor Beispiele und wichtige Aspekte1 Ursprungsland

oder Ursprungs-region, aus dergeflohen wird

* zahlenmäßig stärkste Ursprungsländer: Syrien, Afghanistan, Eritrea, So-malia, Irak* Wanderarbeiter aus beispielsweise Bangladesch oder Senegal werden gekid-nappt oder fliehen nach mehreren Jahren Aufenthalt aus Libyen (vgl. SOSMEDITERRANEE 2017, o. S.)

2 Zielland oderZielregion, in diegeflohen wird

* Dublin-III-Verordnung & Solidaritätsmechanismus* Familienzusammenführung, soziale Netzwerke, Landessprache und be-herrschte Sprachen der Flüchtenden

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3 Möglichkeitender Fortbewe-gung

* physische Mobilität/Gesundheit/Fitness:- lange Fußmärsche notwendig- Fähigkeit zu schwimmen- oft schlechte oder nur sporadische Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln- kaum medizinische Versorgung und schlechte hygienische Bedingungen

4 Zugang zuTransportmit-teln

* Flugzeug, Boot/Schiff/Fähre, Pkw/Lkw, Zug, Fahrrad, zu Fuß oder getra-gen durch Personen

5 Zugänglichkeit zu und Passierbarkeit von Strecken an Land und auf See:5a national-

staatlicheGrenzen

* Kontrollen, Patrouillen, Zäune/Mauern/Grenzanlagen: 14.000 Kilometer(Land) + 68.000 Kilometer (Küste) EU-Außengrenzenlänge; 8.000 KilometerEU-Binnengrenzlänge* Schengener Abkommen* Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (sieheunten)* Push-Back-Operationen* andere Abkommen zwischen EU(-Mitgliedsstaaten) und anderen Staaten,zwischen Institutionen* Herkunft und Vulnerabilität: z. B. Syrer vs. Afghanen; UmF, Schwangere,Kranke

5b natürliche Gren-zen

* Mittelmeer: große Distanz, lebensgefährliche Überfahrt, kaum systemati-sche Seenotrettung, nicht seetüchtige Boote, Winter (Wind, Kälte, Seegang)auf dem Mittelmeer* die Beendigung der italienischen Operation zur Seenotrettung „Mare No-strum“ und die Einführung der EU/Frontex-Operation „Triton“* die militärische Operation „EUNAVFOR MED“ bzw. Operation „Sophia“

5c Witterungs-bedingungen

* Kälte und Niederschlag* Wind und Seegang

6 finanzielle Mittel * Schmuggler, Bestechungen, Reisedokumente und Tickets

Im Jahr 2015 kamen laut IOM 97% der Migranten und Flüchtlinge auf dem Seeweg in Europa an. Warumkamen und kommen die meisten Asylsuchenden übers Meer nach Europa?

Europas Grenzen werden bewacht und technisch immer stärker aufgerüstet. Asylsuchende und Migrantenwerden an Europas Grenzen vielfach systematisch abgewiesen, je nach Land droht ihnen, dass sie ohneRechtsschutz in Internierungslagern eingesperrt werden, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu können.

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex (frz. frontières extérieurs) begann ihren Dienst 2005 und hat voneiner kleinen Agentur mit einigen Dutzend Mitarbeitern zu einer Personenabwehrmaschine mit über 250Millionen Euro Jahresbudget, ständig erweiterten und kaum kontrollierbaren Kompetenzen gemausert –Tendenz stark steigend. Frontex-Chef Leggeri warf kürzlich den im Mittelmeer tätigen Nichtregierungsorga-nisationen wie SOS MEDITERRANEE vor, das Schmugglergeschäft und illegale Netzwerke in Nordafrikazu fördern. Er verwies bei seinen Anschuldigungen weder auf die Zusammenhänge zwischen dem Verschlie-ßen von Fluchtrouten und den größeren Risiken, denen sich Menschen auf der Flucht aussetzen müssen(vgl. ODI 2016, S. 11 ff.), noch darauf, dass im Sinne einer Reihe internationaler Abkommen die Rettungaus Seenot eine gesetzliche Pflicht und nicht etwa ein Verbrechen ist (vgl. PRO ASYL 2015, S. 4 f.). Dasssolche perfiden, diffamierenden und vereinfachenden Unterstellungen mit der Verkehrung von Tatsachenund Umkehrungen von Ursache und Wirkung zunehmen werden, darf angenommen werden, denn es gehtoffenbar darum, die humanitären Interventionen von NGOs öffentlich zu delegitimieren und damit ihreBehinderung oder gar Blockierung vorzubereiten.

Die sog. Dublin-III-Verordnung der EU bestimmt, welcher EU-Mitgliedsstaat für die Durchführung desAsylverfahrens zuständig ist. In fast allen Fällen ist dies der EU-Staat, den die Flüchtenden zuerst betretenhaben. Die Anwendung dieser Verordnung hat eine Reihe gravierender Konsequenzen. Erstens führt dieszu einer extrem ungleichen Verteilung von Asylverfahren in der EU. Ein Solidaritätsmechanismus zurgerechteren Verteilung von Flüchtlingen wurde bis heute nicht eingeführt. Außerdem dürfen Flüchtendeden ersten EU-Staat, den sie betreten, nicht mehr verlassen, bis das Asylverfahren abgeschlossen ist,was sich jedoch Monate oder Jahre hinziehen kann. Damit bleibt es vielen Flüchtenden verwehrt, Fa-

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milienangehörige und soziale Netzwerke anderswo in der EU aufzusuchen. Dies hat dramatische Folgenfür die Betroffenen und ihre Integration. Darüber hinaus müssen Flüchtende vielfach in einem StaatAsyl beantragen, dessen Sprache sie nicht sprechen, z. B. in Griechenland; sie dürfen dann nicht nachFrankreich oder Belgien reisen, obwohl sie Französisch sprechen. Während in den meisten europäischenStaaten durch die Schengener Abkommen und die damit einhergehenden Freiheiten und ErleichterungenFreizügigkeit für die meisten Europäer gilt, so verhindert die Dublin-III-Verordnung eine Bewegungsfreiheitfür Asylsuchende in Europa.

Die Zurückweisung von Schutzsuchenden an einer Grenze zurück ins Meer oder zurück hinter den Zaunsind völkerrechtswidrige Push-Back-Operationen und wurden in Europa von einer Reihe Organisationenbeobachtet und scharf kritisiert. Die Missachtung des Nichtzurückweisungsprinzips ist, vorliegendenBerichten zufolge, in der EU keine Seltenheit mehr.

3 Verschließen von Fluchtrouten und die KonsequenzenDie EU stützt sich bis jetzt auf zwei Gegenmittel, um mit der „Flüchtlingskrise“ – leicht zu verstehen als„die Flüchtlinge bringen uns die Krise“ anstatt „die EU steckt in einer ideellen und politischen Krise, wasjetzt an ihrem Umgang mit Flüchtlingen sichtbar wird“ – umzugehen: das punktuelle Verschließen vonGrenzen und das Auslagern von Grenzkontrollen. Die Reaktionen der EU-Politik auf Flucht nach Europasind deutlich und ein Merkmal ist ihnen stets gemeinsam: Es ist die kontinuierliche, an Verzweiflunggrenzende Bekämpfung von Symptomen anstelle einer durchdachten, humanen Linderung der Ursachenunfreiwilliger Wanderungen. Nicht die einst viel beschworenen Fluchtursachen werden angegangen, sondernMenschen auf ihrer Flucht bekämpft. Dies können diejenigen, die an Menschenrechte und humane Werteglauben, nur als Versagen der internationalen Politik und als immensen kulturellen Rückschritt werten.

Dabei wissen wir, dass die Schließung einzelner Grenzen Flüchtlinge nur in benachbarte Länder umleitetoder sie zwingt, auf gefährlichere Wege in dasselbe Land auszuweichen. Wir beobachten zudem einen„Domino-Effekt“ von Grenzaufrüstung und -abwehr mit gigantischen Kosten für alle Beteiligten in einemWettlauf, den kein Land dauerhaft gewinnen kann (vgl. ODI 2016, S. 21 ff.). Das krisengeschüttelteGriechenland beherbergte im Winter 2016/17 über 60.000 Geflüchtete, die nach dem Schließen der Bal-kanroute und dank des Dublin-Reglements bei Eis und Schnee in Zelten festsaßen. Das Asylsystem istüberfordert, die EU-Minimalstandards für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen werden inden Grenzräumen vermutlich nirgendwo erfüllt.

Die Konsequenzen dieser Entscheidungen sind gleichermaßen fatal: Verletzungen mit teils tödlichen Folgenan den Grenzzäunen in Ceuta, jährlich tausende Ertrunkene im Mittelmeer, Ersticken in Kofferräumenund Lastkraftwagen, Erfrieren in Booten oder auf Zügen, ganz zu schweigen von den Toten auf dem Wegdurch die Wüsten zum Mittelmeer, deren Zahl möglicherweise noch höher liegt als die der registriertenToten und Vermissten im Meer. Menschen auf der Flucht müssen sich in Lebensgefahr begeben, vielerortsdroht der politisch verschämt, aber de facto billigend in Kauf genommene Tod tausender Männer, Frauenund Kinder. Im Januar 2017 war die Todesrate mit 222 Toten und Vermissten auf dem Weg von Libyennach Italien mit 4,5% so hoch wie nie zuvor (vgl. UNHCR 2017b, o. S.). Bereits zuvor war die zentraleMittelmeerroute mit einer Todesrate von 1,9-3,6% besonders verheerend (vgl. IOM 2016b, o. S.; ODI 2016,S. 20). Im weltweiten Vergleich ist die Route übers Mittelmeer diejenige, bei der mit Abstand die meistenMenschen ums Leben kommen oder als dauerhaft vermisst gelten (vgl. IOM 2016, S. 1). Die Todesrateauf dem Seeweg von der Türkei auf die vergleichsweise nahe gelegenen griechischen Inseln lag 2015 beiunter 0,1% (vgl. ODI 2016, S. 20).

Das Mittelmeer und seine Küsten stehen in den vergangenen Jahren zunehmend unter der Beobachtungeiner breiten Öffentlichkeit. Etliche Berichte von Bootsunglücken auf der lebensgefährlichen Überfahrt innicht seetüchtigen Booten prägen die Nachrichten, mittlerweile werden jährlich tausende Tote vor denGrenzen der EU gezählt. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Selbst im Winter bei eisigem Windund hohem Wellengang wagen Menschen die Überfahrt nach Europa.

Im Jahre 2015 wurde die italienische Operation zur Seenotrettung im Mittelmeer „Mare Nostrum“ ausMangel an EU-Finanzierung und politischem Willen, besonders auf deutscher Seite (vgl. Bade 2016, S.101 ff.), beendet und durch die EU/Frontex-Operation „Triton“ ersetzt. Triton hat nur einen Bruchteil derfinanziellen und technischen Ressourcen von Mare Nostrum zur Verfügung und ist im Gegensatz zu Mare

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Nostrum kein vorrangiges Programm zur Seenotrettung, sondern zum Grenzschutz.

Die EUNAVFOR MED Operation „Sophia“ soll Schlepper im südlichen zentralen Mittelmeer und damitillegale Netzwerke bekämpfen. Vom Meer aus die Schlepper zu bekämpfen, die vorrangig an Land agierenund deren Netzwerke weit in den Kontinent Afrika hineinreichen, klingt ambitioniert, ist aber a prioriaussichtslos und geht am Kern der Sache vorbei: an den Gründen, warum Menschen fliehen. Stattdessenbaut die EU nun mit der Operation „Sophia“ vor den Augen der EU die Libysche Küstenwache auf. Libyenversinkt seit dem Sturz Gaddafis, der selber ein Flüchtlingshändler war (vgl. Bade 2016, S. 125), immerweiter im politischen Chaos, die durch die EU akzeptierte Regierung kontrolliert nur einen kleinen Teildes Landes. Wer mit denjenigen, die sich „Libysche Küstenwache“ nennen, Geschäfte macht, kann nichtwissen, wem das gerade nützt.

Frontex hat mit dem europäischen Überwachungssystem „Eurosur“ prinzipiell die besten Voraussetzungen,um Zählungen von Todesopfern an europäischen Grenzen durchzuführen. Die Grenzschutzagentur mitSitz in Warschau gibt sich in dieser Frage allerdings auffällig bedeckt und eine Sprecherin beharrtekürzlich darauf, dass Frontex nicht die richtige Ausstattung für eine Zählung habe – aus Furcht, moralischunangenehme Fakten aufdecken zu müssen (vgl. Eliassen 2017, o. S.)?

Eine weitere Folge ist, dass Flüchtende an Grenzen außerhalb der Schengen-Staaten oder gar innerhalb derEU gegen ihren Willen und oftmals unter verheerenden Bedingungen in Internierungslagern festgehaltenwerden (vgl. SPON 2017, o. S.; HRW 2017, o. S.; AI 2016, o. S.). Die Voraussetzungen, um als Flüchtendean den EU-Außengrenzen durchgelassen zu werden, entsprachen in den vergangenen beiden Jahren oftnicht dem Grundsatz der Gleichbehandlung: Einreise nur für Menschen aus einem bestimmten Land(z. B. Syrien) oder Einreise nur für Menschen mit einem bestimmten Glauben (z. B. Christen), Einreisenur für bestimmte Gruppen (z. B. UmF) – all das geschieht vor aller Augen im Europa des 21. Jahrhunderts.

Die Anzahl derer, die weit vor den Grenzen Europas in über 160 EU-finanzierten Internierungslagern (vgl.taz 2017, o. S.) festgehalten werden, ohne Verurteilung und ohne Asylverfahren, ist unbekannt. Dabeischloss die EU mit zwei Dutzend afrikanischen und asiatischen Staaten Abkommen und gab zwischen 2015und 2016 15,3 Milliarden Euro an sogenannten „Entwicklungsgeldern“ aus, um Flüchtlinge und Migrantenzu stoppen, nicht zuletzt in Kooperation mit fluchttreibenden Regimen (vgl. ODI 2016; taz 2017, o. S.).

Die Umstände in libyschen Lagern sind nicht nur dem Auswärtigen Amt bekannt, sondern auch den Nicht-regierungsorganisationen, die in Libyen oder angrenzenden Staaten arbeiten. Menschen, die es geschaffthaben aus Libyen zu entkommen, berichten immer wieder von Missbrauch und Vergewaltigung, Folterund Demütigung, Krankheit und Tod von Mitinsassen. Menschen werden gehandelt wie Vieh, Familienwerden zerrissen. Ein Teil eines Menschenschmugglerrings zu werden ist in Libyen ein wirtschaftlicherAusweg in einem im politischen Chaos versunkenen Land (vgl. SOS MEDITERRANEE 2017b, o. S.).

4 Flüchtende, die zurückgeschickt werdenDie EU geht noch einige Schritte weiter, wenn es darum geht, Flüchtende nicht in die Nähe kommen zulassen oder sie wieder loszuwerden. Ein ebenso perfides wie erfolgreiches Mittel zur Zurückhaltung undVerdrängung von Flüchtenden war der im März 2016 in Kraft getretene milliardenschwere EU-Türkei-Deal.Die Türkei lässt sich von der EU dafür bezahlen, dass sie asylsuchende Flüchtlinge in Internierungslagernfesthält bzw. ihnen die Ausreise verweigert. Die Türkei wird somit zu einem europäischen Dienstleistergegen Menschenrechte und Flüchtlingskonvention. Erneut greift der fatale EU-Mechanismus „tausche Ver-antwortung für Menschenrechte gegen Milliarden Euro“. Erneut werden Menschen auf immer gefährlichereWege gezwungen. Erneut profitieren genau davon die Schmuggler, die den Flüchtenden auf neuen Wegenweiterhelfen, und alles dreht sich in einem immer menschenfeindlicher werdenden Kreis. Aktuell drohenAbschiebungen von Syrern aus Griechenland in die Türkei, wenn das entsprechende Urteil des „GreekSupreme Adninistrative Court“ nicht noch durch die „Grand Chamber of the Court“ gekippt wird. Dieswürde bedeuten, dass Abschiebungen ohne Asylverfahren aus Griechenland (EU) in das Nicht-EU-LandTürkei (nicht EU) möglich würden.

Seit Ende 2016 schiebt die EU auch abgelehnte Asylbewerber aus Afghanistan in ihr Heimatland ab. InAfghanistan, wir erinnern uns, beherrscht bewaffneter Konflikt das Land. Das Auswärtige Amt schreibtAnfang 2017 auf seiner Seite: „In ganz Afghanistan besteht ein hohes Risiko, Opfer einer Entführung odereines Gewaltverbrechens zu werden. Landesweit kann es zu Attentaten, Überfällen, Entführungen und

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andere Gewaltverbrechen kommen“ (AA 2017, o. S.). Sogenannte „freiwillige Rückkehrer“ werden von derBundesregierung zu zigtausenden „motiviert“, in Kriegsgebiete und an Orte, an denen Menschenrechteschwer verletzt werden, zurückzukehren. Auch Länder wie Afghanistan fallen unter die EU-eigene Erfindungder „sicheren Drittstaaten“ oder „sicheren Herkunftsländer“. Anstatt auf die wahrscheinliche Ablehnungihres Asylantrags zu warten, ziehen die Betroffenen ihren Antrag zurück, bekommen ein paar hundert bishöchstens 3.000 Euro, wenn sie „freiwillig“ in das Herkunftsland zurückkehren. „Freiwillige Rückkehr“ istein migrations- und asylpolitisches Steuerungsinstrument und hat mit Freiwilligkeit nur bedingt zu tun.

5 SchlussfolgerungenAn den Fluchtwegen und Fluchtformen von Menschen, die nach Europa streben, kann man erstaunlich vielpolitische und gesellschaftliche Realität ablesen. Wir Europäer sollten uns schleunigst und sehr gründlicheinige grundsätzliche Gedanken machen.

Konsequenz der EU-Strategie einer Minimierung der Anzahl von Flüchtlingen sind deren Abwehr und dieAuslagerung von EU-Grenzpolitik („Externalisierung“). Während Menschenschmuggler mit unzulänglichenMitteln bekämpft werden sollen (z. B. mit der militärischen Operation „Sophia“), betreibt die EU selbsteinen schmutzigen Handel, indem sie die Abwehr von flüchtenden Menschen vor den Grenzen Europas mitMilliarden von Euro finanziert.

Es gibt quasi kein Abwehrsystem auf der Welt, das so zuverlässig ist, dass es nicht umgangen werdenkönnte – daran werden langfristig auch Milliardenzahlungen nichts ändern. Die Stacheldrahtzäune vonMelilla sind in mehreren Ringen sechs Meter hoch, umgeben von Stolperfallen und einer Vielzahl vonDetektionssystemen und Grenzschützern auf kleinstem Gebiet. Immer wieder gelingt Menschen dennochdas Überwinden dieser Systeme.

Menschen sind extrem anpassungsfähig, sie sind einfallsreich und haben einen starken Überlebenswillen.Eine versuchte Schließung einer zigtausend Kilometer langen Grenze ändert nichts an den Fluchtursachen,bringt das Leben von Schutzsuchenden in Gefahr und lässt sie nach anderen, immer riskanteren Wegensuchen. Dem Einfallsreichtum sind keine Grenzen gesetzt: im Koffer, durch die Kanalisation, im Motorraumund versteckten Räumen von Lkw, auf Zügen und anderswie – oft mit der Hilfe von Schleppern, die vonder Schließung von Grenzabschnitten profitieren – wird weiterhin geflüchtet werden, solange Ursachen derFlucht nicht mit einer starken Allianz bekämpft werden.

Jede Flüchtlingsabwehrmaßnahme stärkt also irgendwo die Schmugglernetzwerke. Abwehrstrategien anGrenzen verlagern die „offene Migration“ in Richtung der „verdeckten Migration“. Das Kräfteverhältniszwischen verdeckter und offener Migration verändert sich und Staaten haben mithin eine schlechtereKontrolle über Ankünfte in ihren Ländern (vgl. ODI 2016, S. 12).

Wie kommt es, dass die Politik so wenig Mut im Hinblick auf das Benennen und Bekämpfen der Ursachenvon Flucht hat? Von wirtschaftliche Ausbeutung in krisengeschüttelten Regionen profitieren vor allemextrem Reiche, nicht selten mit Vermögen innerhalb der EU. Warum boomt die Waffenindustrie, warumnehmen Flüchtlingszahlen zu? Haben europäische Konzerne tatsächlich ein Interesse daran, bewaffneteKonflikte in Afrika zu beenden? Oder wird ein neokoloniales Plündern von Rohstoffen durch multinationaleKonzerne auf Seiten von Regierungen in Europa und Afrika gebilligt und unterstützt?

Gemessen an der Bevölkerungszahl nimmt mit Abstand Libanon die meisten Flüchtlinge und Migrantenauf, gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist es Äthiopien (vgl. Caryl 2016, o. S.). Die sechs reichstenLänder USA, China, Japan, Deutschland, Frankreich und das Vereinte Königreich, welche über 50% derweltweiten Wirtschaftsleistung erbringen, beherbergen nicht einmal 9% der Flüchtlinge der Erde (vgl.Oxfam 2016, o. S.). Was genau meinen Europäer, wenn sie von „Flüchtlingskrise“ sprechen?

Der erste Schritt erscheint schwer: Wer möchte schon freiwillig Privilegien aufgeben und Wohlstandabgeben? Dass dieser Wohlstand in manchmal schwer zu durchschauender Weise an die Zustände geknüpftist, die Menschen anderswo auf der Welt dazu treiben, ihr Zuhause zu verlassen, ist ein unbequemerGedanke. Solange sich aber an den Mustern der systematischen Ausbeutung und der Ungleichverteilungvon Vermögen auf der Welt – auch innerhalb der EU – nichts fundamental ändert, werden Menschenweiterhin, nötigenfalls auf immer neuen Routen, auf der Suche nach einem würdevollen Leben für sichund ihre Familien die Flucht ergreifen.

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Annex: Literaturverzeichnis• Amnesty International / AI (2016): „Europa muss Verantwortung für Flüchtlinge in Griechenland

übernehmen“. https://www.amnesty.de/2016/4/18/europa-muss-verantwortung-fuer-fluechtlinge-griechenland-uebernehmen?destination=startseite (Abfrage: 26.03.2017)

• Auswärtiges Amt / AA (2017): „Reise- und Sicherheitshinweise: Afghanistan“.https://www.auswaertiges-amt.de/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/AfghanistanSicherheit.html?nn=555292?nnm=555292 (Abfrage: 19.02.2017; Stand derInformationen: 11.11.2016)

• Bade, Klaus J. (2016): Von Unworten zu Untaten. Kulturängste, Populismus und politischeFeindbilder in der deutschen Migrations- und Asyldiskussion zwischen ’Gastarbeiterfrage‘ und’Flüchtlingskrise‘. In: IMIS-Beiträge, 48/2016, S. 35-171.

• Christian Caryl (2016): „If You Think Europe Has a Refugee Crisis, You’re Not Looking HardEnough“. http://foreignpolicy.com/2016/02/02/the-weakest-links-syria-refugees-migrants-crisis-data-visualization/ (Abfrage: 12.03.2017)

• Dorsch, Timo / Dünnwald, Stephan / Gebauer, Thomas / Glasenapp, Martin / Jung, Anne / Lenz,Ramona / Mappes-Niediek, Norbert / Maurer, Katja / Sälzer, Christian / Wagner, Sven (2016):Warum Menschen fliehen. Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) & medicointernational (Hrsg.)

• The Economist (2016): „The dangerous migrant road to Europe“.http://www.economist.com/blogs/graphicdetail/2016/10/daily-chart-13 (Abfrage:18.02.2017)

• Eliassen, Ingeborg (2017): „Uncounted: Invisible Deaths on Europe’s Borders“. http://www.investigate-europe.eu/en/the-uncounted-invisible-deaths-on-europes-borders/(Abfrage: 12.03.2017)

• Frontex (2017): „Migratory routes map“.http://frontex.europa.eu/trends-and-routes/migratory-routes-map/ (Abfrage:12.03.2017)

• Human Rights Watch / HRW (2017): „Greece: Dire Refugee Conditions on Islands“.https://www.hrw.org/news/2017/01/23/greece-dire-refugee-conditions-islands(Abfrage: 26.03.2017)

• International Organization for Migration / IOM (2016): „Dangerous journeys – Internationalmigration increasingly unsafe in 2016“.https://publications.iom.int/system/files/gmdac_data_briefing_series_issue4.pdf(Abfrage: 18.02.2017)

• International Organization for Migration / IOM (2016b): „IOM Counts 3,771 Migrant Fatalities inthe Mediterranean in 2015“.http://www.iom.int/news/iom-counts-3771-migrant-fatalities-mediterranean-2015(Abfrage: 18.02.2017)

• International Organization for Migration / IOM (2017): „Migration Flows – Europe“http://migration.iom.int/europe/ (Abfrage: 18.02.2017)

• Médecins Sans Frontières / MSF (2016): Obstacle Course to Europe – A Policy-made HumanitarianCrisis at EU Borders.

• Overseas Development Institute / ODI (2016): Europe’s refugees and migrants – Hidden flows,tightened borders and spiralling costs.

• Oxfam (2016): „Six richest countries host less than 9% of refugees“.https://www.oxfam.org/en/pressroom/pressreleases/2016-07-18/six-richest-countries-host-less-9-refugees (Abfrage: 18.02.2017)

• Oxfam (2017): An Economy for the 99% – It’s time to build a human economy that benefitseveryone, not just the privileged few.

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• PRO ASYL e.V. (2015): Flüchtlinge in Seenot: handeln und helfen. Frankfurt/Main.

• SOS MEDITERRANEE / René Schulthoff (2017): „In eigenen Worten # 23: Wir wollten gar nichtnach Europa“. http://sosmediterranee.org/in-eigenen-worten-23-wir-wollten-gar-nicht-nach-europa/ (Abfrage: 18.02.2017)

• SOS MEDITERRANEE (2017b): „Testimonies“. http://sosmediterranee.org/testimonies/(Abfrage: 12.03.2017)

• Spiegel Online (SPON) / Deutsche Presseagentur (2017): „Bericht aus Libyen – Auswärtiges Amtsieht „KZ-ähnliche Verhältnisse““. http://www.spiegel.de/politik/ausland/libyen-kz-aehnliche-verhaeltnisse-fuer-fluechtlinge-laut-bericht-beklagt-a-1132184.html(Abfrage: 18.02.2017)

• taz - Die Tageszeitung (2017): „So verändern sich die Fluchtrouten in Europa“.https://www.taz.de/fluchtrouten (Abfrage 18.02.2017)

• United Nations High Commissioner for Refugees / UNHCR (2017): „Figures at a Glance“.http://www.unhcr.org/figures-at-a-glance.html (Abfrage: 18.02.2017)

• United Nations High Commissioner for Refugees / UNHCR (2017b): „Mediterranean: Dead andMissing at sea“. https://data2.unhcr.org/en/documents/download/53699 (Abfrage 18.02.2017)

• United Nations International Children’s Fund / UNICEF (2016): Uprooted – A Growing Crisis forRefugee and Migrant Children.

• United Nations International Children’s Fund / UNICEF (2016b): Danger every step of the way – Aharrowing journey to Europe for refugee and migrant children.

• United Nations International Children’s Fund / UNICEF (2017): „Number of unaccompanied orseparated children arriving by sea to Italy doubles in 2016“.https://www.unicef.org/media/media_94399.html (Abfrage: 18.02.2017)

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